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Vet. Med. Austria / Wien. Tierärztl. Mschr. 93 (2006), 170 - 175
Aus dem Chirurgischen Zentrum für Kleintiere Dr. Lorinson1, der Klinik für Chirurgie und Augenheilkunde (Klinisches Department für Kleintiere und Pferde)2, der Klinik für Bildgebende Diagnostik (Klinisches Department für Bildgebende Diagnostik, Infektions- und Laboratoriumsmedizin)3 und dem Institut für Medizinische Physik und Biostatistik (Department für Naturwissenschaften)4 der Veterinärmedizinischen Universität Wien
Postoperative Untersuchung von Skapulahalsfrakturen bei 4 Katzen mittels Goniometrie und Kraftmessplattenanalyse K. GRÖSSLINGER1,2, D. LORINSON1, B. BOCKSTAHLER2, D. MALLECZEK3, A. TICHY4 und G. WINDISCHBAUER4 eingelangt am 22.8.2005 angenommen am 17.7.2006 Schlüsselwörter: Skapulahalsfraktur, Goniometrie, Bodenreaktionskräfte, Katze.
Keywords: scapular neck fracture, goniometry, ground reaction force, cat.
Zusammenfassung Skapulahalsfrakturen führen aufgrund ihrer zumeist auftretenden Instabilität zu hochgradiger Lahmheit und Störungen der Funktionalität der betroffenen Vorderextremität, was eine chirurgische Intervention notwendig macht. In dieser Studie wurden 4 Katzen mit Skapulahalsfrakturen in einem Zeitraum zwischen 6 und 44 Monaten nach chirurgischer Versorgung klinisch und radiologisch nachkontrolliert. An den 4 klinischen Patienten und an 4 Kontrollkatzen wurden zusätzlich goniometrische Messungen und Kraftmessplattenanalysen vorgenommen. Die orthopädische Untersuchung ergab bei 3 Katzen einen lahmheitsfreien Gang, Katze 3 zeigte eine geringgradige Lahmheit. Alle Skapulahalsfrakturen waren mit geringen degenerativen Gelenksveränderungen radiologisch verheilt. Die mittlere Beweglichkeit (range of motion, ROM) betrug 94° bei Patient 1, 100° bei Patient 2, 40° bei Patient 3 und 83,3° bei Patient 4. In der Kontrollgruppe lag die mittlere ROM zwischen 140 und 143,3°. Die statistische Analyse ergab signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (p = 0,02). In der Patientengruppe lag die errechnete normierte Bodenreaktionskraft der Vorderextremitäten zwischen 3,1 und 4,2 N/kg KM. In der Kontrollgruppe betrugen die Werte zwischen 4,1 und 5,8 N/kg KM. Bei den gesunden Katzen zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Vorderextremitäten. Der Vergleich der operierten Extremität mit einer Vorderextremität der gesunden Katzen ergab eine signifikant höhere Belastung bei den Kontrollkatzen (p = 0,04). Die Goniometrie und die Kraftmessplattenanalyse erwiesen sich als praktikable Methoden, um Unterschiede an orthopädisch gesunden und kranken Katzen zu evaluieren.
Summary Postoperative examination of scapular neck fractures in 4 cats with goniometry and force plate analysis
Abkürzungen: BM = body mass; EKH = Europäisch Kurzhaar; Fz = vertikale Kraft; J = Jahr; KM = Körpermasse; N = Newton; ROM = Range of Motion; s = Standardabweichung; VE = Vorderextremität; VL = vorne links; VR = vorne rechts; Ø = Mittelwert, ° = Grad
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Introduction Scapular neck fractures are mostly considered as instable fractures that result in severe non-weightbearing lameness and dysfunction of the front limb recommending surgical therapy. Material and methods 4 cats with scapular neck fractures were reviewed clinically and radiographically throughout the postoperative period. At the time of long-term re-evaluation between 6 and 44 months after surgery, additional goniometry and force-plate analysis were performed in the 4 clinical patients and in 4 cats serving as a control group. Results Clinical examination revealed no lameness in 3 of the patients whereas cat no. 3 showed a grade 1 lameness. All 4 scapular neck fractures were radiographically healed with minimal degenerative joint disease. In the patient group, mean range of motion (ROM) calculated was 94° in cat 1, 100° in cat 2, 40° in cat 3 and 83.3° in cat 4. In the control group, mean ROM ranged from 140 to 143.3°. Statistical analysis resulted in significant differences between clinical patients and control group (p = 0.02). In the patient group, normalized vertical force ranged from 3.1 to 4.2 N/kg BM. In the control group, data ranged from 4.1 to 5.8 N/kg BM. No significant difference between the frontlegs was calculated in these cats. Comparison of the operated frontleg to the left frontleg of the control cats revealed significantly higher values for the controls (p = 0.04). Clinical relevance and conclusion Goniometry and force plate analysis are practicable methods to detect differences between orthopedically injured and sound cats.
