Peter B. Meyer. Reisefieber

3 Peter B. Meyer Reisefieber 4 © 2006 by Peter B. Meyer 16348 Wandlitz/Schönwalde, Deutschland Alle Rechte vorbehalten 5 * "Habt ihr auch wi...
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Peter B. Meyer

Reisefieber

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© 2006 by Peter B. Meyer 16348 Wandlitz/Schönwalde, Deutschland Alle Rechte vorbehalten

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* "Habt ihr auch wirklich alles eingepackt?". Rainer traute seiner Familie nicht immer. Das lag wohl auch daran, daß seine Fragen in der Regel einfach ignoriert wurden. Das sein Vater nicht antwortete, konnte zum einen daran liegen, daß der schwerhörig war, zum anderen erlaubte ihm der vor einigen Jahren entfernte Kehlkopf keine verständlichen gutturalen Aussagen.

Vom Rest der Familie hätte Rainer sich schon Antworten gewünscht. Aber weder seine Söhne Frank noch Bernd, den alle wegen seines für sein Alter ungewöhnlichen Leibesumfanges Bubbles nannten, nahmen ihren Vater so richtig ernst. Von seiner Frau Lisa hatte er am wenigsten eine Antwort erwartet. Lisa beantwortete keine Fragen, sie stellte welche. Und sie war eine Meisterin darin, andere damit zur Weißglut zu bringen. "Willst du damit sagen, wir könnten etwas vergessen haben?" Da dies exakt dem Inhalt seiner Frage entsprach, schien es sich zu erübrigen, Lisas Frage zu beantworten. "Meinst du etwa, wir sind so vergeßlich?" Rainer hatte in seinen nunmehr zwanzig Ehejahren gelernt, konfliktbewußt damit umzugehen. Er ignorierte Lisa einfach, wie der Rest der Familie vorher seine Frage. Als Lisa, angespornt von seiner 6

Ignoranz, zu mehreren nervenden Fragen gleichzeitig anhub, schloß Rainer die Diskussion mit einem alles beendenden "Wir müssen jetzt los, sonst kommen wir hier nie weg!“. Lisa akzeptierte dies, denn sie hatte erst kürzlich in der Apotheken-Rundschau gelesen, daß Frauen dreimal mehr herzinfarktgefährdet wären, wenn sie Streit oder Ärger in der Familie hätten. Diesem Risiko wollte sie sich keineswegs aussetzen, denn sie war nicht nur eine stark ökologisch orientierte, sondern auch eine sehr gesundheitsbewußte Frau, was zu ihrem Verdruß nicht immer in Einklang zu bringen war. Allerdings bedeutete Rainers Machtwort und Lisas fehlende Reaktion darauf auch nicht, daß sie tatsächlich gleich losfahren konnten. Lisa bemerkte nicht nur, daß ihre Tochter Andrea geschminkt war, was eine sofortige Reinigung des jugendlichen Gesichtes unter ihrer strengen Aufsicht erforderlich machte, sie befand auch, dass ihre Söhne nicht dem Anlaß eines großen Urlaubes entsprechend gekleidet waren, denn legere Kleidung paßte zwar gut zum Urlaub, nicht aber zu dem feierlichen Akt der Abfahrt. Um diesen Umständen abzuhelfen, brauchte sie etwas Zeit. Zeit, die Rainer insgeheim natürlich eingeplant hatte, denn noch nie konnten sie Verabredungen jeglicher Art pünktlich wahrnehmen, weil Lisa eine Art eingebaute Uhr besaß, die ihr bei solchen Gelegenheiten vermittelte, daß sie noch viel Zeit hatten, da Rainer immer viel zu früh losfahren wollte. Und so setzte er sich in seinen großen Ohrensessel, harrte der Dinge, die Lisa unbedingt noch erledigen mußte, nahm seine Kopfhörer und versuchte, zu 7

entspannen. Er merkte, wie gut ihm dies in der jetzigen Streßsituation tat und er bemerkte mit einem wohligen Gefühl, wie er immer tiefer in die ruhige Musik eintauchte…

* Der Urlaub war gut geplant. Rainer hatte, weil Kanada zu seinen Traumländern gehörte, aus Alibigründen eine Reihe von Katalogen nicht nur zu diesem Land aus dem Reisebüro geholt und sie hatten viele Tage und vor allem Nächte mit dem Lesen und den Diskussionen verbracht. Denn sie waren sich über das Ziel der Reise überhaupt nicht einig. Seine Tochter Andrea wollte wegen der vielen hübschen Südländer in der Hoffnung, vielleicht einmal einen davon abzubekommen, unbedingt nach Mallorca. Und wenn sie schon keinen abbekommen sollte, dann wollte sie wenigstens durch einen Austausch der ihr eigenen blassen Hautfarbe in ein gepflegtes bräunliches Aussehen ihre Chancen beim männlichen Geschlecht erhöhen. Bubbles wollte überhaupt keinen Urlaub machen, sondern statt dessen lieber ausgiebig mit seinen Freunden unterwegs sein. Frank, der wegen seines Aussehens und seiner etwas linkischen Art keine Freunde hatte, hätte hingegen gerne den Urlaub in 8

Großbritannien verbracht, weil er meinte, er könne dort massenhaft Rockstars sehen, was möglicherweise für sein weiteres Leben von entscheidender Bedeutung sein könne. „Ob, wenn vier sich streiten, sich der Fünfte freut?“ dachte sich Lisa. Sie hatte eine ganz klare Vorliebe für asiatische Turnübungen und Essen und deshalb kam für sie eigentlich nur Indien in Frage. Wie sich herausstellte, ging Rainers Plan, den Umfang der Kataloge auf einige Länder und insbesondere Kanada zu beschränken, nicht auf. Auch Lisa und Frank hatten sich in den einschlägigen Reisebüros umgesehen und weil die Reiseziele sehr vielfältig waren, war auch die Menge der Kataloge sehr groß und erforderte umfangreiche Abstimmungsprozesse, bei denen schließlich ein Wunsch nach dem anderen auf der Strecke blieb. Lisa mußte schnell einsehen, daß Indien bei dem Umfang ihrer Haushaltskasse nicht in Frage kam, zumal sie bei dem Wunsch nach einem gemeinsamen regenerierenden Urlaub mit vielen Yoga- und Thai-ChiÜbungen und ausschließlich vegetarischer Nahrung sehr allein war. In finanzieller Hinsicht sprach viel für Bubbles, aber Frank und Rainer wollten unbedingt verreisen. Die fehlende Vorliebe der übrigen Familie für Rockstars aller Art ließ auch Franks Träume auf eine große und vor allem reiche Zukunft gegen Null tendieren. Bei dem Ziel Mallorca wehrte sich Rainer erfolgreich, da er die Hitze nicht ertrug und schließlich mußten sie seines Berufes wegen im Sommer verreisen. Da sowohl der Hund als auch Großvater nicht gefragt wurden, blieb eigentlich nur Rainers Vorschlag übrig 9

und die Kataloge wurden, bis auf die Kanada betreffenden, merklich ausgedünnt. Wie sie bald merkten, war der ausgewählte Urlaub genau so teuer wie eine Fahrt für fünf Personen nach Indien, was Lisa zu erneuter Diskussion über ihren Vorschlag reizte. Als aber insbesondere die Kinder das von Lisa mit blumigen Worten geschilderte zu erwartende Essen strikt ablehnten und zudem Rainer anmerkte, daß auch Indien sehr heiß war, brach die Ablehnungsfront gegen Kanada endlich zusammen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Rainer geschickt und abseits von Lisas Hörbereich von den dort zu den Grundnahrungsmitteln gehörenden Hamburgern und Pommes Frites sprach und sich so zumindest die Zustimmung der Kinder sicherte. So ein Urlaub will schließlich gut geplant sein, dachte sich Rainer und freute sich ob der aus seiner Sicht einstimmigen Entscheidung über das Reiseziel. Der Flug und der vor Ort abholbare Camper waren relativ schnell gebucht, obwohl Lisa dies in die Hand nahm. Die Verhandlungen mit dem Reisebüroleiter, und dieser mußte es sein, nachdem Lisa festgestellt hatte, daß der eigentliche Verkäufer in ihren Augen offenbar nicht kompetent genug war, weil er ihre Fragen nicht abschließend hatte beantworten können, dauerten mehrere Stunden. Und führten fast zu einem Zusammenbruch des Verhandlungspartners, der schließlich, nur um endlich diese Frau loszuwerden und Feierabend machen zu können, einen nicht unerheblichen Preisnachlaß gewährte. Lisa jedenfalls war, trotz des von ihr eigentlich nicht gewünschten 10

Reisezieles sehr zufrieden. Dies konnte man auch von ihrem Gatten behaupten, denn dieser hatte sich frühzeitig zurückgezogen und mit dem Ziel in eine nahegelegene Kneipe gesetzt, erst wieder herauszugehen, wenn Lisa tatsächlich fertig war. Aufgrund früherer Erfahrungen wußte er, daß dies sehr lange dauern und er wohl ziemlich betrunken sein würde, was ihm eine gewisse Gelassenheit gab. Drei Tage vor der geplanten Abreise fing Lisa an, die Koffer zu packen. Jegliche Gewichtsbeschränkungen der Fluglinie außer acht lassend leerte sie sämtliche heimischen Schränke und bereitete alles auf dem Ehebett und den Betten der Kinder vor, um gut sortiert und wohlgeordnet die Koffer zu befüllen. Diese erwiesen sich im Laufe des nächsten Tages als nicht ganz so aufnahmefähig wie geplant, denn die von Lisa für die Reise und auch sonst bevorzugten Jutekleider nahmen sehr viel Platz weg. Die einzige Lösung war, einiges von Rainers Kleidungsstücken wieder in die Schränke zu verpacken. Auch die Kinder würden wohl mit weit weniger auskommen, als zunächst gedacht. Und Großvater brauchte schließlich erst recht nicht so viel zum Anziehen. Also war die Auswahl schnell getroffen und die vier Koffer, drei für Lisas unbedingt notwendige Kleidung und einer für Rainer und die Kinder sowie ein kleines Handgepäck für Großvaters Ersatzhemd und ûhose, noch einen Tag vor der Abfahrt gepackt. Auch die Kinder freuten sich, daß sie ihre Betten wieder nutzen konnten. Die Befüllung des Autos, mit dem man Tags darauf zum Flugplatz zu fahren gedachte, war wegen der 11

Menge der Personen und der Leibesfülle eines Teils davon nicht ganz einfach. Der Wagen war nicht allzu groß, aber bei weitem größer als Jaspers Wille, sich der Familie anzuschließen.

Rainer betrachtete seinen Hund Jasper als ein echtes Familienmitglied , obwohl dies nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Jasper mochte nichts und niemanden, ausgenommen andere Hunde. Und auch die nur dann, wenn sie wesentlich kleiner und somit wesentlich schwächer waren. Und er dachte daran, wie sich ein Hund gegen Freiheitsberaubung zur Wehr setzen könne, denn er wurde nicht wie sonst einfach auf dem Rücksitz, sondern in einer kleinen Tasche verstaut, die seinen ausgeprägten Bewegungsdrang stark beeinträchtigte. Aber bereits nach wenigen Minuten war sein Wille geschwächt und aus dem protestierenden Bellen wurde ein kleinlautes Jaulen, das niemand mehr zur Kenntnis nahm. Andrea, ebenfalls Familienmitglied und vom Alter her zwischen Frank und Bubbles angesiedelt, hätte eigentlich ein Junge werden sollen. Sie war burschikoser wie Frank und Bubbles zusammen, was auch auf ihr Gewicht zutraf. Trotzdem reichte bei ihr schon der kleinste Anlaß, um sie zu einem Heulkrampf zu bewegen. Leicht naiv und doppelt so plump schritt sie durch ihr bisheriges sechzehn Jahre altes Leben und ließ hinsichtlich ihrer Umgänglichkeit keinen Zweifel 12

daran, daß ihre Pupertätsphase noch in vollem Gange war. Die Frage nach der für die Abfahrt unerläßliche Vollzähligkeit erübrigte sich. Im Laufe der Jahre hatte Rainer anhand der durch das chaotische Geschreie der Familie entstehenden Phonzahlen ein System entwickelt, das es ihm jederzeit auch mit verbundenen Augen ermöglichte, die Anzahl der anwesenden Familienmitglieder zu bestimmen. Rainer nannte das insgeheim immer den „Nervfaktor“, der diesmal auch nicht beendet war, als alles im Auto verstaut war. Er schrieb dies der Aufregung zu, denn solch einen Urlaub machte man schließlich nicht allzu oft. Sogar Jasper schöpfte zwischenzeitlich wieder Kraft und Mut und bellte, was das Zeug hielt. Er störte die Anderen jedoch nicht mehr, weil sie ihn nicht hören konnten, da der Reißverschluß der Tasche, in der er verstaut wurde, bereits seit längerem geschlossen war. Und so sollte endlich der zumindest von Rainer lang ersehnte Kanada-Urlaub in Angriff genommen werden. Auf der Fahrt zum Flughafen fragte Bubbles, was sie machen sollten, wenn Großvater plötzlich fehlen sollte. Rainer, Lisa und die übrigen drehten sich, bis auf Jasper, den das aufgrund fehlenden Durchblickes überhaupt nicht interessierte, sofort um und erblickten, nicht wirklich erleichtert, den eingeschlafenen Großvater. Frank, der glaubte, als ältestes Kind das Vorrecht zum Stellen schlauer Fragen zu haben, meinte nur:" Im Ernst, was passiert, wenn wir ihn verlieren?" 13

"Oder ihr mich wieder vergeßt?" brüllte Andrea dazwischen, die aufgrund einer entsprechenden früheren Erfahrung durchaus das Recht zu dieser Frage hatte. Um deutlich zu machen, daß Fragen zu stellen zu Lisas Kompetenzen gehörte, ging sie auch gleich dazwischen: „Muß man nicht bei einem solchen Urlaub in freier und rauher Natur immer befürchten, daß jemand verloren geht?“ Sie schauten sich gegenseitig an und binnen Sekunden entflammte eine Diskussion darüber, ob sie Großvater suchen sollten oder nicht, wenn er tatsächlich verloren gehen sollte. Um der unnützen Fragerei ein Ende zu bereiten und seine mittlerweile ohnehin angegriffenen Nerven zu schonen, schlug Rainer der Familie schließlich vor: "Wenn wir uns wirklich irgendwie verlieren sollten, was aber eigentlich nicht passieren sollte, treffen wir uns am 13. im Restaurant des Berliner Funkturmes." Für diese Aussage erntete er zwar böse Blicke von Lisa, die sowohl das Einhalten des Haushaltsbudgets als auch den Zusammenhalt ihrer Familie als ihre Aufgabe betrachtete, aber gleichzeitig hatte er mit seiner Entscheidung bei allen für nachdenkliche Ruhe gesorgt. * Die weitere Fahrt verlief problemlos und auch ein Parkplatz in der Nähe des Bahnhofes wurde schnell gefunden. Etwas Sorge bereitete ihnen die Parkplatzgebühr, die, wie Andrea schnell ausrechnete, exakt der Differenz zwischen dem billigen MallorcaUrlaub und der teuren Reise nach Kanada entsprach. 14

Der gefundene Parkplatz trieb auch Lisa angesichts der Kosten, die, wie sie süffisant bemerkte, durchaus dem Kauf eines neuen Autos nahe kamen, Tränen in die Augen, denn die Haushaltskasse war dafür eigentlich nicht ausgelegt. Aber bei den vielen Personen und dem dazugehörigen Gepäck wären mehrere kleine Taxis nötig gewesen, um sie zur Abfertigungshalle zu bringen. Leider gab es keine kostengünstigen Direktflüge in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und so hatte man die Wahl gehabt, entweder mit dem Flugzeug zu einem Flugplatz zu fliegen, der schließlich auch Kanada-Flüge ermöglichte, oder eben mit der Bahn dorthin zu fahren, was wesentlich kostengünstiger war. Und so hatte Lisa zugunsten der Haushaltskasse eine schnelle Entscheidung getroffen, der sich niemand mehr entziehen konnte. Natürlich fuhren die Züge stündlich nach Frankfurt und natürlich verpaßten sie den ersten ganz knapp. Die anschließende einstündige Wartezeit wurde mit dem beliebten Spiel „wie langweile ich mich am besten“ überbrückt und als schließlich der Zug ankam, wurden die Koffer schnell verstaut. Der Zug hielt nur kurz und sie schafften es gerade noch, auch Großvater mitsamt Rollstuhl hinein zu hieven, als es endlich losging. Das die Züge im Stundentakt fuhren, war recht praktisch, denn so hatte auch Rainer noch die Chance, mit dem nächsten Zug das Flugzeug rechtzeitig zu erreichen. Denn nur die Tatsache, daß er noch schnell eine Zeitung kaufen wollte und so den Zug verpaßte, konnte ja wohl nicht ernsthaft dazu führen, daß er an seinem eigenen Urlaubstraum nicht teilnehmen konnte! 15

Die Zugfahrt verlief ruhig und wurde eigentlich nur von dem ständigen und nervenden Nörgeln der anderen Passagiere gestört, die sich darüber aufregten, daß fünf Personen, ein offensichtlich in einer Tasche verstauter Hund und ein Rollstuhl fast ein gesamtes Abteil belegten und so kaum Platz für Mitfahrer ließen. Auch der Geräuschpegel lag familiengemäß etwa bei einer Dezibelzahl, die einer Flugschau mit Düsenjets ebenbürtig gewesen wäre. Rainer hatte bei der Planung ganze Arbeit geleistet. Die Zugfahrt dauerte zwar mehrere Stunden, aber er hatte für genügend Spielraum gesorgt, um den Weg vom Bahnhof zum Flugplatz fristgerecht zu schaffen, denn der geplante Weiterflug nach Kanada war ein Nachtflug. Was er bei seiner Planung nicht berücksichtigte, war der recht weite Weg vom Bahnhof zum Flugplatz. Als das erste Taxi angehalten wurde, fragte Lisa zunächst den Taxifahrer nach dem voraussichtlichen Preis und anschließend die Kinder, ob ihr Vater denn jetzt völlig verrückt geworden sei. Sie konnten es drehen und wenden, wie sie wollten, ein Taxi reichte nicht für alle und zwei waren entschieden zu teuer. Zudem bemerkten sie, daß Rainer das Bargeld vor der Abfahrt an sich genommen hatte, was die Abfahrt zusätzlich erschwerte. Lisa fragte schließlich, was denn dagegen spreche, zum Flugplatz zu laufen. Nun, es sprach viel, vor allem aber die Weite des Weges dagegen, aber Lisa ließ sich durch nichts mehr davon abbringen. Der Taxifahrer war bereits bei Lisas Frage laut lachend abgefahren und so liefen sie los. Ohne ihr Familienoberhaupt verteilte sich das Gewicht der vielen 16

Koffer auf nur wenige Schultern. Bubbles schob den Großvater, der sich wie ein Kind freute, daß er endlich mal wieder einen Ausflug machen konnte und Frank weigerte sich schlicht, denn er argumentierte, daß Koffertragen erhöhten Schweißausbruch verursachen würde und dies die Chancen verschlechterte, irgend etwas weibliches kennenzulernen. Und dies sei schließlich das Einzige, was in seinem Alter zähle. Natürlich waren sie trotz des gewaltigen Fußmarsches viel zu früh angekommen und es fiel ihnen sichtlich schwer, die drei Stunden Wartezeit zu überbrücken. Eine davon war geprägt durch das nervöse Warten auf das Familienoberhaupt, welches schließlich wegen des geräumigen Taxis und der netten Fahrerin gutgelaunt und durchaus pünktlich ankam. Zwei weitere Stunden verbrachten sie in einer langen Schlange vor dem Flugschalter. Lediglich Großvater hatte, bedingt durch seinen Rollstuhl, eine etwas bequemere Lage als die Anderen. Schnell wurde dann anschließend noch Lesematerial für den langen Flug eingekauft. Für Lisa eine Sonderausgabe der Apothekerzeitschrift, die sich speziell mit dem Diät-Thema befaßte und deshalb für Schweißausbrüche der übrigen Familie sorgte und Rainer, der Lisas Frage, ob er es denn diesmal schaffen würde, geflissentlich überhörte, kaufte sich ein Rätselheft, ohne zu wissen, was er damit eigentlich machen wolle. Bubbles bekam eine Zeitschrift für angehende Spitzensportler, und Frank wollte nichts zu lesen, was er später noch bereuen sollte. Die Probleme beim Einstieg in das Flugzeug ergaben sich durch Großvaters Handikap mit dem Rollstuhl. 17

Zwei Stewardessen bemühten sich redlich, ihn die Treppe herauf zu tragen, während mehrere männliche Kollegen bereits oben standen und interessiert zusahen. Es erweckte ein wqenig den Eindruck, als ob sie entweder bei sicherer Ankunft Beifall klatschen würden, oder, was wahrscheinlicher war, sie Wetten abschlossen, ob die Stewardessen es überhaupt schaffen würden. Sie schafften es nicht. Jedenfalls nicht ganz. Kurz vor der oberen Rampe verließ eine der beiden die notwendige Kraft. Großvater fiel zwar nicht, wie einer der Kollegen oben gewettet hatte, die Treppe wieder hinunter, sondern er verkeilte sich mitsamt Rollstuhl, was einer Startverzögerung von einer halben Stunde entsprach, da Großvater sich beharrlich weigerte, den weiteren Transport von den Stewardessen durchführen zu lassen. Er war der Auffassung, wer es nicht einmal schaffte, ihn heil an Bord zu bringen, könne auch kein Flugzeug übers Land bewegen. Auch Franks dezenter Hinweis, daß ein Flugzeug nicht nur Rollen, sondern sogar fliegen könne, trug nicht gerade dazu bei, ihn zu beruhigen, denn er erinnerte sich und ständig auch seine Nachkommen an die erlebten Kriegsereignisse, bei denen diese Dinger am Himmel viel Unheil anrichteten. Die Lösung des Problems führte dann erst die eilig herbeigeschaffte Packung Valium herbei, die seine Gegenwehr stark beeinträchtigte und ihn anschließend für den gesamten Rest des Fluges ruhig stellte.

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Der weitere Fortgang verlief erstaunlich ruhig, wenn man davon absieht, daß sich Andrea ununterbrochen übergeben mußte, was angesichts der nach einer Stunde Flugzeit knapp werdenden dafür vorgesehenen Tüten zu einer nicht unerheblichen Belästigung der anderen Fluggäste führte. Gott sei Dank war dies ein Nachtflug, bei dem zwischen den gezeigten Filmen und dem Essen auch geschlafen wurde, so daß die Zeit schnell verrann. Das Essen war gar nicht so schlecht, wie sie befürchtet hatten. Lisa bemängelte zwar fragend, warum es denn nicht mehr Salat gebe und sich statt dessen dieses merkwürdig aussehende Fleisch, das sich als Huhn entpuppte, in ihrer Eßschale befand, fand aber kein Gehör bei den Stewardessen, die diese Frage wohl schon von den anderen Fluggästen gehört hatten und sich dementsprechend und demonstrativ teilnahmslos zeigten. Bubbles stopfte alles in sich hinein. Ihn schien es überhaupt nicht zu interessieren, was ihm geboten wurde. Andrea hatte verständlicherweise keinen Hunger und meinte sehr zur Freude ihrer Eltern sogar, sie würde nie wieder etwas essen, was Bubbles interessiert aufhorchen ließ. Frank hingegen dachte aufgrund seiner durch fehlende Lektüre entstandenen Langeweile intensiv darüber nach, was wohl passieren würde, wenn auch der Flugkapitän dieses verdorbene Fleisch essen würde. Sie würden zu Boden fallen ohne Aussicht auf Rettung 19

oder wenigstens einem Abschiedskuß seiner daheimgebliebenen neuen Freundin. Immerhin wußte er, daß ein Flugzeug zwei Flügel und mindestens einen Motor hatte und er war, zumindest in Gedanken, auch schon einmal mit dem Auto gefahren, so daß er auch ein Lenkrad kannte. Deshalb entschloß er sich, nichts zu essen, weil er offensichtlich dann der Einzige an Bord sein würde, der das Flugzeug irgendwie und am Stück auf die Landebahn setzen könne. Auch der Gedanke an die weltweiten Schlagzeilen, die den Rockstar Frank feierten, weil er nicht nur eine neue Schallplatte veröffentlicht hatte, sondern durch seine mutige Tat auch viele Tausende von Menschen gerettet hatte, weil die Maschine schließlich inmitten einer Großstadt abgestürzt wäre, gefiel ihm sehr. Über diesen Gedanken schlief auch er ein und wachte erst wieder auf, als daß Flugzeug bereits gelandet war. Den ganzen Flug über dachte Rainer an das Gepäck. Nicht etwa das Handgepäck, in dem der mittlerweile nur noch leise und gelegentlich winselnde Jasper an den Behörden vorbei geschmuggelt werden sollte, um die Quarantänezeit zu umgehen. Der Grund lag in einer schlechten Erfahrung eines früheren Fluges nach Tokio, wo ihm nach der Ankunft mitgeteilt wurde, daß sein Gepäck bereits vor drei Stunden gelandet war, allerdings in Kapstadt. Die drei darauf folgenden Tage verbrachte Rainer dann mangels frisch gewaschener Kleidung praktisch unter der Dusche, was wiederum den Erfolg der Geschäftsreise gegen Null tendieren ließ. * 20

In Kanada angekommen, erwies sich jegliche Sorge das Gepäck betreffend als unnötig. Der Vancouver International Airport gehörte zwar zu den größten Flughäfen Kanadas und war deshalb sicher eine logistische Herausforderung, aber alles war da, bis auf das bisherige Gewicht Andreas. Die allerdings wirklich unnötige Frage Lisas, ob Andrea denn jetzt vorhabe, das jüngst erworbene und eindeutig vorteilhaftere Gewicht beibehalten zu wollen, führte statt zu stolzem Lächeln zu einem Weinkrampf, der nur durch Andreas enorm und unverzüglich anwachsenden Hunger überflügelt wurde. Mit Großvater, der mittlerweile gut ausgeschlafen war gab es diesmal keine Schwierigkeiten. Er hatte prächtige Laune, weil er sich an das Drama beim Abflug nicht mehr erinnern konnte, und diesmal gab es auch keine Treppe, sondern ein modernes Andocksystem, bei dem die Passagiere direkt vom Flugzeug zur Abfertigungshalle laufen konnten. Dieser Schlauch war nur leicht abschüssig, so daß Großvater mangels helfender Hand nicht fiel, sondern rasante Fahrt aufnahm. Mit quietschenden Reifen bewältigte er die zwei eingebauten Kurven und kam schließlich am Gepäckband zum Stehen. Genauer gesagt auf dem Band, denn die Fliehkräfte erlaubten ein so plötzliches Abbremsen nicht konsequenzenlos. Er war nicht sicher, ob ihm die Fahrt auf dem Laufband gefallen würde, denn er konnte wild gestikulierend das Ende sehen, das in einem schwarzen Loch verschwand. Glücklicherweise waren auch die Kinder, zumindest Frank und Bubbles sehr schnell und konnten ihn 21

gerade noch abfangen, kurz bevor er verschwunden wäre. Das Gepäck war, dem Urlaub angemessen, recht umfangreich und auch das Ausladen der Maschine dauerte seine Zeit. Zeit, die eine immer unruhiger werdende Lisa, die sich dagegen gesträubt hatte, die Flugzeugtoilette zu benutzen, weil die Bakterien dort angeblich so zahlreich vertreten waren, daß sie das Flugzeug über den Atlantik hätten tragen können, eigentlich nicht mehr hatte. Kaum, als sie das Flughafengebäude verlassen hatten, wurde auch Jasper wieder auf freien Fuß gesetzt, der sich zunächst einmal kräftig schüttelte, weil er natürlich einen so langen Flug ohne Toilettengang nicht geschafft hatte und deshalb zuerst die nassen Fransen auf seinem Körper gesäubert werden mußten. Anschließend und um sich an dem neuen Ort gleich richtig zu etablieren, lief er zu einem wartenden Taxi und hob sein Bein am rechten Hinterreifen. Der Taxifahrer, keineswegs erfreut darüber, nahm sofort Abstand davon, diese Familie fahren zu wollen. Der nächste Taxifahrer lehnte zwar die Beförderung nicht ab, erwartete jedoch ein saftiges Trinkgeld im voraus oder das Zurücklassen des Hundes. Jasper, der gerade zubeißen wollte, wurde wieder in die Reisetasche verfrachtet , das Trinkgeld im voraus bezahlt und es konnte endlich weitergehen, nachdem ein zweites Taxi geordert wurde, denn Großvater wollte auch mit.

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Im Hotel angekommen, staunten sie nicht schlecht. Rainer hatte sich bei der Auswahl aus dem Katalog nicht lumpen lassen. Ein feines Hotel, ruhig gelegen, direkt an der Shopping-Meile, was Andrea zu der Frage veranlaßte, ob sie denn nicht gleich dort bleiben könnten. Lisa fragte, ohne eine Antwort zu erhalten, nach den Kosten für die Übernachtung und Frank und Bubbles fragten, wo es die Hamburger gibt. Sie waren alle guter Laune und überlegten, was sie mit der freien Zeit machen sollten. Sie mußten nach dem langen Transatlantikflug eine Nacht im Hotel verbringen, bevor sie ihr Campmobil in Empfang nehmen durften. So bot es sich an, einen Stadtbummel durch Vancouver zu unternehmen, nachdem die Koffer im Hotel verstaut waren. Wiederum und sehr zu Lisas Leidwesen mit einem Taxi ging es direkt in das Zentrum der Stadt und zehn Minuten später hatten sie sich im Chinesenviertel verirrt. Vancouver hat fast zwei Millionen Einwohner, aber die schienen alle außerhalb der Stadt zu wohnen, denn hier sprach niemand englisch, geschweige denn sogar deutsch. Und Chinesisch beherrschte niemand in der Familie, so daß es einige Zeit dauerte, bis sie wieder in der kommunikationsfähigen Zivilisation waren. Nichts desto Trotz war es ein spannender Ausflug, der nur von den ständigen Beschwerden der Kinder beeinträchtigt wurde, die den permanenten Gestank, der von den vielen Gewürzständen ausging, nicht vertrugen. Bubbles erbrach sich sogar deshalb, was seine sonst meist gute Laune trübte.

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Sie machten viele Bilder mit der eigens für diesen Urlaub gekauften Kamera. Als die historische Dampfuhr in der Downtown anfing, ihren regelmäßigen dumpfen Ton auszustoßen, ließ Andrea die Kamera vor Schreck fallen. Selbst wenn diese den Sturz überstanden hätte, den reichlichen Tränenfluß Andreas, der sich anschließend über das neue Stück ergoß, hätte sie nicht überlebt. Sie hätten auch gerne die beeindruckende Sammlung von Totempfählen im Thunderbird Park fotografiert, aber das ging ja jetzt nicht mehr. Rainer, dessen Gedächtnis nicht ausreichte, um sich all das Gesehene daheim in Berlin wieder in Erinnerung zu rufen, entschied, daß sofort eine neue Kamera gekauft werden müsse. Lisa bestand auf einer sehr billigen Lösung und fragte, ob es denn nicht besser sei, gleich eine Wegwerfpackung zu kaufen und Bubbles merkte noch an, daß die neue Kamera auch wasserdicht sein müsse, was zu einem weiteren Weinkrampf bei Andrea führte. Aber alle drei Kinder waren sich einig, den ganzen Weg nicht noch einmal machen zu wollen, nur um die verlorenen Bilder noch einmal zu knipsen. Rainer, der alle Sehenswürdigkeiten dieses Urlaubes unbedingt auf Film gebannt haben wollte, entschied sich, notfalls auch allein die Strecke nochmals abzugehen, denn Lisa schloß sich den Kindern an und verweigerte sich ebenfalls: „Warum sollte ich den Weg nochmal laufen? Glaubst du denn, ich hätte irgendetwas übersehen?“

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Also ging Rainer allein los, verlief sich wie erwartet und traf seine Familie, die mit dem Essen bereits fertig war, am späten Abend im Hotel wieder. Natürlich hatte er nach diesem langen Spaziergang auch Hunger und natürlich war die Küche bereits geschlossen. Wie sich herausstellte, waren seine Kinder wahre Meister im Sammeln und Aufbewahren von Speisen aller Art. Bubbles hatte in der Hosentasche noch ein Würstchen von einem Stand im Zentrum der Stadt, da er nur fünf davon hatte essen können, bevor ihm schlecht wurde. Andrea hatte dagegen noch fünf Schokoladenriegel, drei davon körpergewärmt in der Tasche ihrer weißen Bluse, so daß die Riegel leicht wiederzufinden waren und Frank steuerte zu dem opulenten Mahl eine Serviette bei. Alle wollten mit ihrem Vater teilen, was ihn schon ein wenig stolz machte. Als Lisa daraufhin fragte, ob dieses Essen nicht ungesund sei, wurde Rainer, entgegen seiner sonstigen Art, ungehalten. Laut schimpfend, das alle gut auf seine Kosten gegessen hätten und ihm jetzt von seiner eigenen Frau nicht einmal ein Resteessen gegönnt wurde, ging er in das Hotelzimmer und verspeiste genüßlich die Mahlzeiten seiner Kinder. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er auch den Großvater, schlafend im Rollstuhl sitzend, den sie zwar mitsamt ihrer Koffer in das Hotel gebracht, dort aber vergessen hatten. Aber die Wahrscheinlichkeit war groß, daß diesem der Stadtbummel ohnehin nicht gefallen hätte und hier im Zimmer hatte er wenigstens seine Ruhe gehabt.

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Entgegen allen Erwartungen klappte am nächsten Tag auch die Übernahme des Campmobils reibungslos, was die Hochachtung vor der kanadischen Perfektion ins Unermeßliche steigen ließ und nur durch die Tatsache etwas gedämpft wurde, daß die durch Andreas Freßsucht beim Frühstück ausgelöste Zeitverzögerung dazu führte, daß nicht das eigentlich bestellte, sondern nur noch ein etwas kleineres Campmobil zur Verfügung stand. Nun, man war eine Familie und konnte sicher auch mal ein paar Wochen auf engstem Raum verbringen, obwohl die Aussicht darauf insbesondere Rainer nicht gerade beglückte und auch die Kinder dies vehement bestritten.

Trotz allem, der Camper sah aus wie neu, was sich die freundliche Angestellte der Verleihstation auch ausführlich und schriftlich bestätigen ließ. Aber auch die ausführlichen Erläuterungen, daß alle Schäden am Wagen selbst bezahlt werden müßten, führte nicht zu einer Vollkaskoversicherung, die zwar alle Schäden, auch die selbstverschuldeten, abgedeckt hätte, aber dermaßen teuer war, daß die Haushaltskasse gesprengt worden wäre. Und nachdem die Kinder monierten, sie würden lieber essen statt eine Versicherung abzuschließen, war das Thema erledigt. Man mußte ja nur etwas vorsichtig sein und nicht gegen Bäume, Büsche, Autos oder andere Menschen fahren. 26

Und wieder einmal war es Großvater, der Probleme machte. Die Tatsache, daß die Eingangstür des Campers rund fünfzig Zentimeter hoch lag, machte ihm und dem Rest der Familie zu schaffen. Zwar gab es eine kleine ausklappbare Treppe, Großvater weigerte sich jedoch -und das nicht ganz zu Unrecht- dort mit seinem Rollstuhl hoch zu fahren. Auch Franks gutgemeinte Idee, eine Art Rutsche zu bauen scheiterte an dem zu engen Türrahmen, durch den der Rollstuhl nicht paßte. Bubbles´ Vorschlag, Großvater könnte doch draußen schlafen, quittierte dieser mit lautem Getöse und drohend erhobenen Krückstock und Rainers Entscheidung, Großvater müsse von nun an hinein- und hinausgetragen werden, brachte ihm nicht gerade die Sympathien der übrigen Sippschaft ein. Überhaupt kamen Zweifel ob der Entscheidung auf, Großvater auf eine solche Reise mitzunehmen, denn auch die sanitären Anlagen im Camper waren alles andere als behindertenfreundlich gestaltet. Und Opas altersbedingt schwache Blase verstärkte, wie sie in den folgenden Tagen und insbesondere in den Nächten noch bemerken sollten, diese Zweifel nicht unerheblich. Als Großvater dann auch verfrachtet war, konnte es endlich losgehen und Lisa fragte, warum sie auf Rainers Wunsch aussteigen und ihm helfen sollte, den Wagen rückwärts auszuparken, denn er hätte ja schließlich Rückspiegel. Rainer fuhr los und Lisas Frage war nach zwei Metern Rückwärtsfahrt auch schon durch die 27

Begegnung der Stoßstange mit einer Mauer beantwortet. Rainer überlegte noch, ob er die Entscheidung, keine Versicherung abzuschließen, revidieren sollte, solange sie noch auf dem Parkplatz des Verleihers standen, dachte aber, daß die das ohnehin nicht sehen würden, denn es war schließlich nur eine sehr kleine Beule. * Sie erinnerte ihn an sein erstes Auto. Auch dieses hatte zwei Tage nach dem Kauf eine kleine Beule, weil er rückwärts einparken wollte und dabei mangels Erfahrung den hinter ihm stehenden Lastwagen übersah. Zwei Monate später war aus der kleinen Beule eine große geworden, weil er wieder einen Lastwagen, der diesmal aber von rechts kam, übersah. Der Kotflügel und die hintere Stoßstange sahen danach nicht mehr wie neu aus und weder sein Geldbeutel mangels Masse noch die Versicherung mangels Verständnisses kamen für den Schaden auf, denn die Schuld dafür lag eindeutig bei Rainer. Und so kamen Monat für Monat, während denen Rainer Erfahrungen sammelte, immer mehr Beulen zustande, manchmal mit und manchmal ohne sein Mitverschulden. Nach zwei Jahren mußte er zum technischen Überwachungsverein wo der Wagen, nachdem die Mitarbeiter dort mit dem Lachen endlich fertig waren, unverzüglich stillgelegt wurde. Der anschließende Neukauf eines Autos riß in Rainers 28

Girokonto ein großes Loch und er mußte noch Jahre danach einen Kredit abzahlen.

Dadurch wurde er wesentlich vorsichtiger beim Fahren und der Wagen überstand tatsächlich drei Jahre ohne eine einzige Beule. Dann versuchte er, Lisa, die Alkohol abstoßend fand, das Fahren beizubringen, weil er nicht einsehen konnte, daß er, wenn sie ausgingen, nicht mal ein Bier trinken durfte, ohne daß anschließend Taxikosten fällig wurden. Lisa war leider nicht lernwillig oder ûfähig, so daß der Kredit nach ihrem Unfall kräftig aufgestockt werden mußte. Zudem wurde auch die Größe des neuen Wagens den Kinderwünschen Lisas angepaßt, was die Sache noch teurer machte. Es verstand sich von selbst, daß Lisa nie wieder an das Steuer wollte. Seitdem er aber nur noch selbst fuhr und trotz des nervtötenden Drängelns von Frank niemand anderes mehr an das Steuer ließ, hielten die Autos von Rainer wesentlich länger.

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Natürlich mußte der noch jungfreuliche Camper zunächst gefüllt werden. Sanitäre Nützlichkeiten, Getränke und vor allem Essen in allen erdenklichen Variationen, sofern sie Lisas Geschmack entsprachen, mußten gekauft werden. Dazu bot sich der Supermarkt an, der nicht nur riesig groß war, sondern auch eine riesige Auswahl bot. Hier gab es nichts, was es nicht gab und schon nach einer Stunde schob die Familie nicht nur Großvater, sondern auch drei Einkaufswagen vor sich her, die zum Bersten gefüllt waren. Die Prozedur des Einkaufens gestaltete sich schwierig, da Lisa und der Rest der Familie unterschiedliche Ansichten hatten, was eigentlich gekauft werden müsse. Und so versuchten insbesondere die Kinder immer wieder, Dinge, die nach ihrem Geschmack waren, unter den übrigen, bereits eingelagerten Waren im Einkaufswagen zu verstecken. In der Hoffnung, ihre Mutter bemerke dies nicht, wurden nicht nur Schokolade und Speiseeis, sondern auch T-Shirts und CD´s eingepackt. Lisa war jedoch sehr aufmerksam, fand alles Überflüssige und packte es mit mütterlich verständnisvollem Blick in die Regale zurück. Lediglich das von Andrea versteckte Speiseeis hatte sie zunächst übersehen. Das änderte sich aber nach einer halben Stunde, weil es durch die Gitter des Wagens tropfte und eine klebrige Spur auf dem Boden hinterließ. Frank war belustigt darüber, denn so konnte man sehr genau verfolgen, wo in dem großen Supermarkt sie überall schon waren. Andrea liefen die Tränen ausnahmsweise einmal lautlos die Wangen herunter, denn der 30

Supermarkt mit all den leckeren Fressalien hatte ihren Hunger geweckt und die Aussicht auf das tropfende Eis machte sie wütend. Frank schlug seinem Bruder Wetten vor, welche ältere Dame wohl als erstes auf der Eisspur ausrutschen würde und Bubbles freute sich ob der gelungenen Abwechslung. Zumindest, bis einer der Angestellten ihnen auf die Spur kam und hinter ihnen mit einem Lappen und wachsenden Unmut den Boden aufwischte. Als das Eis alle war, waren auch sie fertig und gingen mit ihren mittlerweile vier Einkaufswagen zur Kasse. Sie fanden es ausgesprochen reizend, daß die Kassiererin sogar alle Waren in kleine Plastiktütchen packte. Lisa wollte zwar noch fragen, warum denn keine Jutebeutel zur Anwendung kämen, verkniff sich dies aber ob der in Deutschland so gänzlich unbekannten Freundlichkeit der Mitarbeiterin.

