Pfarrer Stefan Scholpp

„Heut schließt er wieder auf die Tür…“ Predigt zu Lukas 2,1-20 am Heiligen Abend, Donnerstag, 24.12.2015, in der Christuskirche zu Mannheim

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. 2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. 3 Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. 4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, 5 damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 6 Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. 7 Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. 8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 12 Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. 13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. 15 Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. 16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 17 Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. 18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. 19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. 20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. 1

Heut schließt er wieder auf die Tür Zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob, Ehr‘ und Preis. In der mittelalterlichen Tradition der Mysterienspiele gab es eines, das war aus dem weihnachtlichen Reigen der verschiedenen Aufführungen nicht wegzudenken: das Paradeisspiel. Noch vor dem eigentlichen Weihnachtstag, dem 25.12., an dem das Christgeburtsspiel seinen Ort hatte, wurde am 24.12. in den Kirchen das Paradeisspiel gegeben. Da feiert die Unschuld fröhliche Urständ. Da kommt die Insel der Seligen zur Darstellung, von der wir so gerne träumen. Da wird aber auch daran erinnert, dass wir Menschen eben nicht mehr im Paradies leben, dessen Garten jetzt von einer unüberwindlich hohen Mauer umgeben ist

und dessen Tor von einem Engel mit Flammenschwert bewacht wird. Da wird nämlich gespielt, wie durch Adam die Sünde in die Welt gekommen, wie durch die verbotene Frucht des Menschen Begehrlichkeit nach mehr und immer mehr geweckt wurde. Seither fristen wir unser Dasein im Schweiße unseres Angesichts jenseits von Eden und der Cherub verwehrt uns die Rückkehr in paradiesische Urzustände. Wir wissen es alle. Unsere Welt ist kein paradiesischer Ort, auch wenn unser Fleckchen Erde hier durchaus Züge des Schlaraffenlandes trägt, jedenfalls für viele von uns. In den Weihnachtsansprachen und Jahresrückblicken wird uns die sogenannte Flüchtlingskrise wieder sehr beschäftigen. Und ich kann förmlich Eure Gedanken lesen, die Ihr mir jetzt gerne sagen würdet: Ach nein, bitte nicht jetzt, und bitte nicht auch hier. Verschonen Sie uns doch wenigstens am Heiligen Abend mit den schrecklichen Nachrichten, die wir täglich hören, und mit den mehr oder weniger gut gemeinten moralischen Appellen zu helfen und tolerant zu sein. Letzteres will ich gerne tun: Keine Appelle heute Abend! Aber das Erste kann ich Euch auch beim besten Willen nicht ersparen. Unsere Welt ist nicht in Ordnung. Und wir werden sie nicht dadurch in Ordnung bringen, dass wir unser kleines Paradies ummauern, einzäunen und durch Grenztruppen mit Schießbefehl schützen lassen. Wir werden auch unsere Werte nicht dadurch verteidigen, dass wir argwöhnisch alles Fremde beäugen, Flüchtlingsunterkünfte anzünden, unsere Freiheit einem kollektiven Sicherheitsbedürfnis opfern, Abschiebungen im großen Stil durchziehen und ansonsten möglichst ungestört unserem Konsumverhalten frönen. Warum nicht? Weil Weihnachten anders funktioniert.

I Ein junges Mädchen wird schwanger. Ihr Verlobter überlegt, ob er sie so noch heiraten kann. Als er sich entscheidet, sie nicht zu verlassen, kommt der Befehl zur Volkszählung.

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Auf private Einzelschicksale kann keine Rücksicht genommen werden. Die beiden machen sich auf die beschwerliche Reise. Sie treffen überfüllte Straßen, überfüllte Herbergen an. Das Kind kommt schließlich in einem Stall zur Welt. Aber an eine Rückkehr nach Hause ist nicht zu denken. Die junge Familie ist von einem Terrorregime bedroht und entschließt sich zur Flucht. Es wird eine unbestimmte Zeit dauern, ehe die beiden ihre Heimat wiedersehen. In der Zwischenzeit finden sie Asyl in Ägypten. In diesem turbulenten Leben, unter solchen gewalttätigen Umständen wird es Weihnachten. Mitten drin. Unbemerkt vom Kaiser in Rom, von den Finanzbehörden und Sicherheitskräften, von den meisten Menschen, die geschäftig ihrer Wege gehen. Und doch kommt mitten drin Gott zur Welt. Das ist das erste, was ich Euch mitgeben will am heutigen Heiligen Abend: Mitten im turbulenten Leben kommt Gott zur Welt. Noch ahnen freilich selbst Josef und Maria nicht, was das heißen wird: Gott kommt zur Welt in ihrem Kind, das sie Jesus nennen. In dem Mann, der dieser Jesus einmal sein wird. Der sagt: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe.“ Der lehrt: „Selig sind die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Der predigt: „Was ihr einem der geringsten Menschen getan habt, das habt ihr mir getan.“ Der wegen seiner kompromisslosen Liebe den Verbrechertod wird sterben müssen. Und der wegen Gottes kompromissloser Liebe nicht einmal vom Tod festgehalten werden kann. Wie gesagt, noch ahnen sie nicht, was das in letzter Konsequenz heißen wird: Gott kommt zur Welt. Das heißt, vielleicht ahnen sie es doch. Vielleicht spüren sie jedenfalls Mitten in ihrer Verzweiflung wegen des fehlenden Obdachs, trotz der ausweglosen Lage der jungen Familie auf der Flucht, trotz der unmittelbaren Lebensgefahr für das Kind,

