Praxis & Versorgung: Schwerpunkt Videosprechstunde

Vergütung für Videosprechstunde geregelt Start der ersten telemedizinischen Anwendung, die in den Regelleistungskatalog der GKV aufgenommen wurde, schon am 1. April 2017

Die Videosprechstunde kann als neue telemedizinische Leistung ab April und somit eher als vorgesehen durchgeführt werden. KBV und GKV-Spitzenverband haben sich im Bewertungsausschuss auf eine Vergütungsregelung geeinigt und eine entsprechende Anpassung des EBM beschlossen. Nunmehr steht auch fest, bei welchen Krankheitsbildern eine Videosprechstunde zur Verlaufskontrolle in Frage kommt. Zudem wurden die Arztgruppen festgelegt, die die Videosprechstunde einsetzen und abrechnen können. Bereits im November vorigen Jahres hatten sich KBV und GKV-Spitzenverband auf die technischen Anforderungen für die Praxis und den Videodienst geeinigt (Anlage 31b zum Bundesmantelvertrag-Ärzte). Auf dieser Grundlage wurde nunmehr die Anpassung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) vorgenommen. 4 | 2017

Demnach wird die Videosprechstunde als Form des „anderen Arzt-Patienten-Kontaktes“ definiert und für die unten aufgeführten Fachgruppen in den EBM aufgenommen. Damit sind Videosprechstunden, wie andere Gespräche und Telefonate, Inhalt der Pauschalen und nicht gesondert berechnungsfähig. Berechnungsfähig sind hingegen die mit der Videosprechstunde zusammenhängenden Kosten als sogenannter „Technikzuschlag“ sowie bei ausschließlicher Erbringung einer Videosprechstunde im Behandlungsfall die „Videosprechstunde in Quartalen ohne persönlichen ArztPatienten-Kontakt“. Den beiden neuen Leistungen gemein ist, dass die Videosprechstunde zum Zweck der Beratung und der Verlaufskontrolle bei Patienten mit definierten Anlässen auf Initiative des Patienten erfolgt. Darüber hinaus kann bei Gebührenordnungspositionen, deren Berechnung drei oder mehr persönliche Arzt-Patienten-Kontakte im Behandlungs33

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Das sind die neuen GOPen für die Videosprechstunde im Überblick: GOP 01439 (88 Punkte): „Videosprechstunde in Quartalen ohne Arzt-Patienten-Kontakt“, einmal im Behandlungsfall. Die GOP 01439 ist von Inhalt, Struktur und Bewertung vergleichbar mit der bestehenden GOP 01435 (Haus-/Fachärztliche Bereitschaftspauschale). Sie kann für die Betreuung eines Patienten im Rahmen einer Videosprechstunde berechnet werden, sofern im Behandlungs- oder Arztfall kein persönlicher Arzt-Patienten- Kontakt stattfindet und die Kontaktaufnahme durch den Patienten zum Zweck mindestens einer der im obligaten Leistungsinhalt genannten Verlaufskontrollen und einer diesbezüglichen Beratung erfolgt. Weitere Voraussetzung ist, dass in einem der beiden Quartale, die der Berechnung unmittelbar vorausgehen, ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt in der Praxis stattgefunden hat und die Verlaufskontrolle durch dieselbe Praxis erfolgt wie die Erstbegutachtung. Die Vergütung erfolgt in der MGV. Hintergrund für diese Entscheidung ist, dass durch den Wegfall von Versicherten- und Grundpauschalen bei diesen Patienten Einsparungen erzielt werden, die jedoch nicht bereinigt werden. GOP 01450 (40 Punkte): „Technikzuschlag“, je Arzt-Patienten-Kontakt im Rahmen einer Videosprechstunde. Die GOP 01450 vergütet die Kosten, die durch die Nutzung eines Videodienstanbieters entstehen. Sie kann je Arzt-Patienten-Kontakt im Rahmen einer Videosprechstunde gemäß Anlage 31b zum BMV-Ä (also auch mehrfach im Behandlungsfall; bei mehr als einer Inanspruchnahme derselben Betriebsstätte an demselben Tag sind die Uhrzeitangaben erforderlich) berechnet werden, sofern die Kontaktaufnahme durch den Patienten zum Zweck mindestens einer der im obligaten Leistungsinhalt genannten Verlaufskontrollen und einer diesbezüglichen Beratung erfolgt. Die GOP 01450 unterliegt einer Punktzahlobergrenze je Arzt und Quartal in Höhe von 1.899 Punkten (ca. 200 Euro), bis zu der alle gemäß der GOP 01450 durchgeführten Leistungen im Quartal zu vergüten sind. Die Vergütung erfolgt extrabudgetär. Nach zwei Jahren wird die Überführung in die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung (MGV) geprüft.

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Fachgruppen Die neuen GOPen 01439 und 01450 können von folgenden Fachgruppen abgerechnet werden: - Hausärzte - Kinder- und Jugendmediziner - Anästhesisten - Augenärzte - Chirurgen - Gynäkologen - HNO-Ärzte - Dermatologen - hausärztliche Internisten - Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen - Nervenärzte - Neurochirurgen - Neurologen - Orthopäden - Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie - Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie - Strahlentherapeuten - Urologen - Fachärzte für Physikalische, Rehabilitative Medizin - fachärztliche Internisten ohne Teilgebiet - Hämatologen - Rheumatologen - Gastroenterologen - Angiologen - Endokrinologen - Pneumologen - Nephrologen - Kardiologen.