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Einleitung Skapulafrakturen sind seltene Verletzungen bei Hunden und Katzen. Sie entstehen am häufigsten im Zuge von gravierenden stumpfen Traumen, zum Beispiel bei Verkehrsunfällen (HARARI u. DUNNING, 1993). Während Patienten mit Frakturen des Skapulakörpers und der Spina scapulae oft nur eine geringgradige Lahmheit aufweisen, zeigen Tiere mit Skapulahalsfrakturen normalerweise eine hochgradige Dysfunktion der betroffenen Vordergliedmaße und belasten diese Extremität nicht (WILLER, 1997; PARKER, 2002). Da die konservative Therapie von Skapulahalsfrakturen die Funktion des Schultergelenkes negativ beeinflusst und es zu einer Schädigung des Nervus subscapularis mit verminderter Funktion des Musculus supraspinatus und des Musculus infraspinatus kommen kann, wird eine chirurgische Versorgung dieser Frakturart empfohlen (BRUNNBERG et al., 1979; HULSE u. JOHNSON, 1997; WILLER, 1997). In der vorliegenden Arbeit wird von 4 Fällen von Skapulahalsfrakturen bei Katzen berichtet, die chirurgisch stabilisiert und mittels orthopädischer Untersuchung, Röntgenuntersuchung, Goniometrie und Analyse der Bodenreaktionskräfte evaluiert wurden. Ziel dieser Arbeit war es, anhand klinischer Patienten mit einseitigen orthopädischen Läsionen goniometrische und kinetische Asymmetrien zu untersuchen.
Material und Methode Aus den Krankengeschichten der 4 Katzen mit Skapulahalsfrakturen wurden das Nationale, die Anamnese, zusätzliche Verletzungen und die Klassifikation der Skapulahalsfrakturen zusammengefasst (Tab. 1 und 2). Abb. 1 zeigt das präoperative Erscheinungsbild einer Skapulahalsfraktur (Katze 1). Die Frakturen wurden bei allen 4 Katzen chirurgisch mittels Kreuzspickung versorgt. Dafür wurde ein lateraler Zugang zum Skapulahals ohne Osteotomie des Processus acromialis oder des Tuberculum majus durchgeführt. Nach Reposition der Frakturfragmente wurden diese mittels zweier, kranial bzw. kaudal im Operationsfeld gelegener Kirschner Bohrdrähte, die konvergierend vom Schultergelenk aus eingebracht wurden, stabilisiert. Der Wundverschluss erfolgte routinemäßig. Aufgrund einer vorzeitigen Implantatlockerung bei Katze 3 wurde die Operation wiederholt, und die Fraktur wurde mit einer 2.mm L-Platte und Schrauben versorgt. Unmittelbar postoperativ wurde die operierte Extremität bei allen Katzen mit einer Velpeau Schlinge für die ersten 12 bis 18 Stunden geschont. Die Entlassung in häusliche Pflege erfolgte mit der Aufforderung, den Katzen in den ersten 4 bis 6 Wochen nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit zu erlauben. Die postoperativen Untersuchungen wurden bei den 4 Katzen in individuell unterschiedlichen Zeitabständen durchgeführt und beinhalteten eine klinisch-orthopädische und eine röntgenologische Untersuchung. Der Lahmheitsgrad verringerte sich bei allen 4 Katzen von mittelgradig zu geringgradig innerhalb der ersten 2 bis 3 postoperativen Monate. Die in der Folge beschriebene Reevaluierung erfolgte zwischen 6 und 44 Monaten postoperativ. Sie beinhaltete eine orthopädische sowie eine radiologische Untersuchung im kaudokranialen und mediolateralen Strahlengang. Im Anschluss daran wurden das betroffene