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vielleicht spüren sie doch das Neue, das sich mit ihrem kleinen Jesus ankündigt. Denn ist nicht jede Geburt das Versprechen von etwas unableitbar Neuem? Trägt nicht jedes Neugeborene Die Ahnung einer Unversehrtheit, einer Ganzheit mit sich, die uns älter Gewordene anrührt wie sonst kaum etwas? Weihnachten, Ihr Lieben, und das ist das Erste, was ich Euch zu sagen habe heute Abend, Weihnachten heißt: Gott kommt zur Welt. Mitten in den Turbulenzen des Lebens. In einem Kind. Wehrlos den widrigen Umständen ausgeliefert. Unschuldig verfolgt und zur Flucht genötigt. Eltern anvertraut, die ihre Heimat und ihr Auskommen aufgeben mussten, um sich und dem Kinde das nackte Überleben zu sichern. Weihnachten heißt: Gott kommt zur Welt ohne die Schrecklichkeiten des Lebens zu beseitigen, ohne seinen Weg von menschlichen Hinterlassenschaften freizuräumen, ohne sich eine bequeme Komfortzone einzurichten. Gott kommt zur Welt inmitten von menschlichen Irrungen und Wirrungen. Gerade so funktioniert Weihnachten.

II Und das Zweite, das ich euch mitgeben will heute Abend, ist dies: Mitten im Wirrwarr dieser Welt Gibt es Zeichen für das Kommen Gottes. Wahrnehmbare Zeichen für die, die sie zu deuten wissen. Die Nächstbeteiligten träumen. Meist von Engeln. Anderen erscheint er wie im Wachtraum. Überhaupt: dieser Engel. Deutender Botschafter. Er bringt immer wieder Klarheit in verworrene Verhältnisse. Und ist für Überraschungen gut. Maria, das junge Mädchen, kaum über die Pubertät hinaus, erfährt von ihrer Schwangerschaft durch ihn. Josef träumt ihn als stärkenden Ratgeber, zwei Mal. Die Hirten auf dem Feld,

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am unteren Ende der sozialen Hierarchie der Alten Welt, die mobilisiert er zur Freude. Und die Könige aus dem Osten, eigentlich Magier – Sterndeuter sind sie, die zu lesen wissen die Konstellationen des Himmels, ja, selbst die Könige träumen am Ende den Engel, der das Schlimmste verhindert: dass sie das neugeborene Kind verraten. Träume und Engel: solch märchenhaftes Personal bevölkert die Weihnachtsgeschichte. Und warum auch nicht? Denn Zeichen sind sie, nicht mehr, aber auch nicht weniger, für die unüberbietbare, unableitbare Klarheit, von der der Evangelist Lukas zu berichten weiß, dass sie die Hirten auf dem Felde plötzlich umgab. Eine Klarheit, die die verworrenen Verhältnisse der Welt in ins rechte Licht rückt. Wenn Gottes Klarheit um sich greift, ist die unerwartete Schwangerschaft nicht mehr ein Problem, sondern ein Geschenk Gottes. Wenn Gottes Klarheit um sich greift, weiß der unschlüssige Josef plötzlich, was zu tun ist. Wenn Gottes Klarheit um sich greift, tun die Deklassierten den Mund auf zum Lob Gottes. Wenn Gottes Klarheit um sich greift, sind nicht mehr die Flüchtlinge das Problem, sondern der Krieg und der Terror, die sie zur Flucht treiben. Wenn Gottes Klarheit um sich greift, ist auch nicht mehr die Einwanderung nach Deutschland das Problem, sondern unsere mangelnde Bereitschaft, uns das, was uns zunächst fremd ist, geduldig anzuverwandeln. Ja, Träume und Engel können eine Klarheit Gottes bringen, die selbstevident die Dinge in die richtige Ordnung rückt. Zum Glück haben wir sie, unsere Träume – und die Gottesboten. Und noch ein Zeichen ist uns gegeben in der Weihnachtsgeschichte, das deutlichste und zugleich das vieldeutigste von allen. Einer in der Weihnachtsgeschichte Liest tatsächlich in der Heiligen Schrift, ein einziger. Aber das ist ausgerechnet der Bösewicht: der König Herodes lässt seine Schriftgelehrten die Bibel befragen,

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wo denn Gott zur Welt kommen soll. Und ausgerechnet er, der die zuverlässigste Gottesquelle befragt, kann ihr Zeichen nicht deuten. Den Geburtsort bekommt er zwar heraus. Aber das, was diese Gottesgeburt bedeutet für die Welt und was sie bedeuten könnte für ihn, das kann er nicht deuten. Das bleibt ihm verschlossen, ein Buch mit sieben Siegeln. Auch wir, Ihr Lieben, wir haben sie ja: die Schrift, die vom Zur-Welt-Kommen Gottes erzählt. Ach, dass wir sie doch ernst nähmen und verstünden. Wir haben sie ja: unsere Träume von einer heilen Welt. Ach, dass wir sie doch wahrnähmen: Die Gottesboten, die uns Momente der Klarheit bringen. Das wäre wunderbar! Denn so, und nicht anders, funktioniert Weihnachten. Alles andere ist schmückendes Beiwerk: Der Baum, die Kerzen, die Geschenke, die Lieder. Gefährlich für die, die sich einlullen lassen von der allgemeinen romantischen Stimmung. Nützlich für die, die sich von ihr hinweisen lassen auf den kommenden Gott und auf die Zeichen seiner Anwesenheit mitten in Deinem turbulenten Leben. Denn das ist das Zweite für heute Abend: Gott lässt sich finden von jedem, der ihn sucht.

*** Weihnachten heißt: Gott kommt zur Welt mitten in ihren Turbulenzen. Und lässt sich wahrnehmen von Dir mitten in Deinem Leben. Denn wie sagt der Dichter? Heut schließt er wieder auf die Tür Zum Schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob, Ehr und Preis.

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