Im Camper wieder angekommen, verteilten sie die etwa fünfzig Tüten sorgfältig auf Tisch und Boden. Sogar die Betten mußten belegt werden. Es war schwierig, alle Waren im Kühlschrank zu verstauen und es begann eine rege Diskussion, welche Eßwaren genügend Wichtigkeit besaßen, den engen Platz im Kühlschrank zu belegen. Nun, es war sehr schönes Wetter und man verlegte die Diskussion nach draußen in die Sonne. Als alles geklärt war und Lisa mit der geballten Kompetenz ihrer Mutterschaft durchsetzte, daß 31

Gemüse und Salate Vorrang haben müßten und der Rest, also alles, was in ihren Augen ungesund war, in die Schubladen oder bestenfalls in einem kleinen offenen Fach des Kühlschrankes gelegt werden müsse, schritt man zur Tat und in den Camper, wo sie gerade noch sehen konnten, wie Jasper, auf allen Vieren über einer der Tüten stehend und mit einer Pfote die Steaks festhaltend, die Rainer an Lisa vorbeigeschmuggelt hatte, eine Hälfte des Wurstbelages noch mit der Schnauze bearbeitete. Jasper schien dies als Revanche und sein gutes Recht zu betrachten, denn schließlich hatte er den ganzen Flug in einer kleinen Tasche verbringen müssen. Entsprechend kampfeslustig knurrte er die Familie an. Aber auch Rainer zeigte sich nicht gesprächsbereit und zog, noch etwas lauter als Jasper knurrend, den Hund aus dem Camper. Mit der Reduzierung der Fleischwaren hatte sich zumindest das Platzproblem im Kühlschrank etwas abgemildert. Lisa fragte sich, ob soviel Wurst und Fleisch gut für das Tier sein würde und auch alle anderen waren erbost darüber, daß Jasper das frische Gemüse und den wundervollen Salat verschmäht hatte. Mit Lisas Worten „habe ich euch nicht gleich gesagt, daß Wurst und Fleisch für Menschen ungesund sind?“ wurden dem satten und deshalb schon leicht würgenden Jasper etliche böse Blicke der Familie zuteil. Bubbles fiel dann als erstem auf, daß Großvater lange nicht mehr gesehen wurde. Schnell hatten sie die Idee, er könne noch im Supermarkt sein, denn vor lauter Tüten hätte er ohnehin keinen Platz mehr im Camper gehabt. Auch Franks erster Verdacht, einer der 32

Einkaufswagen sei nur der mit Tüten bedeckte Rollstuhl gewesen, in dem man Großvater wohl noch finden könne, bestätigte sich nach weiterem Auspacken nicht. Als sie wieder im Supermarkt ankamen, wurden sie sofort mit einem bösen Blick von dem Mitarbeiter bedacht, der gerade seinen Wischlappen vom flüssigen Speiseeis säuberte, die Kinder sofort wiedererkannte und unverzüglich zwei Kollegen zu Hilfe rief. Nach kurzer Suche entdeckten sie auch schon den Großvater, der, wie üblich eingeschlafen, direkt vor dem Kühlregal im Rollstuhl saß und bereits eine dünne Eisschicht auf den letzten noch verbliebenen Haaren hatte, die aber in dem warmen Sonnenlicht auf dem Parkplatz schnell geschmolzen war. Das heruntertropfende Wasser gab ihm anschließend ein fast jugendliches Aussehen, zumindest bis auch die Gesichtszüge enteist und die grimmigen Falten wieder sichtbar wurden. Nachdem endlich alles verstaut war konnte es losgehen. Rainer konnte es kaum erwarten, die Rocky Mountains endlich zu sehen, was aber nach einiger Zeit des Fahrens immer mehr erschwert wurde, da sich dichter Nebel über sie legte und jegliche freie Sicht auf die Berge verwehrte. Als sie in den Abendstunden auf ihrem ersten Campingplatz ankamen, ahnten sie nur, daß sie bereits mitten im Gebirge waren, denn es war kalt und feucht. Erschöpft von dem anstrengenden ersten Tag schliefen alle früh ein, die Kinder gemeinsam und sehr zum Ärger von Frank auf dem hinteren Bett, Rainer und Lisa unter dem vorderen Dach, Großvater im Rollstuhl neben der Toilette und Jasper zur Strafe, weil er sich über Wurst und Fleisch hergemacht hatte, draußen. 33

* So unterschiedlich die Schlafstätten, so verschieden waren auch die Träume in der ersten Nacht. Andrea träumte davon, wie Britney Spears auszusehen, weshalb dies ein sehr langer und schwieriger Traum war. Bubbles träumte sehnsüchtigst davon, mit einem Jetski über das weite Meer zu brausen und Frank träumte, daß er das Flugzeug sicher gelandet hatte und sich deshalb von den imaginär Geretteten ausgiebig feiern ließ, wobei er auch gleich seine neueste Rock-CD unter den Passagieren verteilte und dafür mit der Begründung einer notleidenden Musikindustrie viel Geld verlangte. Rainer und Lisa träumten von Dingen, bei denen der jeweils andere nicht anwesend war und der außerhalb weilende Jasper träumte von einer neuen Portion Steaks und fing dabei so an zu jaulen, daß Rainer ihn schließlich in den Camper holte, wo er sich gemütlich auf der Decke über ihren Beinen zusammenrollte.

Nur Großvater träumte nicht, denn er war wach, wollte es aber nicht zugeben. Die anderen würden ihm bloß wieder auf die Nerven gingen. Er wartete lieber, bis alle eingeschlafen waren, um sie dann zu wecken, weil er wieder auf die Toilette mußte. Eine Prozedur, von der er auch in den nächsten Tagen meinen sollte, daß es die 34

Einzige war, die ihm Spaß bereitete, weshalb er auch ausgiebig davon Gebrauch machte. Eine Prozedur auch, die Lisa nachdenklich werden ließ. Sie arbeitete innerhalb von einer Nacht einen Vorschlag aus, der darin mündete, daß entweder sie in das Bett der Kinder zog und diese zu ihrem Mann unter das Vorderdach oder ihr Gatte sich zu den Kindern legen mußte. Denn Rainer hatte es sich ganz vorn, praktisch über dem Lenkrad gemütlich gemacht, was den Vorteil hatte, daß er nicht aus dem Bett fallen konnte. Was aber, zumindest für seine Frau, den Nachteil hatte, daß er jedesmal, wenn Großvater nachts Laut gab und auf die Toilette wollte, über Lisa hinwegstieg, die dadurch aus ihrem Tiefschlaf gerissen wurde. Sie selbst konnte nach eigenem Befinden ihrem Schwiegervater nicht helfen, da sie als Frau zu schwach sei, um den alten Greis zu tragen. Da es in der Alkove sehr eng zuging und ihr Ehemann zwar nicht sehr dick, dafür aber recht ungelenkig war, rollte er praktisch über sie hinweg und stieg die kleine Treppe hinunter zum Opa. Der Rückweg nach getaner Arbeit verlief umgekehrt und mit denselben Problemen. Aber Lisa, gesprächs- und kompromißbereit, wies Rainer an, zukünftig nicht ganz vorn, sondern an der Bettkante zu schlafen, damit sie zumindest in den Nächten ihre Ruhe hatte. Rainer hingegen war nicht so glücklich über diese zu akzeptierende Lösung, da er sich oft des Nachts umdrehte und ein ums andere Mal die Bettkante überwandt und unten bei seinem Vater landete. *

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Die morgendliche Wäsche im Camper fiel den Örtlichkeiten entsprechend knapp aus, denn jeder musste mit ein paar Quadratzentimetern Waschbecken auskommen, da niemand genau wußte, wie die Dusche funktionierte. Zudem war das Wasser, wie es sich in Kanadas Wildnis gehörte, natürlich kalt. Lisa fand dies unter ihrer Würde und ging in den öffentlichen Waschraum, von dem sie aber schnell wiederkehrte, denn er war nicht nur mit vielen Leuten, sondern auch mit noch viel mehr Bakterien bevölkert. Alle nutzten also das kleine Becken, bis auf Großvater, der sich nicht dazu bewegen ließ, mit dem Rollstuhl in die Toilette zu fahren, nur um sich zu waschen. Er bekam jeden Morgen ein Schüsselchen mit Wasser auf den campgroundeigenen Holztisch gestellt und musste selbst sehen, wie er damit zurechtkam. Er kam nicht. Aber da Opa zumeist vor der Tür des Campers abgestellt wurde, fiel seine zunehmende Unreinheit die damit verbundene Geruchsentwicklung niemandem auf. Am ersten Morgen konnte sich auch Rainer nicht säubern, da er nicht an das Waschbecken herankam. Er hatte schlicht nicht mit der Durchsetzungsfähigkeit seiner Frau gerechnet, die keinen Zweifel daran ließ, daß sie auf etwas mehr als die Hälfte des Bettes Anspruch erhob. Zuhause war ihm dies nie aufgefallen, da das Bett dort eine entsprechende Größe aufwies, die Platz für ihn und seine platzgreifende Ehegattin ließ. Hier jedoch erlaubten die Ausmaße des Wagens keine komfortablere Bettgröße und an eine Erweiterung des ihm zustehenden Platzes war angesichts Lisas auf der 36

einen und der Bettkante auf der anderen Seite nicht zu denken. Die Nacht in dem engen Bett und die für ihn ungewohnte Härte der Matratze hatten dafür gesorgt, daß sein Rücken steif war und er sich nicht mehr bücken konnte. Das mit dem Rücken kannte er zwar schon aus Deutschland, wo er hin und wieder davon heimgesucht wurde. Allerdings in umgekehrter Form, wo er tief gebeugt um Mitleid bei den Anderen heischte und sich nicht zu ganzer Größe aufrichten konnte. Bubbles machten die Umstände, unter denen er sich waschen sollte, nichts aus. Er wusch sich auch zuhause nur unter groben Protesten. Andrea hingegen beschwerte sich bereits nach zwei Tagen. „Ich bin es leid, mich mit dieser Katzenwäsche zufrieden zu geben“, beschloß sie. Lisa erntete mit ihrer Bemerkung „was ist denn mit dir los? Hast du einen Freund?“ böse Blicke und Rainer belehrte Andrea, daß der Begriff Katzenwäsche eigentlich unsinnig sei. „Katzen sind sehr saubere Tiere, die sich ständig putzen! Sie haben eine sehr raue Zunge, die es ihnen erlaubt, fast jede Stelle ihres Körpers gründlich abzulecken und so zu reinigen.“ Frank begab sich umgehend in Phantasien, in denen er sich vorstellte, er hätte eine solche Zunge und wäre ebenso gelenkig wie Katzen. Oder er hätte zumindest eine Freundin, die dazu in der Lage war. Von solchen Phantasien war Opa weit entfernt, denn er schlief wie fast meistens und träumte von seiner Jugend, in der er einst ein stattlicher Sportler war. *

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Das Frühstück wurde, wie es sich in Kanada gehörte, gemeinsam am vor dem Camper stehenden Holztisch eingenommen. Gemeinsam bedeutet in diesem Fall, daß alle bis auf Großvater am Tisch saßen. Da Opas Rollstuhl relativ flach ausfiel, wurde er kurzerhand an und nur kurze Zeit später größtenteils unter den Tisch geschoben, was ihn jeweils zu wütenden Stockschlägen veranlaßte, da die Unterseite des Tisches mit allerlei Getier bevölkert war und ihm vor allem die Spinnweben die Nahrungsaufnahme erschwerten.

Das Frühstück war eines der Familien-Highlights. Nachdem Lisa mit ihren allmorgendlichen Tai-ChiÜbungen fertig war, deren Ablauf Rainer immer zum Lachen und Lisa aus der Konzentration brachte, freuten sich alle darauf. Sie hatten viel im Supermarkt eingekauft und nicht immer Lisas strenge Vorgaben beachtet, aber was da auf dem Tisch stand, war wirklich beachtenswert. Marmelade lag neben dem Käse und der eigentlich verbotenen Wurst, mehrere Scheiben helles Brot luden zum herzhaften Essen ein und in der Mitte trohnte ein großer Haufen Einheimisches. Die Kanadier lieben Erdnußbutter und Ahornsirup und so bestand Rainer im Supermarkt darauf, auch den einheimischen Geschmack kennen zu lernen. Eine Argumentation, der sich sogar Lisa nicht ernsthaft widersetzen konnte. Die Erdnußbutter war schnell auf dem Brot verteilt und ebenso schnell wieder herunter 38

gekratzt, denn sie schmeckte nicht wirklich. Aber der etwas dumpfe Geschmack wurde mit einem ordentlichen Schluck Kaffe heruntergespült und die Dose mit dem Ahornsirup geöffnet. Wie der Name schon sagt, bestand der Sirup aus etwas, das fest aussah, aber recht schnell fließen konnte, wenn die Dose nicht exakt horizontal stand. Also war der Tisch nach kurzer Zeit klebrig und roch schwer. Dies traf auch auf manche Kleidungsstücke zu und besonders Lisa ärgerte sich ein klein wenig über den großen braunschwarzen Fleck auf ihrem Jutekleid. Da alle trotz der mehrfachen nächtlichen Störungen durch Großvater gut ausgeschlafen und bis dahin noch gut gelaunt waren, breitete sich richtige Familienstimmung aus, denn auch das Wetter besserte sich zusehends. Zumindest bis die Wespen kamen, sich über die Marmelade und insbesondere den Ahornsirup hermachten und sich davon unter keinen Umständen vertreiben ließen, weil sie im Falle des Sirups einfach daran kleben blieben.

Rainer versuchte noch zu erläutern, daß dies keine Bienen sind, die den schmackhaften Brotaufstrich 39

produzierten, fand aber kein Gehör bei den Anderen, weil Andrea so laut schrie. Gestochen wurde bis auf Opa, der zwar keinen Sirup abbekommen hatte, aber sich auch nicht wehren oder weglaufen konnte, niemand, aber das Frühstück war zumindest für Bubbles, Frank und Andrea beendet. Sie mochten keine Wespen. Auch Rainer und Lisa mochten sie nicht, wollten es aber aus erzieherischen Gründen nicht zugeben. Wer in freier Natur lebt, muß dieses Viehzeug akzeptieren, befand Rainer unnützerweise. Und Lisa ergänzte:“ Glaubt ihr nicht auch, daß Wespen ein nützlicher Teil der Natur sind?“ Die drei Kinder antworteten unisono mit „nein!“ und verließen den reich gedeckten Tisch, um sich anderen wichtigen Dingen wie herumsitzen, alte Zeitungen lesen oder Jasper ärgern, zu widmen. Lediglich ihr Vater sorgte bei den Dreien noch einmal kurz für Erheiterung, als ihn der Wespenstich ins Bein traf. * Kein Zweifel, der Familie, hier hauptsächlich in Gestalt von Andrea, war bereits nach einigen Tagen in der rauhen Natur langweilig. Andrea war es gewohnt, ohne größere Anstrengungen aus dem Haus direkt in eine Reihe von Läden zu fallen, die sich hervorragend zum Shopping eigneten. Schließlich wohnte man in Berlin und die Hauptstadt Deutschlands war ein wahres Eldorado für jugendliche modebewußte Einkäufer. Also bestand sie auf ihrem angeborenen Recht als einzige Tochter, unverzüglich in die nächstgrößere Stadt zu fahren, um Papas Geld auszugeben. 40

Rainer, der eigentlich diesen Urlaub nutzen wollte, um zu den Wurzeln und zur Natur zurückzukehren, obwohl er dort auch vorher niemals wirklich war, unterstützte den Vorschlag Andreas trotzdem, weil die Familie zunehmend nervte und auch er eine kleine Abwechslung gut gebrauchen konnte. Da es auch den Anderen und sogar Lisa nicht besser ging, war der Entschluß schnell gefaßt. Sie fuhren also von dem touristenbevölkerten und daher äußert teuren Banff in Richtung einer Stadt, die zumindest ihrem Haustier bekannt vorkam. Als Rainer meinte, sie seien jetzt endlich in Jasper angekommen, wedelte ihr Hund, der dachte, er bekäme etwas zu fressen, freudig mit dem Schwanz. Die Namensgleichheit mangels Intelligenz nicht bemerkend, wedelte er noch Stunden später damit, obwohl sie ihn mit nur leicht geöffnetem Fenster allein gelassen hatten. Kaum in dem ebenso touristenbevölkerten und daher ebenso teuren Jasper angekommen, verschwand Andrea sofort in für Teenager einschlägigen Geschäften und kam erst heraus, als sie feststellte, daß Papa ihr seinen Geldbeutel noch nicht übereignet hatte. Bereits drei Stunden später hatte sie sich entschieden, eine gerade wieder in Mode befindliche Strumpfhose aus Nylon zu kaufen. Gern hätte sie einiges mehr erworben, zumal es in Kanada offenbar haufenweise Kleidung in Übergrößen gab, was wohl an der großen Nachfrage der mit entsprechenden Maßen 41

ausgestatteten einheimischen weiblichen Bevölkerung lag. Einzig der Umstand, daß ihr Vater den Inhalt seiner Börse in weiser Voraussicht, die auf jahrelanger Erfahrung beruhte, drastisch reduziert hatte, gewährleistete, daß die Geschäfte wenigstens einigermaßen pünktlich schließen konnten. Auch die anderen Familienmitglieder hatten einige Einkäufe zu verzeichnen. Lisa fand eine, natürlich ungefärbte Jutetasche, die ihr sofort gefiel, weshalb der Preis keine Rolle mehr spielte. Sie hatte schon lange nach so etwas gesucht, aber Taschen aus Jute sind schwer zu finden und andere Stoffarten fand sie nicht naturgemäß genug. Rainer fand es zwar merkwürdig, daß ausgerechnet Jute soviel kostete, bezahlte aber, weil er Urlaub und wieder gute Laune hatte, anstandslos und ungeachtet der Tatsache, daß sie auch ihr Erbe hätte verwenden können. Lisa kaufte aber auch Briefmarken und Postkarten ein. Sie ging in eines der seltenen Postämter und staunte sehr, daß es dort keine der in Deutschland üblichen langen Warteschlangen gab. Schon beim Betreten des Amtes wurde sie freundlich begrüßt, was ihr noch merkwürdiger vorkam, weil sie ein solches Verhalten der Mitarbeiter in einem Postamt in Deutschland noch nicht kennengelernt hatte. Und weil es eine so freundliche Atmosphäre gab, kaufte sie auch gleich eine größere Menge, was zu einem kurzen, aber unerfreulichen Vortrag Rainers über ökonomische Notwendigkeiten führte, der Lisa aber keineswegs tangierte. Denn eigentlich wollte sie ja nur ihre Freundinnen im Handarbeitszirkel mit Ansichtskarten 42

beglücken, aber mit so viel Aufmerksamkeit der Postmitarbeiterin bedacht, entschloß sie sich, der halben Welt Karten zukommen zu lassen. Der anschließende Fehlbetrag in Rainers Portemonnaie war größer als bei dem Kauf der Jutetasche, aber schließlich mußten die Mitarbeiter der Post ja auch leben und diese hatten sich Lisas Großeinkauf mit ihrer Freundlichkeit redlich verdient. Und da sie ja jetzt die bewußte Tasche hatte, konnten die umfangreichen Mengen an Briefmarken auch adäquat und umweltfreundlich transportiert werden. Eine Stunde später bereute sie ihre Einkäufe, denn es hatte angefangen, etwas zu regnen. Nicht viel, aber gerade so viel wie nötig, um aus der durchnäßten Jutetasche und dem darin befindlichen Klebstoff an den Rückseiten der Briefmarken eine klebrige und fest zusammengehörige Masse zu machen. Es dauerte lange, bis die Tasche wieder gesäubert und als solche zu erkennen war und Lisa und die Kinder fanden noch Stunden später Briefmarken, die entweder an ihren Kleidungsstücken oder auf ihrer Haut klebten, aber keinesfalls mehr ihrem ursprünglichen Verwendungszweck dienen konnten. Es sei denn, man schickte Andrea unverzüglich per Post nach Deutschland zurück, wie Frank etwas gehässig mit Blick auf das an seiner Schwester haftende Porto bemerkte. Bubbles verliebte sich mangels passender Mädchen bei seiner Einkaufstour in eine Luftmatratze, die stabil genug schien, auch ihn tragen zu können und Frank hatte sich etwas ganz Besonderes ausgesucht. Er, der 43

der Meinung war, bereits erwachsen zu sein und nur noch nicht so auszusehen, erblickte in einem Schaufenster ein Plakat mit einem Mann, der zwischen seinem langen weißen Bart eine Pfeife zu stecken hatte. Wenn es etwas gab, das männlich aussah, dann ganz entschieden dieser Mann mit Pfeife. Frank beschloß, das in der vorherigen Nacht bereits entwendete Geld seines Vaters zu nutzen, um sich ebenfalls eine Pfeife zu kaufen. Er rauchte zwar nicht, weil seine Mutter das niemals gestattet hätte, aber diese Pfeife schien gut dazu geeignet, seine Männlichkeit besser zum Ausdruck bringen zu können. Auch ohne Rauch und passendem weißen Bart. Den Rest des Tages lief er dann mit der Pfeife im Mund herum und versuchte herauszufinden, ob sich die Mädchen nach ihm umdrehten. Er entledigte sich dem frisch erworbenen Stück erst, als er mit einem prüfenden, zur Seite nach einem hübschen Mädchen schielenden Blick gegen einen Laternenmast lief und sich die Pfeife in den Mund rammte. Diese blieb zwar heil, aber Frank hatte starke Schmerzen im Kieferbereich und seine schnell anschwellenden Lippen konnten die Pfeife nicht mehr halten. Und an dem bei Erfolg lockenden Kuß war erst recht nicht mehr zu denken. Der Einzige, dem etwas gegen seinen Willen gekauft wurde, war Jasper, der seit längerem versucht hatte, seine Hundeleine durchzubeißen, um endlich frei zu sein und hinlaufen zu können, wohin er wollte. Diese fast beendete Arbeit mußte nun von neuem begonnen werden, denn sie hatten ihm eine neue Leine mitsamt 44

Halsband gekauft, die nicht nur schöner aussah, sondern wesentlich dicker und stabiler schien. Das Halsband war sogar mit schweren Ketten gespickt, was Rainer zwar für einen so kleinen Hund etwas übertrieben fand, ihm nach Bubbles´ Meinung aber ein cooles Aussehen verlieh.

Sogar Großvater, der diesmal mit durfte, wurde mit einem neuen Krückstock beschenkt, denn der alte hatte durch die vielen Versuche, Aufmerksamkeit zu erhaschen, arg gelitten. Und als ganz besonderes Geschenk gab es dann sogar noch ein kleines Ölfläschchen, daß seinem alten Rollstuhl nicht nur Glanz verlieh, sondern die bremsende Reibung der Räder verringerte. Zum ersten Mal seit langem hätte er vor Freude darüber bestimmt Tränen in den Augen gehabt, wenn er nicht bei der Übergabe geschlafen hätte. Die Auswahl an Übergrößen, die Andrea so gefiel, sorgte hingegen bei Rainer für größeren Verdruß. In der Heimat gab es nur seine Arbeit und sein Zuhause. Dazwischen lag zumeist ein Stau, bei dem er sich darauf konzentrieren mußte, nicht auf den Wagen vor ihm aufzufahren. Nun hatte er schon viele Ehejahre auf dem Buckel und im Laufe der Jahre seine Neigung erkannt, hübschen schlanken Frauen hinterher zu schauen, was er mangels geeigneter Sicht im Stau und mangels geeigneter Geschöpfe zuhause werktags nicht 45

konnte. Blieb also außer den von ihm vorgeschlagenen regelmäßigen Besuchen in der Badeanstalt am Wochenende nur der Urlaub, um einige verstohlene Blicke zu riskieren, ohne das Lisa ihn dabei ertappte. Dieser Urlaub war definitiv dazu nicht geeignet. Das lag weniger an Lisas permanenter Anwesenheit und Aufmerksamkeit als am sichtbaren Mangel schlanker Frauen in Kanada. Er hatte zwar schon von dem Problem der allgemeinen Fettleibigkeit in den USA gehört, aber was er hier sah, konnte beim besten Willen nicht als Anreiz für den heimischen Beischlaf dienen. Kanada würde ihm wohl ewig im Gedächtnis bleiben als das Land, in dem bereits siebenjährige Mädchen Zelluluitis haben. Und so fuhr er leicht frustriert aber trotzdem glücklich, wenigstens einen Teil seines Geldes gerettet zu haben, mit seinen Anhängseln wieder zurück auf den Campground. * Wie jeden Abend, wenn das Wetter mitspielte, wurde auch diesmal ein Lagerfeuer entzündet.

Der Streit, wer das Holz dafür hacken mußte, war ob der lauten Wehklagen der anderen Familienmitglieder schnell entschieden. Frank drückte seinem Vater mit 46

den Worten "ich kann jetzt gerade nicht" die Axt in die Hand und Rainer hackte, wie auch schon die Abende davor, das Holz klein. Und nur die Lust, durch das Hacken auch ein Stückchen Frust loszuwerden, ließ ihn nicht weiter darüber grübeln, warum zum Teufel Frank jetzt gerade nicht konnte. Bei Bubbles hätte er ja noch Verständnis dafür gehabt, denn er war mit seinen fünfzehn Jahren noch zu unerfahren im Umgang mit der Axt. Und Andrea, obwohl sie körperlich wohl in der Lage gewesen wäre, ganze Wälder schnell abzuholzen, war schließlich ein Mädchen. Und Mädchen sollten sich nicht um Äxte, sondern um Mode kümmern, wenn sie, wie es manchmal Rainers größter Wunsch war, schnell einen Mann finden, heiraten und weit weg ziehen sollten. Lisa, wie immer sehr naturverbunden, lehnte generell jede Art des Holzschlagens ab. Dies galt wegen ihrer patriotischen Ader natürlich auch für nicht mehr wachsendes, sondern einfach nur herumliegendes Holz. Das Lagerfeuer war ansonsten Rainers Hobby, vom notwendigen vorherigen hacken des Brennholzes abgesehen. Er wünschte sich, daß sich die ganze Familie davor setzte und es ebenfalls genoß. Die Familie verwünschte ihn dafür. Lisa konnte aus ökologischen Gründen an dem entstehenden Rauch keinen Gefallen finden und die Kinder fanden es schlicht langweilig, ständig untätig am Feuer sitzen zu müssen. Der Einzige, der ständig beschäftigt war, war Rainer. Links mußte noch Holz nachgelegt werden, der rechte Scheit war um etwa drei Zentimeter nach Norden zu bewegen, weil der Wind das Feuer sonst ungünstig beeinflußt hätte und die Glut war ständig auf 47

Trab zu halten. Wurde das Feuer nach einer Weile kleiner, geriet Rainer fast in Panik und legte sofort und sehr konzentriert Holz nach. Seiner Meinung nach würde Feuer die größeren unerwünschten Tiere fernhalten. Gern erzählte er, um die Spannung für alle ein wenig zu erhöhen, bei dieser Gelegenheit, daß insbesondere Bären Feuer nicht mögen und deshalb, und ausschließlich deshalb, nicht zu nahe kommen würden.

Die Familie außen herum lächelte ob Rainers Phantasiegeschichten milde und war leider nicht so gesprächig, wie Rainer sich das gewünscht hätte. Sie langweilte sich. Rainer hing der Vergangenheit nach, in der es Tradition war, am Lagerfeuer Geschichten zu erzählen. Ein müder Versuch, wenigstens eine Gruselgeschichte loszuwerden, erstarb schnell an allgemeiner Gegenwehr. Niemand wollte so etwas hören und Rainer verließ ob des mangelnden Interesses die Lust auf einen erneuten Versuch. Bubbles spielte gern mit dem Feuer, hatte aber mit seinen fünfzehn Jahren noch keine richtige Gelegenheit, eine romantische Ader dafür zu entwickeln. Frank fand angesichts der erst kürzlich zumindest imaginär erworbenen Männlichkeit Lagerfeuer absolut albern, zumal seine Freundin nicht dabei war und er hin- und hergerissen zwischen Trauer 48

und Abenteuerlust darüber nachdachte, was seine Freundin daheim gerade machte und ob er selbst die Initiative ergreifen und sich eine neue Freundin suchen sollte. Andrea, eher ein Kind von Traurigkeit, schwärmte mangels der dafür erforderlichen Erfahrung nicht für romantische Abende, sondern ausschließlich für die neueste Mode und Britney Spears. Lisa hingegen fand zwar Feuer trotz der ökologischen Nebenwirkungen sehr aufregend, hätte sich dieses aber eher in ihrer Ehe gewünscht. Großvater war das Feuer egal. Er wurde unter lautlosem Fluchen an den Rand geschoben und schlief dort sofort ein. Jedenfalls tat er so, um Rainers krampfhafte Versuche des Geschichtenerzählens zu umgehen, denn an Einschlafen war nicht immer zu denken, weil der Rauch, wohl einem Naturgesetz folgend, stets in seine Richtung trieb. Kurzum, die Familie, außer dem etwas enttäuschten Rainer, langweilte sich mal wieder fürchterlich. Andrea merkte sofort, daß sie zu dicht am Lagerfeuer war. Sie merkte es vor allem daran, daß die am Nachmittag gekauften Nylonstrumpfhosen binnen Sekundenbruchteilen eine perfekte Symbiose mit der etwas welligen Haut ihrer Oberschenkel eingingen. Der anschließende Schrei war laut und rotwildverscheuchend und zudem nicht enden wollend und ihre Bewegungen erinnerten an den Sonnentanz der Arapaho-Indianer am Yellowstone River. Auch die Tatsache, daß ihr Vater den eilends gefüllten Wassereimer über sie leerte, machte sie nicht wirklich glücklich, zumal das Wasser fast jede Stelle ihres üppigen Körpers traf, nur nicht die entscheidende am 49

Oberschenkel. Statt dessen sah sie wegen der triefnassen Haare eher etwas unsortiert aus, da sich auch die erst kürzlich montierten Strähnen, die ihr die Ähnlichkeit mit dem verehrten Popstar sichern sollten, von grellem Gelb wieder in ihre ursprüngliche Farbe wandelten. Die Brandwunde hingegen sah, wie die anwesenden restlichen Familienmitglieder anschließend feststellten, ziemlich ekelhaft aus. Und den fortdauernden Schreien nach zu urteilen, schien sie auch recht heftig zu schmerzen. Bubbles meinte noch, daß er das Gejammere der pupertären Blase nicht mehr aushalten könne, wurde aber von seinem Vater, dem es zwar ähnlich ging, der es aber als Familienoberhaupt nicht zugeben durfte, zurechtgewiesen. Als der Schmerz und die Aufmerksamkeit der Familie etwas nachließ, saß Andrea leise heulend in der Dämmerung und schwor sich, die Leidenschaft ihres Vaters für Urlaub und insbesondere Feuer fortan nicht mehr zu teilen. Im Gegenteil, dieses Feuer hatte etwas zerstört, das sie erst nach stundenlangem suchen gefunden hatte. Und weil ihr Vater dieses Feuer und damit die Vernichtung der Strumpfhose zu verantworten hatte, schwor sie sich, daß er auch die finanziellen Konsequenzen tragen müsse. Sie nahm sich vor, den Geldbeutel bei nächster Gelegenheit vollständig zu plündern und zwar ohne das ihr Vater vorher die Möglichkeit hatte, wie sonst den Bestand an Bargeld zu verringern. Eigentlich könne sie auch erwarten, daß er, um den Schaden und die Schmerzen wieder gut zu machen, ihr seine Kreditkarte mit Blankovollmacht übergibt. Und so schweiften ihre Gedanken aus und gingen schließlich nahtlos zur 50

zwangsweisen Pfändung des Haushaltskontos durch ihre Rechtsanwälte über. Darüber vergaß sie langsam die Schmerzen, die Brandblase war jetzt gut gekühlt und sie fing wieder an, sich zu langweilen. * Als sie den Camper betraten und der Reihe nacheinander standen, erkannten sie es innerhalb weniger Sekunden: sie hatten ein Ameisenproblem. Zu erkennen war das daran, daß die Lebensmittel, die nicht im Schrank verstaut waren, mit einer Schicht von Ameisen überzogen waren, die nicht aussahen, als ob sie der Familie etwas zu Essen übrig lassen wollten.

Auch alles in den Schränken befindliche strotzte vor regem Ameisenleben, aber zunächst unsichtbar hinter verschlossenen Türen. Nicht unsichtbar, sondern eher von provozierender Zurschaustellung war hingegen die deutlich erkennbare Ameisenstraße, die äußerst zielstrebig über die Räder des Campers durch die Tür, über die an der Tür abgestellten Paare von Schuhen bis hin zu den Schränken mit den diversen Lebensmitteln führte.

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Mit den Worten „ich kümmere mich darum“ ergriff Bubbles eine Flasche mit Insektentilgungsmittel und sie wußten alle sofort, daß sie ein weiteres Problem hatten. Er versprühte munter und gutgelaunt das weiße Pulver in sekundenschnelle in jede Ecke des Campers und nach etwa einer Minute erkannten sie das dritte Problem. Jasper hatte sich gefreut, daß sein Essen nunmehr im Camper verstreut wurde und machte sich munter darüber her. Es dauerte keine drei Minuten, in denen sie versuchten, ihn davon abzubringen und weitere zwei Minuten, in denen Jasper sein Fressen der letzten drei Tage im Camper verteilte. Zudem jaulte er jämmerlich und jegliche Ermahnung, daß dieses Pulver nicht für ihn bestimmt war, sorgte lediglich für weiteres Würgen. Immerhin waren jetzt die Ameisen nicht mehr so offensichtlich zu sehen. Als Jasper aus dem Camper fiel, um sich ein wenig zu erfrischen, schickten Rainer und Lisa auch die Kinder hinterher, damit sie sich um ihn kümmern konnten. Das fiel diesen nicht schwer, denn im Camper roch es mittlerweile nach einer Mischung aus Insektenvertilgungsmittel und erbrochenem Hundefressen, was auch exakte Rückschlüsse auf die Herkunft des Geruches zuließ. Mutig machten sich Rainer und Lisa an die Arbeit und schon nach zwei Stunden sah der Camper wieder bewohnbar aus. Zumindest, wenn man sich der 52

Wäscheklammern zuzuklemmen.

bediente,

um

seine

Nase

Der anschließende Abend versprach, ein ruhiger und beschaulicher zu werden, zumal auch das Wetter sein mildestes Gesicht zeigte. Aufgrund des noch immer penetranten Geruches wurde ein einstimmiger Beschluß gefaßt, alle Fenster und die Tür aufzulassen, um den herrlichen Duft des frischen Zedernholzes zumindest eine Chance zu geben, sich im Camper durchzusetzen. Aus gutem Grund ohne Lagerfeuer, aber mit angezündeten Kerzen saßen sie um den Tisch herum und genossen die wieder eingekehrte Ruhe.

* Zumindest, bis die Mücken kamen. Es summte erst etwas verhalten an Andreas Ohr, aber als sie den Stich spürte, wußte sie, daß ihr das nicht gefiel. Den Anderen erging es nicht anders. Andrea schrie mittlerweile bereits wie am Spieß und der Heulkrampf führte zu einem heftigen Luftholen, in dessen Verlauf mindestens zwei Mücken ihr Leben aushauchten, denn sie konnten den Flug durch Andreas Luftröhre und die Landung in einem Lungenflügel unmöglich überlebt haben. Sie keuchte und spuckte wie besessen und die beiden Mücken wurden schließlich wieder in die Freiheit entlassen, landeten aber, in der Spucke schwimmend, in Großvaters Schoß. 53

Das Summen und Stechen nahm immer mehr zu und artete schließlich dahingehend aus, daß Rainer, obwohl er sich im Innersten wegen des noch immer strengen Geruches dagegen sträubte, in den Camper ging und mit einem Mückenspray auf chemischer Basis wieder herauskam. Schließlich wußte er nach der heimlichen Lektüre von Lisas Apothekerzeitschrift, daß Mücken auch Krankheiten übertragen konnten.

„Du willst doch wohl nicht mit dieser chemischen Keule auf die freilebenden Tiere losgehen?“ fragte Lisa, die bis dahin von Stichen noch verschont war und das natürliche Leben zu schützen versuchte. Aber Rainer war schwer entschlossen, seine Familie zu retten und als Lisa den direkten Stich in das rechte Augenlid spürte, war auch sie nicht mehr ganz so naturverbunden und entwickelte einen gewissen Haß gegen die Plagegeister. „Wann sprühst du denn endlich?“ Rainer verstand dies als zusätzliche Aufforderung, drückte auf den Knopf der Flasche und löste damit den feinen Strahl aus, der, weil er die Düse richtig herum gedreht hatte von ihm weg führte. Allerdings führte er genau in Lisas Augen, was zwar etwas Kühlung für das gestochene Augenlid brachte, aber ansonsten höllisch im anderen Auge brannte. Deshalb traf Rainer auch der Schlag Lisas nicht wie eigentlich vorgesehen am Arm, sondern genau auf die 54

Unterlippe, die sofort zu bluten anfing und damit den Mücken die Arbeit erleichterte. Nachdem sich alle reichlich mit dem chemischen Mittel eingesprüht hatten, waren die Mücken umgänglicher geworden. Nicht jedoch Bubbles, der, wie Rainer mit der ihm als jahrelanger Vater anhaftenden Erfahrung sofort feststellte, allergisch auf die vielfältige chemische Zusammensetzung reagierte und innerhalb weniger Minuten sehr zur Belustigung seiner Geschwister wie ein Streuselkuchen aussah. Die Nacht danach, als die scheußlichen Hautirritationen von Bubbles langsam zurückgingen, war geprägt vom Kratzen juckender Mückenstiche und dem schlagen nach Mücken, die zwischenzeitlich trotz des heftigen Geruches auch vom Innern des Campers Besitz ergriffen hatten. Es war eine unruhige Nacht. Nur nicht für Großvater, der, von allen vergessen, die Nacht im Freien verbracht hatte und dem die Mücken arg zu schaffen gemacht hätten, wenn er nicht wie üblich tief und fest geschlafen hätte. Er wachte erst nachts wieder auf und machte durch Schlagen des Stockes auf sich aufmerksam, weil er auf die Toilette mußte. Wäre es nicht dunkel gewesen, hätten sie bestimmt eine gewisse Blutleere bei ihm bemerkt. Und Rainer kam in diesem Urlaub erstmals der Gedanke, daß sie vielleicht doch nicht eine ganz so normale Familie waren, wie Lisa immer betonte.

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* Schon bei der Hochzeit ahnten Rainer und Lisa, daß sie keine gewöhnliche Familie werden würden. Die Trauung in der Kirche war wunderschön. Die vielen Hochzeitsgäste kannten sie allerdings nicht. Erst als die Gäste anfingen, daß Brautpaar zu suchen, obwohl sie doch unmittelbar neben ihnen standen, wurden Rainer und Lisa mißtrauisch. Die Gäste waren richtig, nur Lisa und Rainer hatten die Kirche verwechselt und als sie die Ihrige endlich gefunden hatten, war der Pastor nicht mehr bereit, auch nachts noch Überstunden zu machen, was eine zweiwöchige Verlegung des Hochzeittermins nötig machte und überhaupt nur möglich wurde, nachdem sie der Kirchenleitung einen gehörigen Obolus gestiftet hatten.

Als die Trauung endlich vollzogen war, sollte sofort die übliche Hochzeitsreise folgen. Sie fuhren direkt von der Kirche aus los, um keine Zeit mehr zu verlieren. Die Hochzeitsnacht danach gestaltete sich anders als von Rainer geplant, denn sie fanden in der gerade 56

begonnenen Ferienzeit kein freies Zimmer mehr und übernachteten schließlich im Auto. Aber sie waren jung und verliebt und nahmen die Situation so, wie sie war. Und wenn nicht ein paar Jugendliche, die ein frisch getrautes Ehepaar in diesem Auto nicht erwarteten, die Reifen abmontiert hätten, wäre auch alles wunschgemäß verlaufen. Rainer, der des Nachts Bewegungen am Auto verspürte, die er weder Lisa noch sich selbst zuordnen konnte, wollte aussteigen, um nach der Ursache zu suchen. Als er ein Bein aus der Tür streckte, fielen die Backsteine um, mit denen die Jugendlichen die Reifen ersetzt hatten und begruben Rainers Bein unter dem Auto. Auch Lisa stieg aus, da ihr ein schreiender Ehemann mitten in der Nacht merkwürdig vorkam. Sie hatte, da das Auto nicht noch tiefer hatte fallen können, mehr Glück als Rainer und kam heil heraus. Als sie sah, was passiert war, lief sie weg, um Hilfe zu holen, während Rainer ohnmächtig wurde. Es dauerte nur zwei Stunden und Polizei und Notarztwagen waren schon vor Ort. Während die Polizei Lisa mit Fragen nervte, wie um Gottes willen denn das Bein unter das Auto hatte geraten können, versuchten die Sanitäter, an das selbige heranzukommen. Sie wollten sich verständlicherweise keiner Gefahr aussetzen, operierten sehr vorsichtig und kümmerten sich hauptsächlich um das Bein, das zwar gesund, aber wenigstens erreichbar war, weil es nicht unterhalb des Autos lag. Rainer konnte nicht protestieren, denn er war noch immer ohnmächtig. Als er kurz wach wurde, fragten die Sanitäter natürlich sofort, wo es denn weh tue, worauf Rainer sofort wieder das Bewußtsein verlor. Lisa war zusehends genervt und forderte den sofortigen Abtransport ihres Gatten. Das dies wohl tatsächlich das Beste wäre, 57

mußten auch die Polizisten und Sanitäter einsehen. Sie riefen über Funk einen Abschleppwagen, der bereits eine Stunde später während eines wundervoll romantischen Sonnenaufganges ankam und endgültig für Ordnung sorgte. Als das mehrfach gebrochene Bein nach einem Monat im Krankenhaus und zwei Monaten Rehabilitation wieder verheilt war, konnten sie endlich ihre Hochzeitsreise nachholen. Rainer ließ es sich nach den Widrigkeiten des Hochzeitstages und dem daran anschließenden ersten Versuch einer Hochzeitsreise nicht nehmen, eine Bahnfahrt nach Venedig und ein schönes, aber teures Hotel zu buchen. Er dachte noch Jahre danach an dieses Erlebnis, zumal ihn auch der Kredit, den er für diese Reise aufnehmen mußte, noch Jahre danach beschäftigte. Die Reise selbst verlief ausgesprochen ruhig, denn sie fand erst einmal nicht statt. Sie verpaßten den Zug, weil sie auf dem Bahnsteig merkten, daß sie ihre Koffer vergessen hatten. Als sie mitsamt Koffer wieder auf dem Bahnhof waren, war der Zug natürlich längst weg. Aber Rainer hatte schnell herausgefunden, daß es eine andere Verbindung gab, die zwar zwei Tage länger dauerte, aber letztendlich auch nach Venedig führte. Es war eine interessante Reise, denn in den kleinen Bummelzügen fuhren viele Italiener, die die Angewohnheit hatten, laut, deutlich und vor allem gleichzeitig zu schreien, obwohl sie nebeneinander saßen. An Schlaf war da nicht zu denken und sie kamen völlig erschöpft, aber mit ersten Italienischkenntnissen 58

in dem gebuchten Hotel an, das ihr letztes freies Zimmer natürlich gerade abgegeben hatte. Der Portier war sehr freundlich und erklärte es sogar in gebrochenem Deutsch, daß sie bis zuletzt das gebuchte Zimmer freigehalten hatten, aber letztlich den Glauben daran verloren hatten, daß das Hochzeitspaar noch auftauchen würde. Und das in ganz Venedig kein anderes Zimmer mehr frei sei, aber das hatten Rainer und Lisa aufgrund bisheriger Erfahrungen bereits vermutet. Also gingen sie zum Bahnhof zurück, tippten blind mit einem Finger auf die an der Wand hängende Landkarte und kauften die Fahrkarten zu diesem Ort. Das Dorf war sehr hübsch und mit vielen alten, also nach Lisas Aussage romantischen Gebäuden bestückt, wenn man den Blick nicht zu weit schweifen ließ, denn das Umland bestand aus einem riesigen Industriegebiet mit entsprechenden Schornsteinen und dicken Rauchwolken, dafür aber eindeutig mit moderneren Gebäuden. Die erwähnten Rauchwolken strebten jedoch nicht gen Himmel, denn das Tiefdruckgebiet, welches den zweiwöchigen Dauerregen bescherte, sorgte auch dafür, daß die Luft im Dorf einer Erholung abträglich war. Sie hielten es tatsächlich zwei Wochen aus, denn sie hatten ein Zimmer und waren nicht gewillt, dieses aufzugeben, nur um Zuhause in ihrem kleinen aber urgemütlichen Häuschen völlig entspannt am Kamin zu sitzen. Aber auch bei den Kindern verlief nicht alles nach Plan. Die Geburt der Kinder fand nie im einem Krankenhaus 59

statt. Bei Franks Geburt vergaß Rainer den Autoschlüssel und die Suche danach dauerte genau zwei Stunden und eine Geburt auf der Haustreppe. Bei Bubbles wurde die Tasche, die extra für Lisa gepackt wurde, mit der Computertasche von Rainer verwechselt. Als Lisa während der Fahrt nach dringend benötigten Taschentüchern verlangte und Rainer diese nicht zwischen den Disketten und Netzteilen fand, beharrte sie auf sofortiger Rückfahrt, die auch bei Bubbles zu einer Hausgeburt führte. Als Andreas Geburt anstand, weigerte sich der herbeigerufene Taxifahrer weiterzufahren, weil Rainer laut äußerte, daß er sein Geld zu Hause hat liegen lassen. Der anschließende Geburtsvorgang im Auto entsprach allerdings auch nicht den Vorstellungen des Taxifahrers und er kündigte Schadensersatzforderungen wegen der Schweinerei in seinem wohlgepflegten Taxi an. Nicht einmal der Hund Jasper stieß auf ordentliche Weise zur Familie. Er hatte sich, wohl verstoßen und ausgesetzt, als Welpe verlaufen. Geradewegs in Rainers Arme, der schon immer einen Hund wollte, wenn auch nicht gerade diesen kleinen Bastard. Alle anschließenden Versuche, den Hund wieder loszuwerden, scheiterten. Zettel an den Bäumen oder Befragungen der Nachbarn, um die Besitzer ausfindig zu machen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Sie hatten fast den Eindruck, die eigentlichen Eigentümer des Hundes versteckten sich. Selbst das Tierheim wollte Jasper mit der Begründung nicht, sie hätten leider keinen Platz mehr. Eine Argumentation, die Rainer nicht akzeptieren wollte und deshalb dem etwas merkwürdigen Aussehen Jaspers anlastete. 60

Lisa wollte den Hund von Anfang an nicht. Das lag einerseits daran, daß sie lieber eine Katze gehabt hätte, die sich selbst säuberte und wohlerzogen auf dem Sofa räkelte. Diese Illusion machte die Anwesenheit Jaspers zunichte. Andererseits konnte sie Jasper nicht leiden, weil der, wie es Welpen nun einmal tun, innerhalb der ersten drei Stunden in ihrem Haus fünfmal die Toilette wechselte. Vom Flur ins Arbeitszimmer mit dem ehemals so wunderschönen Flokati-Teppich, dann zweimal in der Küche, wobei Lisa besonders die Sache mit dem Abwaschbecken ekelerregend fand und schließlich in ihrem Ehebett, was sie allerdings nicht ganz so sehr störte, da sie dort mangels Beschäftigung ohnehin nicht gern ihre Zeit verbrachte.