Schultergelenk der 4 Katzen sowie das linke Schultergelenk von 4 gesunden Kontrollkatzen goniometrisch untersucht. Alle 8 Katzen wurden für diese Untersuchung nicht sediert. Bei der goniometrischen Untersuchung wurde die passive, maximale Extension und Flexion des Schultergelenkes mittels Plastikgoniometer bestimmt, wobei der eine Schenkel des Goniometers entlang der Spina scapulae und der zweite Schenkel entlang der Längsachse des Humerus angelegt wurde. Der Drehpunkt befand sich im Bereich des Tuberculum majus humeri. Die Messung wurde an jeder Schulter der 8 Katzen dreimal wiederholt, der Mittelwert berechnet und aus der Differenz von Extensions- und Flexionswinkel wurde das Ausmaß der Beweglichkeit (sogenannte mittlere range of motion, ROM) bestimmt. Anschließend an die goniometrische Untersuchung wurden die vertikalen Bodenreaktionskräfte mit 2 Kraftmessplatten (Kistler® Instrument Corporation, Ostfildern, Deutschland), die in ein Laufband integriert waren, an allen 4 Patienten und den 4 gesunden Kontrollkatzen gemessen. Da es sich um Standaufnahmen handelte, wurde das Laufband nicht eingeschaltet und die integrierten Kraftmessplatten in ihrer Funktion als Waagen benutzt. Die Katzen wurden in Schubkarrenposition mit einem Winkel von 30 bis 45 Grad zwischen der Körperachse und der Oberfläche des Laufbandes auf die Kraftmessplatte gestellt, wobei die rechte und die linke Vorderextremität jeder Katze auf einer eigenen Platte zu stehen kam. Alle Katzen wurden von derselben Person gehalten. Dieser Halter sowie die Assistentin am Computer bestimmten subjektiv die korrekte Positionierung der Katzen. Sobald die Tiere eine gerade Kopf- und Halshaltung eingenommen hatten, wurden die vertikalen Kräfte bei 300 Hertz 5 Sekunden lang aufgenommen und mit einem Tiefpassfilter von hochfrequenten Störungen befreit. Die Messung wurde bei jeder Katze fünfmal wiederholt. Diese 5 gültigen Messreihen wurden mit dem Computerprogramm „SIMI Motion Data Force“ (SIMI Reality Motion Systems, Unterschleißheim, Deutschland) analysiert (Abb. 2a und b). Da ein Teil der Körpermasse bei dieser Art der Messung nicht auf den Vorderextremitäten lastete sondern vom Halter übernommen wurde, wurden die erhaltenen Messwerte mit Gleichung 1 in die wirksame Körpermasse (KMw) umgerechnet: KMw =
FLi + FRI g
(1)
FLi = Bodenreaktionskraft links (N), FRi = Bodenreaktionskraft rechts (N), g = Erdbeschleunigung (9,81m/s²) Nach Berechnung der wirksamen Körpermasse wurden die Messergebnisse mit Gleichung 2 auf diese normalisiert: FLin =
FLi KMW
(2) FLin = Bodenreaktionskraft links normiert (N/kg) Bei der Berechnung der wirksamen Körpermasse KMw nach Gleichung 1 als auch bei der Normierung nach Gleichung 2 wurde von fehlerbehafteten Messgrössen Fi ±∆ Fi ausgegangen (Fehlerfortpflanzung nach Gleichung 3 und 4, ÖNORM ENV 13005).