Indikationen Videosprechstunden können bei folgenden Anlässen durchgeführt werden: - Visuelle postoperative Verlaufskontrolle einer Operationswunde - Visuelle Verlaufskontrolle einer/von Dermatose(n), auch nach strahlentherapeutischer Behandlung - Visuelle Verlaufskontrolle einer/von akuten, chronischen und/oder offenen Wunden - Visuelle Beurteilung von Bewegungseinschränkungen/störungen des Stütz- und Bewegungsapparates, auch nervaler Genese, als Verlaufskontrolle - Beurteilung der Stimme und/oder des Sprechens und/oder der Sprache als Verlaufskontrolle - Anästhesiologische, postoperative Verlaufskontrolle

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fall voraussetzt (02310, 07310, 07311, 07330, 07340, 10330, 18310, 18311, 18330 und 18340) einer dieser persönlichen Arzt-Patienten-Kontakte auch als Arzt-PatientenKontakte im Rahmen einer Videosprechstunde erfolgen.

Persönlichen Kontakt durch Videosprechstunde ersetzen Außerdem wurde vereinbart, dass für eine Reihe von Gebührenordnungspositionen, die mindestens drei persönliche Arzt-Patienten-Kontakte im Behandlungsfall voraussetzen, einer dieser Kontakte auch im Rahmen einer Videosprechstunde stattfinden kann. Dies gilt unter anderem für die Behandlung von Wunden, eines Decubitus und Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates.

Anlässe für eine Videosprechstunde Für eine Videosprechstunde sind aus Sicht des Bewertungsausschusses nicht alle Krankheitsbilder geeignet, weshalb die Leistung zunächst nur für bestimmte Indikationen vergütet wird (siehe Kasten auf S. 34). Grundlage für die Festlegung der Krankheitsbilder waren Erfahrungsberichte aus verschiedenen Pilotprojekten. Zudem schreibt der Gesetzgeber vor, dass Videosprechstunden nur für Verlaufskontrollen bei bekannten Patienten gefördert werden sollen. Eine Erweiterung des Leistungsspektrums ist vorgesehen.

Anforderungen an Videodienstleister Ärzte, die Videosprechstunden anbieten wollen, bedienen sich eines Videodienstanbieters. Für die Durchführung einer Videosprechstunde sind die in Anlage 31b zum Bundesmantelvertrag definierten technischen Anforderungen zu erfüllen. Die Erfüllung der Voraussetzungen ist durch eine Erklärung des Videodienstanbieters für die Arztpraxis gegenüber der KV nachzuweisen, z. B. durch eine Rechnung. Der Videodiensteanbieter muss über entsprechende Sicherheitsnachweise verfügen. So muss die Videosprechstunde während der gesamten Übertragung nach dem Stand der Technik Ende-zu-Ende verschlüsselt sein. Ferner ist festgelegt, dass die apparative Ausstattung der Praxis und die elektronische Datenübertragung eine angemessene Kommunikation mit dem Patienten gewährleisten müssen. Näheres ist in der Anlage 31b zum Bundesmantelvertrag-Ärzte geregelt. Im E-Health-Gesetz war vorgesehen, dass Videosprechstunden ab 1. Juli 2017 finanziell gefördert werden. Durch den frühzeitigen Vertragsabschluss zur Vergütung kann das neue Angebot bereits drei Monate eher an den Start gehen.

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Technik- und Förderzuschlag von bis zu 800 Euro Für Videosprechstunden erhalten Praxen bis zu 800 Euro jährlich pro Arzt. Ab April gibt es für jede Videosprechstunde einen Technikzuschlag von 4,21 Euro (GOP 01450, Bewertung: 40 Punkte). Dieser wird für bis zu 50 Videosprechstunden im Quartal gezahlt, auch mehrmals im Behandlungsfall. Diese Mittel - bei vier Videosprechstunden pro Woche - dienen zur Hälfte zur Deckung der Kosten, die durch die Nutzung eines Videoanbieters anfallen; die andere Hälfte der Förderung von Videosprechstunden. Der Bewertungsausschuss geht davon aus, dass eine Kostendeckung bereits bei zwei Videosprechstunden pro Woche erreicht ist. Die Lizenzgebühren für Videodienste liegen aktuell bei etwa 100 Euro im Quartal.

■ KVN/ KBV

. Auf den Punkt .... Zahl des Monats

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Personen hat das Patientenmobil im Landkreis Leer in den letzten vier Monaten befördert und dabei 3.017 km zurückgelegt.

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Kurze Blickkontrollen genügen

Diese wird in Umfragen von den vor allem jüngeren Patienten wohlwollend wahrgenommen, als zusätzliche Möglichkeit online mit dem Arzt in Kontakt zu treten. Und mehr als mit dem Telefongespräch hat man mit diesem Tool die Möglichkeit, persönlich von Angesicht zu Angesicht miteinander auch per Blickkontakt zu kommunizieren. Mobilitätseinschränkungen können damit überbrückt werden, kurze Blickkontrollen z.B. auf Wunden sparen den Gang in die Praxis und Wartezeit im (vollen) Wartezimmer. Auf dem Land mit zum Teil weiten Anfahrtswegen spart auch der Arzt Zeit und Wege, in Zukunft mit drohenden Versorgungslücken kann die Video-Online-Sprechstunde ärztliche Beratung möglich machen. Die Technik dafür ist einfach anzuwenden, auch ohne große IT-Kenntnisse und auch ohne größeren Aufwand für den Patienten bei vertretbaren Kosten für den Arzt. Dabei soll die Video-Online-Sprechstunde eine Ergänzung sein und das ärztliche Gespräch mit dem persönlichen Kontakt und der Notwendigkeit der körperlichen Untersuchung nicht ersetzen. Im Moment steht diese Online-Möglichkeit am Anfang der Entwicklung und des Einsatzes, zumindest in Deutschland. In anderen Länder ist der „Chat“ mit dem Arzt schon gang