Das Aufwachsen der Kinder gelang dann eher mühelos. Frank und Andrea hätten vermutlich nicht einmal die üblichen Kinderkrankheiten gehabt, wenn Bubbles nicht gewesen wäre. Der ließ keine Krankheit aus und ließ es sich auch nicht nehmen, die anderen jeweils damit anzustecken, was den Familienzusammenhalt nachhaltig störte. Besonders Frank litt darunter, denn jedesmal, wenn er glaubte, seine sehr häufig auftretenden Pickel loszuwerden, raubte ihm Bubbles mit Masern, Windpocken und Ähnlichem mehr diese Illusionen.

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Überhaupt war Frank zwar häßlich, aber halbwegs intelligent, was ihm in der Schule half. Mit guten Noten, aber gänzlich ohne Freunde, schaffte er es sogar bis zum Gymnasium. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben, weil alle fürchteten, der Spott über seine großen und abstehenden Ohren würde auf sie übergreifen. Auch seine etwas merkwürdige Art, alle anderen als Idioten zu beschimpfen, trug ihm in der gesamten Schulzeit mehr Schläge als Sympathien ein. Wie er es dennoch schaffte, sich eine Freundin zu angeln, verstand er selbst nicht. Und er hätte auch niemals zugegeben, daß es vielleicht daran lag, daß er ihr von den vielen Millionen erzählte, die er demnächst als Erbe zur Verfügung hätte. Seit seinen ersten Worten über die erstklassige finanzielle Zukunft himmelte sie ihn an, was er sichtlich genoß, da er an Liebe grenzende Zuneigung bislang nur aus Andreas heimlich gelesenen Liebesromanen kannte. Auch das Heranwachsen Andreas war außerhalb der zumeist verhaßten Familie von Einsamkeit geprägt, denn sie war fett und schnippisch und sie heulte für ihr Leben gern. Wann immer sich ihr dazu eine Gelegenheit bot, schossen ihr bei dem geringsten Anlaß die Tränen aus den Augen und ihr Gesicht verquoll. Da dies ihre natürliche Schönheit nicht gerade förderte, litt sie beständig unter Kontaktarmut. Ihren Frust ließ sie oft an kleinen, auf dem Boden krabbelnden Tierchen aus, die nach einem wütenden Fußtritt zumeist verstarben und Andrea durch ihren Anblick wieder zum heulen brachten. Ihre Frustbewältigung führte auch zu einem erhöhten Appetit auf alles, was in den Augen ihrer Mutter verboten war. Wenn sie Glück 62

hatte und Vaters Portemonnaie einen Moment unbewacht war und auch von den Anderen nicht bemerkt wurde, weshalb sie den Betrag auch nicht teilen mußte, konnte sie sich einen kleinen ShoppingAusflug leisten. Dies steigerte zwar die Schulden ihres Vaters, aber auch ihr eigenes Selbstbewußtsein ganz erheblich. Manchmal allerdings gab Rainer ihr das Geld auch freiwillig, wenn sie sich vor ihn stellte und so lange und völlig grundlos heulte und schrie, bis er die Nerven verlor. Bubbles hatte diese Methode auch einmal versucht, erntete aber lediglich lautes Lachen der anderen Familienmitglieder. Auch er war ziemlich dick, aber sehr kontaktfreudig. Ihm mangelte es nie an Freunden, denn er war immer zu Scherzen aufgelegt. Und er war ständig unterwegs, um Freunde zu treffen oder um einfach nur zu laufen, denn er war nicht dazu zu bewegen, einmal still zu sitzen und zum Beispiel ein Buch zu lesen. Demzufolge waren seine schulischen Leistungen ausgesprochen dürftig, aber er schlängelte sich mit Hilfe seiner Freunde durch den schulischen Alltag. Selbst seine Lehrer mochten ihn, obwohl seine Scherze zumeist auf ihre Kosten gingen, denn er war nicht unintelligent und eigentlich ein eher sympathischer Typ. Im Alter von zwölf Jahren fand er zum ersten Mal heraus, daß es Mädchen gab, die er mochte und welche, die er unausstehlich fand. Vorher fand er alle Mädchen unausstehlich und so versuchte er herauszufinden, warum er an manchen mehr Gefallen fand. Um es kurz zu machen, das erste Rendezvous war eine 63

Katastrophe, weil er nichts mit ihr anzufangen wußte und ihr die nötige Erfahrung fehlte, ihn auf die richtigen Gedanken zu bringen. Nach dieser Pleite erlosch sein Interesse an diesen Geschöpfen zwar nicht gänzlich, wurde aber in andere Bahnen gelenkt. Er machte seine Scherze jetzt auf Kosten der Mädchen, was seine Lehrer ihm dankten, aber den Abstand zu dem anderen Geschlecht deutlich vergrößerte. Lisa hatte eine schöne Kindheit gehabt. Ihre Eltern erzogen sie antiautoritär und auch sonst recht alternativ, was ihre Kleidung und ihr Essen anging. Eigentlich, so dachte sie viele Jahre später, fing ihr Unglück erst an, als sie Rainer kennen gelernt hatte, denn seitdem ist einiges in ihrem Leben anders verlaufen, als sie es sich erhofft hatte. Plötzlich hatte sie Kinder und wurde dadurch gezwungenermaßen zur Hausfrau, obwohl sie viel lieber eine Karriere als Jutefabrikantin oder Jogalehrerin eingeschlagen hätte. Auch das Pech, das ihrer Familie und ihr regelmäßig widerfuhr, wurde im Laufe der Jahre fester Bestandteil ihres Lebens und sie gewöhnte sich daran. Mehr noch, sie schien solche Situationen manchmal fast zu provozieren. * Rainer hatte vor diesem Urlaub oft davon geträumt, mit seiner Familie am Lagerfeuer zu sitzen und ebenso rustikalen wie romantischen Gitarrenklängen zu lauschen. Mangels der dafür erforderlichen Gitarre und jemandem, der sie auch bedienen konnte, blieb dies ein 64

Wunsch. Auch sein Vorschlag, dann wenigstens ein romantisches Lied anzustimmen, wurde nicht angenommen und löste statt dessen nur eine rege und laute Diskussion aus, welcher Art das Lied denn sein sollte. Bubbles fing gleich an, einen Rocksong zu röhren, was wegen seiner Kinderstimme nicht wirklich gut klang. Frank befand, daß er zu alt für so einen Quatsch sei und Andrea wollte zwar, schämte sich aber, allein zu singen. Auch Großvater übte stille Kritik an dem Vorschlag, denn er konnte und wollte nicht mitsingen und auch das Gegröle der übrigen Familie nicht mit anhören, weshalb er mit seinem Stock wütend auf den Boden trommelte. Da die Familie dies als ein dringendes Bedürfnis deutete, wurde er kurzerhand auf die Toilette getragen und dort für die nächsten drei Stunden vergessen. Frei nach dem Motto, "von Bach bis Hendrix" definierte sich der Musikgeschmack der Familie allerdings zu Hause. In Deutschland artete dies regelrecht in Grabenkämpfe aus. Lisa mochte mit vielen Geigen gespielte klassische Musik gern, Rainer war tief in den Sechzigern verwurzelt und so kamen für ihn nur die großen Gitarrenheroen in Frage, oder, wenn Lisa ihm mal wieder auf die Nerven ging, gar keine Musik. Rainers größter Triumph über Lisas Geschmack war, als er sich einen Kopfhörer kaufte, der ohne Kabel mit einem Sender funktionierte. Während er unverkabelt zu Jimi Hendrix´ Electric Ladyland im Zimmer herumhüpfte, was in seinem Alter und mit seiner Figur wirklich nicht gut aussah, ärgerte sich Lisa und fragte 65

ihn, ob er denn jetzt gar nicht mehr mit ihr kommunizieren wolle. Er hörte sie schlicht nicht und tanzte mit geschlossenen Augen weiter. Bis er gegen die Schrankwand lief und sein Kopf mitsamt Hörer arg lädiert wurde. "Glaubst du nicht auch, daß eine ruhigere Musik besser für dich wäre?" sagte Lisa und legte eine CD mit einer Beethov´schen Sinfonie ein. Rainer, noch halb taub und etwas benommen von dem grandiosen Hendrix-Solo und der Begegnung mit der Schrankwand, entwickelte keine Begeisterung für sanfte Violinen und ging in den Keller, wohin er sich oft verzog, weil er dort seine Ruhe und den heimlich gekauften CD-Spieler hatte. Lisa glaubte immer, Rainer sei im Grunde eher ein religiöser Mensch und sicher meditierte er in seinem Kellerraum. Dies respektierte sie und deshalb sah sie auch nie die Stereoanlage, den Fernseher, den DVD-Spieler und das kleine Bierfaß unter dem Schrank mit den Pornoheften. Dies war seine kleine Welt, in die er sich zurückziehen konnte, wenn mal wieder alles nervte. Was Rainer nicht wußte, war, daß der kleine von Lisa stets genutzte Raum unter dem Dachgiebel, den sie immer das Nähzimmer nannte, ähnlichen Zwecken diente. Als Lisa entdeckte, daß Rainer eine, wenn auch nur sehr geringe Gehaltserhöhung erhalten hatte, erfüllte sie sich unverzüglich mit seinem Geld einen lange ersehnten Wunsch. Sie hatte sich in der Tat auf einem Flohmarkt eine kleine und sehr billige Nähmaschine gekauft, die zwar nicht mehr nähen, wohl aber anständig rattern konnte. Dadurch erweckte sie den Eindruck, daß hier Handarbeiten geleistet wurden, vor denen sich Rainer immer graulte und sich deshalb, 66

was wiederum Lisa antizipierte, weit entfernt hielt. Tatsächlich aber hatte auch Lisa Kopfhörer, die allerdings ebenso wie die von Rainers Gehaltserhöhung gekaufte Stereoanlage um einiges besser und teurer waren. Klassische Musik erforderte eben eine gewisse Klangqualität, die nicht billig zu haben war. Und sie hatte sich bei dieser Gelegenheit auch gleich einen Fernseher und einen DVD-Spieler, natürlich nur sehr hochwertige Ware, angeschafft, denn die Naturfilme, die sie sich dort gerne ansah, sahen auch nur in digitaler und daher teurer Qualität richtig gut aus. Lisa war auch recht musikalisch, was sich durch ihr Interesse an Instrumenten ausdrückte. "Warum sollte ich nicht auch so spielen können?", fragte sie sich, als sie gerade ein großes Orchester hörte. Die Anschaffung einer Tuba oder einer Trompete scheiterte an den finanziellen Mitteln und am entschiedenen Widerstand der restlichen Familie. Rainer schlug vor, das Instrument zu kaufen, das so wunderschön im Hintergrund den notwendigen Pfiff in die Partitur brachte. Als die Triangel schließlich gekauft war, konnte Lisa ihre ganze Kreativität an diesem Instrument nicht voll ausleben. Sie verlangte von Rainer, ihr das klassische Instrument schlechthin, nämlich wenn schon kein ebenholzfarbenes und sündhaft teures Piano, dann wenigstens eine Violine zu kaufen, von der sie hoffte, ihren ganzen Seelenschmerz in wohltemperierte Töne umsetzen zu können. Rainer leistete Widerstand. Nach zwei Wochen Überzeugungsarbeit, die sich darin äußerten, daß Lisa von Morgens bis Abends mit Hilfe des gemeinsamen und daher recht billigen CD-Spielers herrliche 67

Violinenstücke laut spielte, wurde Rainer, der seine lauten elektrischen Gitarren sehr vermißte, schwach und immer schwächer, nahm einen weiteren Kredit auf und kaufte seiner bis dahin geliebten Frau die ersehnte Geige. Lisa spielte sie den ganzen Tag und manchmal auch nachts, wenn ihr danach war. Das sie es nie gelernt hatte, mit diesem Instrument richtig umzugehen, störte sie dabei wenig. Aus ihrer Sicht klangen die entlockten Töne wundervoll, kreativ und sehr romantisch, aus Sicht der restlichen Familie definitiv nicht. Auch dieses Problem erledigte sich, wie so vieles in dieser Familie, fast wie von selbst. Lisa hatte sich wirklich mit ihrer Violine auseinander gesetzt. Genauer gesagt, hatte sie sich auf ihre Violine gesetzt, als sie voller Entzücken einem Blasorchester lauschte und sich fragte, ob es denn nicht viel eindrucksvoller wäre, mit einer Oboe zu spielen. Eindrucksvoll sah nach diesem Angriff auch die Violine aus und eindrucksvoll brach auch Rainer zusammen, als er die Trümmer seines Kredites sah. Bei so viel künstlerischem Engagement brauchte natürlich auch Bubbles seine Musikanlage, die zwar keineswegs dem heimlichen Standard seiner Eltern entsprach, dafür aber um so lauter dröhnte, weil er keine Kopfhörer benutzte. Er war der Meinung, daß ausschließlich seine Musik allen zu gefallen hätte und drehte richtig auf. Die Ermahnungen seiner Eltern hörte er deshalb nicht und so kam es regelmäßig zu 68

Krach, der sich allerdings eher verbal und nicht in Noten beschreiben ließ.

Frank war, wie seine Eltern recht früh bemerkten, nicht unmusikalisch. Und um seiner musikalischen Laufbahn, die Rainer immer so sah, daß sie ihm, also den Eltern, vielleicht nicht Ruhm, wohl aber Reichtum einbrächte, nicht unnütze im Wege zu stehen, kauften sie ihm eine billige Wandergitarre. Ein Fehler, wie sie sehr bald feststellten, denn dieser Kompromiß aus einer von Rainer favorisierten teuren elektrischen Gitarre, wie sie Jimi Hendrix einst benutzte und einem sündhaft teuren Klavier, wie von Lisa nicht ohne Eigennutz bevorzugt, brachte sie bald an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Frank, damals erst elf Jahre alt, zeigte ein erstaunliches Selbstbewußtsein, das wohl als Grundlage für die weitere Karriere als Rockstar auch nötig war. Jeder Klang, den er der Gitarre entlockte, war von himmlischer Qualität und zeugte von wahrhaft Berufenem, obwohl er eigentlich weder mit seinen Fingern noch mit den Gitarrensaiten etwas anzufangen wußte. Bereits nach vier Wochen intensiven Übens bemerkte er, daß seine Gitarre sechs Saiten hatte. Den Grund dafür verstand er zwar nicht, aber es ist ja auch 69

noch kein Meister vom Himmel gefallen. Deshalb fand er es ganz selbstverständlich, die Gitarre nach seinen Vorstellungen umzubauen, was sich in erster Linie darin äußerte, daß er fünf der sechs Saiten entfernte und damit mehr Platz für seine ungelenken Finger hatte. Ein weiterer genialer Umbau bestand aus dem herunterstimmen der letzten verbliebenen Saite um etwa drei Oktaven. Dies führte nicht unbedingt zu mehr Volumen bei dem virtuosen Spiel, wohl aber zu einem mächtig kreativen und schnarrenden Klang. „Nur innovative Musiker haben heutzutage eine Chance, wirklich berühmt zu werden“, sagte er in seiner jugendlichen Einfalt jedem, der es nicht mehr hören konnte. Aber Frank hatte nicht nur Geduld mit seinen Mitmenschen, die ihn nicht verstanden, sondern auch Durchhaltequalitäten, die einen Star ausmachten. Bereits nach einem Jahr hatte er herausgefunden, daß seine Gitarre andere Klänge von sich gab, wenn er die Saite an anderen Stellen berührte. Bis dahin schrammelte er die einsame Saite quasi im Leerlauf, also ohne irgendwelche Griffe zu üben. Und so war er, ganz sicher unbewußt, der Zeit der Punkmusik weit voraus. Alle Familienmitglieder, bis auf Frank, waren froh, als Bubbles in seinem jugendlichen ungestümen Verhalten die Gitarre während Franks Abwesenheit eines Winters als Rodelschlitten benutzte und, man hätte es nicht anders von ihm erwartet, gegen einen Baum fuhr und seinen rechten Arm sowie den Ersatzschlitten in Trümmer legte. 70

Frank wollte sich damit eigentlich nicht abfinden und weiter konsequent den Traum des Rockstars verfolgen, fand aber keinerlei Geldgeber für eine neue Gitarre, sondern plötzlich eine Menge zufriedener Gesichter um sich herum. Und die Tatsache, daß Bubbles nicht einmal für diesen Frevel bestraft, sondern ihm sogar das Taschengeld erheblich erhöht wurde, fand er zwar empörend, gab ihm aber auch zu denken. Seitdem hörte er Musik von seinem Walkman und dachte manches Mal an die so ebenso hoffnungsvoll wie plötzlich beendete Karriere. Andrea war bar jeglicher Kreativität, wenn man davon absah, daß sie ihre Heulattacken in allen erdenklichen Tonlagen ausüben konnte. Obwohl die dafür sehr kraftvoll ausgelegte Stimme sie als Sängerin eigentlich prädestinierte, hätte sie zu viel an einer sauberen Intonation arbeiten müssen, um eine solche künstlerische Laufbahn einschlagen zu können. Sie spielte zur Freude der übrigen Familie auch kein Instrument und interessierte sich auch nicht dafür, weil auch Britney Spears nie mit einem Instrument zu sehen war. Sie hatte andere Interessen, weshalb ihr Vater sie 71

manchmal auch „kleines dickes Modepüppchen“ nannte, was zumindest die Körpermaße betreffend noch stark untertrieben war. Auch Bubbles war, wie sein Ausflug mit dem Schlitten zeigte, kein besonders musisch veranlagter Mensch. Gleichwohl hörte er laute Rockmusik und sang dazu ebenso laut mit. Dies in Kombination mit der heulenden Andrea war für den Rest der Familie kaum auszuhalten und deshalb waren die beiden zuhause auch des Öfteren allein. Großvater hingegen war früher sehr musikalisch. Er hatte bereits im Krieg in einem großen Orchester die Tuba gespielt, um nicht an die Front zu müssen. Als der Krieg vorbei war, erlosch sein musikalisches Interesse schlagartig. Seine Frau gab ihm nur selten einen Grund, lustig zu sein und zu singen und später, als sie gestorben war, klappte das Singen wegen des fehlenden Kehlkopfes nicht mehr. * Großvaters Leben verlief eigentlich unspektakulär. Er war in seiner Jugend ein hervorragender Sportler, der den unbändigen Willen hatte, alles und jeden zu besiegen. Das bezog sich auch auf die Schulen, die er des öfteren wechseln mußte, da er dazu neigte, auch seine Lehrer zu besiegen. Und das ist durchaus körperlich gemeint, denn er war von kräftiger Statur und überragte bereits recht früh seine Lehrer um 72

Haupteslänge. Wenn diese dann vor ihm standen und zu ihm heraufblickten, konnte es schon passieren, daß er so tat, als sähe er sie nicht und einfach weiterging, während sie zappelnd zwischen seinen Beinen verschwanden. Die Lehrer ließen sich das natürlich nicht gefallen, hatten aber Angst, den großen Jungen körperlich zu züchtigen, wie es damals durchaus noch üblich war. Und so kam es, daß seine Eltern oft den Wohnort wechseln mußten, da ihnen die Schulen ausgegangen waren. Das so erworbene Gefühl für Mobilität half ihm sein ganzes Leben lang, insbesondere auch, als er im Alter in den Rollstuhl wechseln mußte. Seine Sportlichkeit in Verbindung mit seiner Statur sicherten ihm in fast jedem Lebensabschnitt den uneingeschränkten Respekt anderer Leute. Wenn er zu einer Tanzveranstaltung ging, dann nahmen alle anderen anwesenden Herren sofort Platz und so verwundert es nicht, daß er auch der Schwarm der Mädchen war. Aus dem Tanzen machte er sich zwar nicht viel, aber wenn es dazu diente, den Mädchen den Kopf zu verdrehen, nahm er auch die bei ihm aufgrund der Größe etwas merkwürdig aussehenden Verrenkungen in Kauf, hob seine Tanzpartnerinnen hoch und trug sie einfach über die Tanzfläche. Dies führte zu einem sofortigen engen Körperkontakt, der auch den Mädels zu gefallen schien. So hatte er auch schnell die Richtige gefunden, heiratete früh und blieb viele Jahre mit seiner Frau zusammen. Und auch, als er durch die Folgen eines Autounfalles an den Rollstuhl gefesselt wurde, hielten sie zusammen, 73

obwohl er mächtig an Statur verloren hatte. Der Rollstuhl sorgte auch dafür, daß Großvater, der es gewohnt war, sich immer sportlich bewegen zu können, anfing, sich wie ein ewig grantelnder Opa zu benehmen. Nichts und niemand war ihm recht, an allem hatte er etwas auszusetzen. Seine drei Kinder hatten sich schnell daran gewöhnt und ignorierten ihn einfach. Sein Zustand verschlechterte sich zusehens, da er diese Respektlosigkeit nicht gewohnt war. Schon bald saß er nur noch zusammengesackt in seinem Rollstuhl und ließ seinen Frust an seiner Ehegattin aus. Nach dem Tod seiner ebenso geliebten wie ebenfalls schwerhörigen Frau hatte er sich dann so lange dem Alkohol verschrieben und jeweils nach entsprechendem Genuß anschließend mit unglaublicher Lautstärke herumgepöbelt, bis sich der Kehlkopf nach und nach verabschiedete. Großvater behauptete zwar immer, die Ärzte hätten den Kehlkopf nur entfernt, weil sie seine berechtigte Kritik an ihrer Ausbildung nicht vertragen hätten, blieb aber jeden Beweis schuldig. Rainer hatte in der Zwischenzeit eine eigene Familie gegründet und sie nahmen Opa auf, denn sie waren der Meinung, daß er ohnehin nicht mehr reden oder schreien konnte und sie ihn deshalb schon ertragen würden. Allerdings hatten sie nicht damit gerechnet, daß der Rollstuhl Großvaters Selbständigkeit stark einschränkte und sie jedwede Arbeit für ihn verrichten mußten. Dies schränkte dann auch die Selbständigkeit der Familienmitglieder ein und sie gingen dazu über, ihn einfach in eine Ecke zu schieben, wo er dann 74

unverzüglich einschlief. Da ihm die Stimme fehlte, um sich über seine Behandlung zu beschweren, nutze er einen Stock, der eigentlich zur Unterstützung eines laufenden Menschen gedacht war, um sich durch festes Klopfen auf den Boden und manchmal auch auf die Kinder bemerkbar zu machen. In den letzten Jahren jedoch fehlte ihm auch dazu oftmals die Kraft und er wurde zwar überall hin mitgenommen, aber regelmäßig am Rande abgestellt. Statt dessen hat er im Laufe der Jahre eine neue Technik entwickelt, mit der sich die Familie gut terrorisieren ließ. Kaum war er eingeschlafen, fing er an zu schnarchen. Besonders in den Nächten nahm die Lautstärke teilweise Ausmaße an, wegen der andernorts schon Flugplätze geschlossen wurden. Der Familie blieb dann nichts anderes übrig, als ihn zu wecken und sofort auf die Toilette zu schieben, wo er zwar auch wieder einschlief und weiterschnarchte, die Lautstärke aber etwas gedämpft wurde. * Rainers Kindheit verlief ohne Zweifel spektakulärer als die der übrigen Familienmitglieder, denn er zog schon immer das Pech an. Es verging kaum ein Tag, an dem nichts passierte. Wenn er wegen irgendeines Unglückes, zum Beispiel einem seiner zahlreichen Arm- oder Beinbrüche, einen Tag im eigentlich sicheren Bett verbringen mußte, war sichergestellt, daß er zumindest des Nachts herausfiel und sich zusätzlich irgendetwas verstauchte.

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In seiner Jugend fiel er ständig mit dem Fahrrad um, schnitt sich in der Schule an den scharfen Seiten der Papierblätter, lief gegen Laternenmasten, weil er gerne beim Laufen las oder er lief, damit nichts passierte, schnell über die Straße und stolperte dann über den gegenüberliegenden Bordstein. Sein Körper war über und über mit Narben gespickt. Als er älter wurde und geheiratet hatte, schien es etwas besser zu werden. Offenbar wurde sein stetiges Pech jetzt auf die anderen Familienmitglieder übertragen, die das zwar nicht lustig fanden, sich dagegen aber auch nicht wehren konnten. Rainer war schließlich, abgesehen von Großvater, das Familienoberhaupt und hatte deshalb das Recht, nicht jedes unglückliche Schicksalsereignis allein ertragen zu müssen. Ihm fiel auch auf, daß er im Laufe der Jahre immer weniger körperliche Schäden davontrug und sich statt dessen Unglücke immer mehr auf sein Umfeld konzentrierten. Ob dies seine Geldbörse, aus der offenbar ständig Geld herausfiel, betraf, oder sie mal wieder einen Zug versäumten, ständig passierte etwas Schlimmes, aber eben nicht mehr nur ihm. In dieser Hinsicht war seine Hochzeit für ihn ein ganz bedeutendes Ereignis, denn Lisa konnte, da sie vorher nie in dieser Weise vom Pech verfolgt wurde, damit nur schlecht umgehen. Das gab ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit, denn seit seiner frühesten Jugend war nichts schlimmer, als körperliche Schmerzen ertragen zu müssen, ohne daß auch die Anderen etwas davon abbekommen würden. Und jetzt konnte er seine Unglücke sogar auf mehrere Familienmitglieder 76

aufteilen, was er zwar niemandem zumuten wollte, ihm aber bei seiner Schicksalsbewältigung half. Und besonders seine Kinder bemerkten diese gerechte Aufteilung gar nicht erst, denn sie wuchsen damit auf und lernten früh, wie sie damit umzugehen hatten. Wer es allerdings auch bemerkte und damit schlecht umgehen konnte, waren seine Arbeitskollegen, die sich immer darüber wunderten, daß ein einzelner Mensch so viel Unheil an sich ziehen konnte. Auch der Arbeitsablauf wurde teilweise nachhaltig gestört, denn jede Panne, die er zu verantworten hatte, verursachte Zeitverlust und Kosten. Rainer arbeitete in einer Firma, die sich hauptsächlich mit Computer beschäftigte. Er hatte die Aufgabe, Computer auseinander zu nehmen, Teile auszutauschen und wieder zusammen zu bauen. Es war eine interessante Tätigkeit, denn der technische Fortschritt war rasant und so lernte er immer neue Dinge kennen. Konnte er seinen Kunden ein neues Teil anpreisen, war dieses am nächsten Tag schon wieder veraltet, weshalb er den Computer wieder auseinander nehmen mußte und das neue Teil einbauen durfte. So war es auch kein Wunder, daß seine Firma florierte und sein Arbeitsplatz einigermaßen sicher war, obwohl Kündigungsandrohungen seines Chefs wegen der vielen kleineren Mißgeschicke an der Tagesordnung waren. Einmal hatte er, weil es Sommer und sehr heiß war, einen kleinen Ventilator aufgestellt. Dieser hatte kein 77

Schutzgitter mehr, denn er war heruntergefallen und das Gitter irreparabel zerstört. Aber sonst funktionierte er noch, wie ein richtiger Ventilator zu funktionieren hat. Rainer stellte ihn direkt neben den Computermonitor, der durch die rotierende Bewegung, die Rainer wegen der großen Hitze auf die höchste Stufe stellte, bei der direkten Begegnung ein Stück Plastik an der Seite verlor. Der Schaden war nur sehr gering und Rainer, zwar nicht geschickt mit den Händen, aber auch nicht auf den Kopf gefallen, hatte sich Plastikkleber besorgt, um die Reparatur selbst vorzunehmen. Das dies möglicherweise ein Fehler war, bemerkte er, als ihm die Flasche mit dem Kleber aus der Hand rutschte, kopfüber auf die Tastatur fiel und unverzüglich auslief. Rainer, an solche kleinen Mißgeschicke gewöhnt, lief, noch immer lächelnd, sofort in das Nebenzimmer, um einen Lappen zu holen. Allerdings lief der Klebstoff nicht nur über die gesamte Tastatur, sondern alsbald auch über den unter dem Tisch stehenden Drucker und Computer. Als Rainer mit dem Lappen zurückkam, war die Reinigung der Tastatur, die relativ billig war, nicht mehr vordringlich. Auch bei der Sache mit der kaputten Glühbirne an der Deckenbeleuchtung, die Rainer selbst reparieren wollte, war der Schaden nicht unbeträchtlich. Die nicht richtig gesicherte Leiter fiel mitsamt Rainer um und er brach sich den kleinen Finger, als er beim Aufschlag einen Computermonitor umriss, der mit seinem ganzen Gewicht auf seine Hand kippte. Das er anschließend mit der noch gesunden Hand in die Scherben faßte, war

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schon fast unerheblich und verursachte nur Schmerzen, aber keine zusätzlichen Mehrkosten. Zum Geburtstag hatten ihm die Kollegen wider besseren Wissens dann ein Heimwerkerbuch „Selbst ist der Mann“ geschenkt, was Rainer als Aufforderung verstand. Bei seiner nächsten Reparaturaktion wollte er die locker gewordenen Hebel an der Fensterscheibe festschrauben. Als er dabei abrutschte und durch das Fensterglas fiel, brach zwar die Scheibe und Rainer hatte ein paar Schnittwunden zu verzeichnen, aber der Aufschlag erfolgte sehr schnell und ohne größere gesundheitliche Konsequenzen, denn Rainer arbeitete im Erdgeschoß. Eigentlich war er kurz zuvor für eine Beförderung vorgesehen, aber jetzt war er froh, daß ein Kollege den Zuschlag erhalten hatte, denn die Beförderung hätte einen Umzug in die vierte Etage zur Folge gehabt. Und so stellte er wieder einmal fest, daß er zwar ein gutes Gehalt bekam, davon aber nur immer ein kleiner Teil ausgezahlt wurde, denn seine Firma ging schon bald nach seiner Einstellung dazu über, ihm jeden Schaden vom Gehalt abzuziehen, nachdem die bisher dafür aufkommende Versicherung mit Kündigung drohte. Nicht nur bei Reparaturen hatte Rainer hin und wieder Pech. Als er mangels kurz zuvor zerbrochenen Glases sein Mineralwasser direkt aus der Flasche trinken wollte, hatte er nicht bemerkt, daß der Deckel noch auf der Flasche war. Dieser, sonst immer sehr 79

festgeschraubt, damit nicht wieder ein Computer zerstört werden würde, wenn er die Flasche umkippte, lag diesmal nur locker obenauf, weshalb Rainer keine Luft mehr bekam, als der Deckel in seinen Mund schoß und in der Luftröhre verschwand. Die herbeigeeilten Kollegen versuchten, den Deckel aus Rainer herauszuprügeln, hatten aber keinen Erfolg und holten den Notarztwagen. Die zwei in diesen Dingen sehr versierten Ärzte hatten zwar kein Problem damit, Rainer aus seiner Notlage zu befreien, wunderten sich aber über die vielen blauen Flecke, die er durch die Rettungsversuche seiner wütenden Kollegen am ganzen Körper aufwies. Die ganze Aktion dauerte zwei Stunden, in denen die Arbeit mal wieder ruhte. Und so waren Rainers Arbeitskollegen froh, daß er zumindest einmal im Jahr Urlaub nahm und sie ihre Arbeiten zügig voranbringen konnten. Die Arbeit mit den Computern brachte auch eine gewisse Notwendigkeit zur Weiterbildung mit sich. Da Schulungen teuer und deshalb von seiner Firma besonders bei ihm nicht mehr bezahlt wurden, da sie sich dachten, daß seine Anwesenheit schon genug Geld kosten würde, kaufte er sich Fachzeitschriften, um auf dem neuesten technologischen Stand zu sein. Zum Lesen kam er dagegen nur selten, da Lisa ihn ständig auf Trab hielt, wenn er zu Hause war. Also wurden die Zeitschriften fein säuberlich auf einem kleinen Tisch gestapelt, der bereits nach zwei Monaten unter der Last zusammenbrach und dabei das ebenfalls dort abgestellte Rotweinglas mitsamt entsprechendem Inhalt in die Tiefe riß. Trotz großer Anstrengungen gelang es Rainer nicht, den großen roten Fleck von dem erst kurz 80

zuvor neu verlegten Teppichboden wieder zu entfernen. Lisa, sehr verärgert über die Unvorsichtigkeit ihres Ehemannes, versuchte sofort, das Ungeschick mit pflanzlichen Mitteln zu bekämpfen, machte aber aus der rötlichen Farbe nur eine dunkelgraue, was der ursprünglich bläulichen Farbe des Teppichs auch nicht entsprach. Rainer schlug noch vor, seine Fachzeitschriften so auf dem Boden zu verteilen, daß der Fleck nicht mehr sichtbar wäre, erntete aber lediglich einen bösen Blick Lisas. Schließlich blieb nichts anderes übrig, als einen kleinen Schrank auf den häßlich aussehenden Fleck zu stellen und darin Rainers Zeitschriften zu verstauen. Aber es gab auch manche glücklichen Momente in seinem Leben, obwohl auch dieses Glück nur auf Kosten anderer ging. Eines Tages wurde er Zeuge, wie ein großer Lastwagen zu schnell in eine Kurve fuhr und nach kurzer Schlängelfahrt schließlich umkippte. Wie sich herausstellte, bestand die Ladung aus vollgepackten Bierkästen, die sich rasch und schäumend über der Straße verteilten. Rainer wollte seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen und sich als Zeuge zur Verfügung stellen, wenn die Polizei einträfe. Dieses Vorhaben wurde in dem Moment nicht mehr weiter verfolgt, als er entdeckte, daß einige Bierkisten den Sturz offenbar gut überstanden hatten, was dem Fahrer, der zwar unverletzt war, aber wie versteinert neben dem Scherbenhaufen stand, zunächst nicht aufgefallen war. Rainer war sehr bemüht, den Mann zu trösten und ihm zu helfen. Deshalb bot er diesem einfach zur Beruhigung ein Bier an, das der Fahrer dankbar annahm. Um ihm Gesellschaft und 81

Unterstützung zu bieten, nahm sich auch Rainer gleich eine der Flaschen. Und so setzten sie sich auf die Bordsteinkante, tranken und beruhigten sich und tranken ein Bier nach dem anderen, weil die Polizei sehr lange brauchte, um am Unfallort zu erscheinen. Als diese dann in Gestalt von zwei freundlichen, aber sehr korrekten Beamten erschien, lallte ihnen der Fahrer des Unglückswagens ein ebenso freundliches wie verräterisches „Hallo“ zu. Eine Minute später hatte er in eine Vorrichtung zur Messung des Alkoholspiegels zu pusten und wurde nach positiv festgestelltem Ergebnis abgeführt. Rainer hatte gar nicht verstanden, daß der Fahrer eines Lastkraftwagens so betrunken sein konnte, aber anders konnte er sich auch nicht erklären, daß ein so schwerer Laster einfach so umkippen könne. Er jedoch, von der Polizei unbehelligt, saß zeitverloren weiterhin auf dem Bordstein und trank Biere, bis der Abschleppwagen kam und die zwischenzeitlich eingetroffene Feuerwehr die Straße säuberte. Schnell noch zwei Flaschen in den Taschen verstaut schwankte er anschließend nach Hause und freute sich über den gelungenen Tag. * Trotz der vielen Mißgeschicke, die Rainer in seinem Leben widerfahren waren, war er in seinem Berufsleben nicht erfolglos. Dies äußerte sich darin, daß er trotz der vielen Abzüge an Steuern und Arbeitgeberpannenbeteiligung noch genügend Geld mit nach Hause brachte, um seine Familie anständig zu 82

ernähren. Das seine Ehefrau noch mehr Geld besaß, da sie ein nicht unerhebliches Erbe ihr eigen nannte, störte ihn nicht. Eher die Tatsache, daß sie ihr Geld nicht nach Hause brachte, fand er manchmal ungerecht. Schließlich sorgte er mit seinem Einkommen auch für das Taschengeld der Kinder.

Was er wiederum nicht wußte, war, daß auch Lisa den Kindern regelmäßig etwas gab, denn sie war der Meinung, daß die Kinder frühzeitig verantwortungsbewußt mit Geld umgehen sollten. Und dies könne man schließlich nur, wenn man auch etwas davon besaß. Rainer wunderte sich manches Mal, wenn er provozierend seine Geldbörse auf den Tisch legte, um zu beobachten, wie sich die Kinder darüber hermachten. Diese, in Gelddingen recht beschlagen, ignorierten seine offensichtliche Anstiftung zum Diebstahl, da sie einerseits von ihrer Mutter bereits mit finanziellen Mitteln versorgt waren, anderseits mit Kennerblicken anhand des Umfanges sofort erkannten, daß das Portemonnaie nicht angemessen gefüllt war. Und so ließen sie es ebenso provokant einfach liegen, was Rainer, der nichts von den finanziellen Zuwendungen seiner Frau wußte, Rätsel aufgab, zumal seine Kinder nach einiger Zeit mit vollen Einkaufstüten wieder an dem Tisch mit seiner Geldbörse vorbeikamen.

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Und so war die Rollenverteilung klar, Rainer arbeitete und brachte das Geld nach Hause, Lisa arbeitete nicht und brachte einen Teil ihres Geldes nur nach Hause, um es den Kindern zu geben. Ansonsten war sie aber eindeutig für die Einhaltung des Haushaltsbudgets verantwortlich. Eine Verantwortung, die sie ausgesprochen ernst nahm und damit insbesondere ihren Gatten oftmals zur Verzweiflung trieb.

* Lisa war sich immer bewußt, daß für sie nur ein Leben vorstellbar war, das den Gesundheitsaspekt in den Vordergrund stellte, was oftmals mit den Interessen der übrigen Familie kollidierte. Da ihre bevorzugte Nahrung zumeist grün aussah und trotzdem nicht, wie Rainer manchmal vermutete, aus Schimmelpilzen bestand, sondern aus Salaten, Gemüsen und Kräutern, bot es sich an, den heimischen Garten entsprechend zu erweitern. Schnell war seinerzeit der Spaten bei der Hand und aus dem wunderschönen Blumenbeet, das sogar Rainer immer sehr gefallen hat, wurde mangels alternativen Standorten ein großer Kräutergarten.