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Tab. 1: Nationale, Anamnese und zusätzliche Verletzungen der 4 Patientenkatzen Patient
Alter (J) Geschlecht
Rasse
Anamnese
Zusätzliche Verletzungen
1
3
weiblich
Siam
Fenstersturz
2 3 4
1 1,5 8
weiblich männlich männlich
EKH EKH EKH
Fenstersturz Fenstersturz Fenstersturz
zerebrale Kontusion, Kieferfrakturen, Lungenkontusion Lungenkontusion Lungenkontusion Lungenkontusion
Tab. 2: Frakturklassifikation und Operationsverzögerung (Tage zwischen Trauma und Operation) Patient
Frakturlokalisation
Frakturtyp
1 2 3 4
links rechts links links
extraartikulär, extraartikulär, extraartikulär, extraartikulär,
Operationsverzögerung (d) instabil instabil instabil instabil
4 1 1 unbekannt
Tab. 3: Ergebnisse der orthopädischen Untersuchung Patient Lahmheit
Muskelatrophie
Gelenksschmerz
1 2 3 4
keine keine mittelgradig keine
mild kein kein kein
keine keine Grad 1 keine
Tab. 4: Mittlere maximale Flexion, Extension und ROM des operierten Schultergelenks der Patientenkatzen und des linken Schultergelenks der Kontrollkatzen ∅ max Flexion (°)
∅ max Extension (°)
∅ ROM (°)
Patientenkatzen 1 2 3 4
45,3 50,0 86,7 48,3
139,3 150,0 126,7 131,7
94,0 100,0 40,0 83,3
Kontrollkatzen 1 2 3 4
35,3 36,0 38,7 40,0
178,0 178,7 179,3 180,0
143,3 142,7 140,7 140,0
Tab. 5: Normierte Bodenreaktionskräfte der gesunden Katzen (Angaben in N/kg KM) VL
Tab. 6: Normierte Bodenreaktionskräfte der Patientengruppe (Angaben in N/kg KM)
VR
operierte VE
Katze
Fin1-5
sin1-5
Fin1-5
sin1-5
1 2 3 4
5,0 4,4 4,1 4,7
1,1 0,6 1,2 2,2
4,8 5,4 5,8 5,1
0,9 0,6 1,6 2,5
1 2 3 4
gesunde VE
Fin1-5
sin1-5
Fin1-5
sin1-5
3,1 3,6 4,2 3,7
0,6 1,4 0,3 0,3
6,7 6,2 5,6 6,1
0,6 1,8 0,4 0,3
Fin1-5 = normierte Bodenreaktionskraft der Katze i gemittelt über
Fin1-5 = normierte Bodenreaktionskraft der Katze i gemittelt über
alle 5 Messungen; sin1-5 = empirische Standardabweichung nach
alle 5 Messungen; sin1-5 = empirische Standardabweichung nach
Gleichung 5
Gleichung 5
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KMW ± ∆KMw =
FLi + FRI g
±
∆FLi + ∆FRi
(3)
g
Fi = Bodenreaktionskraft (N), ∆Fi = absoluter Fehler von Fi (N/kg), ∆KMw = absoluter Fehler von KMw (kg) FLin ±
∆FLin
=
FLin
FLi KMW
±
∆FLi FLi
+
∆KMW KMW
(4)
Fin = normierte Bodenreaktionskraft (N/kg), ∆Fin / Fin = relativer Fehler von Fin (N/kg) Die empirische Standardabweichung der gemittelten und normierten Bodenreaktionskraft Fin1-4 wurden nach Gleichung 5 errechnet. Diese beiden Größen wurden für jede Katze und jedes Extremitätenpaar aus den Versuchdaten ermittelt und für die darauf folgende statistische Analyse herangezogen.
Σ
5
Sin1-5 =
√
k-1
s2k
5
(5) Fin1-5 = gemittelte und normierte Bodenreaktionskraft, sin1-5 = empirische Standardabweichung von Fin1-5, SK = absolute Fehler jeder einzelnen Messung k = 1, 2, 3, 4, 5 Statistische Auswertung Mit dem Statistikprogramm SPSS Version 11.5 für Windows wurde ein Kolmogorov-Smirnov Test durchgeführt, der die Normalverteilung beider Gruppen zeigte. Mit dem MannWhitney Test wurden die ROM der Patienten- und Kontrollkatzen, die operierte Extremität der Patientenkatzen mit der linken Vorderextremität der Kontrollkatzen sowie die nicht operierte Extremität der Patientenkatzen mit der rechten Vorderextremität der Kontrollkatzen verglichen. Der Wilkoxon Test wurde durchgeführt, um die Ergebnisse der Kraftmessplattenmessung der verletzten mit der nicht verletzten Extremität der Patientenkatzen und die kontralateralen Extremitäten der Kontrolltiere zu vergleichen. p-Werte