MONTE CARLO

PETER TERRIN MONTE CARLO ROMAN

Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post

BERLIN VERLAG

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ISBN 978-3-8270-1273-9

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel ›Monte Carlo‹ bei De Bezige Bij, Amsterdam © De Bezige Bij, Amsterdam Für die deutsche Ausgabe © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH München / Berlin 2016 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Typografie: Birgit Thiel Gesetzt aus der Minion und der Gotham von Fagott, Ffm Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany

FÜR MEINEN SOHN WILLEM

»Check ignition and may God´s love be with you.« David Bowie, SPACE ODDITY

Monte Carlo

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Das Feuer ist noch kein Feuer. Nicht wirklich. Aber der hochwertige Treibstoff, der aus dem Lotus leckt, ist schon keine Flüssigkeit mehr. Genau in diesem Augenblick geschieht es, eine rigorose Umwandlung findet statt, begleitet von einem Geräusch, das manche später als Bellen bezeichnen werden – ein Gemeinplatz – in Wirklichkeit aber die Stimme einer riesigen, nach Luft schnappenden Bestie. Noch kein Feuer, nur eine farblose, im grellen Sonnenlicht noch unsichtbare Hitzewolke an diesem außergewöhnlich warmen Frühlingstag in Monte Carlo. Eine Wolke, die ihm von hinten einen Stoß versetzt und ihn zugleich umfasst. Noch bilden Overall, Unterwäsche, sogar die Pomade in seinem Haar eine Grenze, die ihn zu schützen vermag. In diesem Augenblick existieren sie noch nebeneinander, gleichwertig, sein Overall und die geisterhafte Hitze. Das Feuer, das noch keines ist.

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Der Mann heißt Jack Preston. Sein sanftmütiger, fürs Vaterland gefallener Vater hätte ihn gern Adam genannt, aber der Mutter war der Name zu vornehm, er passe nicht zu einfachen Leuten. Ihn Adam zu nennen, dachte sie und lehnte sich in die aufgeklopften Kissen zurück, während ihr neugeborener Sohn die Lippen um ihre überempfi ndliche Brustwarze schloss und dabei ein leises Wimmern von sich gab, als hätte ihn nach überstandener Qual das Glück überrumpelt, ein Glück, so groß, dass es nicht in seinen winzigen Körper passte, und der Überfluss mit sukzessiven Schwingungen der Stimmbänder abgeführt werden musste – ihn Adam zu nennen, dachte sie, würde falsche Hoffnungen wecken und ihn für ein von Enttäuschung vergiftetes Leben vorbestimmen. Jack. Nach ihrem totgeborenen Bruder, der ihr in den vergangenen Monaten keine Sekunde aus dem Sinn gegangen war und der sie in der Nacht vor der Geburt im Traum besucht, ihr als erwachsener Mann die Hand in einer Weise geschüttelt hatte, dass seine Identität über alle Zweifel erhaben gewesen war. Adam, dachte der Vater elf Jahre später. Der Gedanke fiel mit dem Einschlag einer Kugel direkt neben seinem Kopf zusammen. Jetzt, da er an diesem fremden Strand lag, in die Brust getroffen, schon jenseits des Schmerzes, jetzt, da er nicht mehr am Getümmel teilnahm, verebbte seine Angst. Das Mörserfeuer, die heiseren Schreie, die pfeifenden Kugeln, das Meer, alles verschwamm. Als der Sand aufspritzte und die Kugel genau in seinem Blickfeld eine Kuhle bildete, stieg der Name Adam wie 13

eine wohlige Erinnerung in ihm auf, ein unverhofftes Geschenk, der Sohn, der seiner doch auch war. Das stille Vergnügen an einem geheimen Bund, beschlossen in einem einzigen Wort. Adam. Er flüsterte es, er spürte, wie sich seine Lippen bewegten, und starb.