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Rainer gefielen die trostlos aussehenden mattgrünen Pflanzen überhaupt nicht, aber er wollte den Ärger mit Lisa vermeiden und so duldete er die Neuanpflanzungen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er sehr schnell merkte, daß auch Jasper viel Gefallen an dem neuen Beet gefunden hatte und es regelmäßig als Toilette benutzte. Zusätzlich zu einer gewissen inneren Genugtuung hoffte Rainer hoffte auch, daß sich die Lebensdauer der neuen Pflanzen schon allein dadurch drastisch verkürzen würde. Zudem hatte er seinem ältesten Sohn einen Fußball geschenkt, weil er dessen mangelnden Fähigkeiten, damit umgehen zu können, gänzlich vertraute. Und er behielt Recht, denn Frank hatte zwar genug Platz, um im Garten zu spielen, aber der Kräutergarten schien eine besondere Anziehungskraft zu haben. Immer und immer wieder landete der Ball in den Kräutern und Lisa hatte dadurch ständig wieder neu zu pflanzen, was ihr den Verdacht nahe brachte, daß die Familie ihre Sorge um die Gesundheit aller Mitglieder nicht teilte. Rainer, sonst eher ein geduldiger Typ, fand es mit der Zeit ziemlich ekelerregend, daß er von Kräutern ernährt werden sollte, die zudem durch Hundedreck verseucht waren. Eines Tages platzte ihm der Kragen und unter dem Vorwand, Brenneseln und Disteln aus dem Garten vertreiben zu wollen, wurde mittels eigens zu diesem Zweck gekauften Spraydosen, die eine geballte Ladung Chemie enthielten, auch dem Kräutergarten der Garaus gemacht. Seitdem kauft Lisa ihre Kräuter und Salate wieder im sauberen Supermarkt. Und seit diesem Zeitpunkt gibt es im Garten eine relativ große und nur mit braunem Sand 85

bedeckte kahle Stelle, denn dort würde, wie Frank bemerkte, sicher in den nächsten drei Jahrzehnten kein Kraut mehr wachsen. Als gesund befand Lisa auch etwas, was in der Apothekerzeitschrift gelobt und gepriesen wurde, nämlich ein vollautomatischer Brotbackautomat. Mit diesem, so stand es zu lesen, könne man hervorragend schmeckende Brote auf sehr ökologische Weise und ohne schädliche Konservierungsstoffe selbst zubereiten, ohne auf einen in der Nähe befindlichen Bäcker angewiesen zu sein. Dieser hatte nämlich Lisa schwer verärgert, als er ihrem Wunsch nach einem Brötchen mit besonders vielen Körnern nicht nachkommen konnte und ihr statt dessen maschinell gefertigtes und deshalb ungesundes Weißbrot anbot. Als er dann noch die Frechheit besaß und einen völlig überhöhten Preis verlangte, verließ sie empört den Laden und schwor sich, dort nie wieder einzukaufen. Es dauerte drei Wochen, in denen die Familie gänzlich ohne Brot auskommen mußte, denn der nächste Bäcker war für den täglichen Einkauf zu weit weg. Der vollautomatische Brotbackautomat, der nach diesem Ereignis angeschafft werden mußte, war nicht gerade billig, dafür aber auch nicht vollautomatisch. Er hatte Knöpfe und Schalter und wollte zumindest am Anfang des Backvorganges korrekt bedient werden. Die Einarbeitung dauerte recht lange, da die Bedienungsanleitung auf Chinesisch geschrieben war und weder Lisa noch die Anderen diese Sprache beherrschten. Sie rätselten auch eine Weile darüber, warum denn ausgerechnet China Brotbackautomaten 86

herstellte, wo denen doch, wie Frank gehässig bemerkte, auch eine tägliche Schale Reis ausreichte. Die fehlende deutsche Anleitung bemerkten danach in erster Linie die Kinder, die das jeweilige Ergebnis der Brotbackforschung verzehren mußten. Lisa fand dann sehr schnell heraus, daß es offenbar auf die richtige Mischung aus Mehl, Hefe und Wasser ankomme. Sie versuchte mehrere Varianten. Das Ergebnis konnte sich sehen, aber nicht schmecken lassen, denn einmal war das Brot steinhart, ein anderes Mal triefte es vor Flüssigkeit fast durch die Finger. Da aber jeder Backvorgang mehrere Stunden dauerte, konnten sich die Kinder zwischendurch immer wieder etwas erholen. Es war Glück im Unglück, als Lisa im Supermarkt eine Fertigbrotbackmischung entdeckte, die bereits alle Zutaten bis auf das Wasser in der richtigen Mischung enthielt. Zudem gab es auch eine kurze Anleitung in der deutschen Sprache, was die Hoffnung auf ein Erfolgserlebnis steigerte. Der erneute Backversuch gelang dann tatsächlich und das Ergebnis sah nicht nur annähernd wie Brot aus, es schmeckte sehr zur Freude der leidenden Kinder auch fast so. Ein Zustand, der so lange anhielt, bis Lisa ihre Forschungen auf den Gehalt an Ballaststoffen ausdehnte, indem sie mit diversen Körnern experimentierte. *

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Lisa war nicht nur sehr gesundheitsbewußt, sondern sich auch sonst darüber im Klaren, daß ein menschlicher Körper ohne entsprechende Gegenmaßnahmen frühzeitig wie ein alter Kartoffelsack aussah. Wenngleich ihr Körper diesen Aggregatzustand bereits annähernd erreicht hatte, wollte sie wenigstens ihr Gesicht wahren, beziehungsweise retten. Also wurde das Haushaltsgeld zu einem nicht unerheblichen Teil für Faltencremes und Ähnlichem ausgegeben. Da traf es sich gut, daß die von Lisa bevorzugte Nahrung zwar nicht ganz billig war, die Familie aber auch nur sehr wenig davon aß. So blieb genug Geld übrig, um alles, was in der Apothekenzeitschrift als gut angepriesen wurde, zu kaufen. Und es auch zu benutzen. Erschreckt von dem Anblick erkannte Rainer seine Frau eines Morgens im Camper nicht sofort. Sie hatte oft Creme im Gesicht, manchmal auch Gurkenscheiben, von denen er den Verdacht hatte, daß Lisa sie ihm später wahrscheinlich als Essen vorsetzen würde. Aber diese Creme war anders. Giftgrün in der Farbe und, da Lisa ihre Maske bereits vor einiger Zeit aufgetragen hatte, leicht bröckelnd. Dies gab ihr das Aussehen eines Außerirdischen oder besser gesagt eines Monsters, daß nicht aus dieser Welt stammen konnte. Gott sei Dank ist der Raum für das bildliche Gedächtnis im Gehirn nur etwa ein Cent groß, so daß er sich nach dem Aufwachen aus der Ohnmacht kaum mehr daran erinnern konnte, was er da eigentlich gesehen hatte. Umringt von seinen Kindern und mit der zärtlich tätschelnden Hundezunge an seiner Wange wußte er erst wieder, was passiert war, als auch Lisa 88

ihren Kopf durch die Umstehenden gesteckt hatte. Als er nach der zweiten Ohnmacht wieder aufwachte und aus Lisas Mund hörte, „warum stellt er sich denn jetzt wieder so an?“, wußte er, daß er zuhause war. Zwar weit weg in Kanada, aber im Kreise seiner Familie. Und er fühlte sich müde. * Am nächsten Morgen schien die Sonne. Es war ein herrliches Wetter und so beschlossen sie, gemeinsam einen See zu suchen, möglichst mit kleinem Sandstrand, der zum Baden einlud. Schnell war der Camper abfahrbereit und sogar Opa nahmen sie diesmal mit. Nach zwei Stunden Fahrt hatten sie ihn endlich gefunden. Ein traumhaft schöner See, der tatsächlich, woran Lisa schon nicht mehr geglaubt hatte, einen kleinen Sandstrand hatte, der zwar etwas abschüssig, aber zum Liegen und Faulenzen gut geeignet war. Und da man mit dem Camper fast bis an das Ufer fahren konnte, mußten die vielen Sachen, die für einen zünftigen Badetag benötigt wurden, nicht weit getragen werden.

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Als erstes ging Großvater ins Wasser, genauer gesagt, er fuhr, denn kaum als sie ihn aus dem Wagen hoben, stellte er fest, wie abschüssig der gefundene Strand war. Trotz Gegenwehr nahm er schnell Fahrt auf und auch der Sand konnte ihn nicht mehr bremsen. Die übrigen Familienmitglieder bemerkten es erst, als das Quietschen des Rollstuhles nicht mehr zu überhören war. Mit offenen Mündern standen sie am Camper und sahen, wie Opa wild gestikulierend im Wasser versank, bis ausschließlich sein Stock, drohend in die Höhe gehoben, noch sichtbar war. Bubbles faßte sich als erster und da er auch der sportlichste von allen war, sprang er sofort hinterher und zog den sich immer noch wehrenden Großvater mitsamt Rollstuhl in die Höhe. Bubbles beschwerte sich wegen der Stockhiebe, die Großvater in seiner Panik auf ihn niederprasseln ließ und er überlegte kurz, ob er seinen Opa wieder auf dem Grund des Sees absetzen sollte, aber die Familie kam ihm zu Hilfe und gemeinsam und zumindest innerlich lachend zogen sie ihn aus dem Wasser. Rainer meinte, daß sie ihn abtrocknen müßten, aber die Kinder wollten sich endlich wichtigeren Dingen widmen und das Trocknen der Sonne überlassen. Also wurde der Rollstuhl kurz abgewischt, damit er nicht rostet und womöglich die Anschaffung eines Neuen erforderlich machte und Großvater am Uferrand auf einer ebenen Fläche abgestellt. Zur Sicherheit hatten sie die Räder des Rollstuhles ein Stück weit im Sand eingegraben, damit er nicht wieder von alleine ins Rollen kommen konnte. Lisa und Rainer lagen auf einer Decke im Sand, Andrea und Bubbles sprangen in das Wasser und tollten herum 90

wie kleine Kinder und Frank lag etwas abseits in der Sonne und versuchte, sich zu bräunen. Kurzum, es war ein herrlicher Tag und alle freuten sich. Bis auf Jasper, den Rainer, der gehört hatte, daß dies in Kanada an Badestränden so üblich sei, an einem Baum angeleint hatte und der seinen Unmut darüber durch lautes und anhaltendes Bellen kundtat. Bubbles schlug vor, um die Wette zu tauchen und verschwand unter der Wasseroberfläche. Andrea, ausnahmsweise einmal gut gelaunt, versuchte auch zu tauchen, schaffte es aufgrund ihres hohen Anteils an Fettgehalt in ihrem Körper aber nur, die Nasenspitze unter Wasser zu drücken. Sie war deshalb aber nicht traurig , weil Bubbles, der schon einen großen Vorsprung hatte, bereits in einer Ecke des Sees ankam, in dem Seerosen blühten. Als er wieder auftauchte, hatte er auf dem Kopf eine der Rosen und Andrea mußte bei diesem lustigen Anblick sogar lachen. Zumindest, bis sie vor lauter Lachen Wasser schluckte und laut prustend versuchte, wieder Luft in die Lungen zu bekommen. Aber auch Bubbles lachte nicht mehr, denn er machte die Erfahrung, daß Seerosen unter der Wasseroberfläche ziemlich anschmiegsame Tentakel hatten. Er brauchte lange, um sich davon zu befreien und auch er schluckte dabei viel Wasser, was aber nicht schlimm war, denn, wie Rainer den beiden nach Luft schnappenden Kindern zurief, war das Wasser in Kanada sehr sauber.

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Als sich gegen Abend die Sonne zum Horizont neigte, saßen alle am Strand und sahen einen wunderschönen Sonnenuntergang, dessen rote Färbung den Himmel bemalte und sich im klaren und ruhigen See spiegelte. Die Rötung wurde nur durch den Sonnenbrand von Frank übertroffen, der vergessen hatte, sich mit Sonnenschutz einzureiben und den ganzen Tag in der Sonne gelegen und versucht hatte, seine weiße Haut und die Sommersprossen mit etwas Bräune lebendiger aussehen zu lassen. Was ihm durchaus gelungen war, wie Bubbles anhand der aufplatzenden Blasen auf Franks Haut gehässig bemerkte. Als es schließlich dunkel wurde, packten sie ihre Sachen in den Camper und hätten beinahe Großvater stehen lassen, der sich nur mit Hilfe seines Stockes in ihre Erinnerung bringen konnte. Auch Jasper mußte durch lautes Bellen auf sich aufmerksam machen, um nicht die Nacht angebunden an einem Baum verbringen zu müssen. Schließlich ging es zurück zum Campground und alle, außer Rainer, waren froh, daß die lange Rückfahrt dazu führte, daß es zu spät war, um noch ein Lagerfeuer anzuzünden. * Rainer und Lisa hatten beschlossen, den Zusammenhalt der Familie weiter zu stärken. „Was wäre dazu besser geeignet, als ein schöner gemeinsamer Spaziergang?“ fragte Lisa und Rainer beugte sich, obwohl er lieber gemeinsam mit den Anderen in ein Kino oder in die Badeanstalt gegangen wäre. Auch die Kinder beugten 92

sich dem Vorschlag, denn ihr Vater hatte ihnen, ganz im Gegensatz zu seinen Gewohnheiten, Geld versprochen, wenn sie ihrer Mutter diese Freude machten. Jasper und Großvater brauchten nicht überredet werden, denn Jasper wedelte schon bei dem Wort „Spaziergang“ freudig mit dem Schwanz. Großvater schlief und bemerkte deshalb nicht, daß er bereits auf dem Weg war.

Rainer war stolz auf seine drei Kinder, denn sie gaben sich redlich Mühe, nicht zu meckern und sie wurden sogar richtig freundlich, als das versprochene Taschengeld nicht unerheblich aufgestockt wurde. Es war der schlaue Frank, der die Gunst der Stunde nutzen wollte und seinem Vater mit den Worten „ich glaube, ich habe bald keine Lust mehr, weiterzulaufen“ das Geld aus der Tasche zog. Bubbles und Andrea, denen dies nicht verborgen blieb, wurden ebenfalls ganz plötzlich müde und so war Rainers Geldbörse bereits nach wenigen hundert Metern leer. Auch Lisa hatte bemerkt, daß Rainer von ihren Kindern erpreßt wurde. Sie war zwar etwas erbost über die Kinder, aber stolz auf ihren Ehemann, weil er sich so viel Mühe gab und steckte ihm deshalb für die sicher zu erwartenden weiteren Erpressungsversuche etwas Geld zu, das sie am Vortag schon aus seinem Portemonnaie genommen hatte, um sich die in der Apothekerzeitschrift angekündigte neue Faltencreme zu kaufen. Der Spaziergang war wirklich schön. Er führte sie durch herrlich duftende Wälder, deren 93

heruntergefallenes Laub die Schritte weich werden ließen. Zudem schien zwar nicht die Sonne, aber es war warm und trocken. Nur Großvater beschwerte sich, weil sie ihn im Rollstuhl zu langsam schoben, denn er hatte schließlich noch eine Verabredung. Noch während sie erstaunt darüber nachdachten, wen Opa denn in dieser Gegend kennen könnte, schlief er bereits wieder. Trotzdem glaubte Bubbles, seinem Großvater den Wunsch erfüllen zu können und er schob ihn in wilder Fahrt kreuz und quer über den Weg.

Als Rainer auf einer großen Wiese einen Kürbis entdeckte, wurden Erinnerungen wach. In Deutschland hatte man schon viel von Sitten und Gebräuchen der Amerikaner übernommen und der neueste Trend war, sich an Halloween möglichst gruselig zu verkleiden und eine Party zu feiern. Dabei spielte der Kürbis eine ganz besondere Rolle, denn er wurde ausgehöhlt, mit Sehschlitzen versehen und über den Kopf gestülpt, was seinem Träger ein besonders gruseliges Aussehen verleihen sollte. Jedenfalls empfand das Andrea so, als Bubbles solcherart verkleidet plötzlich vor ihr stand und sie vor Schreck nicht einmal mehr heulen konnte. Als ihre Erstarrung nachließ, schlug sie sofort zu, was den Kürbis aufgrund der nicht unerheblichen freiwerdenden Kräfte platzen ließ und Bubbles´ Trommelfell durch die Druckwelle in Mitleidenschaft zog. Es brauchte drei Tage zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit. Auch der Teppich brauchte so lange, denn ein zerplatzter Kürbis hat trotz vorheriger 94

Aushöhlung unter anderem die Eigenschaft, sich großflächig und hartnäckig in den Bodenbelag einzuarbeiten. Die anschließend geplante Party wurde dadurch nachhaltig gestört.

Zudem war es Brauch, daß gruselig verkleidete Kinder an der Türe klingelten, einen Spruch wie „Süßes oder Saures“ aufsagten und dafür eine Menge Süßigkeiten erwarteten. Was mit „Saurem“ gemeint war, hatte die Familie schnell begriffen. Rainer hatte, weil ihm dieser Brauch gefiel, eine Menge Süßigkeiten für die Kinder gekauft. Er hatte die Hoffnung, die Übergabe der Beute mit seiner Videokamera zu filmen und so ein schönes Andenken daran zu haben. Was er nicht bedacht hatte, war die unbändige Lust seiner Tochter auf Schokoriegel und Bonbons, die sie zu erfüllen wußte, als sie einen Tag vor Halloween die Tüte fand, in der Rainer alles versteckt hatte. Als die Kinder kamen, klingelten und ihren Spruch aufsagten, hatte Rainer die Kamera bereits eingeschaltet, um nichts zu verpassen. Mit der anderen Hand griff er in die Tüte und stellte erstaunt fest, daß sie bis auf einen Bonbon, den Andrea versehentlich übersehen hatte, leer war. Jetzt kam das „Saure“ ins 95

Spiel, denn die erbosten Kinder warfen mit Farbbeuteln, was die Kameralinse sehr schnell undurchsichtig machte. Rainer hatte Glück, denn er hatte die Kamera noch vor dem Auge, so daß dieses nicht direkt verletzt wurde. Der Rest von ihm sah dann allerdings recht bunt aus und der Kamerasucher hinterließ aufgrund des massiven plötzlichen Druckes ein mattviolettes Veilchen in runder Form um das rechte Auge. Ein Jahr später erlitt Lisa ein ganz ähnliches Schicksal. Sie hatte, wie es ihre Art war, der Familie verboten, nochmals Süßigkeiten zu kaufen, weil diese sehr ungesund seien. Statt dessen backte sie Öko-Kekse, die nicht nur nicht wie Kekse aussahen, sondern auch ganz entschieden nicht so schmeckten. Die Familie entschied deshalb, daß Lisa diesmal die Kinder empfangen sollte. Als diese kamen, waren die Kekse noch alle da, denn niemand wollte sie vorher kosten oder gar aufessen. Zwei Sekunden nach Aufsage des einschlägigen Spruches und der Übergabe der Kekse hatte Lisa den ersten, mit Papiertaschentüchern und Wasser gefüllten Beutel im Gesicht. Es tat nicht weh, ließ Lisa aber vor Empörung aufschreien, worauf auch Andrea, die sich hinter der Tür versteckt hatte, zu heulen anfing. Als Bubbles dann geistesgegenwärtig die Haustür zuwarf, hörten sie noch einige Male das dumpfe Wummern, mit denen ihr Haus beworfen wurde. Und sie hörten den Schrei ihrer Mutter, deren rechter Fuß sich zwischen Tür und Rahmen befand und schnell anschwoll. Wie sie am nächsten Tag bemerkten, hatte Lisa viel Glück gehabt, denn sie hatte nur den Beutel erwischt, dessen Inhalt sich leicht von ihrem Gesicht abwaschen ließ. 96

Die übrigen, in der Regel mit grellen Farblösungen und Tüchern gefüllt, fanden sie dann an den Haus- und Türwänden. Seitdem wurden für Halloween nur noch feinste Kekse und Schokoriegel gekauft. Und so standen sie mitten in Kanada vor dem Kürbis und hingen noch einige Zeit ihren Erinnerungen nach, bevor sie weiterliefen. Als sie an einem der vielen kanadischen Seen ankamen, wurde ein Picknick gemacht. Lisa hatte für diesen Zweck ein besonders leckeres Zucchini-Kefir zubereitet, weshalb das Picknick relativ kurz ausfiel.

Alle hatten zwar Hunger, trotzdem aber gute Laune. Als der Regen einsetzte, stellten sie sich einfach in der Hoffnung unter einen dicht bewachsenen Baum, daß es bald aufhören und sie den Weg fortsetzen könnten. Es hörte zwar nicht auf, den Weg fortsetzen mußten sie aber trotzdem, als sie nach zwei Stunden merkten, daß die Zeit für den Rückweg knapp wurde. Also wurde die dünne Restbekleidung über den Kopf gezogen und der Rückweg angetreten. Als der Regen immer stärker wurde und die Kopfbedeckungen völlig durchnäßt waren, ging Rainer dank Lisas Hilfe zwar nicht das Geld aus, wohl aber die Lust, seine plagenden Kinder weiter finanziell zu unterstützen. Bubbles machte der Regen nichts aus, Andrea und Frank waren sich aber 97

ausnahmsweise einmal einig und verdammten diesen mißglückten Spaziergang. Andrea, bei der man das Regenwasser nicht mehr von den zahlreich fließenden Tränen unterscheiden konnte, sackte in die Knie, als das Gewitter anfing. Der erste Blitz hatte sie so erschreckt, daß sie bei dem darauffolgenden Donner bereits auf dem Boden lag und schrie. Auch Rainer und Lisa wurde mulmig, denn sie wußten natürlich, daß man sich bei einem Gewitter nicht unter einen Baum stellen sollte. Hier gab es aber nichts anderes als Bäume, die zwar den mittlerweile starken Regen etwas abmilderten, aber möglicherweise die Blitze anziehen würden. Also suchten sie schnell nach einer Lichtung und fanden sie auch bald. Sie hockten sich, jetzt gänzlich ungeschützt vor dem Regen, in die Mitte der Lichtung dicht zusammen und warteten darauf, daß das Gewitter weiterziehen würde. Statt dessen schlug der Blitz ein. Zwar nicht in unmittelbarer Nähe, aber nah genug für einen Trommelfellschaden und steil aufstehenden Kopfhaaren, als Blitz und Donner gleichzeitig zuschlugen und gemeinsam einen Baum fällten, der seinerseits den Bären weckte, der gleich nebenan schlief. Sie sahen den Bären, bevor er sie sah, rannten einigermaßen panisch los und gewannen so einen großen Vorsprung. Der Bär dachte gar nicht daran, sie bei diesem Regen zu verfolgen und legte sich wieder schlafen, weil es ohnehin dunkel wurde.

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Wie durch ein Wunder entdeckten sie ein Haus, in dem durch die Fenster ein freundliches Licht schien. Sie klopften laut und verzweifelt und es öffnete eine freundliche Frau und ließ sie herein. Nur Jasper durfte nicht mit, weil die Hauskatze gegen Hunde allergisch war und Großvater wollte man zunächst abtropfen lassen, bevor der Rollstuhl die wertvollen Teppiche ruinierte. Im Haus war es sehr gemütlich und sie wurden, weil Gäste in dieser Gegend sehr selten waren, herzhaft bekocht. Man sprach über dieses und jenes und vor allem über den Regen und die Zeit verging wie im Fluge. Schließlich bot der Hausherr an, die Familie in seinem Wagen zum Campground zurück zu fahren. Lisa war ob dieser Idee ganz begeistert, weil der Hasenbraten ihr überhaupt nicht geschmeckt hatte und sie weitere Tierkadaver nicht angeboten bekommen wollte. Die anderen fanden es zwar gut, daß sie jetzt nicht mehr zurück laufen mußten, wollten aber angesichts der deftigen und nährreichen Mahlzeit gern die nächsten zehn Wochen in diesem Haus verbringen. Trotz der Unterzahl setzte sich Lisa mit der Bemerkung „ihr wollt doch wohl die Gastfreundschaft nicht dermaßen ausnutzen?“ durch und so fuhren sie trockenen Fußes zurück zum Camper, der das Gewitter gut überstanden hatte. * Sie brauchten einen Tag, um sich von den Strapazen zu erholen. Dann aber waren sie wieder tatendurstig und Rainer wollte seinen Kindern, insbesondere seinem Jüngsten, eine Freude machen. Er hatte in seinem Reiseführer, aus dem er auch diverse andere 99

Anregungen holte, einen Ausflugstip entnommen, der bei den Kindern bestimmt gut ankam. Und er machte aus seiner Überraschung auch kein Hehl, verschwieg aber zunächst das Ziel der Fahrt. Während sich die Kinder hinten im Camper einigermaßen langweilten, zerbarst Rainer fast. Überraschungen für sich zu behalten, war ihm noch nie leichtgefallen und er war drauf und dran, das Ziel seiner Begierde fast herauszuposaunen, als sie endlich ankamen. Es war eine kleine Stadt mit alten, zumeist verfallenen Häusern und vielen, sehr vielen Touristen. Schon deshalb war diese alte Goldgräberstadt nicht so einsam, wie sie in dem Reiseführer beschrieben wurde. Aber Rainer ließ sich nicht entmutigen und schwärmte von den alten Zeiten, die er natürlich auch nicht miterlebt hatte, die aber irgendwie aus den Beschreibungen des Buches in sein Langzeitgedächtnis Einzug gehalten haben mußten. Lisa hingegen fand die Geschichten mit den vielen materiellen Dingen, wie etwa Gold, nicht sonderlich interessant, wollte aber auch den Kindern nicht die Freude verderben. Als sie aber in einem Touristenladen, dessen Verkäuferinnen die damals wohl übliche Kleidung trugen, entdeckte, daß eben diese Kleidung wie auch fast alle übrigen angebotenen Waren ausschließlich aus Jute bestand, war nicht nur die Begeisterung geweckt, auch der einsetzende Kaufrausch suchte seinesgleichen. Sie hatte schließlich in Deutschland lange nach einem solchen Laden gesucht, aber nie wirklich gefunden, denn Jute war offenbar kein Saisonartikel, nach dem sich der Geschmack aller übrigen Käufer richtete.

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Bubbles und Frank waren sehr interessiert an dem kleinen Städtchen. Besonders die Schilderungen über die Duelle, die sich die goldsuchenden Abenteurer lieferten, fanden ihre Aufmerksamkeit. Bubbles, ein ums andere Mal sterbend dahinsinkend, weil Frank ihn gerade wieder imaginär erschossen hatte, schluckte dabei viel Staub, wie es die alten Goldgräber wohl auch getan hatten. Frank hingegen schoß lieber, als selbst getroffen zu werden, denn was seine Kleidung anbelangte, war er doch etwas eigen und er wollte sich nicht so im Dreck suhlen, wie es sein Bruder offenbar mit wachsender Freude tat. Rainer genoß sichtlich die Zuneigung seiner Familie, die sich aufgrund seines Vorschlages und dessen bisheriger Umsetzung entwickelte. Sie sprachen mit ihm, machten sogar Scherze und alle waren gutgelaunt. Rainer wollte noch eines draufsetzen und kaufte den Kindern ein echtes amerikanisches Speiseeis, das diese gern annahmen. Lisas argwöhnische Augen sah er nicht. Sie hatte, seitdem sie den Laden mit den Jutekleidern aufgekauft hatte, Rainers Geldbörse bewacht. Nicht, weil darin noch irgendein kanadischer Cent enthalten gewesen wäre, sondern weil sie ihm die Börse erst wiedergeben wollte, wenn er schon fast schlief und deshalb relativ wehrlos war. Um so überraschter war sie jetzt, daß ihr Gatte noch Geld hatte, das sie nicht entwenden konnte, weil er es ihr offenbar bewußt vorenthielt. So viel Heimtücke hatte sie schließlich nicht von ihm erwartet. Sei es drum, den Kindern ging es sehr gut und deshalb waren sie schließlich hier. Und heimzahlen konnte sie es ihm auch noch daheim. 101

Sogar Großvater hatte seine freudigen Stunden. Die Kinder hatten bei ihrer Erforschung der Stadt eine Gleisstrecke entdeckt, die offenbar genau der Spurbreite des Rollstuhles entsprach. Flugs wurde die Luft aus den Reifen gelassen, Opa mitsamt seinem Gefährt auf die Schienen gehoben und ab ging die wilde Fahrt. Bereits nach wenigen Metern meinte man, den Großvater vor Freude jauchzen zu hören. Die Schienen verliefen nicht nur quer durch den Ort, sondern hinter einer Weiche auch in die Hügel, die zu diesem Zweck Tunnel aufwiesen. Sie schoben ihn ein wenig den Hügel hinauf, in den Tunnel hinein und schon nahm Großvater Fahrt auf. Ebenso wie die drei kleinen, aber schweren Waggons auf einem Nebengleis, die sich durch die Erschütterungen ebenfalls in Bewegung setzten. Bubbles und Frank konnten dem Rollstuhl nicht mehr folgen, zumal ihnen der Tunnel auch etwas unheimlich vorkam, Bubbles in einer großen Pfütze ausrutschte und mit dem Gesicht voraus testete, ob das Wasser genießbar war. Die anderen Waggons nahmen unterdessen, nachdem sie durch die Weiche auf das entsprechende Gleis umgeleitet wurden, an dem sich aus dem Wasser kämpfenden Bubbles vorbeifahrend die Verfolgung des Großvaters auf. Der konnte diese zwar nicht sehen, vernahm jedoch das deutlich hörbare und näherkommende dumpfe Rumpeln. Wie man es einem Mann seines Alters gar nicht zugetraut hätte, nahm der alte Greis das Rennen an und legte sich in die Kurven, was das Zeug hielt. Dies hielt gleichzeitig auch den Rollstuhl entgegen der Macht der Fliehkräfte auf den Gleisen. Die Waggons hingegen hatten diese Gabe nicht und gaben zwei Kurven später das Rennen auf, indem sie von den 102

Schienen sprangen, gegen die Tunnelwand krachten und diese so zum Einsturz brachte, daß ein ähnliches Rennen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr hatte stattfinden können. Großvater jedoch nahm auch die letzten Kurven fast elegant, verließ den Tunnel in einer großen Kurve und stand wieder dort, wo der Wettlauf begann. Auch Bubbles und Frank freuten sich, daß der Opa wieder bei ihnen angelangt war, denn sie hatten bereits die Diskussion begonnen, wer von ihnen in den Tunnel geht um Großvater zu retten. Einzig die fehlende Luft in den Reifen behagte dem alten Mann nicht sonderlich, denn Reifen ohne Luft boten nicht den Komfort, den er ansonsten von seinem Rollstuhl gewohnt war. Rainer, angesichts des schönen Tages vor Kreativität nur so sprudelnd, erwähnte, daß sie sich in einem Goldgräberdorf befanden. Hier hatten, allerdings vor sehr vielen Jahren, noch große Haufen Gold herumgelegen und die Leute, die sich unter Einsatz des eigenen und manchmal auch eines anderen Lebens hier einfanden, suchten danach und gingen reich wieder nach Hause. Was also spräche dagegen, auch ein wenig zu suchen? „Glaubst du denn wirklich, daß angesichts der vielen tausend Touristen täglich auch nur ein goldfarbenes Staubkorn unentdeckt geblieben wäre? Und ausgerechnet wir finden es?“ Rainer, von dem plötzlich einsetzenden Enthusiasmus seiner Kinder angesteckt, ließ sich nicht entmutigen. Natürlich wußte er, daß es hier kein Gold mehr gibt, aber warum sollten sie nicht wenigstens danach suchen?

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Es dauerte keine zwei Minuten, da hatte die ganze Familie den Blick ausschließlich nach unten auf den Boden gerichtet. Lisa tat zunächst, als interessiere sie dies nicht, da es sich schließlich nur um materielle Dinge handelte, wo doch Sinn und Geist stets Vorrang haben sollten. Als sie jedoch, den Blick mittlerweile streng materialistisch nach unten gerichtet, gegen den für ein Goldgräberdorf nicht gerade zeitgemäßen Strommast lief und abrupt zurückprallte, lächelte Rainer still in sich hinein. Bubbles schrie als erster. Ein goldfarbener Stein, fast so groß wie ein Fingernagel und recht gleichmäßig aussehend, erweckte zuerst seine Neugier und anschließend seine Gier. Obwohl er zunächst wollte, konnte er diese Entdeckung nicht vor den anderen verheimlichen.

Rainer, ganz Familienoberhaupt, erinnerte sich der vielen Wildwest-Filme, die schließlich immer irgend etwas mit Goldsucherei zu tun hatten. Und er erinnerte sich, wie die alten Abenteurer prüften, ob es sich tatsächlich um das teure Edelmetall handelte. Man mußte es in den Mund nehmen und darauf herumkauen. Anhand der Konsistenz war dann festzustellen, ob es wirklich Gold war oder nicht. Lisa 104

konnte es noch immer nicht glauben, obwohl sowohl Bubbles als auch sein Vater ausgiebig an dem Klumpen lutschten und sogar Frank seine Zunge ausstreckte, um daran zu lecken. Andrea kaute ebenfalls daran eine Weile herum, bis schließlich das ehemals recht ordentlich aussehende Stück eine Form annahm, die eher an einen Klumpen Gold erinnerte. Aber sie waren sich sicher. Das konnte nicht nur, das mußte Gold sein. Viel brachte es sicher nicht ein, aber allein der Gedanke daran, einmal echtes Gold, noch dazu praktisch auf der Straße gefunden, mit den eigenen Zähnen geprüft und für echt befunden zu haben, war einfach für alle ein umwerfendes Erlebnis. Zwar wiederholte Lisa die Frage, warum denn ausgerechnet sie dieses Gold hatten finden können, aber angesichts des neuen kleinen Reichtums fand sie kein Gehör.

Die Familie, aber insbesondere Rainer befand diesen Nachmittag als einen der wirklich schönen und so lud er alle zum Abschluß in ein echtes GoldgräberRestaurant ein. Selbst Lisa, die immer mehr ins Grübeln kam, wo ihr Mann das Geld dafür versteckt hatte, willigte schließlich auf Drängen der Kinder auch ein. Und so gab es am Abend herrliche Hamburger mit Pommes Frites und erst, als der Streit am Nachbartisch lauter wurde und eine Frau ihrem Mann Dummheit vorwarf, weil er seinen Goldzahn auf offener Straße hat verlieren können, erklärte Rainer, dem sofort wie auch der übrigen Familie schlecht wurde, den Abend unverzüglich für beendet. 105

* Sehr zum Verdruß von Jasper hatte sich am darauffolgenden Tage eine Katze zu ihnen gesellt. Sie kam daher, legte sich vor Rainers Füße und wollte offensichtlich mit in den Camper, weil es draußen regnete. Niemand wollte dieses Tier, denn jeder hatte Angst davor, daß der Platz im Campmobil noch geringer werden würde. Nur Lisa sah in der Katze eine geeignete Alternative zu Jasper und nahm sie freudig in den Arm. Ihre Liebe zu Katzen kannten alle, doch was sie nicht kennen konnten, war, wie diese Liebe umschlug, als sich die Katze zur Wehr setzte. Die kleinen scharfen Krallen hatte eine tiefe Furche durch Lisas Arm gezogen, worauf Lisa die Katze von sich weg und Andrea direkt ins Gesicht warf. Der anschließende Schrei galt weniger den Schmerzen als vielmehr deren Wut auf die Mutter.

Alle hatten die Katze dann schnell richtig liebgewonnen, bis auf Lisa, die ihr zunächst nicht so recht verzeihen konnte, daß ihr linker Unterarm so lange brauchte, um zu heilen. Aber eigentlich hatte sich Lisa schon immer eine Katze gewünscht, ein Vorhaben, das durch Jaspers Anwesenheit frühzeitig gestört wurde. Sie wollte nur eine Katze, die sich zu Hause auf 106

dem Sofa zusammenrollte und vergnügt schnurrte und die eine gewisse Ruhe ausstrahlte, zu der Jasper nie in der Lage gewesen wäre. Als dann alle anderen Familienmitglieder sehr schnell die Lust verloren, sich um die Katze zu kümmern oder mit ihr zu spielen, entwickelte sich auch schnell eine familiäre Bindung zwischen der Katze und Lisa. Trotz ihres noch nicht verheilten Unterarmes, den die Katze manchmal zärtlich leckte, entwickelte Lisa viel Liebe zu diesem Tier. Wie sie bald heraus fand, hatte die Katze Eigenheiten, die ihr nicht nur bekannt vorkamen, sondern die sie selbst lebte oder forderte. Dazu gehörte eine gewisse Sturheit gepaart mit einer gehörigen Portion Eigensinn. Die Reinlichkeit der Katze war ebenfalls sprichwörtlich. Mehrmals täglich putzte sie sich ausgiebig, ganz im Gegensatz zu ihren Kindern. Die Katze war wirklich drollig. Sie tat nie das, was sie machen sollte, aber stets das, was sie machen wollte. Lisa kam diese Art von Eigensinn sehr bekannt vor. Da sich der neue Hausgast sehr schnell an die Familie gewöhnt hatte, schlief sie, wie es Katzen immer tun, fast ständig. Sie hatte dafür auch einen Lieblingsplatz gefunden, nämlich den Schoß des Großvaters, der für gewöhnlich in seinem Rollstuhl ebenfalls schlief und dies deshalb nicht bemerkte. Außerdem strahlte die auf seinem Schoß schlafende Katze eine angenehme Wärme aus, die ihm unbewußt half, die kalten Nächte zu überstehen, wenn er mal wieder von allen vergessen wurde und deshalb mitsamt Rollstuhl draußen schlafen mußte. 107

Nach drei Tagen fiel ihnen auf, daß Katzen doch auch etwas essen müßten. Also mußte etwas zum Fressen besorgt werden, was nicht einfach war, denn die Katze war wählerisch. Sie mochte weder die von Bubbles gesammelten Tannenzweige noch den Kuchen vom Vortag, den keiner mehr essen wollte, weil er mittlerweile eher einem Stein glich. Lisa, die sich mit Katzen besonders gut auskannte, fragte: „Wo bekommen wir jetzt Katzenfutter her?“ Diese Frage konnte oder wollte aber ob der Entfernung zum nächsten Supermarkt niemand beantworten. Ausgerechnet Großvater brachte sie auf eine Idee, weil er mit seinem Stock wie wild auf den Boden haute, um auf sich aufmerksam zu machen. „Wie wär´s und wir erschlagen eine Maus?“ fragte Lisa und alle sahen sich auf dem Boden um, als ob sie in einem Meer aus Mäusen stehen würden. Es waren keine zu finden und auch die von Andrea mürbe getrampelten kleinen Insekten wurden von dem neuen Familienmitglied verschmäht und so drehten sich alle wieder von der Katze weg und gingen anderen Beschäftigungen nach. Die Lösung des Problems lieferte die Katze selbst. Bereits in der ersten Nacht ging sie auf die Pirsch und schaffte die noch lebende Maus vor lauter Dankbarkeit wegen der freundlichen Aufnahme in die Familie in den Camper und legte sie direkt vor das Bett der Kinder.

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Andrea war die erste, die in dieser Nacht auf die Toilette mußte. Als sie in ihre Schuhe schlüpfen wollte, spürte sie etwas Warmes, Weiches und offenbar noch Lebendes. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schrie sie nicht sofort los, weil sie vor Schreck erstarrt war. Ihr leiser Ruf weckte die Mutterinstinkte und Lisa fragte, was denn los sei und warum sie mitten in der Nacht geweckt wurde, obwohl Großvater gar nicht auf die Toilette wollte. Inzwischen wollte die Maus den Schuh nicht länger mit Andrea teilen und versuchte, ihn seitlich zu verlassen. Da brachen bei Andrea alle Dämme und sie fing so laut an zu schreien, daß ihr Vater fast aus dem Bett gefallen wäre. Als das Licht anging, sah Lisa, wie ein kleines dunkelhaariges Tier unter dem Bett der Kinder verschwand. Sie erkannte sofort die Situation und ein ganz böser Blick streifte die Katze. „Warum bringst du uns Geschenke statt dieses Vieh zu fressen?“ Die Katze antwortete nicht. Statt dessen schien sie es sich anders überlegt zu haben und wollte ihr Geschenk zurück, um damit zu spielen. Als sich die Katze, die nur zur Hälfte unter das Bett paßte und die Maus, die ängstlich in der Ecke saß, anstarrten und warteten, was passieren würde, war erst einmal Zeit gewonnen. Die Familie beratschlagte, was jetzt zu unternehmen sei. Rainer, ganz Familienoberhaupt, meinte, sie sollten alle wieder schlafen gehen und die Campertür auflassen, bis die Maus flüchten würde. Andrea, die nur schwer ihren Heulkrampf in den Griff 109

zu bekommen schien, fand diese Idee wegen der einschlägigen Erfahrungen mit den dann eindringenden Mücken nicht gut. Frank und Bubbles wollten das Bett hochheben, damit die Katze bequemer an die Maus kommen könne, aber Lisa, die ihre große Tierliebe wiederentdeckt hatte, war entschlossen, die Maus vor Katze und Familie zu retten. Während sie beratschlagten, erledigte sich das Problem. Die Maus, wegen des Anblickes der vor ihr liegenden und offenbar eingeklemmten Katze unruhig geworden, erkannte ihre Chance zur Flucht und rannte um ihr Leben. Großvater, der von alledem nichts mitbekommen hatte, wollte auf die Toilette und prügelte mit seinem Stock auf den Boden, um der Familie mitzuteilen, daß er Dringliches zu tun gedenke und Hilfe erwartete. Der dritte Schlag traf zum Entsetzen von Lisa das kleine süße Tier. Auch die Katze, die sich mittlerweile befreit hatte, war entsetzt, weil ihr Spielkamerad nicht mehr lauffähig war. Zudem ähnelte der Körper der Maus eher einem Plattfisch, denn Großvater hatte zumindest in den Armen noch viel Kraft. Bubbles faßte sich als erster, nahm die Maus an dem langen Schwanz und schmiß sie in weitem Bogen durch die geöffnete Tür. Die Katze verstand dies wohl als Aufforderung zum Spiel und sprang hinterher. Dies wiederum inspirierte Jasper, der die Gelegenheit nutzen wollte, um das haarige Vieh, das die ganze Aufmerksamkeit der Familie auf sich lenkte, davon zu jagen. Nach drei Stunden kam Jasper wieder und legte sich entspannt und äußerst zufrieden vor den Camper, in 110

dem die Familie wieder tiefen Schlaf gefunden hatte. Bubbles und Frank träumten vom besonders kindischen Verhalten ihrer Schwester und Andrea träumte von großen haarigen Tieren, die ihr den Schlaf raubten. Rainer träumte davon, daß er jetzt die Katze und den Hund los sei und Lisa entwickelte sogar eine Träne, fragte sich dann aber, ob es so nicht besser war, denn diese Familie war entschieden nicht für Katzen und andere Tiere geeignet. Nur Großvater war noch wach und putzte Blut und Mäusehaare von seinem geliebten Stock. * Die rauhe Gegend Kanadas brachte es mit sich, daß das Wetter nicht immer den Vorstellungen der Familie entsprach. Es war in Kanada definitiv anders als in Deutschland. Sie hatten sich am Anfang viel Mühe gegeben, es zu ignorieren, was aber schwierig war, denn Wetter gab es schließlich immer. Es war nicht nur der Wind und der ständige Regen, sondern auch die abendliche Kälte, die besonders Andrea zu schaffen machte. Nach dem Verlust ihrer Strumpfhose hatte sie noch keine Gelegenheit gefunden, ihrem Vater das Geld aus der Tasche zu ziehen und eine neue zu kaufen. Und da sie ihren Koffer eher modebewußt statt praxisbezogen gepackt hatte, halfen ihr die kurzen Söckchen und das dünne TShirt auch nicht viel weiter.

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Nicht nur, daß sie ab und zu im Camper saßen und warteten, bis der Regen wieder aufhörte, sie hatten auch manches Mal richtige Gewissensbisse, weil Großvater in seinem Rollstuhl noch draußen saß. Nachdem Rainer dann meinte, „der trocknet schon wieder“ und Lisa leicht besorgt fragte „bist du dir da sicher?“, war die Besorgnis aber schnell wieder vorüber und Großvater vergessen. Andrea hatte sich wegen der Regentage ein neues Hobby zugelegt. Sie nahm sich von ihrer Mutter Stricknadeln und fing an, sich warme Sachen zu stricken. Bereits nach zwei Tagen hatte sie einen ganzen Arm des neuen Pullovers fertig und ihre Mutter war richtig stolz auf sie, denn sie benutzte Jute und weil Lisa eine große Vorliebe dafür hatte, unterstützte sie Andrea mit vielen gutgemeinten Ratschlägen. „Solltest du nicht die linke Hand dafür benutzen? Und woher hast du überhaupt den Stoff?“ Diese Frage brachte Andrea aus der Konzentration, denn sie hatte eines der Kleider ihrer Mutter in einen langen Faden verwandelt und ordentlich aufgerollt, so daß seine Herkunft nicht mehr ohne weiteres erkennbar war. Ihr Vater hatte dies zwar gesehen, war ihr aber nicht böse, weil er die Kleider seiner Frau ohnehin nicht mochte. Rainer haßte Jute, zumindest, wenn seine Frau sich damit einkleidete und ihn damit ständig an ihren ökologischen Terror erinnerte. Andrea brauchte die Frage ihrer Mutter nicht mehr zu beantworten, denn die Tatsache, daß sich die eine Nadel in ihr Handgelenk bohrte und heftigen Blutfluß verursachte, was zu einem herzhaften Weinkrampf 112

führte, beendete ihr neues Hobby unverzüglich, zumal Bubbles mit den Worten „die Spears würde niemals stricken“ das Seine dazu tat. Der Regen war definitiv nicht dazu geeignet, einen harmonischen Urlaub zu verbringen. Nicht nur, daß der Platz im Camper vor allem wegen der zwei dicken Kinder und Großvaters Rollstuhl sehr begrenzt war, Rainer und Lisa kamen eines Tages auch noch auf die Idee, etwas zu spielen. Regenabende brachten es nun mal mit sich, sich miteinander zu beschäftigen. Ausgenommen davon war natürlich Großvater, der sich nicht beschäftigen ließ und lieber draußen schlief. Er hatte schließlich früher viele Tage im Schützengraben gelegen und da genügend Zeit gehabt, Karten zu spielen. Da der Familie langweilig war und der Regen nicht aufhören wollte, schlug Rainer ein Kartenspiel vor. Die Kinder haßten Kartenspiele, weil diese eine gewisse Nähe zu ihren Eltern erforderten, was aber im Camper ohnehin nicht ganz zu vermeiden war. Besonders Bubbles litt darunter, während eines Kartenspiels möglichst ruhig am Tisch sitzen zu müssen. Und so spielten sie eher lustlos, zumindest bis Andrea entdeckte, daß Frank schummelte. Er hatte Karten versteckt und holte sie verstohlen bei Bedarf wieder heraus. Andrea fing sofort an zu heulen und auch Bubbles nutzte die Gunst der Stunde, schmiss seine Karten auf den Tisch und brüllte, daß er nie wieder mit einer so verlogenen Familie spielen würde und rannte hinaus, allerdings nicht, ohne über seinen Großvater zu stolpern, der die Schreie gehört und sein Ohr 113

interessiert an die äußere Campertür gedrückt hatte. Nach dem freien Fall über den Rollstuhl landete er sicher und unverletzt, da eine große und äußerst schlammige Pfütze seinen Sturz abfederte. Rainer und Lisa waren zunächst entsetzt darüber, daß ihr eigenes Kind, wenn auch schon achtzehn Jahre alt, sie belogen und betrogen hatte. Sie machten sonst nicht viel gemeinsam, aber in diesem Fall waren sie sich einig, daß Frank Stubenarrest verdient hatte. Es war das erste Mal seit gut zehn Jahren und sie wußten auch nicht, ob Frank mit seinen achtzehn Jahren dieses Urteil überhaupt akzeptieren würde, zumal es ohnehin aufgrund der Enge im Camper erst in Deutschland hätte vollzogen werden können. Aber ausgesprochen wurde es, denn Strafe muß sein. * Frank akzeptierte die Strafe, weil es ohnehin noch regnete und so entschloß er sich, seiner daheim gebliebenen Freundin eine Postkarte zu schreiben. Dabei ließ er seiner grenzenlosen Kreativität freien Lauf, denn sie war seine große Liebe, der er ewige Treue geschworen hatte. Und wenn er ewig sagte, dann meinte er auch ewig. Auch wenn dies in seinem Alter etwa dem Zeitraum von drei bis vier Wochen entsprach. Also genau so lange, wie dieser überflüssige Urlaub dauern würde. Er machte sich große Sorgen um die Treue und Standfestigkeit seiner Freundin, was seine bereits erwähnte Kreativität leicht einschränkte. "Hallo, mir geht es gut, und dir? Das Wetter hier ist 114

o.K. Und bei euch? Ich hoffe doch nicht, daß du mich schon vergessen hast und dich nach Anderen umschaust? In Liebe, dein Frank".