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und gäbe. Mit dem Fernbehandlungsverbot und dem emotionalen Faktor „Gesundheit“ ist man sowohl von Arzt- als auch von Patientseite zur Zeit noch zurückhaltend mit der Online-Sprechstunde. Mit zunehmender Erfahrung und Umgang mit der Technik sowie den gesetzlichen Rahmenbedingungen und Abrechnungsmöglichkeiten durch die KV wird die Online-Sprechstunde sicherlich Einzug in den Praxisalltag finden. Und wenn die niedergelassenen Ärzte dieses Angebot nicht machen, stehen die Krankenkassen, „Dr.Ed“ und weitere Anbieter schon in den Startlöchern. Neben allgemeiner Beratung, Zweitmeinung oder Wundkontrollen werden sich im Laufe der Zeit sicher noch weitere Betätigungsfelder zeigen, in denen man die OnlineSprechstunde nutzen kann: Tumorkonferenzen, überregionale Videokonferenzen mit Spezialisten oder auch die arbeitsmedizinische Beratung für Mitarbeiter in Unternehmen wären denkbar, würden Zeit und Geld sparen und ärztliches Know-how optimieren. Die Datensicherheit muss dabei eine ganz wichtige Rolle spielen und vom Anbieter garantiert werden. Mit genügend krimineller Energie ist sicher auch die Video-Online-Sprechstunde hackbar. Man kann diese Technik in Zweifel ziehen und weiter machen wie bisher – oder aber sich dieser neuen Möglichkeiten öffnen, diese differenziert betrachten und nutzen, um so den Arbeitsalltag flexibler zu gestalten, ohne die ärztliche Beratungsqualität zu vernachlässigen. Die Vergütungsmöglichkeit ist vom 1. Juli 2017 um drei Monate vorgezogen worden. Ein weiteres Indiz, aktuelle Technik nutzbar und auch liquidierbar zu machen. Und ganz nebenbei macht es auch noch Spaß.

Dr. Micha Neubert Hausarzt Osnabrück

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Die Digitalisierung der Arbeitswelt macht auch vor der Medizin nicht halt: Telemedizin und das E-Health-Gesetz sind nur einige der Stichworte. Und jetzt kommt noch die VideoOnline- Sprechstunde.

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Doktorspiele mit Headset? Alle reden von Digitalisierung! Die sogenannte Video-Sprechstunde kommt ja auch so nett und zukunftsbejahend daher, dass jeder sie eigentlich richtig lieb haben möchte. Für technikaffine Youngsters besteht nun endlich die Möglichkeit, die von Google oder Wikipedia noch unbeantworteten Fragen mit dem Tele-Doc vom heimischen PC oder Handy aus zu checken, ohne die eigenen vier Wände verlassen zu müssen. Skypen mit dem Enkel in Budapest, wer möchte das nicht? Quasi die Erweiterung der Amazon-Comfort Zone auch bei Durchfall und Mittelohrentzündung. Schade, dass es dabei zu einem für Oma und die richtig Kranken ziemlich unfairen Wettrennen um die rare Ware Arztzeit kommt! Natürlich ganz praktisch, dass der Doc nun nicht mehr Tabakrauch oder AlkFahne riecht, nachdem man ihm doch gerade Abstinenz geschworen hatte. Überhaupt, es ist ein bisschen wie bei Domian: aus der Distanz kann man recht unbekümmert kommunizieren, das Heimspiel des Doktors in dessen Sprechzimmer ist endlich Vergangenheit.

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Aber nun mal im Ernst: was steckt dahinter, was nützt es, was haben die Video-Sprechstunde und Telemedizin für Auswirkungen? Zumeist sind bereits die Kapazitäten für die realen Sprechstunden völlig ausgelastet. Wo soll denn die Zeit für virtuelle Konsultationen herkommen? Die großen kostenträchtigen Krankheiten kommen für Doktorspiele auf Skype-Niveau überhaupt nicht in Frage. Die dabei technisch bedingte Reduzierung der ärztlichen Sinne auf Bildschirm und Headset, die künftig absehbare Reduzierung der vieldimensionalen Begegnungsebene in der klassischen, individualisierten Arzt-Patient-Beziehung auf Bild und Ton wirft ernsthafte Fragen zu Sorgfalt, ärztlicher Kunst und Haftung auf. Aber nicht nur die dem Arzt zugänglichen Dimensionen seiner professionellen Wahrnehmung werden reduziert. Auch die für den Patienten salutogenetisch wichtige beziehungsgetragene Selbstwirksamkeit wird in einer derart amputierten Verständigung schmalbandig eingeengt. Vom Datenschutz mal gar nicht erst zu reden! Treibende Kraft dieser ganzen virtuellen Abfertigung ist die Ökonomisierung der Medizin. Call Center, Hotlines, die Service-Wüste Deutschland lassen es ahnen: die medial organisierte Vermittlung zuvor menschennaher Arztarbeit entspricht den bekannten betriebswirtschaftlichen Grundwerkzeugen zur Stückkosten-Senkung, Steigerung der Erträge und Rendite-Maximierung - so richtig nützlich erst für die kommenden nicht-ärztlichen Organisatoren einer bis4 | 2017