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Der Fürst strahlt. Der wichtigste Tag des Jahres verläuft ganz nach Plan. Jetzt, da das obligatorische Festessen hinter ihm liegt, das Plaudern gut überstanden ist, sucht er die Hand seiner amerikanischen Frau. Sie ist so graziös, wie es der von den Eltern gewählte Name versprach. Die Atmosphäre ist entspannt, die Gesellschaft inzwischen aneinander gewöhnt. Durch die großen Fensterpartien des Empfangsraums strömt Sonnenlicht herein, in der Ferne in fast hörbarem Glitzern reflektiert vom azurblauen Meer. Ein Vogel im Segelflug lenkt des Fürsten Aufmerksamkeit auf sich, hoch am Himmel zieht er seine Kreise, er gleitet auf der Luftströmung dahin und kehrt sich wieder gegen sie, als nähe er mit dem scharfen Schnabel, Schleife nach Schleife, einen Riss in den Luftschichten. Und der Fürst wird zu diesem Vogel, er blickt auf dieses Stück Land am Berghang hinab, wie ein Adler, er schaut über Gottes Schulter auf das rege Treiben der Menschen, auf diese Konzentration von Anstrengung, Energie und Intellekt, diese weltberühmte Häufung außergewöhnlicher Wohlfahrt und Architektur, die romantische Harmonie mit den Farben des Gesteins weiter oben, das blendende Weiß der in Reih und Glied liegenden Jachten im Hafen – ein Fürstentum, denkt er – älter und weiser und vom Wein nostalgisch geworden – wie ein immerwährendes, nie einzulösendes Versprechen. Und da mittendrin zeichnet sich haarscharf die Rennstrecke des Grand Prix ab. Ein launischer Ring spannungsgeladener Abwesenheit. 15

Er nimmt den Ehering seiner Frau zwischen die Finger und spricht im Stillen die Hoffnung aus, es möge heute keine Toten geben, nicht so wie im letzten Jahr. Mit der anderen Hand streicht er sich den Schnurrbart. Dann wendet er sich seinen Gästen zu, aber in Gedanken ist er bei Deedee.

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Jack Preston war dreizehn, als er an Bauer Colins Traktor herumbastelte, einem alten Massey Ferguson aus den frühen dreißiger Jahren. Dieser stand neben einem der riesigen, quer zur Straße gebauten Schuppen – manche ohne Wände zur Heulagerung, jeweils sechs auf beiden Seiten –, wodurch die Straße fast wie ein Privatweg durch Colins Hof wirkte. Seit zwei Jahren war Jack Preston ein schweigsamer Junge; er hatte neben der Mutter gestanden, als ein Angehöriger der Armee, die Mütze an die glänzenden Uniformknöpfe gedrückt, über ihre Köpfe hinweg ins Haus gestarrt und wortwörtlich wiederholt hatte, was ihm zu sagen aufgetragen war. Der Traktor war, von Unkraut durchwuchert, zum Verrosten verdammt, ein windstilles Refugium für die Katzen. Der Bauer und seine Knechte hatten sich damit abgefunden, wenn auch keiner von ihnen es zugegeben hätte. Jeder Bauernhof hatte so einen Traktor, einen Anhänger, eine Mistkarre, etwas, was eines Tages einfach stehen blieb, etwas, woran die Zeit sich heften und sich manifestieren konnte, in einer Welt, die in den Zyklus der Jahreszeiten eingezwängt war. Nach der Schule rannte der Junge zum Bauernhof, manchmal traf er dort tagelang keinen Menschen, dann flößten ihm die hohen, verlassenen Schuppen Furcht ein; er murmelte ein Vaterunser und konzentrierte sich auf die Arbeit. Von Motoren verstand er noch nichts, wie sie funktionierten, konnte er sich nicht erklären. Er bastelte herum. Er zerlegte den Motor und ordnete die einzelnen Teile fein säuberlich auf einer Pferde17

decke an. Für verschlissene Dichtungen suchte er in den Schubladen der Werkstatt nach Ersatz. Er putzte mit Spucke und alten Lappen. Er wagte sich immer weiter vor, merkte sich den Weg zum Herzen der Maschine und schraubte alles wieder so zusammen, als verließe er rückwärts das Zimmer, das er betreten hatte. Nach drei Monaten sah der Ferguson wie neu aus. Dass der Motor nicht lief, tat nichts zur Sache.

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Das Feuer ist noch kein Feuer, und die Leute warten. Ihre Köpfe gucken zwischen den Blumen auf den Balkons der höchsten Wohnblocks hervor. Sie rauchen, sie warten, sie hängen über schmiedeeiserne Geländer und blicken auf den Boulevard Albert 1er und die gerammelt volle Tribüne bei der Zielgeraden. In der Kurve bei der Kirche Sainte-Dévote in Richtung Avenue d´Ostende sitzen Männer in weißen Hemden auf den Steinbrüstungen. Beim Anstieg nach Beau Rivage, beim rauschenden Brunnen vor dem berühmten Casino, bei Mirabeau und der stark abfallenden Strecke zur Haarnadelkurve, bei der Tunnelausfahrt, der Schikane, auf den Stufen an der schnellen Kurve beim Bureau de Tabac, am majestätischen Hafen entlang, auf dem Vorderdeck unzähliger Vergnügungsschiffe, bis zur scharfen Rechtskurve am Gasometer zum Boulevard Albert. Alles wartet gespannt. Alles hält sehnsüchtig Ausschau nach den Boliden, die gleich durch die Straßen schwärmen werden, achtzig Runden lang, wie zigarrenförmige Insekten auf vier hohen Rädern.