Natürlich erwartete er auf die rethorischen Fragen keine Antwort, zumal er selber nicht einmal wußte, wo genau er sich befand. Ihm kam es vielmehr auf den leicht drohenden Unterton im letzten Satz seines literarischen Ergusses an. Nie würde er es ihr verzeihen, wenn sie sich während seiner Abwesenheit einen anderen Freund suchte. Er selbst hätte schon gerne Umschau nach anderen Mädchen gehalten. Aber was hier in den Ortschaften, die sie durchfuhren und wo sie gelegentlich anhielten, herumlief, sah aus wie seine Schwester. Zumindest von den körperlichen Maßen her, was überhaupt nicht seinem Geschmack entsprach. Schon von dem Gedanken daran stark angewidert konnte er es deshalb auch nicht zulassen, daß seine große Liebe von der daheim Gebliebenen nicht mehr erwidert wurde. Schließlich war er der Mann. Er überlegte noch, ob er den Ton nicht dahingehend verschärfen sollte, daß er eine offene Drohung auf die Postkarte schrieb. Aber dann entschied er sich, dies nicht zu tun. Schließlich gedachte er, seine Liebste zu heiraten. Und weil er sie schließlich schon seit mindestens zwei Wochen kannte, standen die Chancen gut, wenn er sich jetzt literarisch zurückhielt. Und wenn 115

er zwischenzeitlich keine bessere kennenlernen würde, was, wie erwähnt, in Kanada nur schwer möglich sein würde.

* Frank war nicht gerade ein Draufgänger wie Bubbles, sondern eher ein ruhiger und besonnener Typ. Dennoch hatte er vor nichts und niemand Angst, mit Ausnahme von Spinnen. Er war der Meinung, diese kleinen Tierchen hätten nichts anderes zu tun, als sich feige zu verstecken und immer genau dann aufzutauchen, wenn gerade nicht mit ihnen gerechnet wurde. Vor etlichen Jahren fuhr er auf dem Beifahrersitz neben seinem Vater im Auto. Als seine hinter ihm sitzende Mutter ihn mit den Worten ansprach “was hast du denn da auf deiner Schulter?“, drehte er seinen Kopf, konnte aber nichts entdecken. „Willst du nicht mal auf der anderen Seite nachsehen?“, fragte Lisa und er drehte sich um und da saß sie. Eine Spinne, nicht größer als ein Geldstück, aber mit entsetzlich aussehendem dicken Körper. Als er das kleine Kreuz auf dem Rücken der Spinne sah, hatte er sich bereits von dem Schock so weit erholt, daß er voller Panik die Autotür aufriß, um sich von der Spinne zu entfernen. Nur mit Mühe konnte ihn seine Mutter zurückhalten, bei rasanter Fahrt auf der Autobahn mit einhundert Stundenkilometern aus dem Wagen zu springen. Sie 116

umklammerte ihren Sohn und schüttelte dabei die Spinne ab, die der kleinen Andrea genau in den Schoß fiel und zu einem wilden Schreien führte.

Als Frank, noch immer in leichter Panik, sie anschrie, sie möge sich doch bitte nicht so anstellen, hatte Andrea bereits mit ihrer kleinen Handtasche zugeschlagen und der Spinne den Garaus gemacht. Platt und eklig hatte diese sich in Andreas Kleid eingearbeitet. Und da der Fleck nicht mehr ohne Waschmittel entfernt werden konnte, war der Tag für Andrea gelaufen, denn sie hatte sich in der Hoffnung, einen Jungen kennenzulernen, besonders hübsch gemacht, was zwar nicht einmal im Ansatz gelang, aber sehr lange gedauert hatte. Auch später noch fiel die Angst vor Spinnen nie von Frank ab. Er rief bei jeder Begegnung mit ihnen nach seinen Eltern, denn er war nicht in der Lage, sich mit einem Schuh oder anderen Schlagwerkzeug dagegen zu wehren. Ganz im Gegensatz zu Bubbles, der manchmal sogar herumlief und Spinnen suchte, damit er sie voller Genuß zertreten konnte.

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In der rauhen Wildnis Kanadas waren Frank deshalb die Abende am Lagerfeuer besonders zuwider, denn der Schein des Feuers war zwar meist hell, reichte aber nur selten bis zu den Füßen oder gar um den Körper herum bis zum Rücken. Frank saß deshalb nie ruhig am Feuer, sondern schlug sich ständig auf alle möglichen Körperstellen, die für einen Spinnenspaziergang geeignet waren. Die anderen dachten immer, er täte dies gegen die Mücken, weil Frank seine Phobie nie zugegeben hatte. Trotz großer Umsicht konnte er sich jedoch nicht hundertprozentig schützen und so krabbelte eine kleine aber häßliche Spinne in sein linkes Hosenbein, daß er diesmal nicht wie sonst unten zugebunden und damit die Öffnung verschlossen hatte. Er merkte es zunächst auch nicht. Auch nicht, als er später die Hosen auszog und in seinen Schlafanzug und anschließend zu den anderen, bereits schlafenden Kindern in das Bett schlüpfte. Er merkte es erst, als er spät in der Nacht die Augen öffnete und noch Licht sah, weil seine Mutter noch ein Buch las. Er sah nicht nur den Lichtschein, sondern auch die Spinne, die genau vor seinem Gesicht über das Kopfkissen krabbelte und sich nicht darum scherte, daß sie gesehen wurde. Franks Panik wuchs und nur schwer konnte er einen klaren Gedanken fassen, was denn nun zu tun sei. Er wollte sich mit seinen achtzehn Jahren nicht die Blöße geben und laut um Hilfe schreien, aber er konnte auch nicht einfach liegen bleiben und sich umdrehen, so lange das Monster in unmittelbarer Nähe weilte. Er war sehr froh, als die Spinne ihre Laufrichtung änderte.

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Andrea wäre nicht froh gewesen, denn wenn sie gesehen hätte, wie die Spinne genau auf ihr schlafendes Gesicht zulief, wäre wegen des großen Geschreis die ganze Familie wach geworden. Das Vieh lief nicht nur in Richtung Andrea, sondern auf ihr Gesicht, ruhte sich ein wenig auf der Wange aus, lief dann weiter bis zu ihrem Mundwinkel und verweilte dort. Bubbles, der einen sehr leichten Schlaf hatte, muß wohl die Gefahr gespürt haben und schlug sofort zu. Die Spinne hatte er nicht getroffen, wohl aber Andreas vorderen Schneidezahn, der die Hälfte von sich abgab und fortan einen lustigen Pfeifton erklingen ließ, wenn Andrea Wörter aussprach, die ein „f“ beinhalteten. Die Spinne hatte die Gefahr wohl erkannt und rannte um ihr Leben. Aber Bubbles, der den Schneidezahn seiner Schwester rächen wollte, sprang aus dem Bett, griff sich die Apothekerzeitschrift seiner Mutter und schlug erbarmungslos zu. Der dritte Hieb traf. Zwar nicht direkt die Spinne, aber Frank, der vor Entsetzen starr auf dem Bett saß und sich nicht mehr rühren konnte. Frank fiel aus dem Bett und Bubbles hatte jetzt freie Bahn und war eindeutig in Schlagdistanz. Er zielte, stieß einen Schrei aus, der an asiatische Kampfsportarten erinnerte und die Spinne hauchte verdutzt ihr Leben aus. „Soll ich euch das Bett wieder frisch beziehen?“ fragte Lisa und erhielt eine positive Antwort von Bubbles und Andrea, die mehr heulte als sprach. Frank lag noch immer wie versteinert neben dem Bett. Nie würde er diese Schmach verwinden, wegen einer Spinne so gedemütigt worden zu sein. Auch Rainer konnte bei diesem Krach nicht weiterschlafen und kam gerade 119

recht, um seinen ältesten Sohn wieder in das Bett zu hieven. Von diesem Abend an unterzog Frank nicht nur seine Kleidungsstücke, sondern den gesamten Camper einer Generaluntersuchung, was Lisa sehr freute, denn er nahm dafür auch Besen und Wischlappen und so glänzte das Campmobil seit dieser denkwürdigen Nacht durch seine Sauberkeit. * Frank hatte noch ein weiteres Problem. Er war es aufgrund seines, wie er glaubte, gar nicht so schlecht situierten Elternhauses gewohnt, stets warmes Wasser zu haben. Dies war in diesem Urlaub definitiv anders. Insbesondere die ohnehin nicht immer die Sauberkeit betreffend seinem Standard entsprechenden Duschen waren nicht nach seinem Geschmack, da diese seine Männlichkeit und damit sein Selbstbewusstsein stark schrumpfen ließen. Und da er nicht willens war, dies einfach so hinzunehmen, beschloß er sehr zum Verdruß der übrigen Familie, nicht mehr regelmäßig zu duschen. Dies erhielt zwar seine Männlichkeit in der von ihm gewohnten Größe, schaffte aber eine Menge Distanz zur übrigen Familie, die sich nach ein paar Tagen über den üblen Geruch, der über dem gesamten Campground lag, beschwerte. Bubbles, der kaltes Wasser mochte und sich zwar nicht waschen wollte, aber oft im See schwamm und daher erheblich reinlicher als Frank war, meinte noch, „so kriegt der nie eine ab“. Eine anschließende Familienrunde hatte dann zum Ergebnis, dass Frank 120

ultimativ aufgefordert wurde, die kleine Dusche, die im Camper in der Toilette eingebaut war, zu nutzen. Zu diesem Zweck erklärte man sich sogar bereit, Gas zu verschwenden und damit Wasser zu wärmen. Frank genoß die warme Dusche. Zumindest so lange, bis er die entsetzten Schreie Andreas hörte. In seinem Wohlgefühl hatte er die Größe der Duschkabine nicht bedacht und so kam der gesamte Camper in den Genuß einer Bodenwäsche. Andrea, die bis zu den dicken Waden im ziemlich dreckigen Brachwasser stand, wusste zunächst in ihrer Panik nicht so recht, weshalb sie schrie. Ob es das Wasser war, das sanft und noch immer warm ihre Beine umspülte oder die Tatsache, dass sie erst kurz zuvor ihre frisch gewaschene Unterwäsche in ein Handtuch gewickelt und zum Trocknen auf den Boden gelegt hatte, spielte eigentlich keine Rolle. Die Schreie jedenfalls riefen die übrige draußen verweilende Familie zusammen und Frank, der gut gelaunt aus der Dusche kam, erntete böse Blicke, nachdem sie die Campertür geöffnet hatten und mit einem Schwall von Dreckwasser benäßt wurden, das mit Macht nach draußen drängte. Frank bekam von allen sofortiges Duschverbot, was sich jedoch nur auf den Camper bezog. * Frank hatte noch ein anderes Erlebnis, dass sich nachhaltig auf sein Leben, oder besser seine Gesichtszüge auswirkte. Sein Vater, der die rauhe kanadische Umwelt zum Anlaß nahm, damit ein 121

männliches Gehabe verbinden zu müssen, befand, daß zu einem richtigen Mann auch die morgendliche Naßrasur gehörte. Was er selber seit Jahren praktizierte, sollte nun, da Frank mittlerweile achtzehn und somit ein Mann war, als besondere Erfahrung an seinen Nachkommen weitergegeben werden. Bewaffnet mit einem Rasierer, der obligatorischen Schaumdose und einer nagelneuen Klinge zeigte er Frank, wie man die phasenweise bei Frank auftretenden Bartstoppel auf besonders männliche Art beseitigen könne. Trotz seiner eigenen, vor vielen Jahren erworbenen Erfahrung, wollte er nicht nur, dass Frank sich einfach rasierte, sondern er wollte eine Rasur, die besonders tiefgründig und somit lange haltbar war. Dies bedeutete, in einem ersten Schritt die rasierende Hand von oben nach unten, also in Bartrichtung zu führen. Der zweite Schritt bestand darin, die komplette Rasur zu wiederholen, allerdings entgegen der Bartrichtung, was viel Feingefühl erforderte, aber auch eine besonders gründliche Rasur bewirkte.

Frank schaute seinem Vater zu und war sehr zuversichtlich und auch ein wenig stolz, daß er nun den letzten Schritt zu seiner seit achtzehn Jahren herbeigesehnten Männlichkeit vollzog. Er verschwand also in der Toilette, wo der einzige Spiegel im Camper 122

hing und fing nach einer Minute an, fürchterlich zu schreien. Er hatte seinem Vater sehr genau zugesehen, aber offenbar die Schärfe der Klinge total unter- und seine eigene Fingerfertigkeit überschätzt, was zu einer ersten unansehnlichen Blutung in seinem Gesicht führte. Zudem hatte er im Gegensatz zu seinem Vater noch nicht alle Pupertätspickel loswerden können. Zumindest nicht vor der Rasur. Sein herbeigeeilter Vater beruhigte ihn und erklärte ihm, daß dies ganz normal für die erste Rasur sei. Solchermaßen instruiert machte er sich an das weitere Werk und schon nach wenigen Minuten konnte man es tatsächlich als Werk bezeichnen, denn sein Gesicht sah aus, als ob ein betrunkener Linoleumschnitzer seiner Kreativität freien Lauf ließ. Nur das viele Blut in seinem Gesicht verdeckte die vielen Schnitte, die ab sofort und später sicher als Narben seinem Gesicht den Flair eines bereits zu lange lebenden Lebemannes gaben. Wieder beruhigte ihn sein Vater, der mit soviel Wehleidigkeit ausgerechnet bei seinem Sohn nicht gerechnet hatte und deshalb wenig damit anfangen konnte. Er gab seinem Sohn das teure Rasierwasser und meinte noch, dass Frank reichlich davon nehmen könne, es sei ja schließlich seine erste Rasur und da dürfe man trotz des immens hohen Wiederbeschaffungspreises nicht daran sparen. Die letzten Worte gingen bereits in wildem Geschrei und Umherspringen seines Sohnes unter. Frank schrie seinen Vater an, ob es denn auch männlich wirken würde, daß sich zu den Schnittwunden auch noch Brandblasen hinzugesellen müßten.

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Rainer mußte lachen, denn er erinnerte sich jetzt doch sehr deutlich an seine erste Rasur unter der Anleitung seines Vaters. Wie sich die Geschichte in Laufe der Generationen doch wiederholt! Frank war nicht begeistert von der offensichtlichen Ignoranz seines Vaters gegenüber den Schmerzen, die er sich selber zugeführt hatte. Jedenfalls pfiff er fortan auf diesen Teil männlichen Gehabes. Und die paar Bartstoppel fielen auch nicht wirklich auf, zumal sie nach ein paar Tagen ohnehin in ihrer Länge aufhörten, weiter zu wachsen. * Rainer bemühte sich sichtlich, seine Vaterrolle neu zu überdenken und von der Vater-Sohn-Beziehung zu einer Mann-zu-Mann-Freundschaft zu seinem ältesten Sohn zu wechseln. Das dies nicht ganz einfach werden würde, wurde ihm spätestens nach der Erfahrung seines Sohnes mit der ersten Naßrasur deutlich. Frank hingegen hatte an einer solchen Beziehung überhaupt kein Interesse. Das sein Vater ihn seit einiger Zeit immer mit „mein Freund“ ansprach und ihm dabei freundschaftlich auf die Schulter klopfte, machte ihn argwöhnisch. Zudem empfand er die ständige Anwesenheit seines Vaters als eher schädlich, da sie seine heimlichen Beobachtungen durch das kleine Guckloch in der Holzwand der Campingplatzdusche störte. Hierhin verzog er sich recht häufig, um die Frauen nebenan ausführlich zu betrachten und sein Wissen um die weibliche Anatomie zu erweitern. Seitdem einmal allerdings ein duschendes Mädchen den Zeigefinger plötzlich durch das Guckloch steckte und ihn empfindlich am Auge traf, schränkte er seine 124

Besuche dort etwas ein. Und dieser Wissensdrang wurde jetzt auch noch immer öfter von seinem Vater unterbrochen. Wie sollte er da endlich richtig erwachsen werden? Zudem war er in den Augen seiner Mutter noch immer das „Schatzilein“, was ihn nicht minder störte. Rainer hingegen ficht das alles nicht an. Er schenkte Frank ein Taschenmesser und sagte ihm, daß ein Mann so etwas haben müsse. Es war klar, was passieren würde. Frank, mit seinen Händen etwas ungeschickt, schnitt sich natürlich in den Finger und die anschließenden Worte seines Vaters „ein richtiger Mann kennt keinen Schmerz“ trösteten ihn nicht, sondern machten ihn eher wütend. Eigentlich gab es nur eine Situation, wo Frank seinem Vater für die „männliche Freundschaft“ dankbar war. Als Rainer ihm die neueste Ausgabe des Playboy schenkte und Frank sich damit sofort in die Herrendusche zurückzog, um vergleichende Studien anzustellen. Aber bald war das Heft schmutzig und abgegriffen und wurde für Frank uninteressant. * Interessant wurden für ihn aber die neuen Campingnachbarn, zumindest eine von ihnen, etwa siebzehn Jahre alt, nicht häßlich und ausnahmsweise auch nicht dick. Sie hatte etwas abseits von ihren Eltern ein kleines Zelt aufgebaut, das ihr als Schlafstätte diente. Tagsüber saß sie meistens vor dem Camper ihrer Eltern und las, während sie häufig und mit 125

zunehmender Tendenz zu Frank herüber sah. Jedenfalls glaubte er, ihre Blicke zu erkennen. Und er glaubte auch zu erkennen, daß diese Blicke ihn ermuntern sollten, sie doch einfach einmal anzusprechen. Frank war von Natur aus ein wenig schüchtern und die kurze und wahrscheinlich schon wieder beendete Beziehung zu seiner Freundin in Berlin hatte ihm seine Unschuld auch noch nicht genommen. Und so erging er sich in Phantasien und malte sich aus, wie er das Herz der süßen Nachbarin erobern könnte. Als er am nächsten Abend sah, wie sie ihm kurz zuwinkte, als sie ihr Buch weglegte, war eigentlich alles klar. Sie wollte etwas von ihm und er fühlte sich jetzt auch stark genug, es ihr zu geben. Oder sie zumindest anzusprechen. Als es nach dem Abendessen dunkel wurde, verschwand sie sofort in ihrem kleinen Zelt. Frank, jetzt wild entschlossen, die Annäherung zu wagen, schlich sich hinüber und an ihr Zelt heran. Innen brannte kein Licht, aber er war sicher, daß sie bereits auf ihn wartete. Was dann geschah, passierte sehr schnell. Frank riß den Reißverschluß der Zelttür auf, stolperte währenddessen über eine Zeltleine, fiel kopfüber in das Zelt und auf seine neue Freundin. Diese war sich der Freundschaft offenbar noch nicht so ganz bewußt und dachte sofort an einen Vergewaltigungsversuch. Sie schrie wie am Spieß, während Frank, in der Zeltleine so verheddert, daß er nicht mehr weg konnte, zappelnd, aber eigentlich nicht in schlechter Absicht, auf ihr lag. Die 126

herzhaften Schreie lockten zuerst den Vater von Franks neuer Freundin an. Stämmig, breitschultrig und kräftig zog er Frank aus dem Zelt und von seiner Tochter herunter. Der schrie mittlerweile auch hörbar, weil sein Fuß noch immer von der Leine umwickelt war und scheinbar immer länger wurde. Von diesem Schrei schließlich wurde auch Rainer angelockt, der sich darüber wunderte, warum es bei den Nachbarn so laut war. Als er sah, daß der Mann sich an Frank zu schaffen machte, ging er dazwischen. Was er in der Dunkelheit nicht sah, war die besonders kräftige Statur des Mannes, die ihm hätte sagen müssen, daß hier trotz der notwendigen Gefahrenabwehr für seinen Sohn Vorsicht geboten war.

Der Vater der Braut dachte mittlerweile nicht mehr nur an einen Vergewaltigungsversuch, sondern an einen gleichzeitig stattfindenden Raubüberfall mehrerer Personen und schlug zu. Rainer, der sich nicht darüber beschweren konnte, daß lediglich seine Nase gebrochen war, taumelte zurück und riss dabei den Rest des Zeltes um, was aber glücklicherweise die Schreie des Mädchens erstickte. Da er sich gegen diesen Berber nicht wehren konnte, trat er die Flucht an. Frank, durch den plötzlichen Zeltabbau endlich befreit von der Leine, folgte ihm, holte ihn schließlich, da er wesentlich schneller laufen konnte als sein Vater, noch ein und beide gingen, wie bei einer richtigen Mann-zu-MannFreundschaft, Arm in Arm zu ihrem Camper und leckten ihre Wunden. Rainer hatte ziemliche Schmerzen 127

im Gesicht und Frank überlegte, ob es nicht besser wäre, schwul zu werden, da ihm das Pech mit seinen Freundinnen doch zu denken gab. Überflüssig zu sagen, dass Frank seine neue Freundin nie wieder sah. Das lag zum einen daran, daß sie noch in der Nacht abreisten, weil sein Vater eine erneute Begegnung mit dem Berber vermeiden wollte. Andererseits wollte das Mädchen ihn sicher auch nicht mehr sehen. Das fand Frank sehr schade, denn zu diesem bedauerlichen Zustand kam noch der Gedanke hinzu, dass ein neuer Campground womöglich nicht mit einem so komfortablen Guckloch zur Frauendusche ausgestattet sein würde. Aber Frank war jung genug und so beschloß er noch in der Nacht, ein neues Leben anzufangen und seiner Freundin in Berlin erneut eine Ansichtskarte zu schreiben. Was auch Sinn machte, denn die erste Karte lag zwar noch immer in einer Ecke des Wohnmobils, mußte aber inhaltlich nach diesem Vorfall völlig neu bearbeitet werden. * Nachdem der Aufbau einer Männerfreundschaft zu seinem ältesten Sohn nicht so recht gelungen war, suchte Rainer mehr den Kontakt zu Bubbles. Dieser war erfreut, daß sich endlich auch mal jemand um ihn kümmerte. Wichtig war nur, daß derjenige auch mit seiner Aktivität mithalten konnte. Und Rainer gab sich 128

redlich Mühe, obwohl ihm soviel Bewegung eigentlich zuwider war. Also kaufte er Bubbles einen Fußball. Seine Hoffnung trog ihn nicht, denn er stand da und schoß in irgendeine Richtung und Bubbles rannte wie ein Verrückter und schoß den Ball wieder zu ihm zurück.

Es war so ähnlich wie mit Hunden. Die geworfenen Stöckchen wurden apportiert und man merkte es den Hunden an, daß ihnen dieses Spiel Spaß macht. Ausgenommen Jasper, der nichts apportierte, ja nicht einmal hinterherlief, denn Jasper war eher faul und träge. Und wahrscheinlich kannte er dieses Spiel gar nicht. Je länger Rainer und Bubbles spielten, desto härter wurde der Ball geschlagen, denn Rainer war das häufige Schlagen des Balles lästig und so investierte er immer mehr Kraft, um ihn weiter und weiter weg zu befördern. Zudem konzentrierte er die Stoßrichtung des Balles verstärkt auf die dichten Büsche am Straßenrand. Bubbles, auch nicht unkräftig, rannte immer weiter und schoß, wenn er den Ball endlich gefunden hatte, immer stärker zurück. Als Rainer, der nicht besonders sportlich war, Anlauf nahm, um während der nächsten Minuten, die Bubbles brauchte, um den Ball zu suchen, etwas Ruhe zu haben, traf er 129

den Ball nicht richtig. Dieser kullerte nur ein paar Meter und Bubbles reduzierte seinen bisherigen Kraftaufwand nicht, als er aus kurzer Distanz zu seinem Vater abzog. Rainer sackte zusammen, als der Ball sich in seine Weichteile vergrub. Auch sein Sohn sackte zusammen, allerdings vor Lachen. Als Bubbles seine Geschwister rief, damit sie den köstlichen Anblick auch genießen könnten, lag Rainer, noch immer wegen der Schmerzen zusammengekrümmt, auf dem Boden. Auch Frank prustete los, denn er kannte diese Schmerzen, weil erst kurz vor dem Urlaub eine von ihm zu sehr bedrängte Mitschülerin Gewißheit haben wollte, daß er sie nie wieder belästigte. Nur Andrea bekam ihren Heulkrampf weil sie ihren Vater noch nie in einer solch erbärmlichen Lage gesehen hatte. Als die Schmerzen nachließen, wollte Rainer nicht mehr mit dem Ball spielen. Bubbles hatte Verständnis dafür, denn aus seiner Sicht waren ein Ball und sein Vater inkompatibel. Er jedoch, sportlich und agil, rannte mit dem Ball und schoß ihn wie wild geworden auf alles, was in seiner Nähe war. Er traf Bäume, die Wand des Toilettenhauses, ein kleines Streifenhörnchen, das sich entsetzt abwandte, und das Fenster des Campers der Nachbarn. Er hörte noch, wie das Glas splitterte und überlegte, ob er die Nachbarn freundlich fragen sollte, ob sie ihm den Ball wiedergeben würden, als er die Stimme des Wohnwageninhabers hörte. Sie klang gewaltig nach einem drei Meter großen Zehnkämpfer und, um Ärger 130

zu vermeiden, zog er es vor, seinen neuen Ball zu opfern. Als seine Mutter ihn fragte, wo denn der schöne Ball abgeblieben sei, antwortete Bubbles nur, daß diesen jetzt der Nachbar habe. Rainer, der mitgehört hatte, war erbost, daß ein erwachsener Mann einem Kind den Ball stehlen würde und überlegte, ob er den Nachbarn zur Rechenschaft ziehen solle. Er überlegte angesichts der noch immer nicht verheilten Nase nicht lange und beschloß, nicht zu handeln, weil sie sonst womöglich schon wieder den Campground wechseln müßten. Der Nachbar hingegen lief angesichts seiner kaputten Glasscheibe mit dem Ball in der Hand auf dem Campingplatz herum und fragte die Leute aus, ob sie den Besitzer kannten. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn den Mitcampern war diese ständig laute Familie, die etwas verängstigt hinter dem Vorhang eines Fensters die Situation betrachtete, ohnehin ein Dorn im Auge und so war der Schuldige schnell benannt. Genauer gesagt, zeigten die Befragten allesamt mit dem Finger auf ihren Camper und Rainer, der dies sah, ahnte Unheil. Dieses kam dann auch in Gestalt eines sehr großen und kräftig aussehenden Mannes. Rainer, der den Heilungsprozeß seiner Nase nicht unterbrochen sehen wollte, hatte eigentlich seine Kinder vorschicken wollen, öffnete dann aber nach Lisas bösen Blicken doch selbst die Tür nur einen Spalt, murmelte etwas von Entschuldigung und steckte einen größeren Geldschein durch die Türöffnung. Eigentlich waren ihm Menschen zuwider, die nur aufgrund ihrer Körpermaße in eine solch komfortable Lage des 131

Geldeinstreichens kamen. Andererseits war er aber auch froh, daß der Mann seine Entschuldigung und insbesondere sein Geld annahm. Er sagte sogar auf eine sehr freundliche und fast höfliche Art noch seinen Dank dafür. Dies veranlaßte Rainer, den Türspalt etwas weiter zu öffnen und so sah er in ein durchaus freundliches Gesicht. Auch die Körpermaße schienen nicht ganz so ausgeprägt, wie er aus der Entfernung noch zu erkennen geglaubt hatte. Mutig geworden sprach er den Mann an, der sprach zurück und so entwickelte sich eine kurze Unterhaltung, in deren Verlauf Rainer eingeladen wurde, sich den Schaden doch anzusehen. Er, jetzt gänzlich angstfrei, ging mit, sah die Bruchstücke der Scheibe und wurde zu einem Bier eingeladen. Mit so viel Freundlichkeit hatte er nicht gerechnet und er nahm fast dankbar an, denn Bier gehörte zwar zu seinen bevorzugten Getränken, aber nicht zu den Einkaufswaren, die Lisa gestattete. Es dauerte nicht lange, genauer gesagt vier Biere, und man duzte sich und schwelgte in Erinnerungen an die erste eigene, mit einem Ball zerstörte Scheibe. Beim sechsten Bier wurde das Thema gewechselt und die Frauen rückten in den Vordergrund. Beim siebten Bier war zumindest eine davon leibhaftig anwesend und Lisa holte mit strengem und vorwurfsvollem Blick ihren Mann nach Hause. Am nächsten Tag hatte der Nachbar den Campground bereits wieder verlassen und Rainer trauerte dessen Biervorräten nach.

* 132

Trotz seiner Leibesfülle war Bubbles immer am sportlichsten von allen gewesen, egal ob Tennis, Tischtennis, Skifahren und seit er es mit der Gitarre seines Bruders ausprobiert hatte, auch Rodeln. Er mochte alle Arten von Sport, wenn er sich nur bewegen konnte. Dies galt natürlich auch nachts, denn er träumte auch davon und bei seinen heftigen Bewegungen traf er das eine oder andere Mal auch die im Camper direkt neben ihm schlafenden Geschwister. Rainer war nicht sehr sportlich, sondern eher technisch interessiert. Er kaufte sich, sofern es das Haushaltsbudget überhaupt zuließ, fast jede technische Neuerung und er war immer sehr stolz, zu den ersten zu gehören, die ein solches Gerät besaßen. Rainer liebte diese technischen Dinge nicht nur, weil sie neu, sondern hauptsächlich deshalb, weil sie klein waren. Er mochte mobile Musik-oder Diktiergeräte, elektronische Organizer oder Computerzubehör insgesamt. Wichtig war dabei, daß es nicht nur sehr kleine Geräte waren, sondern daß möglichst viele kleine Geräte in einem kleinen Gerät steckten. Ein elektronisches Notizbuch, mit dem man nicht nur seine Adressen und Termine verwalten konnte, sondern auch Musik machen oder es als Diktiergerät benutzen zu können, waren für ihn das Größte. Je mehr Geräte in einem, desto besser. Rainer hatte mit seiner Neigung zu technischen Gerätschaften naturgegeben auch eine Neigung zu Science-Fiction-Filmen. Wenn Lisa, die diesen Filmen nichts abgewinnen konnte, nicht zu Hause oder in ihrer 133

eigenen kleinen Welt beschäftigt war, sah sich Rainer Filme im Fernsehen oder auf seinem DVD-Player in seinem Zimmerchen an. Egal, ob" Krieg der Sterne" oder "Raumschiff Enterprise", Rainer kannte fast alle Folgen. Bis auf ganz wenige, denn leider gab es auch in der Heimat viele Insektenarten, von denen Rainer keine einzige leiden konnte. Eines Tages hatte sich eine relativ große Schmeißfliege in seinem Hobbykeller verirrt. Rainer, irritiert von dem aufdringlichen Brummen, fing an, nach dem Tier zu schlagen, aber es war schnell. Allerdings nicht ganz so schnell, wie die Brille, die sich Rainer mit einer ungestümen Handbewegung von der Nase riß und die in hohem Bogen gegen die Wand knallte. Rainer war erleichtert, daß er den Rat seines Optikers befolgt und eine Brille gekauft hatte, die Plastikgläser statt Gläser aus Glas hatte. Deshalb führte die Begegnung mit der Betonwand nicht zu einem völligen Bruch, sonder lediglich zu einem großen Kratzer auf dem Plastik. Natürlich war es anschließend noch schwieriger, die Fliege zu erwischen, aber Rainer gab nicht auf. Er griff zu einer seiner Lieblingszeitschriften und schlug wie wild auf die Fliege ein. Oder zumindest kam er in ihre Nähe.

Aber auch Fliegen machen Fehler. Dieser äußerte sich darin, daß die Fliege, wohl um Rainer zu verwirren, eine abrupte Kehrtwendung machte und frontal gegen die Zeitschrift flog. Sie wurde ebenso wie vorher die Brille gegen die Wand geschleudert, hatte aber offensichtlich einen anderen Aufprallwinkel, denn sie fiel 134

anschließend nicht auf den Boden, sondern schräg in den gerade geöffneten DVD-Player. Rainer war geistesgegenwärtig genug, um die Schublade des Players sofort zu schließen und damit die Fliege endgültig aus dem Verkehr zu ziehen. Er genoß die anschließende Ruhe sichtlich und legte seinen absoluten Lieblingsfilm, den er erst kurz vorher auf DVD gebrannt erstanden hatte, ein. Die „Odyssee im Weltraum“ hatte er zwar schon des Öfteren von einem Videoband gesehen, aber als er die DVD hatte, war er überrascht von der Schärfe und Deutlichkeit des Bildes und der Brillanz der Töne und besonders der Beethovschen Symphonie. Nur diesmal war das Bild sehr unscharf und der Surroundton spielte sich nur auf einem Lautsprecher ab, dafür aber in Telefonqualität. Als er die Schublade des DVD-Players öffnete, erinnerte er sich an die Fliege, denn die hatte sich nicht nur auf der eingelegten DVD ausgebreitet, sondern offenbar das gesamte System der Laserabtastung verschmutzt. Die anschließend notwendige Reparatur war nicht billig, aber schlimmer war, daß sein Lieblingsfilm auf DVD offenbar nicht mehr geliefert werden konnte und so mußte er mit dem Exemplar auf Videoband vorlieb nehmen. Deshalb mußte wiederum ein neuer Video-Rekorder angeschafft werden. Es war nicht leicht für ihn, das Geld der Haushaltskasse vorzuenthalten. Auch die heimliche Mitgliedschaft in der Videothek und deren finanzielle Folgen erschwerte ihm sein Hobby und ließ ihn eher von seinen kleinen Freuden träumen. 135

So konnte es auch nicht verwundern, daß sich dicke Elektronikkataloge zu Hause stapelten. Leider konnte sich Rainer das meiste davon nicht leisten, aber Träume kosteten ja nichts, im Gegenteil, sie sparten sogar Geld, wenn sie platzten, was aufgrund seiner finanziellen Situation oft der Fall war. Und so hatte Rainer viele Träume, aber keiner davon hatte mit der Familie zu tun. Auch Lisa hatte viele Träume, aber sie ließ es nicht zu, daß auch nur einer davon nicht mit der Familie zu tun hatte. Sie liebte sie, sonst hätte sie sich schließlich nicht zu einer Hausfrau degradieren lassen. So aber ging sie im Haushalt auf, wusch die Wäsche, putzte und kochte, sehr zum Verdruß der restlichen Familie, fast jeden Tag.

Und wie eine richtige Hausfrau mochte sie Blumen gern. Je bunter, desto schöner. Ob ihm das denn nicht auch gefallen würde, fragte sie ihren Ehemann, aber der hatte angesichts der Leere seiner Geldbörse kein Verständnis dafür, so viel Geld für Blumen auszugeben. Aber seinen Einwand, künstliche Blumen wären doch auch schön bunt und müßten zudem nicht ständig erneuert werden, ließ sie nicht gelten. „Weißt du denn nicht, daß Blumen auch Staubfänger sind und deshalb 136

hin und wieder ausgetauscht werden müssen?“ fragte sie ihn und ergänzte ihren Vorwurf noch mit einem fragenden Blick, der andeuten sollte, daß Rainer schließlich auch mal im Haushalt staubwischen könne. Da dies für ihn nicht in Frage kam, denn schließlich müsse er ja das Geld verdienen, das sie für ihre Blumen ausgab, zahlte er lieber und kaufte sich so von seinen Pflichten frei. Auch Großvater hatte technisches Interesse, das sich aber im Wesentlichen darauf beschränkte, von Rollstühlen mit Elektroantrieb sowie einer ständig verfügbaren Flasche mit Öl zu träumen, die ihm das Rollen erleichterten und zudem die Lautstärke der quietschenden Radlager minimierten. Frank war an Technik überhaupt nicht mehr interessiert. Seitdem seine Karriere als Gitarrist mangels finanzieller Mittel und mangels psychischer Unterstützung seiner Familie gescheitert war, interessierte er sich nicht mehr für seine berufliche Zukunft. Eher schon für die hübschen Mitschülerinnen, die für ihn wegen seines Aussehens zwar unnahbar waren, in seinen Träumen aber des öfteren Hauptrollen spielten. Und warum sollte er schließlich einen Beruf ergreifen, wenn er doch auf Kosten seines Vaters immer noch studieren konnte? Ganz anders dagegen Andrea, die zwar nicht mehr Sängerin werden wollte, seitdem sie Britney Spears im Fernsehen bei einem Live gesungenem Auftritt gesehen hatte, die aber trotzdem von deren Figur träumte und 137

deshalb beschlossen hatte, Mannequin werden zu wollen. Ein Berufswunsch, der eher auf einen sehr schweren Lebensweg hindeutete. Als Rainer einmal zart andeutete, sie dürfe dann aber nicht mehr so viel essen, heulte sie sich wegen ihrer inneren Zerrissenheit die Seele aus dem fülligen Leib. Eigentlich wollte Andrea früher einmal Tänzerin werden. Die grazilen Bewegungen des Ballett-Tanzes jedoch ließen sich nicht mit ihrer Figur in Einklang bringen. Warum sie sich ausgerechnet für diese Art des Tanzes erwärmen konnte, blieb ihr Geheimnis. Später wollte sie sich dann, dem Beispiel Britney Spears folgend, den moderneren Pop-Tanzarten zuwenden. Da hier aber zumeist recht schnelle Bewegungen notwendig waren und Andrea die Massen ihres Körpers nicht in den richtigen Rhythmus bringen konnte, war auch dieses Thema für sie sehr schnell erledigt. Ihre anfängliche Bewunderung zu Britney Spears brachte auch den Wunsch mit sich, genau so auszusehen wie ihr Popidol. In dieser Hoffnung kaufte sie sich für Teile ihres Taschengeldes, aufgestockt durch den Inhalt des väterlichen Portemonnaies, eine Menge Schmuck. Die Hoffnung auf Ähnlichkeit erfüllte sich nicht. In der nächsten Phase der Bewunderung wurden Schminksachen in großer Menge angeschafft, was im Wesentlichen dazu führte, daß Andrea ihr Alter vom Aussehen her vervierfachte, weil sie nicht gelernt hatte, mit den vielen Pudern und Stiften umzugehen. Sie hatte auch nicht die Unterstützung ihrer Mutter, denn Lisa lehnte es ab, den natürlichen Teint dergestalt zu verändern, daß die sich dahinter verbergende Person 138

nicht mehr erkannt werden könne. Also blieb schließlich nur noch ein kleines Tatoo, das die Spears am Oberarm hatte anbringen lassen und das Andrea auch unbedingt haben mußte. Bepackt mit dem Inhalt der Geldbörse ihres Vaters ging sie in einen entsprechenden Laden, wurde freundlich empfangen und bekam einen Katalog mit den zur Verfügung stehenden Motiven. Sie brauchte eine Stunde, um eine Zeichnung zu finden, die etwa dem entsprach, was ihr Idol aufzuweisen hatte. Also wechselte das Geld den Besitzer und schon einen Nadelstich später verwandelte sich Andrea in ein schreiendes kleines Mädchen, das so viel Tränen vergoß, daß die Tinte teilweise von ihrem Arm tropfte und dem Tätowierer die Arbeit ohne Handtuch äußerst erschwerte. „Sie sollen tätowieren und nicht gravieren“ schrie sie den Urheber der Schmerzen an. Dieser schien aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit seinen Kundinnen gänzlich unsensibel zu sein. Er stach weiter auf Andrea ein und nach ein paar Minuten war alles vorbei. Er wischte das Blut von ihrem Oberarm und als er sein Werk präsentierte, war sie stolz darauf, endlich etwas zu haben, was sie mit ihrem Idol verband. Jegliche Ähnlichkeit hingegen wurde im Anschluß daran schmerzlich vermißt, denn als sie den Laden verließ, entdeckte sie, daß der Tätowierer geschickt genug war und bei der Präsentation die Haut ihres Oberarmes glatt gezogen hatte. Als sie auf der Straße stand, war der dicke und fettgetränkte Oberarm wellig genug, um die eingravierte Graphik so in Falten zu legen, daß das Motiv nicht mehr erkannt werden 139

konnte oder zumindest Mißdeutungen zuließ. Genau genommen konnte man das Tatoo überhaupt nicht mehr als solches erkennen, was zumindest auch nicht zu einer Bestrafung ihrer Mutter führen konnte. Das Thema Spears war von diesem Zeitpunkt an gänzlich erledigt, zumal Andrea im Fernsehen einen unglaublich dicken Hiphop-Sänger entdeckt hatte, zu dem sie wesentlich mehr natürliche Ähnlichkeit aufweisen konnte.

*

Dies betraf nicht nur die Leibesfülle, sondern auch das übrige Äußerliche, zumindest die Kopfhaare betreffend. Beim Anblick des Sängers fiel ihr auf, daß dieser aussah wie ihre Brüder und ihr Vater und nicht zuletzt auch sie selbst. Sie hatten alle eine frappierend ähnliche Frisur. Welchen Friseur der Sänger konsultierte, wußte Andrea nicht, aber sie kannte die Harrschneiderin der Familie. Ihre Mutter hatte, früher wegen des Geldes und später aus lauter Gewohnheit, zuerst Rainer und nach deren Geburt auch den Kindern immer die Haare selbst geschnitten. Das dies zu einer zumindest ähnlichen Frisur bei allen führte, lag auf der Hand. Da Lisa das Friseurhandwerk nicht gelernt hatte und nur auf ihre jahrelange Erfahrung im schneiden eines geraden Rundschnittes zurückgreifen 140

konnte, hatten nicht nur alle etwa die gleiche Haarfarbe, sondern auch der Schnitt war sehr ähnlich und nicht geschlechterspezifisch ausgeprägt. Kurz und mit leicht chaotischen Wirrungen ergab auch längeres kämmen am Morgen keine passable Frisur. Die einzige, die davon verschont geblieben war, war Lisa, denn, obwohl sie dies aus Sparsamkeitsgründen vorschlug, mochte niemand trotz ihrer eigenen Risikobereitschaft dazu ihr selbst die Haare schneiden.