lang noch freiberuflich und mittelständisch geleisteten ambulanten Patientenversorgung. Nach der anfangs spielerisch verbrämten Einführung („nur eine zusätzliche Option“) wird sich rasch zeigen, dass Video-Sprechstunden statt in der Nische bald auch über CallCenter, sogar in Bangalore preiswert angesiedelt, quasi industriell und flächendeckend betrieben werden können. Das derzeit noch gültige Fernbehandlungsverbot wird aktuell bereits in Baden-Würtemberg „versuchsweise“ ausser Kraft gesetzt. Fortsetzung folgt. Globalisierung, freier Verkehr von Waren und Dienstleistungen, entgrenzte Mobilität, das Internet-of-Things, wer wird nicht permanent mit diesen neuen Heilsparolen berieselt? Jetzt also ein weiterer Anlauf, im Herzen gesellschaftlicher Daseinsvorsorge medizinische Zuwendung auf Twitter-Niveau einzudampfen. Als mittelbare Folge ist eine Deformierung ärztlicher Standards nach Gusto einer konsumorientierten, digital verführten Spaßgesellschaft abzusehen. Man riskiert die Trivialisierung des professionellen Rahmens unserer ärztlichen Ordination. Die Video-Sprechstunde bricht so dem ungehemmten, anlassfreien Konsum von ärztlicher Leistung im Flatrate-System der Kassenmedizin weitere Bahn. Wir als Vertreter der verfassten Ärzteschaft stehen hier in der Pflicht, aus professionellem Selbstverständnis die Rahmenbedingungen unseres ärztlichen Angebotes für die Bevölkerung klug und kritisch zu fassen und trivialen Deformierungen unseres Berufsbildes mutig entgegen zu treten. Die ärztliche Behandlung kranker Menschen ist keine Castingshow, die nach Einschaltquoten schielt. Wir Ärzte sollten die absehbaren Risiken und Nebenwirkungen für die Bevölkerung genauso engagiert diskutieren, wie wir uns z.B. in Fragen von Sterbehilfe, Tabakkonsum und krankmachenden Tendenzen unserer modernen Lebenswelt beraten und gegenüber der Gesellschaft unmissverständlich zu Wort melden.

Dr. Axel Brunngraber Hausarzt, Mitglied der Vertreterversammlung der KVN Hannover 37

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Rent a doctor Videosprechstunden sind in Skandinavien und in Teilen des Baltikums schon gang und gäbe. Rund drei Viertel aller Beschwerden sollen per Fernbehandlung heilbar sein Als ich im Sommer 2016 einmal wieder in Finnland war, fielen mir sowohl Zeitungsanzeigen als auch Werbung zu dem Thema „rent a doctor“ auf. Aus terminlichen Gründen konnte ich mich nicht mehr vor Ort informieren, darum habe ich es via Internet von Deutschland aus getan. Das Ergebnis war, dass wir in Deutschland bei der Nutzung des Internets im Gesundheitsdienst meilenweit hinterherzuhinken scheinen. Wir könnten viel lernen und auch manche Schwierigkeit im Gesundheitsdienst ausräumen, wenn wir mal über die Grenzen hinausschauten.

Und nun kommt die beste Frage: Wie lange soll die Sitzung dauern? 30 Minuten oder mehr? Der Patient selbst und nicht der Arzt oder Therapeut gibt also die gewünschte Konsultationszeit an. Dementsprechend kann der Konsultationspreis vorab berechnet werden. Er bewegt sich beim persönlichen Arztkontakt abhängig von der Ausbildung und dem Stand des Arztes zwischen etwa 50 Euro und 150 Euro für den Arzt bei einer durchschnittlichen Zeit von etwa 15 bis 20 Minuten. Hinzu kommen 10 bis 20 Euro allgemeine Praxisgebühr. 38

Die Kosten für Labor, Röntgen oder Sonografie etc. bewegen sich zwischen 10 und 100 Euro. Alles muss sofort bezahlt werden. Anders als teils in Deutschland hat der behandelnde Arzt keinen Anteil an den Laborkosten. Die berechnet allein ein Laborarzt oder auch ein Biochemiker, der auch ein medizinisches Labor leiten darf.

Abklärung per Kamera Etwas anders sieht es bei den virtuellen Arztkonsultationen aus. Hierbei handelt es sich oft um eine Firma im Gesundheitsdienst, die auch im Besitz von Ärzten sein kann, die den Kontakt zum gewünschten Arzt vermitteln. Diese Institutionen machen nicht nur auffallende Werbung um die Patienten, sondern werben auch um Ärzte für ihre Dienste, die zurzeit noch für diese kostenfrei sind. Hat man sich eingeklinkt, bekommt man meist ein Formular zurück, in dem neben den Personalien auch die Zahlungsmodalitäten geklärt werden, nach den Beschwerden und nach alten Befunden gefragt wird, die man ggf. im Anhang senden kann. Natürlich geht auch ein rein telefonischer Arztkontakt. Die Video-Konsultation ist aber die beste und wohl auch ehrlichste. Dabei kann der Arzt sich auch die erkrankte oder betroffene Stelle vom Patienten zeigen lassen und gleichzeitig bekommen beide einen Eindruck voneinander. Selbst die Lesefähigkeit nach einer Augenoperation wird via Viniedersächsisches ärzteblatt

Foto: Peter Kirchhoff/ Pixelio

Meine Recherchen ergaben, dass man schon seit mehreren Jahren in Finnland nicht nur Termine in den Praxen, sondern auch einen Arzt via Internet rund um die Uhr in Form von Mails, über das Smartphone oder auch über sein Laptop mit einer Videokonferenz buchen oder konsultieren kann. Diese Arztkontakte werden nicht nur innerhalb Finnlands angeboten, sondern auch grenzüberschreitend in den Nachbarländern Estland und Schweden. Das Interesse für diese Dienste soll weltweit sein und bis nach Israel, Marokko, angeblich auch bis Berlin gehen. Die Genehmigung hierzu wurde von der finnischen Gesundheitsbehörde schon im Jahr 2012 erteilt. Es muss aber unterschieden werden, ob man einen persönlichen oder einen virtuellen Kontakt haben will. Dieses Angebot gibt es ebenso für Zahnärzte, Mundhygieniker, Physiotherapeuten, lizensierte Masseure und andere Berufe im Gesundheitsdienst. Wenn man die entsprechenden Internetseiten anklickt, wird genauerer gefragt: Wessen Dienst möchte man in Anspruch nehmen? Allgemeinarzt oder Spezialist welcher Kategorie? Wie viele Kilometer soll die Praxis maximal entfernt sein?