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Auf der Tribüne bei der Zielgeraden nimmt eine Frau einen Fotoapparat aus ihrer Handtasche. Der vierschrötige Mann zu ihrer Rechten hat Unterarme im Umfang praller Oberschenkel. Nur seine Armbanduhr deutet darauf hin, dass er sich nicht hierher verirrt hat, dass er nicht aus Versehen hier sitzt. Die Frau stellt ihre Handtasche auf den Schoß und achtet darauf, dass sie den Mann neben sich nicht berührt. Der Rauch seiner Zigarette zieht in die andere Richtung. Er zeigt auf die Rennwagen und spricht laut mit seinem Nachbarn, dann lässt er, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, den dicht behaarten Arm mit Aplomb auf sein Bein fallen; beide Gliedmaßen schwingen nach. Sie könnte mit ihrem Ehemann den Platz tauschen, der Mann würde es wahrscheinlich nicht einmal merken, aber sie traut sich nicht, aus Angst, ihn zu brüskieren. Um sich abzulenken, schaut sie durch den Sucher des Fotoapparats. Er ist Italiener, da ist sie sich sicher. Das Haar, seine ganze Art. Sie denkt: Alle dicken Männer haben etwas Kindliches, auch wenn sie noch so behaart sind. Auch wenn sie Zigarren rauchen und den ganzen Tag nichts anderes von sich geben als gereiztes Brummen. Typen, die auf Frauen stehen, die sie bemuttern. Es stößt sie nicht einmal ab, es verwundert sie eher, sie stellt sich vor, wie das im Bett wäre. Die unerwartete Empfindung bewirkt, dass sie das Gesicht hinter der Kamera versteckt. 21

Ihr Ehemann weiß nicht, was sie denkt. Sie macht Fotos. Niemand weiß, was sie denkt. Sie ist eine Frau, die Fotos macht, auf einer Tribüne neben einem dicken, italienisch aussehenden Mann.

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Keiner kann sagen, wie sich die Nachricht verbreitet hat, woher sie kommt. Es ist nicht mehr anzugeben, spielt keine Rolle mehr, sobald der Name ausgesprochen wurde. Deedee. Alle wissen, dass sie in Monaco ist. Alle spüren ihre Anwesenheit. Deedee. Man begreift, dass man ein Teil dieses Geschehens ist, einen Nachmittag lang fügt man sich der Selbstverständlichkeit des Außergewöhnlichen. Eine junge Schauspielerin, die Furore macht – natürlich ist sie hier. Ihr Name geht von Mund zu Mund, verbindet alle mit allen, auf einem zweiten »Circuit«. Deedee. Kühl und geflammt wie der Marmor der Gänge, durch die sie zu ihrer Suite geführt wird. Der Wagemut um ihre vergnügt gekräuselten Mundwinkel, auch wenn sie fromm die Augen niederschlägt. Ein tiefgläubiges junges Mädchen vom Lande, das langsam in seinen Rufnamen hineinwuchs. Ein Duett mit dem genialen Chansonnier. Ihre Erscheinung auf der Croisette in Cannes. Das blonde Haar, das ihren Kopf auf unmögliche Weise schmückt; alle junge Frauen wollen so eine Frisur und machen sich zum Gespött. Deedee. Die aufrührerischen Pariser Studenten verabscheuen sie und liegen ihr zu Füßen.