Aber auch die Peripherie wies bei allen Ähnlichkeiten auf. Im Laufe der Jahre war Lisa nicht immer konzentriert, wenn sie, bewaffnet mit Schere und Kamm, sich über die Köpfe der Anderen hermachte und sie erst wieder aus ihrem Würgegriff entließ, wenn das pittoreske Werk vollbracht war. Ob wegen der Maulerei des Opfers, weil die Prozedur insgesamt sehr langwierig war, oder weil sie nicht stillhalten konnten, wenn ihnen Lisa mit leicht wirrem Blick zuleibe rückte, hin und wieder traf der Stielkamm mit der Spitze den Nacken oder die Augenbrauen. Hin und wieder kam auch mal ein Ohrläppchen zwischen die Scheren, was im Laufe der Jahre bei allen Spuren hinterließ, die an Mister Spock aus dem Raumschiff Enterprise erinnerten. Nur Andrea hatte keine geformten Spitzohren, denn Lisa war mit ihrer einzigen Tochter immer etwas pfleglicher umgegangen. Statt dessen hatte Andrea einen hübsch gezackten oberen Rand ihrer 141

Ohren vorzuweisen, wobei beide Ohren fast symmetrisch verunstaltet waren und jede durch unvorsichtige Handhabung der Schere entstandene Zacke hatte einen wahnsinnigen Heulanfall verursacht. Andrea hatte diese Prozedur immer gehaßt, sammelte aber die abgeschnittenen Haare über mehrere Monate, denn sie wollte ihren Idolen im Fernsehen ähnlich sehen und die hatten ausnahmslos längere Haare. Also verknüpfte sie alles, was abgeschnitten wurde, sofort mit dem bereits vorhandenen Material und so entstand im Laufe eines Jahres eine ebenso umfangreiche wie häßlich anmutende Perücke. Bubbles hatte sie einmal erwischt, wie Andea vor dem Fernseher zu ihrer Lieblingsmusiksendung tanzte und dabei wild mit der Haarpracht um sich schlug. Bubbles hatte niemals Angst. Zumindest nicht bis er diesen Anblick sah, den er nicht richtig zuordnen konnte und irgendwo zwischen Monster aus der Tiefe des Meeres und Alien aus der Tiefe des Weltenraumes wähnte. Bis ihn eine große Haarsträhne traf, die Andrea, die sich noch immer allein glaubte, mit einem wilden Ausfallschritt hinter sich schmiß. Bubbles ging zu Boden, verlor kurzzeitig die Orientierung, erkannte seine Schwester, die ihn mit großen Augen ansah und fiel in Ohnmacht. Als er wieder aufwachte, hatte sie die Perücke bereits wieder versteckt und machte ihm Glauben, er sei ausgerutscht und hätte nur geträumt. Aber er wußte, was er gesehen hatte. Er suchte drei Stunden, bis er das Ungetüm fand und sofort loslief, um sie seinem Vater zu zeigen. Der mußte sich vor Lachen den Bauch festhalten und war 142

ansonsten zunächst sprachlos. Ob vor Scham oder weil der Boden ihr Gewicht nicht aushielt oder weil ihr großer Tränenfluß den Boden aufweichte, Andrea, die dazukam, versank im Boden. Immerhin durfte sie fortan die Haare etwas länger tragen, was die vermeintliche Ähnlichkeit mit den großen Stars steigerte, aber nicht wirklich hübsch aussah, denn Lisa schnitt von diesem Zeitpunkt an einmal rund um den Kopf. Dies führte zu einer konstanten Länge des Oberund Unterhaares, die ihr aber damit eine gewisse Individualität gegenüber den anderen Familienmitgliedern sicherte. Da Großvater in diesem Urlaub immer sehr nahe an der Familie war, nahm er auch teil an den Haarschneideorgien Lisas. Er war ganz und gar nicht mit der Länge der übrig gebliebenen Haare der männlichen Familienmitglieder einverstanden, denn nach seiner Auffassung sollten nur die Frauen lange Haare haben, weil sich das so gehörte und es seiner Meinung nach auch wesentlich besser aussah. Männer und zumindest männliche Kinder hätten gefälligst kurz geschorene Haare zu haben. Diese müssten auch nicht geschnitten werden, denn sie hielten ihre Länge besser, wenn sie geschoren und am besten anschließend noch rasiert würden. Opa sollte sich nicht in den Haarschnitt des einundzwanzigsten Jahrhunderts einmischen, weil man doch schließlich nicht mehr im Krieg sei und etwas längere Haare durchaus modern wären. Für Großvater eine großartige Idee, sich einmal wieder an seine Kriegserlebnisse zu erinnern. Er schrieb auf seinen 143

Notizblock: "Ich war in der Normandie!!" und unterstrich seine Aussage durch imposantes Hämmern mit dem Krückstock auf den Boden. Er hatte den kleinen Graben gesehen, den Frank wegen des vielen Regenwassers rund um den Camper ausgegraben hatte, damit das Wasser besser ablaufen könne und sie nicht immer erst durch eine große Pfütze waten mußten, wenn sie den Camper verließen. Dies weckte weitere Erinnerungen, denn er war früher ein Meister im Schützengrabenausheben. Er war immer sehr groß und deshalb musste der Graben auch recht tief sein, um auch ihm Schutz zu bieten. Seine Kameraden waren immer sehr dankbar dafür, denn für sie war der Schutz perfekt. Nach Großvaters getaner Arbeit konnten sie allerdings auch nicht mehr zurück schießen, da sie nicht über den Rand sehen konnten. Nach dem Krieg warfen sie ihm diesen Umstand deshalb vor und meinten, er wäre für die entscheidende Niederlage verantwortlich gewesen, was bei ihm zu einer gewissen Einsamkeit führte. "Typisch Amis!" schrieb er auf seinen Block, denn dieser Schützengraben um den Camper war wegen seiner kleinen Größe nicht geeignet, dem feindlichen Feuer standzuhalten. Da die Familie mangels schriftlicher Ausschweifungen den Sinn Großvaters Aussagen nicht verstanden, erklärten sie ihm, daß sie nicht in den USA, sondern in Kanada waren. "Verräter!" war des Großvaters Reaktion, bevor er vor Erschöpfung und Desinteresse der Familie wieder einschlief. Er träumte diesmal tief und er träumte glücklich, denn er kämpfte im Schlaf ganz allein gegen das alliierte Heer und er gewann, was natürlich nur an 144

seiner professionellen Art lag, einen Schützengraben richtig tief auszuheben. Und weil es im Schützengraben wegen des feindlichen Dauerbeschusses so üblich war, verrichtete er auch seine Notdurft im Graben, diesmal allerdings, ohne es zu merken. Andrea hingegen hatte aber noch eine ganz andere Leidenschaft. Sie war nicht besonders klug und schon gar nicht belesen, aber sie las für ihr Leben gern Liebesromane. Die verschlangen die ganze vom Kauf der Schminksachen verschonte Hälfte ihres Taschengeldes und kamen schneller auf den Markt, als Andrea sie lesen konnte. Also half Frank manchmal dabei mit, weil er sich immer köstlich über den schwülstigen Inhalt amüsieren konnte. Der Ablauf war eigentlich immer derselbe, denn zwei Menschen fanden zueinander, stritten sich etwa bei der Hälfte des Romanes, fanden und verliebten sich wieder, sorgten so für das Happy-End und Andrea heulte sich die Augen aus. Das durchgeweichte Heft war dann anschließend nicht mehr zu gebrauchen und sie mußte wieder an die Geldbörse ihres Vaters, um den Kauf des neuesten Heftes sicherzustellen. * Was die ganze Familie gemeinsam hatte, war ihre Vorliebe für das Fernsehen. Zwar sahen sie nur selten gemeinsam, weil zuviel Fernsehen, wie Lisa in ihrer Apothekenzeitschrift gelesen hatte, ungesund war, aber 145

Lisa und Rainer waren in ihren kleinen Räumen im Keller und Dachgeschoß gut ausgerüstet und nutzten diese Gelegenheiten, wenn sie allein waren, gern, um sich verschiedene Sendungen anzusehen. Lisa begeisterte sich für die unterschiedlichsten Sendungen, in denen Rezepte vorgestellt wurden. Auch Filme über Flora und Fauna interessierten sie sehr. Rainer hingegen sah außer den Science-fiction- auch gerne Wildwestfilme, die er, weil sie nur selten im Fernsehen kamen, meist mittels geliehenen DVD´s auf den Bildschirm brachte. Da dies regelmäßig Geld kostete, kaufte er eine große Satellitenschüssel, die im Garten aufgestellt wurde. Lisa fand die Idee nicht gut. „Weshalb kaufst du so ein Monstrum, wenn wir doch so gut wie nie fernsehen?“ Rainer stammelte, um eine Antwort verlegen, etwas wie „weil sich die Qualität verbessert“ und wollte sich davon schleichen. Lisa aber ließ nicht nach und fragte ihn, ob denn alle etwas davon hätten, als Rainer die rettende Idee kam. „Damit kann man viel mehr hochwertige und sehr niveauvolle Sender empfangen, die beispielsweise wunderschöne Naturfilme zeigen.“ Und schon war Lisa überzeugt, daß diese Anschaffung notwendig gewesen war. Sie setzte sogar mit der Frage noch eins drauf, ob es denn keine größere Satellitenschüssel gegeben hätte? Bei den Kindern waren die Interessen nicht so gänzlich weit auseinander. Sie sahen allesamt gern Musikfilme in allen Variationen und durch die neue Empfangsanlage wurde die Auswahl der Sender auch für sie deutlich erweitert. Bubbles sah auch gern fern, wenn große Boxkämpfe angekündigt waren. Leider fanden diese 146

zumeist mitten in der Nacht statt. Er brauchte sich aber dafür nie den Wecker zu stellen, da er bereits lange vorher sehr nervös und angespannt war und deshalb nicht hätte einschlafen können. Er stand dann vorher mitten im Zimmer und übte mangels anwesender Gegner Schattenboxen, schlug wie wild um sich und traf eines Nachts auch Andrea, die sich nicht bewußt war, als Schatten angesehen zu werden. Die blutende Nase wurde schnell aufgrund der vielen Tränen saubergewischt, die rötliche und später gelbe und blaue Wange jedoch war noch lange danach deutlich sichtbar und brachte ihr viel Spott ihrer Klassenkameraden ein. Im Urlaub jedoch war alles anders. Nur einmal konnte Rainer, der sich davongeschlichen hatte, um allein essen zu gehen, in einer Kneipe fernsehen. Wie in Kanada üblich, hingen mehrere Fernseher an der Decke und zeigten Sportsendungen. Man konnte zwar nichts verstehen, weil die drei Geräte drei verschiedene Sendungen zeigten und zudem laute Musik aus den Boxen kam, aber es hatte ihm schon gereicht, einfach nur auf den Bildschirm zu starren, zumal mehrere genossene Biere seine Anwesenheit verschönerten. Er ging erst wieder, als er die Fernseher kaum noch erkennen konnte. Leider bot der Camper keine Satellitenanlage, nicht einmal einen Fernseher, was besonders am Abend zu großer Langeweile und dem obligatorischen Lagerfeuer mit Rainers ausführlichen Geschichten führte. * 147

Was wäre ein Urlaub in Kanada, ohne einen frischen Lachs oder wenigstens einen anderen Fisch zu angeln? Nun war Angeln offenbar eine Männerdomäne, denn Lisa und ihre Tochter hatten dazu keine Lust. Andrea meinte, daß die Fische ein Recht darauf hätten, in Ruhe gelassen zu werden und Lisa stellte ganz beiläufig die Frage, ob sie denn wüßten, was man mit einem gefangenen Fisch überhaupt machen müsse. Die drei Männer fanden diese Frage überflüssig und typisch weibisch, denn Männer seien als Jäger geboren worden. Also gingen sie los zu einem kleinen Fluß in der Nähe des Campgrounds, von dem Nachbarn erzählten, man müsse die Angel nur ins Wasser halten und schon hätte man mindestens zwei Lachse oder drei Forellen am Haken. Da sie zwei Angeln besaßen, waren die Aussichten also gut, die ganze Familie für einen Abend mit Nahrung versorgen zu können.

Schon nach drei Stunden fing die Angel von Bubbles an zu zittern. Frank, der zwischenzeitlich bereits eingeschlafen war, wachte auf und schrie Bubbles an, er möge doch die Angel einziehen und den großen Fisch bergen. Bubbles tat, wie ihm geheißen wurde und hatte nach wenigen Minuten einen Fisch aus dem Wasser gezogen, der fast so groß wie sein Zeigefinger war und deshalb die Familie nicht hätte sattmachen können. Gleichwohl war dieser Fisch als Übungsobjekt willkommen, denn wie sich herausstellte, war Lisas 148

Frage, was mit einem gefangenen Fisch passieren müsse, nicht gänzlich unberechtigt. Rainer, ganz Familienoberhaupt, nahm die Angel und prügelte den Fisch, der noch an der Leine hing, auf die Steine am Ufer. Der Fisch war wirklich nicht groß, schrumpfte durch diese Behandlung aber noch zusehends und Bubbles wurde wütend, weil man seinen Fisch mißhandelte. Die nach kurzer Zeit klobige Masse hing noch immer am nicht viel größeren Haken, zappelte aber nicht mehr und Frank meinte nur, daß man sich das Putzen der Haut jetzt auch sparen könne, da dies die Steine bereits besorgt hätten. Denn wo keine Fischhaut mehr war, brauchte auch keine mehr geputzt werden. Irgendwie galt das auch für den gesamten kleinen Fisch, der eigentlich aus gar nichts mehr bestand. Gleichzeitig bemerkten sie, daß auch an der anderen Angel offenbar ein Fisch hing. Frank sprang sofort hin, um den, wie er meinte, kleinen Bastard, an Land zu ziehen, unterschätzte aber anscheinend die Größe und Kraft eines ausgewachsenen Lachses und verlor das Gleichgewicht. Als er kopfüber ins Wasser fiel, ließ er die Angel los, die sich sofort in Richtung Flußmitte bewegte. Er versuchte zwar noch, hinterher zu schwimmen, aber der Lachs war eindeutig schneller und kannte wohl auch die Gegend besser, denn im Gegensatz zu Frank machte er einen Bogen um die kleinen Stromschnellen. Diese zogen Frank immer wieder unter Wasser und nur wenige Minuten später gab er das Rennen laut schnaufend und prustend auf. Angel und Fisch waren längst unterwegs zum großen 149

See, in den der Fluß mündete. Und Frank war auch nicht an den Kommentaren seiner Mitangler interessiert, die meinten, das Wasser in Kanada sei so sauber, da mache es nichts, wenn er ein paar Liter davon getrunken hätte. Ans Aufgeben dachten sie aber noch lange nicht, denn zu groß würde die Schmach sein, wenn sie lediglich mit einem kleinen Klumpen Fischfleisch bei den daheimgebliebenen ankommen würden. Und tatsächlich hatten sie Glück. Ein Fisch, mindesten dreißig Zentimeter lang, zappelte wie wild an der Angel. Sie hatten viel gelernt in den letzten Stunden und so versuchten sie jetzt gemeinsam, den Fisch an Land zu ziehen. Offenbar war dieser altersschwächer als sein Vorgänger, denn er bereitete so gut wie keine Probleme. Bubbles und Frank zogen an der Angel und Rainer stieg ins Wasser und holte sich den Fisch mit Hilfe seines Köchers. Diese Prozedur übernahm er gerne, da er am Vortag den Fehler beging, in Kanadas rauher Natur ohne Schuhe und Strümpfe zu laufen und dabei prompt auf eine Wespe trat. Der Stich in seiner Fußsohle war dick und brannte scheußlich, so daß das kühle Wasser gerade recht war, um die Schmerzen zu lindern. Der Fisch lag Minuten später am Ufer und zappelte nur noch schwach. Da der erste Versuch, einen Fisch zu töten, schwer mißlungen war und eher einer Tierquälerei nahekam, wollte Rainer diesmal nicht den Fisch gegen die Steine, sondern einen Stein gegen den 150

Fisch klopfen. Ein Schlag auf den Kopf genügte tatsächlich und ihr erster ordnungsgemäß gefangener und getöteter Lachs lag vor ihnen und hatte mit einem kleinen Seufzer sein Leben ausgehaucht. Und er war im Gegensatz zu dem ersten kleinen Bastard auch nicht allzu sehr verunstaltet. Jetzt kam Rainers große Stunde, da seine Kinder tatsächlich nicht wußten, was mit einem toten Fisch zu machen war. Im Restaurant wurde er fertig gebraten auf dem Teller serviert und schmeckte gut, aber wie er diesen Aggregatzustand erreichte, war ihnen schleierhaft. Hier lag etwas, das glänzend und mit Kopf und Schwanz vor ihnen lag und nicht den Eindruck machte, a priori gar zu sein. Rainer, ganz Familienoberhaupt, entschied, daß dieser Fisch sofort zu essen war, da er für sie und die Frauen daheim nicht ausreichte und die Zeit bei einer durchschnittlichen Fangzeit von fünf Stunden pro Stück zu knapp war, noch einen oder zwei Exemplare davon zu angeln. Also begann er, den Fisch zu schrubben, wie er es einmal bei Lisa gesehen hatte. Frank machte unterdessen ein Feuer und Bubbles ging in den Wald, um mehr Holz zu sammeln. Schließlich steckte Rainer ein längeres dünnes Stück Holz durch den Fisch und hielt das Ganze dicht über das Feuer. Der Bratofen zu Hause wäre sicher besser gewesen, denn der Holzspieß verabschiedete sich bereits nach zwei Minuten und fiel mitsamt dem Objekt der Begierde in das Feuer. Gemeinsam schafften sie es, ihren Fisch zu retten, der inzwischen sicher gut durch war.

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Rainer und Frank spuckten den ersten Bissen sofort wieder aus, während Bubbles, immer Draufgänger, sofort herunterschluckte und sich erst anschließend erbrach. Rainer hatte zwar genau hingesehen, wie Lisa seinerzeit den Fisch behandelte, konnte aber nicht wissen, daß dieser im Supermarkt gekauft worden und demzufolge bereits ausgenommen war. Schwer gezeichnet von dem übelriechenden Fisch gingen sie zum Camper zurück und freuten sich, daß Lisa und Andrea noch etwas von dem herrlichen Salat mit Schafskäse übrig gelassen haben. Mit dem Essen waren die beiden allerdings schon fertig, da sie nicht damit gerechnet hatten, daß die Männer mit einer großen Ausbeute nach Hause kommen würden.

* Eine besondere Freude bescherte der Familie auch das Dumpen, bei der das gesamte Brachwasser, also auch das aus der Toilette, per Schlauch in ein auf dem Campground dafür vorgesehenes Loch mit anschließender Jauchegrube ablief. Der Schlauch war kurz und man musste den Camper sehr nah an dieses Loch fahren, damit dieses überhaupt erreicht werden konnte. Rainer hatte darin bereits Übung und meisterte diese fahrtechnische Leistung bravourös. Er fuhr dicht an den Rand, zirkelte per Rückspiegel den Camper an das Abflußloch und schätzte mit großer Genauigkeit 152

den Zeitpunkt der größten Annäherung. Dann bremste er und der Wagen stand perfekt. Gummihandschuhe wurden angezogen, der Schlauch wurde justiert und die Ventile geöffnet und schon lief das Dreckwasser in das Abflußloch ab. Zumindest einiges davon. Nur kurzzeitig abgelenkt von Andrea, die gegen Wespen kämpfte, hatte er die Handbremse vergessen und der leicht abschüssig stehende Wagen bewegte sich nur sehr langsam und auch nur sehr kurz nach vorne. Dieser halbe Meter reichte, um eindrucksvoll zu demonstrieren, was es bedeutet, einen zu kurzen Abwasserschlauch zu haben. Dieser sprang aus der Abflußöffnung und innerhalb von Sekunden wurde das gesamte Dumpingareal mit übelriechender Jauche überschwemmt. An eine Korrektur des Wagenstandortes oder des Schlauches oder sogar ein Schließen der Ventile war nicht zu denken. Als die Abwassertanks gänzlich geleert waren, stand die Frage im Raum, wer den Wagen aus der Gefahrenzone fahren und logischerweise vorher durch den Morast waten müsse. Die Familie beantwortete diese Frage sehr schnell und logisch. Da Rainer der einzige war, der einen Führerschein hatte, musste er es machen, die anderen durften ja schließlich den Camper per Gesetz nicht fahren. Rainer, laut vor sich hinfluchend und stark bereuend, dass er Frank zu seinem achtzehnten Geburtstag den Führerschein aus kleinlichen finanziellen Erwägungen heraus versagt hatte, zog die Schuhe aus und stiefelte angeekelt zum Wagen. Als alles in Sicherheit und alles außer Rainer wieder gesäubert war, fühlte er sich unglaublich müde. 153

* Die Überfahrt mit der Fähre nach Vancouver Islands verlief bei schönstem Wetter und für diese Art von Familie erstaunlich reibungslos. Kurz vor der Auffahrt auf das Schiff wurde gemäß den Sicherheitsbedingungen der Gashahn zugedreht und die oberen Lüftungsklappen eingefahren. Als auf Rainers Frage, ob alles laut Checkliste beachtet wurde, aus drei Kehlen ein lautes und leicht genervtes "ja" ertönte, konnte es losgehen. Das heißt, losgehen konnte es zunächst für die vielen ebenfalls Wartenden vor ihnen. Bereits nach einer dreiviertel Stunde waren auch sie an der Reihe und sie fuhren auf das Schiff. Aus Platzgründen wurden sie von mehreren Besatzungsmitgliedern eingewiesen. Der Platz war für den Camper wirklich eng, was an dem kreischenden Geräusch leicht zu erkennen war, mit dem die nichteingeklappte Außentreppe handbreite Kratzer in die nebenstehenden Autos verewigte, bevor der untere Teil schließlich abfiel. Da nicht geklärt werden konnte, wer von der Familie für das Einklappen zuständig gewesen war, alle Großvater ansahen und Bubbles sogar mit dem Finger auf ihn zeigte, ging Rainers böser Blick ins Leere. Da die beschädigten Autos zu denen gehörten, die aufgrund ihrer Pünktlichkeit früher an Bord und die Insassen bereits auf dem oberen Deck waren, konnte sich Rainer mitsamt Anhang davonstehlen, indem sie sich fragend umsahen, woher denn dieses merkwürdige Geräusch 154

gekommen war und so jeglichen Verdacht von sich wiesen.

Oben auf dem Deck herrschte schönstes Wetter und bereits kurz nach dem Ablegen erfuhr die Familie und einige dicht neben ihnen stehende andere Passagiere, daß Andrea nicht nur flug- sondern auch seeuntauglich war. Anders als bei dem Hinflug nach Kanada war auf dem Schiff aber genügend Platz für die von Andrea verursachte Schweinerei. Den Rest der nicht lange dauernden Überfahrt verbrachte sie auf Anraten ihres Vaters dann an der langen Reling, die sie bereits nach wenigen Minuten aufgrund des starken Gegenwindes ganz für sich allein hatte. Nach der Ankunft in Vancouver Island wartete bereits die Polizei, konnte aber den Schuldigen an den Lackschäden dreier Autos nicht ermitteln, da Rainer in weiser Voraussicht die Klapptreppe, die abgefallen war, unter einem weiter hinten stehenden Camper gelegt hatte. Dessen Besitzer weigerte sich beharrlich, die Schuld zuzugeben, indem er auf eine ordnungsgemäß verstaute und darüber hinaus völlig intakte Treppe an seinem Gefährt verwies. Im übrigen stände er viel zu weit hinten, um den Schaden angerichtet haben zu 155

können. Dieses Argument ließen die Polizisten nicht gelten, schließlich hätte er ja nach dem Massenunfall wieder rückwärts fahren können. Der Mann machte den Fehler, die Begriffsstutzigkeit der Beamten als töricht und sie als dumme Ignoranten zu bezeichnen, worauf er kurzfristig in Gewahrsam genommen wurde. Diese Diskussion zwischen dem zu Unrecht Beschuldigten und der Polizei nutzte die Familie schließlich, um unbehelligt von Bord zu fahren. * Vancouver Island war eine sehr schöne Insel. Tiefe Fjorde zerklüften die Westküste der Insel. Auf Vancouver Island herrscht ein feuchtes, mildes Klima und ein großer Teil der Insel ist dicht bewaldet. Die feuchte Meeresluft sorgt in den Küstengebieten für reichliche Niederschläge, aber da man ja den Camper dabei hatte, störte dies niemanden. Lisa war von Vancouver Island äußerst angetan, insbesondere als sie erfuhr, daß dort hauptsächlich Gemüse angebaut wird. Besonders von der Pazifikküste waren sie alle beeindruckt, denn sie zeigte sich meist rauh und felsig, zwischendurch aber auch immer wieder mit herrlichen Sandstränden, die zum spazierengehen einluden. Da die Kinder dieser Tätigkeit keinerlei Freude abgewinnen konnte, blieben sie im Camper und Rainer und Lisa machten sich auf den Weg, den langen Strand zu erkunden.

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Er war sehr breit und der Sand sehr weich, so daß Lisa sich entschloß, die Schuhe auszuziehen und barfuß zu laufen. Die Sonne brannte herunter, der Tag war warm und der sanfte Wind vermittelte richtiges Wohlgefühl. Hinter dem Strand türmte sich im warmen Sommerlicht eine fast bunt erscheinende Felswand wohl an die fünfzig Meter steil auf. Am Wasserrand gab es kleine Vögel, die versuchten, Nahrung aufzunehmen, wenn die Wellen zurückgingen und die mit vielen kleinen Schritten wegliefen, wenn wieder eine Welle ankam.

Am Wasserrand lagen auch unzählige kleine Muscheln und so dauerte es nicht lange, bis Lisa eine davon erwischte und auf sie trat. Da der Schmerz nur von kurzer Dauer, zudem nicht besonders heftig war und die kleine Schnittwunde auch sehr schnell zu bluten aufhörte, liefen sie weiter und freuten sich über den schönen Tag. Zum ersten Mal in diesem Urlaub hatten sie sogar ein richtiges Gespräch miteinander, obwohl sich Lisa wie immer nur fragend äußerte. Dies spornte aber Rainer diesmal so an, so daß er fast unaufhörlich redete. Und weil er dabei so unterhaltsam war, vergingen drei Stunden wie im Fluge. Sie merkten es erst daran, daß ihre Schritte immer schwerer wurden. Besonders der von Lisa, denn die kleine Wunde hatte sich entzündet und sie verspürte einen brennenden Schmerz, der zunächst zwar nicht besonders heftig war, aber stetig 157

zunahm. Zudem schien der Strand auch immer enger zu werden. Die Flut hatte eingesetzt und trieb sie bei ihren Rückweg immer mehr an die Felswand. Lisa konnte kaum noch laufen und um den Schmerz abzumildern, hüpfte sie so gut sie konnte auf einem Bein. Dadurch wurden sie noch langsamer und es breitete sich langsam Panik aus, denn das Wasser kam immer näher und sie hatte wegen der Steilküste keinen Platz mehr zum Ausweichen. Rainer hatte bereits nasse Füße und Lisa ging die Kraft aus, um an der Felswand entlang zu hüpfen. Als die Wellen stärker wurden, merkten sie, daß sie es nicht mehr zurück schaffen würden. Der einzige Ausweg bestand darin, die Felsen empor zu klettern. Die Steilwand und Lisas Wunde stellten dabei aber schwierige Hürden dar. Lisa, die sich wieder einmal fragte, warum immer ihr so etwas passierte, hatte bereits nach wenigen Minuten blutige Hände, weil sie ständig mit den Fingern an der bereits nassen Felswand abrutschte und Rainer, im klettern nicht besonders geübt und zudem bei solchen Dingen recht ungeschickt, war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihr zu helfen, geschweige denn, ihre nörgelnden Fragen zu beantworten. Die Gischt der Wellen hatte sie wieder erreicht, als sie im letzten Moment, bevor das Wasser sie heruntergespült hätte, einen Einschnitt in der Felswand entdeckten, der ihnen einige Zeit Schutz bot, weil sie durch den flacheren Teil schneller an Höhe gewannen. „Wie hoch steigt das Wasser denn noch?“ fragte sie Rainer. Der hatte wie üblich keine konkrete Antwort, war aber entschlossen, höher zu klettern, zumal diese 158

Felsspalte offenbar vermehrt auch als Toilette von Tausenden von Seevögeln genutzt wurde und deshalb sehr glitschig war. Mit oder ohne Lisa, die etwas unbeholfen an der Wand klebte, da sie wegen der starken Schmerzen nur auf einem Bein stehen konnte, während der lädierte Fuß lose herabhing. Rainer war schon fast oben, als ihn das Mitleid packte. Vorsichtig kletterte er zurück, reichte ihr seine Hand und zog sie hinter sich her. Oben angekommen fielen sie erschöpft zu Boden. Das sie mitten in dichten und flachen Büschen lagen, die mit Tausenden von kleinen Stacheln bestückt waren, merkten sie nur am Rande und erst später, als die vielen kleinen Wunden anfingen, wie Feuer zu brennen. Lisas Fuß war jetzt bereits dick geschwollen und hätte dringend ärztlicher Hilfe bedurft, aber sie waren noch recht weit weg von jeglicher Zivilisation. Also gingen beziehungsweise hüpften sie den wunderschönen Strand entlang, nur etwa dreißig Meter höher und ohne ihn zu sehen, denn das Wasser hatte ihn vollständig bedeckt. Nach mehreren Stunden, vollkommen erschöpft und in Lisas Fall vor Schmerzen mit Tränen in den Augen erreichten sie schließlich ihre Fahrräder, mit denen sie zum Camper zurückfuhren, wo die Kinder sie bereits sehnsüchtig und sorgenvoll mit der Frage erwarteten, wann es denn endlich etwas zu Essen gebe.

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* Der Regenwald auf Vancouver Island war tatsächlich ein Naturereignis. Riesige wie sonst nirgends in Kanada und Jahrhunderte alte Bäume, die nach den verschiedenen Zedernhölzern rochen, dichte Büsche, die den Boden vollständig bedeckten und eine Stille, bei der man sich selber atmen hören konnte. Der Himmel war wegen des dichten Bewuchses nicht zu sehen und die Luft war stickig und feucht.

Frank, der mit Bubbles und Andrea den Ausflug dorthin unternommen hatte, wollte seine Rolle als Ältester unterstreichen und erzählte, daß der leichte modrige Geruch wohl von den vielen Touristen komme, die sich in den Wald gewagt hatten, dort nicht wieder herausfanden und elendig im dunklen Morast verendet sind. Seine Erzählung erreichte das Ziel und Andrea bekam den von Frank bewußt herbeigeführten Weinkrampf. Er machte sich immer auf diese Art lustig über sie, obwohl er die anschließende Heulerei eigentlich nervtötend fand. Zu seiner düsteren Geschichte paßte auch, daß es offenbar hier kein Vogelgezwitscher gab und die Ruhe daher zu der sehr gruseligen Stimmung beitrug. 160

In dem Moment, als Andrea sich gerade anfing zu beruhigen, rutschte Bubbles auf dem schlammigen Boden aus und fiel kopfüber in die Büsche neben dem Weg. Genau genommen durch die Büsche durch, denn wie sich herausstellte, verdeckten diese nicht den Boden, sondern sumpfige Wasserstellen. Seine Geschwister standen einigermaßen fassungslos am Rand und überlegten, was Bubbles denn jetzt wohl machen würde. Als dieser mit dem Kopf wieder auftauchte, fing Andrea sofort wieder ihr Geschrei an, denn sein Gesicht war über und über mit algenähnlichen Pflanzen bedeckt, die ihm die Sicht raubten und wie ein Monster aussehen ließen. Er schüttelte sich wie ein Hund, mit dem Ergebnis, daß auch die beiden Anderen etwas von der Algenpracht hatten. Frank gab ihm einen Schubs und Bubbles fiel erneut in die Büsche. Diesmal hatte er jedoch schon Übung und klammerte sich fest an die Sträucher, so daß er über dem Wasser hängen blieb und ziemlich unglücklich aussah. Jede Bewegung hätte ihn wahrscheinlich zum Sumpfloch durchgereicht. Andrea heulte unterdessen Frank an. „Du bringst ihn ja um! Hilf deinem Bruder gefälligst!“ schrie sie ihn an. Sie schubste ihn zwar nur leicht, aber immerhin so, daß er auf Bubbles fiel und beide im Sumpf verschwanden. Andrea wurde hysterisch, da sie sofort daran dachte, ihre beiden Brüder umgebracht zu haben. Als sie gerade weglaufen wollte, um ihre Eltern zu holen, tauchten Frank und Bubbles in enger Umarmung wieder auf. Wie sich schnell herausstellte, waren sie praktisch durch die langen Pflanzen aneinander gefesselt. Dadurch 161

waren natürlich ihre Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt und so fielen sie auf den schlammigen Boden direkt vor Andreas Füße. Und da passierte etwas Ungeheuerliches und noch nie Dagewesenes. Andrea hörte auf zu heulen, schaute zunächst etwas verwirrt auf die dreckigen Körper ihrer Brüder und bekam einen Lachkrampf, der seinesgleichen suchte. Frank versuchte sich noch zu beherrschen, aber Bubbles, sonst kein Kind von Traurigkeit, schossen vor Wut, daß seine Schwester über ihn lachte, sofort die Tränen in die Augen. Der anschließende Entfesselungsprozeß war langwierig, denn die Pflanzen waren schmierig und schwer in den Griff zu bekommen und Andrea weigerte sich beharrlich, den beiden zu helfen. Schließlich ging man, teils lachend, teils wütend, nur mit umgekehrter und ungewohnter Rollenverteilung, zurück zum Camper, wo mit Hilfe einer Schere das restliche Grün beseitigt werden konnte. * Jasper hielt nicht viel von Menschen. Eigentlich waren sie ihm völlig egal, es sei denn, sie vergaßen, ihm einen gut gefüllten Fressnapf hinzustellen. Dann haßte er sie. Auch das Erlebnis im Flugzeug steigerte seine Menschenliebe nicht gerade. Sie hatten ihn wegen der strengen Einfuhrbestimmungen in Kanada schlichtweg in ein größeres Stück Handgepäck gestopft und er konnte sich stundenlang nicht richtig bewegen, geschweige denn, seinen Bedürfnissen nachkommen. Die vorherigen Versuche, ihm zu erklären, daß er dadurch eine monatelange Quarantäne vermied, fand er absolut lächerlich. Auch die Drohung mit dem 162

Tierheim, wenn er sich weigere, sein Koffergefängnis zu besteigen, konnte er eigentlich nicht ernst nehmen, denn bei allem Ungehorsam liebten sie ihn doch. Oder taten zumindest manchmal so. An anderen Tieren fand er immer dann Gefallen, wenn sie kleiner waren wie er und sich gut hetzen ließen. Aus unerfindlichen Gründen mochte er aber Pferde. Die waren zwar größer, aber ein unvergeßliches Erlebnis hatte seinem Selbstbewußtsein gegenüber Pferden mächtig Auftrieb gegeben. Auf einem Spaziergang im Berliner Grunewald kamen ihnen vor längerer Zeit bei einem Spaziergang zwei Reiter entgegen. Der Weg war eng, der Platz zum Ausweichen zu klein und so blieb ihm nichts weiter übrig, als vor lauter Angst zu bellen. Was dann passierte, war schier unglaublich. Eines der Pferde scheute vor so viel Heimtücke eines Hundes, warf seinen Reiter ab und galoppierte davon. Der Reiter, der trotz großer Schmerzen so gut wie unverletzt blieb, schimpfte auf Rainer ein, der sich zwar für gänzlich unschuldig hielt, eine in Aussicht stehende Prügelei aber vermeiden und sich deshalb entschuldigen wollte. Der zweite Reiter ritt auf Jasper los, der sich anschickte, den am Boden Liegenden anzugreifen. Mit neuem Selbstbewußtsein gestärkt, fand Jasper das Pferd mit Reiter dann interessanter und bellte aus voller Kehle. Der auf dem Pferd Sitzende hatte mit soviel Unverfrorenheit eines kleinen Hundes nicht gerechnet, schrie noch "Holley hoo" oder Ähnliches und machte den gleichen Abgang wie der erste Reiter, allerdings mit anderem Ausgang, wie am Brechen des linken Ellenbogenknochens deutlich zu hören war. 163

Währenddessen kam das ausgerissene Pferd zurück und rannte im Trab über den Verletzten, nicht ohne ihn am Bein zu erwischen, welches, wie sich später im Krankenhaus herausstellte, nicht gebrochen, sondern nur um hundertachtzig Grad überdehnt war. Zudem sah die Archillessehne nicht mehr nach Bestzustand aus. Alles in allem gesehen war Jaspers Bilanz nicht schlecht: zwei Reiter krümmten sich vor Schmerzen am Boden, zwei Pferde würden ohne psychiatrische Behandlung keine Reiter mehr auf sich dulden, Rainer schaffte, nur um sich schnell aus dem Staub zu machen, die hundert Meter in für ihn unglaubliche 14,4 Sekunden und Jasper träumte noch nächtelang von seiner Heldentat, zwei von diesen großen Tieren in die Flucht geschlagen zu haben. Als Jasper sich nun den ihm auch in der Wildnis Kanadas zustehenden Auslauf nahm und unweit des Campers seine Notdurft verrichtete, erblickte er ein Pferd mitsamt Reiter. Freudig mit dem Schwanz wedelnd erinnerte er sich an die früheren Vorkommnisse und rannte laut bellend auf das Pferd zu. Nun ist ein echter kanadischer Mountain bei weitem nicht so empfindlich wie ein Grunewald-SchönwetterReiter. Was sich vorwiegend darin zeigte, daß der Polizist keine Miene verzogen hatte, während sein 164

Pferd mit der ihm anerzogenen Eleganz nur kurz mit dem Vorderhuf wedelte. Für Jasper stellte sich die Situation so dar, daß er, während er von der Hufe getroffen etwa zwanzig Meter durch die Luft flog, zunächst nicht genau wußte, was und vor allem warum es passiert war. Als er schließlich aufprallte, fingen die Schmerzen an, was er durch lautes Jaulen quittierte. Schmerzliches gab es dann auch noch für den herbeigeeilten Rainer, der, vom berittenen Polizisten dazu aufgefordert, eine Geldstrafe in nicht unbeträchtlicher Höhe zahlen mußte, weil Hunde in einem Nationalpark angeleint sein mußten. Am Abend nahm die Familie mit Freude davon Kenntnis, daß Jasper ausnahmsweise einmal nicht versuchte, einen der halbverbrannten Hamburger zu ergattern, was zumindest Rainer ihm nie richtig übelnahm. Jasper lag ganze zwei Tage ruhig und ohne jegliches Selbstvertrauen, dafür aber mit gehörigen Schmerzen in einer Ecke in direkter Nähe zum Camper, wohin er sich zurückzuziehen gedachte, wenn dieses Monstrum von Tier mit seinem völlig gefühllosen rotberockten Reiter sich noch einmal blicken ließ. * Jasper mochte, im Gegensatz zu Pferden, auch Streifenhörnchen. Sie waren nicht nur kleiner wie er, sie ließen sich auch hervorragend durch den Wald hetzen. Zumindest, bis sie auf einen Baum kletterten. Bei diesen Jagden konnte er sich richtig austoben. Wenn er 165

Glück hatte war gerade, was in Kanada selten vorkommt, kein Fluchtbaum in der Nähe und er jagte die Streifenhörnchen, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Dies waren dann die glücklicheren Tage für ihn.

Und es gab einen Tag, der war sogar noch glücklicher als die anderen. Kein Baum in der Nähe und das Streifenhörnchen flüchtete in Richtung der Klippen. Er war geschickt genug, das kleine Tier nicht entkommen zu lassen, allerdings nicht geschickt genug, um dem Biss des in die Enge getriebenen Hörnchens in seine Nase ausweichen zu können. Wenigstens stürzte das Streifenhörnchen unmittelbar nach dem Verzweiflungsangriff ab, aber der Biss tat höllisch weh. Seitdem strafte er die frech in seine Nähe kommenden Tierchen einfach mit Verachtung. * Rainers Vorliebe für die kanadische Landschaft wurde nicht von allen Familienmitgliedern geteilt und ging einem Teil davon bald gehörig auf die Nerven. Lediglich Lisa, ob aus Liebe oder um ihrer Ruhe willen, tat gelegentlich so, als verstehe sie ihren Gatten. Natur war ja eigentlich auch für sie ein sehr hohes und schützenswertes Gut, aber jegliche Natur fast 166

zwanghaft auch ansehen zu müssen, ging auch ihr zu weit. Merkwürdigerweise war ausgerechnet der etwas senile Großvater sehr naturverbunden, denn nur in freier Natur konnte er gut und ohne die von Anderen produzierten Gerüche atmen, was seinem ausgeprägten Schlafbedürfnis sehr entgegenkam. In einem der vielen Andenkenläden hatte Rainer eine Ansichtskarte erstanden, die ihn sofort fasziniert hatte. Ein wunderschön gelegener See, umgeben von leicht schneebedeckten Bergen, die sich im glasklaren und ruhigen Wasser spiegelten. Lake Louise war schnell auf der Landkarte ausgemacht und man befand sich, Rainers dringendem Wunsch entsprechend, auf der Fahrt dorthin. Rainer war vorher noch der Meinung gewesen, daß eine Landkarte nicht nötig sei. Er hatte, ganz seinem Hobby entsprechend, vor einiger Zeit einen Organizer gekauft, der nicht nur Termine und Adressen speicherte, sondern genialerweise auch noch mit einem Satellitenempfänger ausgestattet war, der mit zugehörigem Programm zwar nicht billig war, aber zuverlässig den Weg zum gewünschten Ziel weisen sollte. Lisa fragte nur ungläubig, ob das Ding denn auch tatsächlich funktioniere. Diese Frage war nicht ganz unberechtigt, denn schließlich hatte sie den Koffer gepackt, in dem sich der besagte Routenplaner befand. Wie sich herausstellte, befand sich in dem Koffer auch ein Handtuch, welches vor dem Einpacken noch zum Abtrocknen diente und somit eine gewisse Feuchtigkeit aufwies. Das dies dem Organizer nun wiederum nicht guttat, erkannte Rainer sehr schnell an dem matten und von innen offenbar feuchten und deshalb unlesbaren Display, das eigentlich die Route anzeigen sollte. 167

Rainer, ganz Techniker, ließ sich davon nicht entmutigen, schaltete das Gerät ein und zuckte kurz vor dem Funkenflug zurück. Dieser war zwar nicht sehr ausgiebig, sorgte aber schnell für die Erkenntnis, daß dieses Gerät defekt war. Zumal Rainer es vor Schreck hatte fallen lassen und es schon durch den Sturz wohl nicht mehr gebrauchsfähig sein würde. Als Lisa schließlich mit einem kurzen „glaubst du jetzt endlich, daß wir eine Landkarte brauchen?“ seinen erzürnten Blick erntete, wußte sie, daß diesmal es wohl sie war, die irgend etwas falsch gemacht hatte. Rainer hingegen dachte sich als zumeist positiv denkender Mensch, daß wenigstens das dazugehörige Netzteil noch gebrauchsfähig und vielleicht für zukünftige neue Anschaffungen nutzbar war, obwohl auch dort die Kontakte bereits leichte Rostspuren aufwiesen. Nun, die Fahrt begann trotzdem und Rainer wünschte sich angesichts der eher mäßigen Kartenlesekünste Lisas seinen phantastischen Routenplaner zurück. Allerdings wußte er auch, daß ihm später noch ein wenig Genugtuung zustand, denn er hatte Lisa vor Reiseantritt gesagt, daß sie sich um die ganzen Adressen für ihre diversen Postkarten keine Sorgen zu machen brauche, denn er speichere alles in seinem, nunmehr nicht mehr nutzbaren Organizer.