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deokonsultation geprüft. Der Arzt hat unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit, Wiederholungsrezepte auszustellen. Ausgenommen sind bestimmte Medikamente wie Psychopharmaka und Opiate. Auch kann er einen Laboruntersuchungsauftrag veranlassen. In den ärztlichen Kommentaren ist zu lesen, dass 74 Prozent aller Beschwerden via Fernbehandlung heilbar seien. Als Beispiele werden genannt: Antikonzeption, fast alle Erkältungskrankheiten, Allergien, Hautprobleme, Migräne und Kopfschmerz, Durchfall, Übelkeit, Verstopfung, Harnwegsinfekte, Verrenkungen und vieles mehr. Es reiche im Übrigen meistens aus, wenn man seinen Patienten nur einmal im Jahr persönlich sähe. Ausnahmen seien die chronischen Erkrankungen wie Diabetes und andere, aber auch da sei eine Kontrolle lediglich zwei maximal drei Mal pro Jahr ausreichend. Einige dieser virtuellen Praxen rechnen auch direkt mit der dafür zuständigen kommunalen Rentenkasse KELA ab, sodass nur ein Eigenanteil von 9,90 Euro für den Patienten bleibt. Weiterhin heißt es auch, dass hierdurch die Anzahl der Besuche der oft überlasteten Gesundheitszentren verringert werden kann. Auch sei es volkswirtschaftlich nicht zu vertreten, wenn ein berufstätiger Elternteil seine Arbeit unterbrechen müsse, um mit seinem erkrankten Kind lange Wege bis in die Praxis zu fahren, dort stundenlang zu warten, um nach einem kurzen Blick des Arztes auf das Kind nach fünf Minuten nur ein Rezept zu erhalten.

Weltweit beim Wunscharzt Dieses System etabliert sich gerade in Finnland bis in seine Nachbarländer. Es wird nicht nur seit mehreren Jahren von der finnischen Ärztekammer unterstützt und überwacht, es ist auch schon für dieses Projekt Förderungsgeld der EU geflossen. Die Vorteile sind eindeutig sichtbar. Es spart lange Anfahrtszeiten und ebenso Wartezeiten in den auch dort überfüllten Praxen. Gerade der ärztlichen Unterversorgung in ländlichen Gebieten kann entgegengewirkt werden. Arztbesuche müssen nicht während der Arbeitszeit stattfinden. 4 | 2017

Untersuchungen haben ergeben, dass der größte Teil der Patienten Berufstätige sind, die nach Feierabend diese Möglichkeit nutzen. Die virtuelle Konsultation ist auch für Ärzte nützlich. Denn eine dieser Anlaufstellen hat ihren Ursprung an einer Universitätsklinik Finnlands, wo ältere, erfahrene Ärzte von jüngeren, auf dem Lande arbeitenden Kollegen rund um die Uhr via Internet mit all seinen Möglichkeiten der Befundübertragung gefragt werden können. Mittlerweile können sich dort in dieses von der Uni gegründete System auch Patienten einklinken und sich von kompetenten Ärzten gegen eine Gebühr einen Rat geben lassen. Wenn innerhalb der EU ärztliche Approbationen gegenseitig anerkannt werden, kann beispielsweise ein spanischer Kollege seine in Deutschland lebende Landsmännin per Videokonferenz behandeln. Oder umgekehrt kann der deutsche Hausarzt seine in Spanien lebende Rentnerin per Videokonferenz therapieren, auch noch nach seiner Pensionierung, wenn er mehr Zeit hat. Und alles ohne Praxisräume. Wenn die Ärzte dann auch noch EUweit rezeptieren und Laboruntersuchungen veranlassen dürfen, reicht es meist völlig aus, wenn viele der Patienten sich in ihrem Heimaturlaub bei ihrem Arzt einmal jährlich sehen lassen. Ansonsten reicht meist das Smartphone. In Deutschland dürfen Apotheken ärztliche Verordnungen rezeptpflichtiger Präparate allein via Mail nicht abgeben. Innerhalb Finnlands geht das schon, wohl auch sogar grenzüberschreitend, wenn der Arzt approbiert ist. Für den Apotheker wäre es aber wichtig, wenn er sich über den verordnenden Arzt informieren oder bei Rückfragen Kontakt zu ihm aufnehmen könnte. In Finnland gibt es eine ausführliche Matrikel der gesamten Ärztezunft, die immer einmal wieder aktualisiert wird. Dort kann man sehen und lesen, mit wem man es zu tun hat. Da ja ein persönlicher Arztbesuch nicht ausgeschlossen wird, ist das Risiko für alle Beteiligten nicht sehr hoch. Persönlich habe ich als Hafenarzt in Kotka/Finnland bei Patienten über Tausende von Kilometern via Seefunk Diagnosen gestellt und sie behandelt. Von Videokonferenzen war man noch weit entfernt. Außerdem bekäme man den Ärztemangel leichter in den Griff, wenn es jedem approbierten Arzt auch grenzüberschreitend erlaubt wäre, Patienten zu behandeln, wie es an der holländischen Grenze anfangsweise schon geschieht. Neu wäre nur: Auch zu jeder Tages- und Nachtzeit via Internet. Die Anfänge sieht man schon in anderen Ländern. In ein paar Jahrzehnten wird alles eine Selbstverständlichkeit sein. Dr.med. Diethard Friedrich FA für Gynäkologie und Obstetrik Zeven 39