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Jack Preston zog erst die linke Hälfte des Tors, immer zuerst die linke, in der eingebetteten Schiene bis zur Mitte, dann die rechte Hälfte, und hängte das Vorhängeschloss in die Ösen ein. Colin, der Bauer, hatte ihm den Schuppen zur Miete angeboten, für einen Pappenstiel. Jack war siebzehn, und er bekam Geld für seine Arbeit. Für gewöhnlich Wartung, manchmal eine Reparatur. Er hatte eine Schmiergrube gegraben, sich eine Werkbank besorgt, für die Traktoren des Bauern und die Autos der Männer aus dem Dorf, fast alle Ford. Er steckte den Bügel in die Ösen und ließ das Schloss einschnappen: dieser leise Ton und dann das Gewicht aus der Hand geben, das Schloss an dem meterhohen Tor hängen lassen, eine feierliche Versiegelung. Die späte Sonne färbte das Getreide orangen, die Schwalben zwitscherten, und er zog eine Zigarette aus der Schachtel, die in der Brusttasche seines Overalls steckte. Seine schwarzen Hände trug er mit Stolz, hielt die Finger so, als könne er sie nicht mehr bewegen, wie Finger an einer Männerhand. In der Kirche aber faltete er sie wie ein Kind. Bevor er den Holzvorbau betrat, wo es nach Karbol stank, fegte er sich die Schuhe am Kratzeisen ab und wunderte sich jedes Mal aufs Neue darüber, wie Schuhsohlen den Naturstein der Schwelle derart hatten austreten können, wie das Unmögliche letztendlich doch möglich war. Siebzehn Jahre war er alt, Geld und Zigaretten hatte er, und den Schlüssel seines eigenen Vorhängeschlosses, und er neigte den Kopf in Dankbarkeit und betete für seine Mutter. Er schloss die Augen und hörte 25

den eigenen Atem. Er betete für seine liebe Mutter, die vier Monate später plötzlich im Herrn entschlafen sollte, schmerzlos, zerborstenen Herzens.

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Und durch den Sucher des Fotoapparats sieht die Frau, wie der Mann mit dem pomadisierten Haar ein Stück Klebeband abrollt. Mit gesenktem Kopf sieht ein Kollege ihm zu, wie er neben dem Lotus hockt, zwischen Vorder- und Hinterrad, auf ihrer Seite der ersten Startreihe, und mit den Zähnen ein Stück abreißt und auf die Karosserie klebt. Der dicke Mann reagiert als Erster, aus den Augenwinkeln nimmt sie wahr, wie sich der behaarte Unterarm jäh vom Bein löst, und in dem Moment, als sie begreift, dass dieser hochschnellende, zeigende Arm mit dem schwarzen Klebestreifen über dem oberen Teil der Abbildung mitten auf der Karosserie zusammenhängt, hört sie schon ihren Ehemann, ihren reservierten Gatten, einen Geschäftsmann, einen Makler mit Formel-1-Verbindungen, Verbindungen, über die sie nichts Konkretes erfährt, nach denen sie sich aber auch nie erkundigt – jene diskreten, ungeschriebenen Vereinbarungen, die den ehelichen Umgang in gute Bahnen lenken –, deutlich hört sie ihren Ehemann, den Ton der Enttäuschung, der Fassungslosigkeit, der Entrüstung über diesen schamlosen, undenkbaren Vorfall, theatralisch fast ist dieser Ton, wenn auch nicht halb so theatralisch wie die Armbewegung des dicken, italienisch aussehenden Mannes. Und immer noch durch den Sucher des Fotoapparats betrachtet sie das Emblem auf dem Lotus, bevor ihr ein zweiter Klebestreifen die Sicht nimmt. Es ist ein Matrose. Ja, sie sieht es richtig. Der Kopf eines Matrosen. Das laute Gelächter des dicken Mannes schlägt eine Bresche in die vornehme Serenität auf der Tribüne. 27

Hier und da Missbilligung, vor allem aber Belustigung, Protest und Belustigung; der Lärm schwillt an, der Mann, der mit dem Klebestreifen zugange ist, sieht sich um, scheu, vielleicht auch besorgt über das, was er anrichtet. Ein rothaariger, bärtiger Matrose in noblem Halbprofi l in einer mit einem Seil umwickelten Rettungsboje, noch lesbar oben »Player´s« und unten »Navy Cut«. Rötlicher Bart, rote Lettern. Eine Zigarettenmarke.