Am gewünschten See endlich angekommen, konnte Rainer den unglaublichen Anblick kaum ertragen. Es 168

war nicht der See, der ihm den Atem raubte, sondern die den See und die schöne Aussicht gänzlich verdeckenden Menschenmassen, die am natürlich ebenso nicht mehr sichtbaren Ufer standen. Dabei waren nicht einmal die Japaner das eigentliche Problem. Diese kamen in Reisebussen, stiegen zu Hundertschaften aus, rannten Richtung See, hielten die Kameras über die Köpfe der anderen Touristen, machten ihr Foto, rannten zurück und fuhren weiter. Nein, das Problem waren eben die, die in etwa zwanzig Reihen am Seeufer standen und offenbar dort zu übernächtigen gedachten. Auch Rainers Ausruf „laßt doch mal die Kinder durch“ half ihm nicht, in eine der vorderen Reihen vorzudringen. Jedenfalls schienen die Massen nicht gewillt, den einmal eroberten Platz in Seenähe aufzugeben. Aufgegeben hatte indes Rainer, der nach zwanzigmenütigem Kampf, zerschunden an Ellbogen und Knien sowie einer leichten Rippenprellung, die ihm eine besonders resolute Südländerin beigebracht hatte, schließlich leicht resignierend seine Ansichtskarte in kurzem Abstand vor die Augen hielt und den großartigen Anblick des merkwürdigerweise menschenleeren Sees genoß. Und nicht einmal Lisas Frage, zu welcher Tageszeit denn das Foto wohl gemacht worden sei, konnte ihn aus seinen Träumen von der einsamen und ebenso friedvollen wie rauhen Natur reißen. * Keine Frage, Kanada war ein wunderschönes Land. Ungeheuer große Wälder, die nur zeitweilig auch größere Löcher durch Waldbrände oder bewußtes 169

Abholzen zeigten, wechselten sich ab mit Seen, in denen sich die bis an das Ufer reichenden Bäume spiegelten und die eine Ruhe ausstrahlten, die sich direkt auf die menschliche Seele übertrug. Zumindest, wenn der See nicht Lake Louise hieß und man ihn sehen konnte. Aber die meisten Gewässer waren weit ab der Straße, nicht durch japanische Reisebusse erreichbar und schon deshalb relativ einsam gelegen. Die riesigen Waldbestände sahen nicht nur gewaltig aus, sondern dienten auch als Grundlage für die ausgeprägte Holzwirtschaft, die wiederum dafür sorgte, daß die Menschen in wunderschönen Holzhäusern wohnen konnten. Zumindest bis zum nächsten Waldbrand. Ein besonderes Naturereignis waren auch die zahlreichen großen Nationalparks. Hier konnten sich die Menschen in wundervoller Natur erholen, Berge, Seen, Wald und Tiere sehen und erleben und sich wohlfühlen. Hier gibt es auch die schönsten Campingplätze, denn anders als in Deutschland sind sie nicht nur schön gelegen, sondern auch sehr weiträumig. Auch ferienreisende Holländer gab es nur selten. Wer hier einen Platz ergatterte, was in der Ferienzeit nicht ganz einfach war, hatte viele Quadratmeter Platz, bevor Bäume und Sträucher ihn vor den Blicken seiner Nachbarn schützten. Zudem gibt es eigene Feuerstellen, an denen man sich abends auch mit Widerstand der eigenen Familie hinsetzen und in der Dämmerung die Natur genießen kann. Hier fühlt man sich frei und wie ein alter Westernheld, der einsam bei einem Lagerfeuer auf seiner Mundharmonika ein

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Liebeslied spielt. Zumindest, wenn er keine Familie dabei hat. In diesen Nationalparks gibt es immer auch bestimmte Höhepunkte. Mal waren es besondere Bergformationen, mal waren es herrliche Seenketten oder es wurde besondere Flora und Fauna geboten. Die berühmtesten Nationalparks hatten dann von jedem etwas, was sie eindeutig flexibler machte. Vieles war leider bereits durch Waldbrände zerstört worden. Was allerdings von Feuer lebte, waren die Gegenden Kanadas, in denen eben dieses Feuer noch dicht unter der Erdkruste loderte. Auch die Straßen sahen im Westen Kanadas phantastisch aus. Endlos langgezogen wie das ganze Land und ausgesprochen autound motorradfahrerfreundlich ausgebaut, so daß es eine Freude war, ruhig auch einmal mehrere hundert Kilometer an einem Tag zu fahren, ohne von Schlaglöchern oder Polizeikontrollen durchgeschüttelt zu werden. Und solche Fahrten wurden perfekt, wenn eines der vielen größeren Tiere, durch die Kanada ebenfalls berühmt geworden ist, die Straße kreuzte und man gerade die Kamera schußbereit hatte. Einen Schwarz- oder sogar Grizzlybären, einen Elch oder Karibu zu sehen, war etwas besonderes, da es praktisch nie vorkam. Deshalb muteten die Schilder, die vor dem Kreuzen dieser Tiere warnten, eher an wie ein Scherz, um Touristen zu verunsichern. Bestenfalls zeigte sich mal ein Dickhornschaf. Waschbären sah man wesentlich öfter, allerdings wie in Deutschland die Füchse eher von Autos zerfetzt am Straßenrand 171

liegend. Aber wer das Glück hatte und einen Adler in den Berggipfeln entdeckte, würde diesen Anblick nie vergessen. Kanada ist auch das Land, in dem man auf wenigen Kilometern mehrere Klimazonen durchdringen konnte. Fährt man zunächst auf Straßen, deren Ränder dicht bewaldet sind, ist nach ein paar Kilometern bergaufwärts die Baumgrenze bereits erreicht. Die nächste Steigerung der Natur erlebte Bubbles sogar hautnah, als er aufgrund der zunächst hohen Temperaturen nur noch in der Badehose im Auto saß und, als sie gerade einen Paß überqueren wollten, beim Aussteigen in einem mit Schnee gefüllten Loch versank. Als sie ihn nach zwanzig Minuten, in denen sie zunächst eine Schaufel suchen mußten, wieder ausgegraben hatten, stimmte auch er, noch vor Kälte zitternd, in das Lachen der ganzen Familie ein und die Fahrt konnte weitergehen. * Rainer sah entsetzt auf den Rauch, der aus der Motorhaube hervorquoll. Er stürzte aus dem Wagen, riß die Motorhaube auf, erkannte mit Kennerblick, daß irgend etwas mit dem Kühler nicht stimmen konnte und drehte den Verschlußdeckel auf. Die anderen, die im Wageninnern saßen, konnten alles genau durch die Frontschreibe sehen. Sie staunten nicht schlecht, als sie die hohe Wasserfontäne und den vielen weißen Rauch emporschießen sahen. Rainer hatte sich mit einem Sprung zur Seite kurzfristig in Sicherheit gebracht, 172

konnte aber nicht mehr verhindern, daß Frank mit dem Feuerlöscher in der Hand auf ihn zustürmte und abdrückte. Es dauerte fast so lange wie die Abkühlungsphase des Kühlwassers, bis Rainer wieder von dem Schaum gesäubert und getrocknet war und sie vorsichtig weiterfahren konnten. Als sie den rauchenden Wagen mitten in der Provinz an einer Werkstatt abstellten, bemerkten sie, daß sie von Indianern umgeben waren. "Die sehen aber gar nicht so aus", sagte Bubbles, denn er kannte Indianer nur aus den Wildwestfilmen, wo sie mit einem Federschmuck im Haar auch wesentlich mehr Rötung im Gesicht zeigten. Rainer, der wußte, daß sie bereits seit längerer Zeit in dem Indianerreservat gefahren waren, wollte seinen Kindern bei dieser Gelegenheit ein wenig von der Geschichte der eigentlich Einheimischen näherbringen. Die waren allerdings weniger daran interessiert als an der Tatsache, daß sie offenbar weit entfernt von jeglicher Zivilisation in der Klemme steckten. Etwa 40.000 Indianer lebten in Reservaten, aber sie gerieten ausgerechnet an solche, die der englischen Sprache nicht mächtig waren. Das einzige, was sie verstanden, war, daß der Wagen raucht wie ein Indianerfeuer und daß die Reparatur fünfhundert Dollar kosten sollte. Rainer war drauf und dran zu fragen, ob sie denn damit die finanzielle Unabhängigkeit des Reservates für die nächsten fünf Jahre sicherstellen wollten, beherrschte sich dann aber. Allerdings konnte er sich die Frage nicht verkneifen, ob sie auch in Naturalien zahlen könnten, was allerdings 173

umgehend den Preis um einhundert kanadische Dollar erhöhte. Auch die Werkstatt sah nicht gerade aus, wie man sich eine Werkstatt vorstellen würde. Alles triefte vor Öl und lag unaufgeräumt herum. Etwa fünf Dutzend Reifen waren nicht ordentlich übereinander gestapelt, wie man es aus Deutschland kennt, sondern bildeten einen großen Haufen. Lisa, ganz Hausfrau, hätte sich am Liebsten sofort an die Arbeit gemacht, hier einmal richtig Ordnung zu schaffen, aber Rainer hielt sie fest und dem einem Indianer einen 100-Dollarschein hin. Dieser griff sofort zu, schüttelte aber gleichzeitig mit dem Kopf, was wohl soviel bedeutet sollte, wie "das reicht niemals". Der zweite 100-Dollarschein, die der Indianer freudig entgegennahm, führte dann zu einer entsprechenden Arbeitsaufnahme, die an ein gepflegtes Pow-Wow erinnerte und schon drei Stunden später war der kleine defekte Schlauch ausgetauscht. Erleichtert, vor allem in der Geldbörse, konnten sie schließlich weiterfahren. * Alles, was vulkanischen Ursprungs war und was man auch deutlich als solchen erkennen konnte, übte von jeher eine besondere Faszination auf Lisa aus. Es spielte keine Rolle, ob es sich um einen leibhaftigen Vulkan oder eine kleine kochende Quelle handelte. Hauptsache, es brodelte. Für Lisa war dies die 174

Schnittstelle zwischen Himmel und Hölle. Und eigentlich auch ganz praktisch. Hob man den Kopf, war der Himmel plötzlich ganz nah, senkte man ihn, lachten die Augen des Teufels. Es war irgendwie ähnlich wie in ihrer Ehe. Am Anfang fühlte sie sich dem Himmel nah und Rainer trug sie auf Händen. Im Laufe der Ehejahre mit ihm spürte sie immer häufiger eine gewisse Nähe zur Hölle. Und da sie irgendwie dazwischen stand, konnte sie immer wählen, wem sie sich eher zuneigen wollte. Was will man mehr von einer lang andauernden Ehe?

Die in Kanada ansässigen Vulkane galten als erloschen, aber die postvulkanischen Erscheinungen waren sehr beeindruckend und stellten eine große Attraktion für jede Art von Fremdenverkehr, also auch für Lisa dar. Als sie bei einem einsamen Ausflug am Rande des kleinen Vulkans stand, fielen ihr plötzlich Rainers Worte ein: "Geh´ nicht zu dicht an den Vulkanrand, schon viele haben sich dort überschätzt und wurden vom Vulkan verschlungen." Noch während sie an diese Worte dachte, glitt sie auf dem rutschigen Sandboden aus. Die Hölle direkt vor Augen, konnte sie gerade noch einen festsitzenden Stein umklammern, der ihr zumindest für kurze Zeit Halt gab. Nur für kurze Zeit, denn was sie als Stein wähnte, zerbröselte sehr schnell und mit einer bösen Ahnung im Hinterkopf kam sie ins 175

Rutschen. Im letzten Moment umklammerte sie etwas, was wie eine Wurzel aussah. Immerhin hielt sie. Noch während sie die Tatsache erstaunte, daß ausgerechnet am Rande eines Vulkankraters eine Wurzel ihren weiteren Fall aufhielt, entwickelte sie schier unmenschliche Kräfte und es gelang ihr tatsächlich, sich wieder bis zum oberen Kraterrand emporzuziehen, was auch nicht an ein Wunder grenzte, da der Vulkan nicht wirklich groß war. Erleichtert, aber auch stolz, der Hölle entkommen zu sein, begann sie den kurzen Abstieg. Initiiert von einem Wohlgefühl, das durch diese wundersame Rettung ausgelöst wurde, fühlte sie sich jetzt dem Himmel so nah, daß sie die leisen Geräusche hinter sich nicht wahrnahm. Immer schneller schritt sie durch die losen Geröllmassen nach unten und immer schneller wuchs auch der Geräuschpegel hinter ihr. Als sie bemerkte, was passiert, war es bereits zu spät und wurde durch einige unvorsichtige Schritte mit anschließendem Fall durchaus beschleunigt. Sie hatte durch ihren kurzen Abstieg, der nicht dem vorgegebenen Weg entsprach, eine kleine Lawine aus Geröll ausgelöst, die sie sehr schnell einholte. Ihre positiven Gedanken an den Himmel relativierten sich ebenso schnell, wie ihr die notwendige Luft zum Atmen durch den aufgewirbelten Staub genommen wurde. Und während sie sich noch fragte, ob sich doch tatsächlich der Teufel ihrer bemächtigt und einverleibt hatte, glitt sie aus und stürzte vornüber an den Rand einer brodelnden Schlammquelle. Hätte sie sich nicht mit den Händen abgestützt, währe sie wohl in dem 176

Schlamm verschwunden. So aber nahm sie mit größeren Brandblasen vorlieb. Noch während sie sich fragte, warum immer ihr so etwas passieren müsse, trocknete der auf ihren ganzen Körper verstreute Schlamm und fing an zu bröckeln. Sie lief so schnell es ihre neue zweite Haut erlaubte zu den anderen zurück. Die waren nicht willens, die ekelhaft aussehende Schlammpackung, die da auf sie zutorkelte, als ihr Familienmitglied anzuerkennen. Andrea kreischte voller Entsetzen, daß Außerirdische gelandet seien. Nur Bubbles nahm das alles sehr gelassen und meinte lediglich, daß es ungerecht sei, daß er sich ständig waschen müsse, während seine Mutter in dieser Hinsicht offenbar Narrenfreiheit genoß.

* Die Familie war weg. Rainer konnte sein Glück kaum fassen, denn er hatte, als alle sich mal wieder langweilten, einfach sein Portemonnaie gezückt und sie in das Freilichtkino des Campgrounds geschickt. Ein Geschenk, das die übrigen Familienmitglieder gerne annahmen. Und jetzt war er allein und konnte endlich einmal das machen, wozu er Lust hatte, ohne ständig auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Endlich war er frei. Und während er die nächsten zwei Stunden überlegte, wie er seine gerade eroberte Freiheit denn nun nutzen wolle, trank er ein heimlich gekauftes Bier nach dem anderen. Und je mehr er merkte, daß er 177

eigentlich zu gar nichts Lust hatte und sich wie vorher langweilte, trank er immer schneller, bis er merkte, daß der Alkohol ihm zu Kopf stieg. Sofort hörte er auf, Bier zu trinken und nahm sich die teure Malt- Whiskyflasche vor, die er im Duty-FreeShop am Flughafen unbemerkt von Lisas Augen ebenfalls heimlich gekauft hatte. Wenn schon, denn schon, dachte er sich, denn schließlich wurde die Zeit knapp, bis die anderen wiederkamen. Wie sich schnell herausstellte, war der Camper zu klein für Rainer und den Alkohol. Als er aufstand, um sein Lieblingslied, die Marseillaise, zu singen, taumelte er über den Tisch und fiel auf das Bett im hinteren Teil des Campers. Er war hochprozentigen Alkohol überhaupt nicht gewöhnt und so stellte er zwei Minuten später fest, daß das Bett, in dem sonst seine Kinder schliefen, frisch bezogen werden müsse. „Hier lebe ich? In diesem Saustall? Mit Betten, die aussehen, als wären sie aus der Jauchegrube gezogen worden?“ Um den Anblick besser ertragen zu können, nahm er schnell noch einen Schluck aus der Flasche, denn das Glas, das er anfangs noch benutzte, lag längst als Scherbenhaufen unter dem Tisch, was er auch in dem Moment bemerkte, als er darauf trat. Aber Schmerz verspürte er nicht mehr, eher den Drang, weiterzusingen, erschwert allerdings durch erneutes Erbrechen, diesmal in Richtung Fahrersitz und Lenkrad.

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Was Lisa und die Kinder zuerst bemerkten, als sie vom Kino wieder zurückkamen, war der unerträgliche Gestank im Camper, offenbar eine Mischung aus Bier, Schnaps und Erbrochenem. „Was ist hier los?“ Als sie Rainer sah, der zusammengerollt auf dem Bett der Kinder lag und schnarchte, wurde ihr bewußt, daß sie offenbar einen Alkoholiker geheiratet hatte. Was sie natürlich nicht zulassen durfte, denn es entsprach nicht ihrer gesunden Lebensweise, die sich auch die übrigen Familienmitglieder zueigen machen sollten. Also zog sie Rainer, der nur widerwillig geweckt wurde, in das kleine Badezimmer, setzte ihn auf die Toilette und stellte die Dusche mit dem eiskalten Wasser an. Vierzig Minuten später, nachdem sie den Camper einer ausgiebigen Reinigung unterzogen hatte, saß Rainer noch immer dort und wurde langsam nüchtern. Er fror erbärmlich unter dem Wasser, war aber noch nicht so nüchtern, daß er es selbständig hätte abstellen können. Schließlich erlöste Lisa ihn und schickte ihn abgetrocknet ins Bett, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte. Erst dann holte sie die draußen frierenden Kinder herein, die sie sofort ausgesperrt hatte, als sie ihren völlig betrunkenen Mann sah, denn einen solchen Anblick sollten die Kinder nicht ertragen müssen. Und als gutes Beispiel konnte dieser Vorfall sicher auch nicht dienen.

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Rainer hatte am nächsten Morgen einen Kopf, der kurz vor der Explosion stand und erinnern konnte er sich auch an nichts mehr. Deshalb verstand er auch nicht, warum Lisa ihn in den Tagen darauf immer mit einer Mischung aus Wut und Mitleid ansah. Was ihm allerdings auffiel war der plötzliche Mangel an Alkoholika, denn seine Ehefrau hatte den Camper noch in dieser Nacht durchsucht, den restlichen Whisky und ein paar Bierdosen gefunden und sofort vernichtet. * Trotz Rainers Leiden bestand Lisa auf den Ausflug, den sie den Kindern für diesen Tag versprochen hatten. Sie waren ganz in der Nähe des Columbia-IcefieldGletschers und wollten den Kindern einmal zeigen, wo das Wasser für die vielen kanadischen Seen herkam. Ein Kettenfahrzeug brachte sie am Rand des Gletschers bis zur Hälfte den Berg hinauf. Dort gab es eine Art Hochebene, in der sich der Gletscher ausbreitete und sich mit einer langen Zunge in das Tal hinab schlängelte. Rainer wollte, nachdem sich sein Zustand durch die Kälte etwas gebessert hatte, sein umfängliches Wissen kundtun und sagte: „Jetzt steht ihr auf dem sogenannten ewigen Eis.“ Es dauerte keine Ewigkeit, bis Andrea merkte, woraus der Boden bestand und das Eis sehr kalt war. Sie hatte, wie jeden Tag, Turnschuhe und dünne Söckchen an. Sie sagte immer, das sehe 180

sportlicher aus als die Omaschuhe, die ihre Mutter trug. Jetzt, auf dem Eis, fror sie erbärmlich, da sich die Kälte nicht nur auf ihre Füße beschränkte, sondern langsam immer höher schlich und schließlich ihr ganzer Körper zitterte. Sogar ihre Tränen schienen gefroren zu sein.

Sie hatte nur den einen Wunsch, so bald wie möglich ihre Füße in die Heizsonde im Camper zu stecken, aber sie waren nicht allein. Etwa zwanzig Touristen weigerten sich beharrlich, wegen der kleinen dicken Göre vorzeitig zurück zu fahren, denn sie hatten eine Menge Geld für den Ausflug bezahlt. Schließlich hätte sie ja wohl Brüder, die ihr mit ihren Strümpfen aushelfen könnten. Die weigerten sich aber mit der nicht von der Hand zu weisenden Begründung, wenn sie ihre Socken ausziehen, würden sie ebenfalls frieren. Andrea nahm das mit haßerfüllten Augen zur Kenntnis und stellte sich vor, wie ihre Brüder wohl vor Schmerzen hüpfen würden, wenn sie ihnen am nächsten Tag unbemerkt Reiszwecken in die warmen Schuhe stecken würde. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere und versuchte sich mit ausschweifenden Armbewegungen zu wärmen, wobei sie allerdings Bubbles im Gesicht traf, der daraufhin auf dem Eis das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte und ausrutschte. Er fiel der Länge nach auf den Bauch und fing an, Fahrt aufzunehmen. 181

Die Gletscherzunge, die in das Tal führte, war nicht besonders steil, bot aber so gut wie gar keinen Halt und so glitt Bubbles in unaufhaltsamer Fahrt bis ganz hinunter. Das Eis war sehr glatt, weshalb er sich keine Verletzungen zuzog, aber der anschließende Aufstieg zurück zur Familie dauerte gut eine Stunde, in der er ständig das Lachen seiner Geschwister am oberen Ende vernahm. Weitere zwei Stunden später erklärten sich auch die anderen Gletscherbesucher einverstanden, wieder zurück zu fahren, da ihnen mittlerweile ebenfalls die Kälte unter die Kleidung gekrochen war und zudem das kleine dicke Mädchen ihnen mit der ständigen Heulerei gehörig auf die Nerven ging. Andrea hatte am Abend nicht nur hohes Fieber, auch die Bronchitis, die sich unmittelbar im Anschluß einstellte, verdarb ihr in den nächsten zwei Tagen diesen wunderschönen und lehrreichen Kanada-Urlaub, in dem sie jetzt sogar einen richtigen Gletscher gesehen hatte. * Andrea mochte Tiere sehr gern. Bis auf Jasper, der ihr als Hund zu klein war. Sie liebte große und starke Pferde, was ihr nach seinen lehrreichen Erfahrungen nicht gerade die Liebe von Jasper einbrachte. Sie liebte aber auch Hamster, Mäuse und auch sonst fast jedes Getier bis auf Insekten, mit denen sie regelmäßig bereits im heimischen Zimmer auf Kriegsfuß stand, weil ihre Mutter dazu neigte, die Räume abends zu lüften und dabei viel Licht zu machen. 182

Rainer wird nie den Heulkrampf seiner Tochter vergessen, als diese den ersten toten Waschbären am Straßenrand entdeckte. Sie wollte unbedingt anhalten, aussteigen und das Tier in den Arm nehmen. Beim dritten entdeckten toten Waschbären und entsprechendem Lärm Andreas hielt Rainer, der dies vorher strikt mit der Begründung abgelehnt hatte, die Totenruhe auch dieser Tiere müsse beachtet werden, an und Andrea nahm den kleinen Bären in den Arm. Genauer gesagt, Teile davon, denn das Auto, das den Bären erwischte, hatte ganze Arbeit geleistet. Andrea, für den Rest der Fahrt ziemlich blutverschmiert, hatte sich daraufhin entschlossen, einfach wegzusehen und still zu heulen, wenn sie wieder etwas am Straßenrand liegen sehen würden. Aber ihre Neigung, auf Tiere zuzugehen, um sie zu streicheln, wurde durch diesen Vorfall nicht beeinträchtigt. Bei einem Picknick auf einem Parkplatz am Straßenrand entdeckte sie ein wunderschönes Tier. Es hatte lange Stacheln und sah sehr lustig aus. Sie ging näher und hätte es auch gern gestreichelt, wollte das Tier aber nicht verängstigen. Und so blieb sie kurz davor stehen, um es genau zu betrachten.

Es war Bubbles, der mal wieder Unsinn im Kopf hatte und ein Stück Brot nach dem Tier warf. Als Andrea sich umdrehte, um Bubbles zurechtzuweisen und ihm 183

zu erklären, daß sich dies nicht gehöre, kleine Tiere kein Freiwild seien und man Respekt vor ihnen haben müsse, traf sie der Strahl des Skunks. Nur wenig davon im Gesicht, aber viel auf ihr bestes Kleid, mit dem sie schon in Berlin versuchte, die Jungens zu becircen. Der Gestank war unbeschreiblich und führte dazu, daß der Rest der Familie sich ernsthaft überlegte, ob Andrea weiterhin mitfahren dürfe oder zunächst für die nächsten drei Wochen auslüften müsse. Jedenfalls war Andrea seitdem vorsichtiger bei der Annäherung an Tiere und unternahm solche Versuche erst, wenn sie sich vergewissert hatte, daß niemand und schon gar nicht Bubbles in ihrer Nähe war. * Die Weiterfahrt gestaltete sich ob des Gestankes etwas schwierig, aber niemand wollte warten, bis der Geruch wegging, zumal nicht sicher war, daß dies überhaupt jemals geschehen könnte. Sie merkten die Reifenpanne erst, als der große und schwere Camper völlig unerwartet nach links ausbrach und gegen ihren Willen eine Böschung herunter fuhr. Rainer konnte den Wagen zwar gerade halten, aber nicht bremsen. Sie kamen erst zum stehen, als die Böschung am Ufer eines Sees flacher wurde und die Räder im Schlamm versanken. Ihnen war nichts passiert. Lediglich kräftig durchgerüttelt wurden sie und insbesondere auch das Geschirr in den Schränken, was zu einem größeren Scherbenhaufen führte. Sie stiegen trockenen Fußes aus, da sich die Tür des Campers noch 184

über dem feinen Sandstrand befand. Nur Großvater ließen sie sicherheitshalber im Wagen. Die Vorderräder versanken nicht weiter im Schlamm und so war Rainer zuversichtlich, mit der gesamten Motorkraft rückwärts wieder herauszufahren. Wie er bei dem ersten Versuch feststellte, trog diese Hoffnung, denn die Räder gruben sich nur noch tiefer ein. An ein herausschieben war nicht zu denken und so zog Rainer los, um Hilfe zu holen. Als er nach drei Stunden wiederkam, war die Familie bereits gut erholt. Rainer hatte es geschafft, einen Mann zu finden, der mit seinem großen Pick-Up bereit war, ihnen zu helfen. Und so zog er sie rückwärts die ganze Böschung wieder hinauf bis zur Straße, wo allerdings an eine Weiterfahrt nicht zu denken war, denn dem linken Vorderreifen fehlte die dafür erforderliche Luft. Rainer, sonst alle Reparaturarbeiten selbst vornehmend, erinnerte sich, daß die Verleihstation darauf bestand, daß Reifenpannen nicht selbst behoben werden dürfen. Also wurde nach einem weiteren einstündigen Fußweg aus einem fremden Haus heraus eine Notrufnummer gewählt und schon drei Stunden später kam ein Abschleppwagen. Dieser war zwar nicht dazu geeignet, den großen Camper abzuschleppen, aber der Mann war kompetent genug, den vorderen Reifen zu wechseln. Da mittlerweile bereits die Dämmerung einsetzte, befand Rainer, daß der weitere Ausflug nunmehr beendet sein. Lisa fragte ihn, warum er denn immer so schnell aufgeben würde, aber Rainer focht das nicht an. Die Familie war gut erholt von dem schönen Nachmittag und er war einfach nur noch müde.

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* Wie Lisa aus ihrer Apothekerzeitschrift wußte, erkranken Millionen Deutsche Urlauber in den Ferien, wobei Erkältungskrankheiten und Magenprobleme an erster Stelle stehen. Nie hätte sie gedacht, daß sie aufgrund ihres fast übernatürlichen Gesundheitsbewußtseins selbst von einer Krankheit im Urlaub betroffen sein könnte. Sie konnte aber auch nicht wissen, daß Bubbles seine lebenden Angelköder in Form von kleinen weißen Maden gut gekühlt wissen wollte und in die von Lisa sonst sehr gehütete Kühltasche legte. Das Lisa mit ihrem vorher zubereiteten Joghurt mit allerlei Früchten nicht nur die für die Darmflora wertvollen Bakterien, sondern auch eine ganze Menge Proteine in Form von Maden zu sich nahm, legte sie, von Übelkeit schwer gezeichnet, für zwei Tage lahm und schwächte nicht nur ihr Immunsystem sondern auch den Glauben an ihre Apothekerzeitschrift enorm. Aber Lisa war nicht der einzige Ausfall durch Krankheiten oder Blessuren. Wie es der Wald und die auch sonst recht rauhe Natur mit sich brachte, war bereits nach wenigen Tagen der gesamte Vorrat an Pflaster aufgebraucht. Der baldige Kauf einer in Kanada üblichen Hunderter-Packung neuer Pflaster in allen Größen versprach zumindest in den nächsten Tagen ausreichend zu sein. Schlimmer erwischte es Großvater, der, wo immer er es auch herhatte, eiskaltes Bier trank und fortan mehrmals 186

täglich sehr zum Leidwesen der gesamten Familie, die sich bis dahin lediglich nachts um diese Dinge kümmern mußte, auf die Toilette getragen werden mußte. Das Andrea ständig übel war, konnte die Familie nicht wirklich überraschen, schließlich entsprach dies ihrem Dauerzustand in der Heimat. Wäre sie nicht noch zu jung dafür gewesen, hätte man deshalb eine permanente Dauerschwangerschaft in der Anfangsphase vermuten können, obwohl ihr ausgeprägter Körperbau eigentlich eher auf die baldige Geburt von Fünflingen schließen ließ. Lediglich Frank hielt sich tapfer an die Maxime, im Urlaub nicht krank werden zu sollen. Zumindest, bis er sich den Nagel in den Fuß eintrat. Die anschließende Heilung verzögerte sich ein wenig, da er dieses Malheur zunächst vor seiner Familie verheimlichte und es erst zugab, als der tiefblaue Streifen der Blutvergiftung fast sein Knie erreichte. Nach drei Tagen im örtlichen Krankenhaus war er aber wieder fit und lästerte anschließend wie gewohnt über seine etwas vom Pech verfolgte Familie.

* Eigentlich erinnerte sich Lisa gern an frühere Zeiten mit ihrer Familie, als die Kinder noch kleiner waren 187

und sie immer etwas zusammen unternahmen. Sie hatten viel Spaß miteinander und lachten sehr viel. Als zum Beispiel bei einem Zoobesuch Bubbles, damals gerade erst 3 Jahre alt, sich über den kleinen Absperrzaun beugte und in die Pfütze fiel, in der sich vorher die Borstenschweine geputzt hatten, konnte sein älterer Bruder minutenlang nicht mehr aufstehen, weil er sich vor Lachen am Boden krümmte. Auch Lisa, sonst immer sehr besorgt um die Sauberkeit ihrer Kinder, konnte Bubbles nicht helfen aufzustehen, da sie selbst am Boden lag. Nur Andrea heulte. Was sie eigentlich immer tat, wenn andere sich freuten. Sie glaubte trotz ihrer damals erst vier Jahre Lebenserfahrung, den Teufel persönlich zu sehen, als Bubbles vor ihr stand und der Schlamm langsam abtropfte. Später, als die Kinder älter wurden und Lisa dies auch von der Beziehung zu ihrem Mann vermutete, lachten sie nicht mehr ganz so viel. Bei Frank lag dies sicher an der Zahnspange, die seine Gesichtszüge eher stoisch wirken ließen. Andrea lachte, wie gesagt, ohnehin so gut wie nie und Bubbles, der wohl schon mit Lachfalten im Gesicht geboren wurde, war wegen seiner Umtriebigkeit nur selten zuhause. Überhaupt war Bubbles ein Hansdampf in allen Gassen. Ständig ging er zu Kindergeburtstagen oder ähnlichen Feiern. Das er gar nicht eingeladen war, störte ihn nur wenig. Hauptsache, es gab etwas zu Essen. Eine Einstellung, die ihn recht schnell in die Nähe von Konfektionsgrößen zehn Jahre älterer Kinder brachte.

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Seine Mutter billigte seine Eßgewohnheiten zwar keineswegs, war aber aufgrund seiner ständigen Abwesenheit auch nicht in der Lage, der zunehmenden Leibesfülle entgegenzuwirken. Auch ihre Versuche, Bubbles am Abend mit Gemüse und Salaten zuzustopfen, brachten nicht das erwünschte Ergebnis. Salate können zwar schlank machen, aber nur, wenn man seine Nahrung ausschließlich darauf beschränkt. Hamburger und Pommes Frites, dick umgarnt mit Ketchup und Majonaise waren nun einmal der Hit eines jeden Kindergeburtstages, weil die Mütter der Geburtstagskinder inständig hofften, die ganze eingeladene Brut damit in den Griff und zur Ruhe bringen zu können. Und so nahm Bubbles immer mehr zu und sein Körper ähnelte immer mehr einer Art Schwamm. Frank, sein älterer Bruder, war da ganz anders. Zwar aß er auch viel und meistens ungesund, aber er nahm nicht zu. Egal was und wie viel er aß und obwohl er niemals ein Sättigungsgefühl verspürte, blieb er ziemlich schlank und sah fast durchtrainiert aus. Allerdings war er ansonsten eher häßlich. Er erinnerte eher an den Inbegriff eines Engländers, also groß, schlank, rotblonde Haare, abstehende Ohren und Sommersprossen. Wie Prinz Charles eben, nur etwas jünger. Andrea lag nicht nur vom Alter her zwischen ihren Brüdern, sondern auch von ihrem Aussehen und ihrer Statur, was ihr nicht nur viel berechtigten Spott in der Schule einbrachte, sondern auch eine gewisse Härte, die wohl benötigt wird, um solch ein Schicksal zu ertragen. 189

Äußerlich hatte sie viel Ähnlichkeit mit Frank, vor allem im Gesicht, wozu ihre Sommersprossen und die Farbe ihrer Haare das Ihrige beitrugen. Der übrige Körper ähnelte dann mehr Bubbles, also fett und einigermaßen unansehnlich von der Statur her. Den Rest erledigte dann ihre ausgewählte Kleidung, denn sie hatte schon als kleines Kind eine große Vorliebe für Rüschenkleidchen. Diese Vorliebe hatte sie auch in späteren Jahren nicht ganz abgelegt, was zu manch abwertender Äußerung ihrer männlichen Klassenkameraden führte. Die weiblichen Mitstreiterinnen in der Schule fanden das toll, daß sich jemand, der so aussieht, auch noch so anzieht. Die Kleidung änderte sich erst, als sie zum ersten Mal Britney Spears im Fernsehen sah. Plötzlich wollte sie TShirts und möglichst enge Jeans, was ihr Aussehen allerdings keineswegs verbesserte. Ihre Mitschülerinnen bewunderten den Mut, den Andrea an den Tag legte, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie keinerlei Gefahr oder Konkurrenz bei der Suche nach einem Liebsten darstellte. Zudem hatte sie eine Ausstrahlung, die nicht unbedingt mit Lebensfreude bezeichnet werden konnte. Sie heulte bei jeder Gelegenheit los und hörte erst dann auf, wenn sich wirklich alle umgedreht hatten und sich wichtigeren Dingen zuwandten. Als kleines Kind machte ihr das eigene Verhalten nicht viel aus, aber als sie heranwuchs und in ein Alter kam, in dem andere Mädchen durchaus schon mal einen Blick auf einen Jungen warfen, merkte sie, daß sie anders war.

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Natürlich versuchte auch sie, den einen oder anderen, den sie verehrte, zu becircen. Das äußerte sich dann allerdings in einem kurzen Blick, mit dem sie ihr Gegenüber praktisch durchbohrte und einem direkt daran anschließenden ausgewachsenen Weinkrampf, wenn sie sich der Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens bewußt wurde. Wenn der dann vorüber war, war von dem Jungen auch nichts mehr zu sehen und so fehlte ihr bis zu diesem Urlaub die nötige Erfahrung, mit Jungs in ihrem Alter umzugehen. Nur einmal hatte ein Junge versucht, sich für sie zu interessieren. Als er sie küssen wollte, fiel sie mit der ganzen Kraft ihrer Leibesfülle auf ihn drauf und versenkte ihn in einem glitschigen Loch mit Regenwasser. Als er sich daraufhin aus dem Staub, beziehungsweise Schlamm machte und sich nie wieder blicken ließ, hatte sie ihren ersten Liebeskummer in Tränen erstickt.

* Aber auch ihr kleinerer dicker Bruder war nicht gegen Liebesschmerz gefeit. Bubbles fuhr gerne Fahrrad, weil er sich ohnehin ständig bewegen mußte. Er hörte auch 191

gern Musik, vorzugsweise Rockmusik und sehr laut. Also bot es sich an, beides miteinander zu verbinden. Obwohl in Kanada auch für Fahrradfahrer die Pflicht besteht, einen Helm zu tragen, wäre Bubbles nie auf die Idee gekommen, dies zu beherzigen, da sich das Tragen eines Helmes schlecht mit dem großen Kopfhörer vereinbaren ließ. Also raste er mit einem gemieteten Fahrrad durch den Campground und erschreckte andere Touristen. Nicht alle, sondern genau genommen nur eine Einzige. Sie war auch etwa 15 Jahre alt, blond und bildhübsch. Bubbles war verliebt. Und das zeigte sich darin, daß er in imposantem Imponiergehabe auf sie zufuhr, erst im letzten Moment bremste und kurz vor ihr zu stehen kam. Da er nicht wußte, wie er sie ansprechen sollte, kam auch kein richtiges Gespräch zustande, das eine Annäherung zuwege gebracht hätte, denn offensichtlich war auch sie von ihm angetan. Vor allem, weil er so gut mit dem Fahrrad umgehen konnte. Mangels Gesprächsstoff und wegen seiner plötzlichen Schüchternheit fuhr er immer wieder Runden um den Campground und wiederholte seine Bremsmanöver. Offensichtlich verliebten sie sich immer mehr ineinander und das Fahrrad kam immer dichter vor ihr zum Stehen, da Bubbles offenbar Körperkontakt suchte. Und in der nächsten Runde auch fand. Sie fand dies allerdings gar nicht lustig und ihre gerade erst aufgeblühte Liebe war vorbei, noch bevor sie richtig begonnen hatte.

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Bubbles hatte nämlich in seinem jugendlichen Leichtsinn nicht nur etwas spät gebremst, sondern sie schlicht über den Haufen gefahren und dabei ihr wunderschönes gelbgrünes Kleid zerfetzt. Nachdem sie wieder aufgestanden war und die vielen kleinen und auch mehrere größere Schrammen an Armen und Beinen entdeckte, sagte sie nur noch kurz „Idiot“, drehte sich um und verschwand. Bubbles war das in diesem Moment gerade recht, denn einerseits schämte er sich etwas für seine Schüchternheit, andererseits ärgerte er sich darüber, daß er sein Fahrrad offenbar doch nicht so gut beherrschte. Und schließlich schien seine ehemalige große Liebe ohnehin etwas entstellt zu sein. Jedenfalls deuteten die Kratzer in ihrem Gesicht darauf hin.

* Den Liebesschmerz hatte Bubbles also schnell überwunden, auch deshalb, weil er einen Freund in seinem Alter kennen gelernt hatte. Er und Günther unternahmen viel und hatten viele Gemeinsamkeiten wie Fahrrad zu fahren oder Mädels zu ärgern. Günther war nur ein Jahr älter, aber offensichtlich schon wesentlich reifer, denn am nächsten Tag, als sie gerade im Wald eine Pause machten, holte er ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot Bubbles auch eine an. Der sah, wie Günther genüßlich an seiner Zigarette 193

zog, tief einatmete und mit einem langen Rauchstrahl wieder ausatmete. Bubbles griff zu, weil er nicht feige sein wollte und Günther hielt ihm das Feuerzeug hin. Bubbles war zwar nicht feige, aber auch das Rauchen nicht gewöhnt und so artete das Ausatmen des ersten Zuges in ein Hustenanfall mit anschließendem nach Luft schnappen aus. Diese Zigarette schmeckte definitiv nicht. Günther, der lachend neben ihm saß, erklärte ihm, daß nur der erste Zug ungewohnt sei und weitere Züge immer besser schmeckten. Obwohl Bubbles dies nicht glauben wollte, konnte er jetzt nicht mehr zurück und nach der halben Zigarette schmeckte der Rauch tatsächlich kein Stück besser. Bubbles verabschiedete sich schnell von seinem Freund, ging zum Camper und übergab sich. Fast hätte er Großvater noch getroffen, der die Situation aber erkannte und sich mit einem gewagten Sidestep zur Seite rollen ließ. Die Prozedur des Unwohlseins dauerte noch zwei Stunden. Anschließend schrieb ihm sein Opa, dessen Langzeitgedächtnis die Erinnerung an seine erste Zigarette zuließ, auf einen Zettel, daß man den Rauch nicht immer inhalieren müsse. Bei Zigarren zum Beispiel wird der Rauch gar nicht erst eingeatmet, sondern nur in der Mundhöhle gesammelt und sofort wieder ausgepustet. Deshalb sei eine Zigarre auch nicht so gesundheitsschädlich, weshalb er Bubbles eine von seinen heimlich im Duty-Free-Shop gekauften Havannas abgab. Am nächsten Tag hatte sich Bubbles gut erholt und als bei der ersten Rast sein Freund Günther ihm wieder eine Zigarette hinhielt, zog er voller Stolz die geschenkte Zigarre aus der Tasche und steckte sie sich 194

in den Mund. Das machte riesigen Eindruck auf Günther, der eigentlich nur sehen wollte, wie Bubbles wieder schlecht wurde. Und jetzt übertraf ihn der kleine dicke Bubbles sogar noch. Voller Hochachtung gab Günther ihm sein Feuerzeug und Bubbles machte den Fehler seines Lebens. Kaum war der erste Rauch in seinem Mund, verschluckte er sich und atmete dabei tief ein. Als er nach fünfzehn Minuten das erste Mal wieder Luft bekam, röchelte er vor sich hin und sah nicht glücklich aus. Sein Gesicht war, entweder wegen Luftmangels oder weil ihm sehr schlecht war, aschfahl und es dauerte nicht lange und er übergab sich wieder. Diesmal war kein verständnisvoller Großvater in der Nähe und Günther saß nur da und hielt sich den Bauch vor Lachen. Kurze Zeit später hielt er sich dann den Bauch wegen der großen Schmerzen, denn Bubbles hatte in seiner Wut und mit letzter Kraft seinen Kopf in den Körper des Freundes gerammt und war anschließend zum Camper gegangen. Und er wußte, daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie wieder rauchen würde. * Nachdem Lisa den Maden-Angriff durch Bubbles´ Angelköder überstanden hatte, warf sie mehr als ein scharfes Auge auf die von ihr so behütete Kühltasche. Sie achtete sorgfältig darauf, daß niemand von der Familie ihr zu nahe kam. Was auch ernsthaft niemand von der Familie vorhatte, da alle ungefähr wußten, was sich darin befand und ihre sofort einsetzende Appetitlosigkeit bewahrten die Tasche vor plündernden Angriffen. 195

Auf ihrem Campground ging ein Ranger herum und befestigte auf jedem Holztisch einen kleinen weißen Zettel mit einer Grafik, die eindeutig einen Bären und andere Gegenstände, zum Beispiel eine offene Saftflasche und Parfümfläschchen zeigte. Niemand schenkte dem Beachtung, außer Andrea, die mit ihrem nicht vollständig ausgeprägten Wortschatz versuchte, die fremde Sprache zu übersetzen. Eindeutig waren der Bär und die anderen Grafiken zu erkennen, also konnte dies nur bedeuten, daß Bären in der Gegend waren und man sich davor nur schützen konnte, indem Süßes oder Parfümartiges ausgelegt werde, was wohl die Bären fern halten sollte. Andrea mochte Bären nicht und so ging sie, um ihr kleines, aber wohlgefülltes Schminktäschchen zu holen. Sie breitete alles aus, was sie finden konnte und von dem sie hoffte, es wäre süß oder parfümiert genug, um ihren Campground als bärenfreie Zone deklarieren zu können. Lisa, die dies sah, wunderte sich noch über das manchmal merkwürdige Verhalten ihrer Tochter, ging dann aber doch lieber ihrer Lieblingsbeschäftigung nach und pflegte die mit vielen Kulturen angereicherte Kühltasche. Eßbares sollte kühl und vor allem trocken gelagert werden, da Schimmelpilze es gerne feucht mögen. Bären hingegen mögen Eßbares in jeder Form.