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Wundheilung per Smartphone Chronische Wunden heilen besser, wenn sie von Spezialisten behandelt werden. Dank eines Telemedizinprojekts kommt das Expertenwissen allen Betroffenen zu Gute unabhängig von Wohnort und Infrastruktur Die DAK-Gesundheit hat den Anspruch, dass möglichst viele Wundpatienten von der hohen Behandlungsqualität eines solchen Spezialversorgers profitieren – unabhängig vom Wohnort und den infrastrukturellen Voraussetzungen. Auch Patienten in ländlichen Regionen sollen einen gleichberechtigten Zugang zur spezialisierten Behandlung bekommen. Möglich wird das durch die Zusammenarbeit mit den Experten des Comprehensive Wound Centers (CWC) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Denn spezialisierte Wundversorgungszentren wie das CWC haben sich als leistungsfähige und effiziente Versorgungseinheiten für schlecht heilende Wunden erwiesen. Dies belegen internationale Studien. Das CWC ist eines der europaweit differenziertesten und erfahrensten interdisziplinären Zentren in der Versorgung chronischer Wunden. Wöchentlich führen hier Fachärzte für Dermatologie, Gefäß- und plastische Chirurgie gemeinsame Visiten durch – im Sinne einer ganzheitlichen, zielgerichteten Versorgung der Patienten. Das CWC ist gut vernetzt und unterstützt Kliniken, niedergelassene Ärzte und Pflegedienste im gesamten Bundesgebiet. Da auch die Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie eng an das Zentrum angebunden sind, wird die klinische Versorgung mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen laufend optimiert. Aufgrund der hohen Versorgungsqualität hat die DAK-Gesundheit mit dem CWC ein Pilotprojekt zur Behandlung chronischer Wunden in der Gesundheitsmetropolregion Hamburg gestartet. Kern des Projektes ist die telemedizinische Vernetzung zwischen den Wundpraxen, Hausärzten und Pflegediensten am Wohnort des Patienten und den Fach-

dfg-Award für Televisite Das neue Spezialangebot „Televisite“ vom UKE in Hamburg und der DAKGesundheit wurde 2016 mit dem dfgAward in der Kategorie „Herausragende lnnovation in der Versorgung der Patienten“ ausgezeichnet. Den sogenannten „Oscar der Gesundheitsbranche“ gibt es seit 2009. Er wird Unternehmen oder Verbänden für besonders innovative Leistungen und Angebote verliehen.

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ln Deutschland leiden bis zu 1,5 Millionen Menschen unter Wunden, die nicht verheilen. Neben körperlichen Einschränkungen verursachen chronische Wunden Schmerzen – der Leidensdruck der Patienten ist hoch. Darüber hinaus stellen die hohen Kosten für chronische Wunden auch ein gesundheitsökonomisches Problem dar. Für eine sachgerechte Diagnostik, kausale Therapie und zielgerichtete Langzeitversorgung ist eine interdisziplinäre Expertise erforderlich, wie sie in der Versorgung durch Hausärzte und Pflegedienste meist nicht bereitgestellt werden kann. Dementsprechend wird die höchste Versorgungsqualität vor allem in Metropolregionen und dort in erster Linie durch Spezialversorger erzielt.

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Signifikant bessere Heilungschancen Aus internationalen Studien wissen wir, dass Wunden besser heilen, wenn sie koordiniert und leitliniengerecht in spezialisierten Zentren versorgt werden. Die Telemedizin ist dabei besonders hilfreich. Eine randomisierte Studie aus Dänemark hat ergeben, dass die telemedizinische Beratung der Versorger vor Ort durch Experten aus speziellen Wundzentren die Abheilungsraten signifikant erhöht. Unsere dig¡talen Visiten, bei denen wir über sechs Monate den Heilungsverlauf chronischer Wunden regelmäßig prüfen, beziehen die Patienten direkt mit ein. Motivation und Engagement der Patienten sind aufgrund dieser Mitwirkung besonders hoch.

und Pflege. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Wunden im Schnitt drei Monate schneller heilen und sich die Zahl der wöchentlichen Verbandwechsel halbiert.

Nachdruck aus DAK-Gesundheit mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber

Prof. Dr. Matthias Augustin Leiter des Comprehensive Wound Centers (CWC) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

ärzten am Universitätsklinikum Eppendorf. Die Patienten sind regelmäßig über ein Smartphone im direkten Kontakt mit den Spezialisten. Erfahrungsgemäß wird die Compliance der Patienten durch die selbstständige Mitwirkung unterstützt. Voraussetzung für die Projektteilnahme ist Iediglich das Einverständnis des Patienten, das nach ausführlicher Beratung eingeholt wird. Alle Teilnehmer am Projekt erhalten für die Dauer der telemedizinischen Behandlung ein Smartphone. Die Patienten fotografieren ihre Wunde mit dem Smartphone und schicken das Bild zusammen mit einem Schmerzscore über eine datenschutzsichere lnternetverbindung an die UKE-Ärzte. ln einer sogenannten Televisite begutachten die Wundexperten das Foto. Trifft die Sendung nicht pünktlich ein, wird nachgefragt. lm UKE werden alle Daten archiviert. Die ambulanten Kooperationspartner und die Patienten erhalten eine Rückmeldung per Telefon, Mail oder Fax. Der Patient entscheidet dabei bewusst über die Art und Weise der Verwendung seiner Daten. Er bleibt im Mittelpunkt der Versorgung und ist Dreh- und Angelpunkt der telemedizinischen Vernetzung. Neben der telemedizinischen Vernetzung unterstützt die DAK-Gesundheit Patienten, Hausärzte und Pflegedienste auch persönlich mit einer spezialisierten Wundfachberatung. Rund 2.100 der insgesamt ca. 9.000 betroffenen Versicherten haben das Angebot innerhalb des ersten Jahres schon genutzt, 1.000 weitere werden bereits in spezialisierten Wundzentren behandelt. Sie profitieren von einer vernetzten Behandlung rnit modernen Wundauflagen und einer ganzheitlichen Beratung zu Themen wie Ernährung, Bewegung 4 | 2017