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Applaus erklingt, als der Fürst auf der kleinen Ehrentribüne Platz nimmt. Sein Sohn klettert ihm sofort auf den Schoß, wodurch er mit dem Fuß, der Ferse, zwischen den klobigen Stuhlbeinen hängen bleibt. Er hebt die Hand, nur kurz und nur auf Kopfhöhe, womit er sowohl seinen Dank ausdrücken als auch bedeuten will, dass es heute nicht um ihn, nicht um seine Frau und seine Kinder geht. Er hält seinen Sohn fest, es gehört sich nicht, der Junge ist schon zu groß, und nachdem er erst den Fuß aus der unbequemen Position befreit hat, zieht er dem Kind väterlich die weiße Leinenjacke zurecht und gebietet ihm, sich auf den Stuhl neben ihm zu setzen. Wenn das Rennen beginnt, wird sich der Fürst mit seinem Gefolge hinter die Glaswand zurückziehen. Weniger als zehn Minuten noch bis zur Explosion der Pferdestärken. Er lässt den Blick über das weite Gelände schweifen, gemütlich flaniert die geladene Hautevolee zwischen den Piloten, die ein letztes Interview geben, zwischen den Boliden und den Mechanikern, den Teamchefs und den Pressefotografen, über die Schattenpartien, die die Baumreihe auf den Boulevard wirft. Von Deedee keine Spur, obgleich er weiß, dass sie mit ihrem Gefolge einen Spaziergang machen wird. Sie ist so jung, wie seine Frau es war, als sie sich kennenlernten. Sie erinnert ihn an seine Frau als Mädchen, an ihre überlegene Verletzlichkeit. Er kennt sie, Deedee. Wenn er gleich das Wort an sie richtet, wird er ihre Hände halten, nicht väterlich, sondern als älterer Mann, freimütig, ein 29

Mann, der sich nicht mit den anderen misst, außer Hors-Concours, und der sie daher mit der gleichen Natürlichkeit bezaubern kann wie sie sein Fürstentum.

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Zwei Tage vor dem Großen Preis hilft Jack Preston in einer der Seitenstraßen beim Abladen des Lotus 49. Er weiß nicht, was er von seinem neuen Overall halten soll, Alfie und Jim, die den gleichen tragen, wissen es ebenso wenig. Jedes Mal, wenn er die Arme oder Beine bewegt, sieht er sich selbst. In all dem Rot und Gold kommt er sich ein bisschen wie ein Clown vor. Erst als der Wagen von der Ladefläche rollt, begreift er es. Zuerst tauchen die vertrauten, langen Auspuffrohre des 3-Liter-Cosworth-V8-Motors auf, der auf revolutionäre Weise in den Wagen integriert ist. Dann die Karosserie, nicht mehr in traditionellem Grün mit gelbem Mittelstreifen und gelber Fahrzeugnase. Jack und allen, die es sehen, bleibt die Spucke weg. Teamchef Chapman hat wieder einmal eine Überraschung aus dem Hut gezaubert. Der Wagen ist rot und weiß, die Nase golden, und TEAM LOTUS heißt jetzt GOLD LEAF TEAM LOTUS , und an den Seiten, auf der Höhe des Fahrersitzes, prangt das bekannte Logo der Zigarettenmarke! Zigaretten? An einem Formel-1-Wagen? Firestone, Esso, Dunlop, BP, okay, denkt Jack, sie liefern das Öl, den Treibstoff, die Reifen, aber was hat eine Zigarettenmarke auf einem Rennwagen verloren? Die Verpackung stimmt nicht mehr mit dem Inhalt überein. Auch Alfie sieht Jack belustigt und ungläubig an. Sie arbeiten für ein Team, das anders ist als die anderen. Wie hat ihr Chef Gold Leaf so weit gekriegt? Und dass er sich traut, die traditionellen Farben einfach auszumustern! Ein Matrose auf einem Formel-1-Wagen? 31

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Es passiert ohne Absicht. Die Frau hat die Kamera schon eine Weile in der Hand, sie guckt ab und zu durch den Sucher und drückt ab. Doch jetzt wartet sie, der Film ist beinahe voll, vielleicht noch ein letztes Foto. Sie möchte den richtigen Augenblick abpassen, doch später kann sie sich nicht daran erinnern, dieses Foto gemacht zu haben. Der Treibstoff ist keine Flüssigkeit mehr, die Umwandlung findet statt. Sie spürt noch die Hitze, die ihr ins Gesicht schlug, eine unsichtbare Wolke, das Feuer noch kein Feuer. Es ist ein Foto, das man unmöglich mit Absicht schießen kann, das Ereignis hat sich selber festgehalten. Die Frau sitzt auf der Tribüne neben dem dicken, italienisch aussehenden Mann und hat ihre Kamera im Anschlag für noch ein letztes Foto und dann drückt sie unbewusst ab und macht so, ohne es zu wissen, das einzige Foto, das es von diesem Moment gibt, ein Zufall im Zufall. Sie erinnert sich nicht mehr daran. Nur an die Hitze im Gesicht.

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