. Auf den Punkt .... Grafik des Monats

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2016 setzen sich aus folgenden Anteilen zusammen:

5

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3

2

2

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5 5 1

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3

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Vertragsärztliche Versorgung

Krankengeld

Zahnärztliche Behandlung (ohne Zahnersatz) Zahnersatz

Vorsorge- und Reha-Maßnahmen Fahrtkosten Behandlungs-/Häusliche Krankenpflege Netto-Verwaltungskosten Sonstige Ausgaben

Arzneimittel aus Apotheken und von Sonstigen Hilfsmittel Heilmittel Krankenhausbehandlung

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Gesundheitswesen goes Digital Welches Potential liegt in der Digitalisierung der Gesundheitsversorgung? Welche Projekte gibt es in Niedersachsen? Mit diesen Fragen haben sich Fachleute auf einer Veranstaltung der Techniker Krankenkasse am 29. März 2017 in Hannover beschäftigt. „Die digitale Zukunft hat auch im Gesundheitswesen begonnen und erfährt trotz häufig geäußerter Datenschutzbedenken großen Zuspruch“, so Inken Holldorf, Leiterin der TK-Landesvertretung Niedersachsen. Digitale Technologien hätten sich längst etabliert - auch bei Patienten. „Eine Umfrage der TK hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Befragten online mit ihrem Haus- oder Facharzt in Verbindung treten wollen. 98 Prozent davon würden ihre Arzttermine über das Netz buchen, 81 Prozent befürworten die OnlineZusendung regelmäßiger Arzneimittelrezepte und 68 Prozent können sich vorstellen, zu Hause ermittelte Messwerte online an den Arzt weiterzuleiten,“ so Holldorf. Claudia Schröder, Abteilungsleiterin Gesundheit und Prävention im Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, sieht im deutschen Gesundheitswesen einen gewissen Nachholbedarf beim Thema „Digitalisierung“. Trotzdem gebe es in Niedersachsen bereits zahlreiche Projekte, die es Menschen ermöglichten, im eigenen Lebensumfeld trotz Krankheit ein selbstverantwortetes Leben zu organisieren. „Klar ist, dass Telematikanwendungen den Patientinnen und Patienten dienen müssen und nicht umgekehrt. Sie können dazu dienen, eine flächendeckende wohnortnahe Versorgung zu unterstützen und gerade auch im ländlichen Raum qualitativ hochwertige Leistungen im Gesundheitsbereich schnell erreichbar zu machen”, so Schröder. Für Nino Mangiapane, Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit, gibt es drei große Chancenfelder im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Erstens: Mehr Menschen könnten dank der neuen Techniken ein selbstbestimmtes Leben in ihrem Wohn- und Lebensumfeld führen. Zweitens: Durch die Anwendung von Telemedizin seien Fachkräftepotentiale im Gesundheitswesen besser auszuschöpfen. Drittens: Die Versorgung an den Schnittstellen des Gesundheitswesens könne effektiver gestaltet werden. Das grundsätzliche Problem bei der Koordination seien die unterschiedlichen Schnittstellen. Klaus Rupp stellte die digitale Agenda der TK vor. Die TK setzt im Bereich der Mitgliederbetreuung auf Apps. Exemplarisch beschrieb er folgende Anwendungen: Mitglieder42

App, ICD-Diagnoseauskunft-App, Allergie-App, DiabetesTagebuch-App und Migräne-App. Die Frage, wie die Evidenz und die Akzeptanz digitaler Anwendungen bei den Nutzern ist, beantwortete Dr. Christoph Dockweiler, Lehrbeauftragter eHealth und Telemedizin der Universität Bielefeld. Forschung und Entwicklung dürfe nicht top down erfolgen. Fragen einer bedarfs- und bedürfnisgerechten Einführung und Nutzung von Versorgungstechnologien ließen sich nicht allein durch die Prämisse des „technisch Möglichen“ lösen. Dr. Dockweiler wörtlich: „Digitale Gesundheitsangebote müssen sich stärker am technisch Notwendigen orientieren.” Antje Niemeyer, IBM Watson Health Leader für Deutschland, Österreich und Schweiz, ging auf kognitive Assistenzsysteme im Gesundheitsmarkt ein. IBM Watson Health wurde 2015 als eigenes Geschäftsfeld gegründet. Ziel ist es, Erkenntnisse und Muster aufzuzeigen, die heute noch nicht erkannt werden können. Ein Beispiel ist das Zusammenführen von publiziertem Wissen und individuellen Daten, beispielsweise für die Krebstherapie. Kognitive Systeme können Inhalte verstehen und Muster erkennen. So kann Watson beispielsweise Onkologen helfen, bessere Behandlungsmöglichkeiten zu identifizieren und individuelle Krebsbehandlungspläne zu erstellen. Kristiina Omri, Wirtschafts- und Handelsdiplomatin der Botschaft Estland in Berlin, stellte die digitale Gesundheitsversorgung Estlands vor. Das estnische Gesundheitswesen ist eines der am stärksten digitalisierten Gesundheitswesen der Welt. Es sei aber nicht so, dass es unter estnischen Ärzten oder Gesundheitspolitikern ganz spezielle Affinität zur digitalen Kommunikation gebe, betonte Omri. Vielmehr sei die estnische Gesellschaft eine weitgehend digitale Gesellschaft. „Was wir im Gesundheitswesen erreicht haben, funktioniert auch in vielen anderen Bereichen”, so die Diplomatin. Das estnische Patientenportal und die darüber zugängliche, übergreifende elektronische Gesundheitsakte seien das Herzstück des digitalisierten Gesundheitswesens in Estland. Dazu kämen zahlreiche digitale Dienstleistungen für Ärzte und Patienten, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Dr. Thomas Bartkiewicz, Ärztlicher Direktor des Klinikums Braunschweig, stellte den Weg der Digitalisierung des Krankenhauses dar. Alle Dokumente des Krankenhauses würden elektronisch erzeugt und im IT-Verbund als digitale Patientenakte verwaltet. Durch die Digitalisierung würden Prozesse verkürzt und Mitarbeiter entlastet. ■ Detlef Haffke niedersächsisches ärzteblatt

Arzneimittel & Verordnung

Noch einmal: Interaktionen zwischen Dimethylfumarat und oraler Kontrazeption Keine allgemeine Empfehlung zum Wechsel auf nicht-hormonelle Verhütungsmethoden Der im Februar 2017 im niedersächsischen ärzteblatt erschienene ATIS-Artikel „Interaktionen Dimethylfumarat – orale Kontrazeptiva?“ erhielt im Titel den redaktionellen Zusatz „Bei Therapie mit Dimethylfumarat auf nicht-hormonelle Verhütungsmethoden wechseln“. Diese Empfehlung entspricht nicht den im Beitrag dargestellten Sachverhalten. Folgende Interaktionen zwischen Dimethylfumarat oder anderen Multiple-Sklerose-Therapeutika mit oralen Kontrazeptiva wurden beschrieben (1):

le das erhöhte Risiko von Nebenwirkungen wie Leberfunktionsstörungen, Hypertonie oder depressive Verstimmungen infolge der oben genannten unspezifischen pharmakodynamischen Interaktion zu berücksichtigen.

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& Literatur 1 Stichtenoth DO, Lemper H. Bei Therapie mit Dimethylfumarat auf nicht-hormonelle Verhütungsmethoden wechseln. Atis informiert: Interaktionen Dimethylfumarat – orale Kontrazeptiva? Auf GI-Nebenwirkungen von Dimethylfumarat achten, die die Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva aufheben können. niedersächsisches ärzteblatt 2017; 2: 52-53 2 Fachinformation; Fachinfo CD, BPI Service GmbH 2016. 3 S2e-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose“. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). [http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-050.html]

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Dimethylfumarat, Alemtuzumab, Azathioprin, Daclizumab, Fingolimod, Glatirameracetat, Interferon beta-1a und beta-1b, Mitoxantron, Natalizumab und Teriflunomid führen sehr häufig zu gastrointestinalen Nebenwirkungen, insbesondere Diarrhoe, Übelkeit und Erbrechen. Dadurch kann die Resorption und somit die Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva reduziert oder aufgehoben werden. Bei Therapie mit einem der aufgeführten Multiple-Sklerose-Therapeutika und einem oralen Kontrazeptivum können sich deren Nebenwirkungen addieren.

Diese möglichen Wechselwirkungen sind bei Therapieplanung, Aufklärung und Therapiekontrollen zu berücksichtigen; eine grundsätzliche Empfehlung zum Wechsel auf nicht-hormonelle Verhütungsmethoden ergibt sich jedoch nicht. Dies sei an zwei typischen Therapiesituationen verdeutlicht: A) Beginn einer Therapie mit Dimethylfumarat bei bestehender oraler Kontrazeption: Bei der Aufklärung der Patientin sollte auf die verminderte Aufnahme von Sexualhormonen bei Erbrechen/Durchfall hingewiesen werden; gegebenenfalls ist eine zusätzliche nicht-hormonelle Verhütungsmethode notwendig. B) Bestehende, gut verträgliche Therapie mit Dimethylfumarat und Indikation zur oralen Kontrazeption: Die orale Kontrazeption ist unter Aufklärung wie unter A) beschrieben möglich. In beiden Situationen ist bei der Therapiekontrol-

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Prof. Dr. med. Dirk O. Stichtenoth Hannah Lemper Institut für Klinische Pharmakologie, Medizinische Hochschule Hannover.

Kontakt zu ATIS Alle Anfragen zur Arzneimitteltherapie können auf folgendem Wege an ATIS gestellt werden: Vorzugsweise per Fax: 0511 380 100 3462, Telefon: 0511 380-3222. Postanschrift: KV Niedersachsen, Frau Dr. rer. biol. hum. Friederike Laidig, Berliner Allee 22, 30175 Hannover. Die ATISHomepage mit elektronischem Anfrageformular ist im KVN-Mitgliederportal unter Verordnungen > Arzneimittel > therapeutische Informationen zu finden. Wir bitten aus organisatorischen Gründen, Anfragen an die genannte KVN-Adresse zu richten. Ihre Anfrage wird dann entweder dort direkt beantwortet oder an das Institut für Klinische Pharmakologie der MHH weitergeleitet.

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