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Nachdem der eines Nachts aufgetauchte Bär die angebotenen Duftstoffe intensiv geprüft, für gut befunden und anschließend Lisas Kühltasche zwecks weiterer Nahrungsaufnahme völlig aus der Form gebissen hat, gab das Schloß schließlich nach und die von Lisa sorgfältig gelagerte Nahrung lag frei. Hier relativierte sich nun die Aussage, daß Bären alles Eßbare mögen, denn was Lisa als nahrhaft aufbewahrt hatte, hielt der Bär für definitiv ungenießbar. Joghurtkulturen, umgarnt mit grünen Salatblättern zeigten sich in der vom Bären geöffneten Kühltasche und blieben auch darin, denn der Bär verschwand zunächst grunzend und hungrig. Aber offenbar beschloß er, zurückzukehren, sich bitterlich zu rächen und frustbedingt gehörige Kratzer in den Camper zu stanzen. Nachdem der Bär mit dem Camper fertig war, stellte die Familie am nächsten Morgen großflächige Kratzspuren fest, die bis auf den Grund des Metalls reichten. Und sie reichten auch um den Camper herum. Kurz gesagt, dieser Wagen mußte von außen völlig generalüberholt werden. Sie hatten, wie sich das für richtige Abenteurer gehört, natürlich auf die VollkaskoVersicherung verzichtet, die diese Schäden abgedeckt hätte. Der Schaden betrug sicher mehrere tausend kanadische Dollar, was durch ihre ohnehin schmale Haushaltskasse nicht zu finanzieren gewesen wäre. Auch Rainers Aussage, das es gut wäre, wenn ihnen ein Tanklastwagen in die Seite fahren würde, sie umkippten und der übrig gebliebene Lack in dem auslaufenden und anschließend explodierenden Benzin verbrennen 197

würde, fand nicht die Zustimmung seiner Familie, die in diesem Fall erwartete, noch im Wagen zu sitzen. Seitdem wird jedenfalls die neu gekaufte Kühltasche, umwickelt von Strippen an einem hoch hängenden Ast aufgehängt. Warum Lisa auf diese Maßnahme bestand, konnte sich keiner so recht erklären, auch der Bär nicht. Andrea jedenfalls trauerte laut, herzzerreißend und tränenreich um ihre Duftstoffe und erwog ernsthaft, mindestens drei Rechtsanwälte mit der Klageschrift gegen die Campgroundaufsicht zu betrauen. * Das Campingessen war ohnehin ein Thema für sich. Rainer war ein verheirateter Gourmet, was wie ein Widerspruch in sich anmutet. Tatsächlich aß er das Essen, das ihm Lisa Tag für Tag auftischte. Geschmeckt hatte es ihm nie. Am Anfang ihrer Ehe hatte er es aus Liebe nicht zu ihr gesagt, später dann mehr und mehr zur Hälfte aus Bequemlichkeit und zur anderen Hälfte, weil er sich ihre Frage bereits vorstellen konnte, auf die er keine ehrliche Antwort hätte geben können: " Und warum hast du bisher immer alles gegessen, was ich dir gekocht habe? Hat dir das etwa nicht geschmeckt?" Vor dieser Frage hatte er wirklich Angst und so aß er halt, was immer zuhause aufgetischt wurde. Gelegentlich, leider zu selten, konnte er ein geschäftliches Essen genießen. Und da kam der wahre 198

Gourmet zum Vorschein. Foie-de-gras-de-Canard, Filet Daurade Rouge in Salsa Balsamico (Vintage 1971), Mango-Klafutti mit Himbeer und Spumante di Querceto-Schaum, rosa gebratene Entenbrust mit feiner Sherrysauce und Créme Brulée, nichts war ihm gut und teuer genug, wenn seine Firma bezahlte. Als vor einigen Jahren sein Spesenkonto zusammengestrichen wurde, blieben als kulinarische Genüsse nur ein paar geschmackvoll in Papiertüten und Pappbecher arrangierte Fastfood-Menüs, aber besser als das Essen zuhause war es allemal, zumal Lisa dazu neigte, Trend-Essen aus der hiesigen Apothekerzeitschrift zu kredenzen. Da wurde dann die ganze Kreativität der, wie Rainer sie immer nannte, "Körnerfresser" deutlich. Feta-Bratlinge wechselten sich dann munter ab mit puren Salatblättern, die angeblich Vitamine für den ganzen Tag hätten, leider aber alle anderen lebenswichtigen Stoffe wie Fett oder ähnliches gänzlich vermissen ließen. Hin und wieder gab es auch durchaus Eßbares wie Spargelsalat mit Erdbeeren und Entenbrust. Da Lisa bei der Zubereitung aber auf die Entenbrust verzichtete, weil sie Vegetarierin war, litt die Nahr- und Schmackhaftigkeit nicht unerheblich. Auch der KefirShake mit Heidel- und Johannisbeeren schmeckte gar nicht so schlecht, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Rainer herausfand, was sonst noch alles in dem Drink war. Aber wenn sie wieder zur Hochform auflief und es Goldhirse-Birger mit Schwarzkümmelsoße oder Grünkern-Frikadellen mit Kürbismus gab, mußte er immer so lange im Büro arbeiten, bis von dem Essen nichts mehr übrig war. 199

Ähnlich verhielt es sich mit den Getränken, denn auch da hatte Lisa eine sehr eigene Meinung, die sich nicht mit den Vorstellungen der übrigen Familie deckte. Bei ihr gab es Tee. Egal zu welcher Tageszeit, ständig arbeitete der Wasserkocher auf Hochtouren, um die ganze Familie mit etwas zu versorgen, was diese definitiv nicht haben wollte. Dabei spielte es keine Rolle, welcher Art der Tee war. Chinesisch oder Englisch, grün oder schwarz, mit Früchten oder Beeren, der Tee schmeckte fast immer fürchterlich, weil Lisa dazu neigte, ihn sehr lange ziehen zu lassen. Das hatte zwar den Vorteil, daß er schnell getrunken werden konnte, weil er bereits erkaltet war, hatte aber auch den Nachteil des unangenehmen schweren und bitteren Geschmackes, weil die Zugabe von Zucker von Lisa strikt abgelehnt wurde. Ob sie denn nicht glauben würden, daß Zucker die Gesundheit beeinträchtige und schon deshalb völlig unnötig sei, fragte sie bei dieser Gelegenheit immer und die Familie brauchte keine Antwort mehr zu geben, denn Zucker war schlichtweg überhaupt nicht im Haus. Rainer mochte am Liebsten Bier und wenn immer es möglich war, ohne die Anwesenheit der Anderen. Leider ging auch keiner seiner Kollegen mit ihm in eine Kneipe, da, nicht gänzlich ohne Grund, alle Angst vor irgendwelchem Unheil hatten, das von Rainer ausging. Bubbles war genügsamer, denn ihm genügte Coca-Cola, um ihn zufrieden zu stellen. Dieses Getränk hätte er von Morgens bis Abends getrunken, wenn er es gehabt hätte, denn natürlich kaufte seine Mutter so etwas nicht und ihm fehlte das eigene Geld oder zumindest der 200

freie Zugriff auf die väterliche Geldbörse. Frank trank eigentlich alles außer Tee und da die Auswahl im Hause sehr beschränkt war, beschränkte auch er sich und trank Wasser, am Liebsten direkt aus dem Wasserhahn. Andrea fand dies immer eklig, denn Wasser sei schließlich zum Waschen da. Sie ließ Frank dies auch wissen, indem sie eines Morgens den Wasserhahn gründlich mit Seife einrieb. Als Frank nach dem Aufstehen seinen Flüssigkeitspegel auffrischte, konnte er zwar anschließend noch sprechen, unterstrich seine Worte jedoch mit großen und hübsch aussehenden Blasen, die seinen Mund verließen. Den gleichzeitig auftretenden Seifengeschmack hingegen nutzte er geschickt, um sich vor dem Zähneputzen zu drücken. Dies hätte Andrea zwei Tage später auch gern getan, als der auf Rache sinnende Frank den Inhalt ihrer Zahnpastatube durch das Rasiergel seines Vaters austauschte. Als sie den Geschmack im Mund bemerkte, war es bereits zu spät. Sie verschluckte sich und das zwar haut- aber nicht speiseröhrenverträgliche Gel führte dazu, daß sie zwei Tage lang nichts essen konnte, was aber bei den Mahlzeiten ihrer Mutter nicht wirklich schlimm war und eigentlich auch ihrer Figur guttat. Am schlimmsten waren die Diät-Anleitungen, die Lisa allesamt von ihrer Familie ausprobieren ließ, denn sie wollte nie so aussehen wie ihre zwei jüngsten Kinder, was den Leibesumfang betraf. Also machten alle eine Diät, ob sie wollten oder nicht. Und auch Rainer mußte feststellen, daß seinen Kindern eine Diät gut tun müßte, nur er selbst war damit nicht einverstanden. Zum einen hatte er bei weitem nicht die körperlichen Ausmaße 201

seiner Kinder erreicht, sondern war schon immer ein eher schlanker Typ und zum anderen war ihm der Geschmack zuwider, der diesen Speisen anhaftete. Er verdiente nicht allzu viel, aber ausreichend genug, um seine Familie mit anständigem Essen durchzubringen. Und was Lisa teilweise kochte, war zwar wenig nahrhaft, aber keineswegs schmackhaft oder wenigstens billig. Und so hatte er es sich angewöhnt, von seinem Verdienst nicht alles in den Familientopf zu werfen, sondern ein wenig einzubehalten. Das Wenige reichte, um zumindest hin und wieder heimlich essen zu gehen. Genauer gesagt reichte es nicht für die Gourmet-Menüs in den großen Hotels, wohl aber für kleinere Restaurants mit einfachem, aber einfach besserem Essen als Zuhause. Dick werden konnte er davon jedenfalls nicht. Als Bubbles zehn Jahre alt wurde, fragte ihn seine Mutter, was er sich denn wünschen würde. Die Antwort kam schnell und war deutlich: “Ein tolles Essen!“ Und er hatte auch genauere Vorstellungen, wie dieses Mahl aussehen sollte, denn es bestand lediglich aus Spaghetti mit Tomatensoße. Für diesen Vorschlag liebte ihn der Rest der Familie, der von diesem Essen ebenfalls profitieren wollte. Lisa fand den Vorschlag nicht gut, weil er ungesund war. „Wie willst du denn abnehmen, wenn du so etwas ißt? Möchtest du nicht lieber einen schönen Salat mit vegetarischen Hamburgern?“ „Auf keinen Fall!“ sagte unisono die ganze Familie. Sogar Großvater nickte sein Unverständnis über Lisas Äußerung. Und da Bubbles 202

schließlich Geburtstag hatte und sein Wunsch auch finanziell zu verkraften war, ging sie also einkaufen. Drei große Tüten vorgekochte Spaghetti und vier Gläser fertig vorbereitete Tomatensoße sollten ausreichend sein, um die Familie satt zu bekommen. Praktischerweise ließ sich alles in einer großen Plastikschüssel in der Mikrowelle zubereiten und so versammelte sich die ganze Familie am Eßtisch und wartete ungeduldig auf den Piepton, der das Ende der Garzeit bedeutete. Lisa zündete zu diesem feierlichen Anlaß sogar eine Kerze an und Rainer ging in die Küche, um das Mahl zu holen. Er öffnete die Tür der Mikrowelle und nahm die Schüssel heraus. In diesem Augenblick tropfte siedendes Kondenswasser vom Deckel, der auf der Schale lag und seine Hände verwandelten sich unverzüglich in große Schmerzen. Ebenso schnell verwandelte sich die Küche in ein rot-gelbes Schlachtfeld, weil Rainer die Schüssel nicht mehr festhalten konnte und diese seitlich und abwärts durch die Luft flog und dabei die Spaghetti mit Tomatensoße freigab. Es gab kaum einen Gegenstand in der Küche, der von diesem herrlichen Mahl nicht getroffen wurde. Lediglich die Mikrowelle, die etwa in Kopfhöhe angebracht war, blieb sauber. Schränke, Fußboden, Kühlschrank und sogar die weiße Wand mit der Rauhfasertapete waren kaum wiederzuerkennen. Die Familie, die durch Rainers laute Schmerzensschreie angelockt wurde, stand fassungslos vor dem Chaos. 203

Bubbles faßte sich als erster und schrie seinen Vater an, warum der denn sein Essen zerstört hatte. Andrea schrie mittlerweile lauter als ihr Vater und Lisa fragte, nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, ob man das Ganze nicht zusammenkratzen und trotzdem essen solle, schließlich sollte man, auch wenn es nur ungesunde Nudeln waren, Nahrung nicht verschwenden. Die Antwort auf diese Frage erübrigte sich, da Jasper, freudig mit dem Schwanz wedelnd, bereits mit allen vier Pfoten in der Soße stand und genüßlich mit der Zunge die Nudeln aufschleckte. Obwohl die erforderliche Renovierung der Küche nur zwei Tage dauerte, gab es in diesem Haushalt seit diesem Vorfall leider nie wieder ein so geschmackvolles Essen. Die Nahrung in diesem Urlaub war, da traditionsgemäß Lisa dafür zuständig war, auch ganz nach ihrem Geschmack, also aus Rainers Sicht wenig kreativ und ausgesprochen eintönig. Lisa war aufgrund ihrer Lektüre der Apotheken-Rundschau diesbezüglich hart wie Stein, ein Aggregatzustand, der manchmal auch auf ihre Speisen zutraf. Und Lisa konnte, wie Rainer im Laufe der Jahre bei seinen Beschwerden über das Essen zunehmend feststellte, auch sehr ungehalten sein, besonders, wenn sie ihre monatlichen Beschwerden hatte. Frei nach dem Motto „schäl es, koch es, brat es, oder vergiß es“ hatte Rainer sehr schnell genug von Lisas Arten der Zubereitung, der er in dieser natürlichen Umgebung nicht so einfach entkommen konnte. Als er den dritten Tag hintereinander Salatblätter, gespickt mit 204

Tomaten- und Gurkenscheiben vorgesetzt bekam, beschloß er zu handeln. Von den Kindern konnte er keine Hilfe erwarten, da diese, wo auch immer sie das Geld dafür herhatten, offenbar dazu übergegangen waren, irgendwo anders zu essen. Rainer packte also seine Geldbörse ein und schlich sich unter einem Vorwand davon. In dem nächsten kleinen Dorf angekommen war der Hamburger-Laden schnell ausgemacht. Die Bestellung war ebenso schnell aufgegeben und bestand aus zwei Hamburgern mit doppelter Fleischeinlage und ausdrücklich ohne Salat und Tomaten. Das etwas verdutzte Servicepersonal erfüllte ihm diesen sehnlichen Wunsch und auch das Bier, ein Getränk, das Lisa niemals zugelassen hätte, war kalt und schmeckte himmlisch. Solchermaßen gesättigt war er rundum zufrieden und orderte die Rechnung. Zehn Sekunden später wußte er, wovon die Kinder ihre ständigen außerhäusigen Fressorgien bezahlten und weitere fünfzehn Minuten später glänzte die Polizei durch Anwesenheit. Eine erstaunlich kurze Zeit, wenn man die Polizeidichte in dieser Gegend betrachtete. Wahrscheinlich warteten sie bereits an der nächsten Ecke auf vermeintliche Zechpreller wie ihn. Er konnte es kaum fassen. „Jahr für Jahr lassen über zwanzig Millionen Touristen weit über fünf Milliarden Kanadische Dollars im Land und ihr regt euch wegen dieser kleinen Zeche auf?“

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Alle Versuche, der Polizei die wahrhaftig Schuldigen an dieser Misere namentlich zu nennen, fanden die Beamten abstoßend. Sie mochten es in dieser Gegend überhaupt nicht, wenn jemand die Namen seiner eigenen Kinder so in den Schmutz zog, nur um seine eigene schäbige Haut zu retten. Da Rainer natürlich auch seinen Reisepass nicht dabei hatte, wurde er kurzfristig zum örtlichen Polizeirevier mitgenommen, das allerdings etwa zwei Stunden entfernt war. Rainer befand sich zweifellos in einem Dilemma. Einerseits wollte er sich nicht noch unbeliebter bei den Beamten machen, andererseits rebellierte sein Magen gegen die gerade erst genossene ungewohnte Kost. Eine Toilette, die ihm hätte helfen können, war im Streifenwagen ebensowenig zu erkennen wie die Bereitschaft der Beamten, ihn zumindest für kurze Zeit allein in den Wald zu entlassen. Als sie endlich auf dem Revier ankamen, saß Rainer völlig zusammengekrümmt und mit verhärmtem Gesichtsausdruck auf der Rückbank des Wagens und weigerte sich auszusteigen. Die Beamten, die sich zwar über Rainers Körperhaltung wunderten, andererseits aber den beständigen Gestank im Auto überhaupt nicht wahrgenommen hatten, legten dies als Widerstand gegen die Staatsgewalt aus. Diese Respektlosigkeit waren sie überhaupt nicht gewohnt, weshalb sie zu drastischeren Maßnahmen griffen und Rainer, der noch versuchte, sie zu warnen, aus dem Auto zerrten. Dies führte zunächst dazu, daß Rainer jegliche 206

Selbstbeherrschung verlor und sich der Gestank potenzierte. Die Beamten waren sichtlich angewidert und verstanden nicht, wie sich eine eigentlich zivilisiert aussehende Person so hatte gehen lassen können. Es war kein Mitleid, weshalb sie Rainer relativ schnell wieder entlassen haben. Die Personalüberprüfung ergab nichts Auffälliges und Rainers Versprechen, gleich am nächsten Tag die offene Rechnung im Restaurant zu bezahlen, beschleunigte den Vorgang. Die Beamten waren froh, daß dieser Mann endlich weg war und gaben sich nach der gründlichen Reinigung ihres Dienstwagens wieder ihrem Tagesgeschäft hin. Rainer hingegen war auch froh ob der wiedererlangten Freiheit, aber sehr einsam in dieser Gegend. Es dauerte drei Stunden, bis ein Lastwagenfahrer ihn mitnahm. Und es dauerte nur drei Minuten, bis Rainer wieder auf der Straße stand. Schließlich nahm ihn ein vorbeifahrendes altes Mütterchen mit, deren Geruchssinn nicht nur gestört, sondern offenbar ausgeschaltet war und so kam er am späten Abend und unzähligen Kilometern zu Fuß erschöpft auf dem Campground an, wo er sofort Lisas Fragen nach seinem Verbleib und dem von ihm ausgehenden ekelhaften Geruch beantworten mußte. Als er den unverfänglichen Teil seiner Geschichte erzählt hatte, bemitleidete Lisa ihn und bereitete, um ihm einen Gefallen nach diesem schweren Tag zu tun, noch schnell ein paar frittierte Zucchini mit Minzejoghurt zu. Rainer war zu schwach, um sich zu wehren.

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* Mit viel Spaß sah Rainer den Motorradfahrern zu, die anscheinend viel Freude daran hatten, den Highways entlang zu brausen. Die hatten ja auch keine Familie, sondern, wenn sie dies schon nicht allein genießen konnten, bestenfalls eine hübsche Freundin auf dem Sozius. Rainer mochte Zweiräder und es war schon immer sein Traum, auf einem Motorrad durch Kanada zu fahren und die Freiheit zu erleben. Ganz wie in dem alten Film „Easy Rider“, nur mit besserem Ende und mit einer hübschen Freundin statt mit Dennis Hopper an seiner Seite. Dummerweise hatte Rainer keinen Motorradführerschein und so erschöpfte sich sein Freiheitswillen in einer Tour mit gemieteten Fahrrädern und seiner Familie. Auch mit entsprechendem Führerschein hätte allerdings die Motorradfahrt nicht stattgefunden, denn sie entsprach nicht Lisas Vorstellung einer sparsamen Budgetverwaltung. Die große Weite des Landes ließ eine flächendeckende Besichtigung nicht zu und so beschränkte sich der Ausflug auf eine Fahrt durch den angrenzenden Wald. Rainer machte sich mit den Seinen am frühen Morgen auf den Weg, als der Nebel noch nicht durch die Sonne verdrängt wurde. Frank fand es unter seiner Würde, in seinem Alter noch Fahrrad fahren zu müssen und Andrea bemängelte, daß sie niemals so hübsch wie 208

Britney Spears werden würde, wenn man ihr auf diese Art und Weise den ausdauernden Schönheitsschlaf rauben würde. Bubbles, dem Fahrradfahren Spaß machte, weil er sich unablässig dabei bewegen konnte, bemerkte dazu nur, daß Andrea den ganzen Urlaub und das darauf folgende Jahr durchschlafen könne, es würde ihr nichts nutzen.

Lisa fand die Idee mit der Zweiradtour gut, denn sie bedeutete Bewegung und diese war schließlich gut für die Gesundheit. „Wohin fahren wir?“ fragte sie und Rainer mußte zugeben, daß seine Tour keinerlei Planung unterlag. Und so fuhren sie aufs Geradewohl los. Bubbles verschwand sofort in der Ferne und kam nur alle fünf Minuten zurück, um zu sehen, ob seine Familie und insbesondere die dicke Andrea schon aufgegeben hatte. Rainer war nach etwa einer Stunde bereits völlig genervt, weil Lisa ständig fragte, wohin sie führen und vor allem, wo sie gerade waren. Diese Frage empfand Rainer als besonders lästig, da er, wie so oft, keine Antwort darauf hatte. Sie waren einfach drauflos gefahren und hatten sehr bald die Orientierung verloren. In Deutschland wäre dies kein Problem gewesen, denn wenn man eine gewisse Zeit geradeaus fährt, kommt man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an eine Straße, konnte ein Auto anhalten und nach dem richtigen Weg fragen. Hier war das anders. Keine Straße weit und breit und auch kein 209

Spaziergänger, der darüber Auskunft hätte geben können, wo sie sich gerade befanden. Es war schon merkwürdig. Es gab jede Menge Interessenskonflikte zwischen der Erhaltung der Natur und deren menschlichen Nutzung. Allein durch die extremen Besucherzahlen in den Nationalparks wird die Natur über Gebühr beansprucht. Aber wenn man die anderen Menschen mal braucht, sind sie nicht da. Nach drei Stunden hatten sie tatsächlich eine Straße erreicht und warteten auf ein Auto, das sie anhalten konnten. Andrea merkte an, daß es besser wäre, einen Lastwagen anzuhalten, um die Räder darauf zu verstauen, denn sie hatte keine Lust mehr, weiter zu fahren. Frank ergänzte, daß es sich bitteschön um einen Schrottlaster handeln solle, der die Fahrräder auch gleich entsorgen könne. Nach einer Stunde Wartezeit erklang das wunderschöne und dringend erwartete Geräusch eines Autos. Wie sich herausstellte, war es sogar ein riesiger Holzlaster. Sie winkten freudig erregt, damit der Fahrer anhalten und sie erlösen sollte. Der winkte freudig, aber nicht erregt zurück, wunderte sich noch, warum in dieser Einsamkeit noch andere Menschen außer ihm waren und fuhr weiter. Die Gesichter der Familie vereisten, bis auf Andreas Gesicht, das diesen Zustand nicht annehmen konnte, weil es von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Selbst Bubbles hatte jetzt keine Lust mehr und verlangte von seinen Eltern umgehend etwas zu essen, vorzugsweise Hamburger mit Pommes Frites. 210

Lisa schüttelte sich bei dem Gedanken an diese fettgetränkte Mahlzeit, aber Hunger hatte sie auch. Andrea, die ihren Weinkrampf nicht in den Griff bekam, wurde lauter und Frank schlug vor, nach Beeren zu suchen. Lisa schaute stolz auf ihren Ältesten, aber Bubbles war drauf und dran, es Andrea gleich zu tun. Rainer bemühte sich redlich, so zu tun, als wäre er Herr der Lage, wurde aber von den Anderen nicht ernst genommen. Aber seinen Vorschlag, einfach den gleichen Weg zurück zu verfolgen, den sie bis hierher gefahren waren, konnten sie schlecht zurückweisen. In ein paar Stunden würde es dunkel werden und schon der Gedanken daran, im dunklen Wald fahren zu müssen, trieb Andrea wieder die Tränen in die Augen. Rainer meinte, daß sie es noch schaffen könnten, bevor die Sonne unterging und so fuhren sie los. Sehr bald stellte sich heraus, daß niemand auf dem Hinweg darauf geachtet hatte, in welche Richtung sie fuhren. Zudem machte sich Müdigkeit und vor allem körperliche Erschöpfung breit. Lisa nervte des öfteren mit ihrer Fragerei, aber die Frage, wieso Märchenfiguren wie Hänsel und Gretel mit ihrer fast genialen Wegmarkierung denn schlauer seien als der ihr angetraute Gatte, trieb ihn fast dazu, ausfallend zu werden. Rainer wußte jetzt um den Unterschied zu der eigentlich von ihm favorisierten Mottorradtour und führte schnaufend die hinter ihm fahrende und 211

teilweise wütend auf ihn schimpfende Meute an. Das die Lautstärke der Beschimpfungen schließlich immer leiser wurde, lag nicht etwa daran, daß der Zorn der Mitfahrenden geringer wurde, sondern daß er seinen eigenen Ärger und Frust in Kraft und Geschwindigkeit umsetzte und sich von den Anderen entfernte. Nur Bubbles hielt mit und freute sich, endlich mal wieder Gas geben zu können. Nach einer Weile wunderte sich Rainer über die Ruhe, die sonst nicht gerade dem Verhalten seiner Familie entsprach. Er erblickte Bubbles, aber sonst niemanden. Lisa, Frank und Andrea radelten erschöpft und daher eher gemütlich durch den Wald und versuchten gar nicht erst, Rainer und Bubbles zu folgen. Rainer fing an, sich Sorgen zu machen, was von Bubbles nicht behauptet werden konnte und stieg vom Rad ab, um auf die Anderen zu warten. Nach einer halben Stunde überlegte er, ob er zurück fahren sollte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Warum sollte er die Strecke doppelt fahren, nur weil der Rest nicht in der Lage war, ihm zu folgen? Er hätte noch sehr lange warten können, denn Lisa und die Kinder bogen an einer Weggabelung in eine andere Richtung ab. Schließlich entschloß sich Rainer, gemeinsam mit Bubbles, den er nicht auch noch verlieren wollte, weil es langsam anfing, dunkel zu werden, weiter zu fahren und gegebenenfalls Hilfe zu holen, sobald sie auf dem Campground ankämen. Zwei Stunden später schafften sie es tatsächlich. Rainer fiel vom Fahrrad und selbst Bubbles war jetzt erschöpft. Nachdem sie sich eine Stunde lang etwas erholt hatten, 212

fiel Bubbles ein, daß die Familie einmal größer war und nicht nur aus ihm und seinem Vater bestand. Rainer wußte sofort, was Bubbles meinte und erinnerte sich ebenfalls an andere Familienmitglieder. Kurze Zeit später stand Rainer an einem öffentlichen Fernsprechautomat. Schon bei dessen Anblick bekam er ein komisches Gefühl und wie sich schnell herausstellte, zu Recht, denn von Automation konnte keine Rede sein. Er steckte eine Münze hinein und wollte gerade die Notrufnummer wählen, als er von einer freundlichen, aber völlig unverständlichen Dame angesprochen wurde. Nun wollte er eigentlich mit der Polizei oder irgendeiner anderen hilfebringenden Stelle sprechen und seine letzte Münze nicht für ein Gespräch mit dieser Frau verschwenden, aber die Dame ließ nicht locker und forderte ihn immer wieder auf, mehr Geld in den Automaten zu stecken. Genau das hatte er aber nicht mehr und da die Frau auch wegen seines nicht ausreichenden Sprachschatzes nicht zu überreden war, hängte er entmutigt auf und ging zurück. Sie fuhren mit dem Camper zur nächsten Polizeidienststelle, um eine sofortige Großfahndung nach den in der Dunkelheit und im Wald verschollenen Personen auslösen zu lassen. Das ihm das Polizeirevier irgendwie bekannt vorkam, irritierte Rainer erst, als er die diensthabenen Beamten wiedererkannte. Auch sie erinnerten sich sofort und wollten ihn umgehend wieder vor die Tür setzen, denn sie hatten zwei Tage gebraucht, um den widerlichen Geruch aus ihren Amtsstuben zu bekommen, den Rainer dort 213

hinterlassen hatte. Erst als Bubbles eingriff, um seinem Vater, der sich bereits in festem Griff der Polizisten befand, wenigstens verbal zu helfen, ließen sie von Rainer ab und hörten sich die kurze Geschichte an. Als sie mit dem Lachen fertig waren, sagten sie lediglich, daß sie in der Dunkelheit nichts unternehmen könnten und am Morgen danach der Rest der Familie wahrscheinlich schon von den Bären in Gewahrsam genommen sein würde. Rainer, von dieser Vorstellung leicht beunruhigt, beschwor die Beamten, trotz ihrer gemeinsamen Vergangenheit nach seiner Familie suchen zu lassen. Unterdessen hatte Lisa den Kindern ein Bett im Wald hergerichtet. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, daß Rainer zurückkehren würde. Und sie würde es ihm heimzahlen, daß er sie so schmählich im Stich gelassen hatte. Jetzt aber hatte sie Verantwortung für ihre Kinder und würde sie beschützen, so gut sie konnte. Hungrig und völlig erschöpft schliefen sie ein. Frank wurde als erster wach, weil er einen leichten Schlaf hatte und die merkwürdigen Geräusche nicht zuordnen konnte. Er öffnete die Augen und sah in ein riesiges Geweih, das offenbar zu einem Elch gehörte. Er hatte sich schon die ganzen Tage vorher spöttisch über die Straßenschilder hergemacht, die vor Elchen warnen sollten. Seiner Meinung nach gab es in Kanada überhaupt keine und die Schilder wurden nur für leichtgläubige Touristen aufgestellt. Er revidierte diese Meinung innerhalb der nächsten zwei Sekunden, sprang auf und rannte los. Der Elch war viel zu sehr damit beschäftigt, Lisas Kleid, das offenbar aus köstlicher Jute 214

geflochten war, anzuknabbern. Um Frank konnte er sich jetzt nicht kümmern.

Lisa und Andrea wurden durch Franks Geschrei geweckt und schrien beziehungsweise heulten ebenfalls sofort los. Frank stolperte über eine Wurzel und blieb mit Schmerzen im Bein liegen und Lisa rannte mit dem Kopf gegen einen tief hängenden Ast und blieb ebenfalls benommen liegen. Nur Andrea rannte, offensichtlich noch verschlafen und verwirrt, immer im Kreis und immer durch einen Dornenbusch. Nur der Elch blieb stehen und schaute verdutzt auf das, was er da angerichtet hatte. Frank hatte sich aufgerafft und wollte nicht etwa seiner Familie helfen, sondern fliehen. Er sah das Ufer des Sees zu spät und stürzte in die Fluten, die aber zu seiner Zufriedenheit die Schmerzen in seinen Beinen kühlten. Lisa sah auf und in drei Metern Entfernung zwei Elchgeweihe, was wohl an der Gehirnerschütterung lag, die sie sich zugezogen hatte. Andrea lag auf dem Boden, heulte und meinte zu sterben, weil die vielen Kratzer doch sehr weh taten. Als sie den Hubschrauber hörten, konnten sie erst das Geräusch nicht richtig zuordnen. Wohl aber der Elch, der keine guten Erinnerungen daran hatte. Er wurde bereits, als er sich vor einiger Zeit voller Genuß auf eine Touristengruppe stürzte, zuerst betäubt und dann mit dem Hubschrauber in eine Gegend geflogen, die selbst ihm völlig fremd war. Außerdem war ihm dieses 215

ständige Schreien lästig und so trabte er davon. Lisa sprang auf und winkte verbissen mit den Armen und zu ihrem Glück hörten die Retter im Hubschrauber wohl auch den Schreikrampf Andreas. Die Rettung selbst verlief dann gänzlich unspektakulär und nicht etwa im Hubschrauber, denn die Besatzung landete nicht, sondern zeigte in eine Richtung, in die die drei Verschollenen laufen sollten. Lisa fand das ausgesprochen empörend und sie fragte sich, was das wohl für Leute waren, die Menschen in Gefahr sahen, aber nicht helfen wollten. Aber als sie nach etwa zwei Minuten an ihrem Campground waren, fing sie an, Verständnis dafür zu bekommen. Frank fiel, naß wie er noch war, sofort ins Bett und in Koma und Andrea holte sich sofort ihr kleines Schminkköfferchen, um ihre Blessuren zu verstecken und schlief dann, die Puderdose noch in der Hand, ebenfalls ein. Rainer und Bubbles schliefen vor Erschöpfung nach dieser Nacht bereits seit längerem tief und fest und nahmen die Ereignisse nur einmal oberflächlich wahr, als Andrea den Elch sah und der Schreikrampf anfing. * Nach einer langen Zeit kulinarischer Ergüsse, die durch Salate, Obst und Undefinierbarem gekennzeichnet waren ließ sich Lisa endlich erweichen, einem offiziellen Restaurantbesuch zuzustimmen. Endlich mußten die Kinder nicht mehr Rainers Portemonnaie plündern, um anschließend heimlich Hamburger zu 216

kaufen und auch Rainer freute sich, daß sie gemeinsam und trotzdem gut speisen konnten.

Sie entschieden sich für ein gutes und teures Fischrestaurant. Geld sollte keine Rolle spielen, denn so eine Gelegenheit würde bei Lisas Vorliebe für Grünzeug aller Art sicher so bald nicht wieder kommen. Und gerade der Aufenthalt an der Pazifikküste bot sich an, Fisch zu bestellen, denn der war frisch aus dem Meer und nicht durch lange Transporte gekennzeichnet. Die Auswahl des Restaurants wurde schnell getroffen, da es in dem Ort nur ein Einziges gab, das, Gott sei gedankt, nicht nur Fleisch und Pommes Frites im Angebot hatte. Lisa wollte ihre Gewohnheiten nicht gänzlich ablegen und bestellte mit den Worten „könnte ich bitte Salat haben?“ gleich eine große Portion, allerdings, der Situation angemessen, mit ein paar gebratenen Shrimps. Bubbles hielt von Fisch überhaupt nichts und bestellte die üblichen drei Hamburger. Großvater aß an diesem Abend gar nichts, weil sie ihn neben dem Camper, im Rollstuhl schlafend, vergessen hatten und Rainer und Frank bestellten gedünsteten Lachs. Andrea, plötzlich Dame von Welt, entschied sich für Hummer und Muscheln mit Weißweinsauce. Der Ober erklärte ihr, daß sie den Hummer aussuchen 217

müßte und führte sie zu einem großen Becken, in dem sich die noch lebenden Hummer übereinander stapelten. Andrea weigerte sich, eine Auswahl zu treffen, weil sie meinte, damit eine persönliche Beziehung zu dem Tier aufzubauen und Freunde esse sie nun mal nicht gerne. Also setzte sie sich wieder an den Tisch und fing an zu heulen. Bubbles, schnell davon genervt, sagte ihr, er kümmere sich darum und ging zu dem großen Becken, wo er ein besonders großes und schönes Tier für seine Schwester aussuchte. Als der Ober dazukam, zeigte Bubbles, seine Hand in das Becken steckend, auf das Tier und stellte sofort fest, wie scharf und kraftvoll Hummerscheren zupacken können. Der Ober wollte ihm den Hummer abnehmen, aber Bubbles rannte vor Schmerzen schreiend durch das Restaurant und der Hummer hielt sich tapfer an seiner Hand fest. Durch irre Verrenkungen und Schleuderbewegungen flog der Hummer schließlich in weitem Bogen durch das Lokal und die durch den Aufprall berstende Fensterscheibe.

„Wußtest du, daß Hummer eine so harte Schale haben?“ fragte Lisa ihren Ehemann, der sich vor Lachen kaum auf seinem Stuhl halten konnte. Seine Schadenfreude wechselte jedoch zu einem mitleidigen Lächeln, als er die blutende Hand von Bubbles sah. Der Hummer hatte ganze Arbeit geleistet, denn vom 218

kleinen Finger fehlte ein Stück des Nagels und Daumen sowie Zeigefinger wiesen tiefe Schnittwunden auf. Als sie die Blutung endlich gestillt hatten, erklärte Andrea, daß sie keinen Hummer mehr wolle und bestellte einen besonders reichhaltig garnierten Hamburger. Auch Bubbles bekam sein bestelltes Essen, hatte aber Schwierigkeiten, mit der letzten unversehrten Hand den Hamburger zu halten, was sich darin ausdrückte, daß er nicht nur rote Hände, sondern auch ein vom Ketchup verunstaltetes Gesicht hatte. Rainer, der, endlich einmal wieder in einem Restaurant mit richtigen Getränken, die Situation nutzte und bereits drei große Biere getrunken hatte, mußte dringend die Toilette aufsuchen. Sie war sauber und gepflegt, wie er das von seiner Heimat nicht immer kannte und so schloß er die Tür und fühlte sich wohl. Etwas irritiert, daß er den Türknauf noch in der Hand hielt und dieser nicht mehr an seinem angestammten Platz an der Tür war, versuchte er, den Griff wieder anzubringen, doch seine handwerklichen Fähigkeiten reichten auch mangels geeignetem Werkzeug nicht aus. Leicht verzweifelt, weil er trotz der dort anwesenden Familie lieber im Restaurant gesessen und Bier getrunken hätte, rüttelte er an der Tür, die sich aber keinen Millimeter öffnen ließ. Nach Hilfe rufen wollte auch nicht, denn die Situation war ihm zu peinlich. Blieb also nur der Ausstieg durch das kleine Fenster, an das er herankommen konnte, wenn er sich auf die Toilettenschüssel stellen würde. Gesagt, getan, er erreichte das Fenster und zog sich hoch. Als er etwa zur Hälfte bereits wieder in Freiheit war, stellte er fest, 219

daß er den linken Arm nicht mehr nachziehen konnte, weil die Fensteröffnung bereits mit seinem restlichen Körper gefüllt war. Zurück konnte er auch nicht mehr und so überlegte er, wie die Situation zu meistern war, ohne sich dem höhnischen Spott anderer Leute auszusetzen. Die Überlegungen wurden jäh durch den großen zähnefletschenden Hund unterbrochen, der sich direkt vor Rainers Gesicht aufgestellt hatte und recht grimmig aussah. Genau genommen waren weitere Überlegungen auch unangebracht und so schrie er laut. Nicht etwa, um den Hund zu erschrecken, sondern um Hilfe herbei zu rufen. Die kam dann sehr schnell in Gestalt eines Menschen, der offenbar den Hund bereits zu kennen schien und deshalb aus sicherer Entfernung rief, man sollte nicht so laut rufen, denn sonst würde der Hund unruhig und niemand wisse genau, was dann passieren würde. Rainer konnte vor Angst nicht aufhören und so passierte es. Der Hund kam furchterregend näher und näher, fuhr plötzlich seine riesige Zunge aus und schleckte Rainer der ganzen Länge nach über das Gesicht. Es hätte fast liebevoll ausgesehen, wenn der Schleim, der an den Lefzen herunterhing, nicht binnen zwei Sekunden Rainers Gesicht bedeckte und seine Haare in tropfnasse Strähnen verwandelte. Offenbar mochte der Hund ihn, denn er versuchte, die Sauerei, die er angerichtet hatte, wieder abzulecken. Rainer, der sich noch immer nicht wehren konnte, sah angewidert auf den Hund und den Menschen, der lässig an einer Hauswand angelehnt war, denn er konnte vor Lachen nicht mehr gerade stehen. Nach etwa fünfzehn Minuten schien er doch Schmerzen vor Lachen bekommen zu haben und half Rainer aus seiner mißlichen Lage. 220

Zurück am Tisch der Familie angekommen, stellte er fest, daß ihn offenbar niemand vermißt hatte. Lediglich Bubbles machte eine sehr unpassende Bemerkung wegen der noch immer nassen und wirr herunterhängenden Haare. Rainer, inzwischen wieder ordentlich aussehend und Lisa, die sich trotz der Shrimps in ihrem Essen wohl fühlte, waren sehr zufrieden mit dem weiteren ungestörten Verlauf des gemeinsamen Essens, denn sie unterhielten sich und lachten sogar hin und wieder. Wenngleich Unterhaltung bei ihnen bedeutete, daß Lisa fragte und Rainer mit ausschweifenden Gedankengängen antwortete.

„Hast du denn auch genügend Geld dabei?“ „Ich kann nicht genügend Geld dabei haben, wenn die Kinder ständig in der Nähe meines Portemonnaies herumlungern und nur darauf warten, es zu plündern!“ „Aber hast du denn nicht wie sonst auch eine Reserve?“ „Nein!“ „Bist du sicher?“ „Ja!“ „Auch nicht in der hinteren Hosentasche?“ „Da habe ich nie Geld!“

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„Weißt du denn gar nicht mehr, wo du dein Geld versteckst?“ „Ich habe nichts versteckt!“ „Bubbles, willst du deinem Vater nicht mal erzählen, wo er noch überall Geld versteckt hat?“ „In Franks Hosentasche und in Andreas umgekrempelten Ärmeln ihrer Bluse.“ „Stimmt das, Andrea?“ „Mammmppffffff“ „Wieso wissen deine Kinder denn immer besser wie du, wo dein Geld ist?“ „Weil sie es aus meinen Taschen stehlen!“ „Sie stehlen es?“ „Ja, sie klauen es und geben es dann aus“ „Wie können sie denn etwas ausgegeben haben, was noch in ihren Taschen steckt?“ „Sie horten es zuerst, bis genügend davon in ihrem Besitz ist!“ „Und dann geben sie es aus?“ „Ja!“ „Und warum ist es dann noch immer in ihren Taschen?“ „Es reichte wohl noch nicht für ausschweifende Einkäufe!“ „Und wer soll jetzt bezahlen?“

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„Bist du nicht heute Nacht auch an meiner Geldbörse vorbeigelaufen?“ „Wieso fragst du immer solche Sachen?“ „Weil auch du mein Geld hast!“ „Glaubst du wirklich, daß ich das nötig hätte?“ „Ja!“ „Erinnerst du dich, daß ich viel Geld geerbt habe?“ „Ja!“ „Habe ich es also nötig, zu stehlen?“ „Offenbar!“ „Muß ich mir diese Frechheit wirklich anhören?“ „Warum bezahlst du nicht?“ „Warum stellst du immer Fragen, wenn du nicht weiterweißt?“ „Wenn du jetzt nicht bezahlst, muß ich den Kindern das Geld wieder wegnehmen!“ „Hat dir das Essen geschmeckt?“ „Ich bin müde!“ Besonders spannend verlief dann anschließend die Diskussion um die Höhe des Trinkgeldes. Rainer wußte, daß Kanada teuer war und was er auch gelesen hatte, war, daß man hier viel Trinkgeld geben müsse, da die arbeitende Bevölkerung des Dienstleistungsgewerbes nicht von ihrem Gehalt, sondern genau davon leben mußte, was die Gäste zusätzlich noch im Portemonnaie hatten. Also schlug 223

Rainer zur Steigerung der Wirtschaftskraft in Nordamerika vor, zwanzig Prozent zusätzlich zur Rechnung zu geben, was Lisa aber mit einem „spinnst du?“ abzuwehren versuchte. Lisa, besorgt um ihre Haushaltskasse fragte, ob denn nicht fünf Prozent auch genügen würden und so einigte man sich schließlich darauf, zehn Prozent zusätzlich zu bezahlen, wenn der Kellner weiterhin so freundlich war. Auch die Kinder waren zufrieden und so bezahlten sie nach einigen Diskussionen mit dem Ober um den verlorengegangenen Hummer die Zeche und zogen trotz der völlig überzogenen Rechnung, wegen der sie die vereinbarte Höhe des Trinkgeldes drastisch kürzten, fast vergnügt zum Campground, wo sie Großvater sogleich erzählten, wie gut es geschmeckt hatte. * Großvater war, wenn er nicht gerade schlief, mit einer Sturheit gesegnet, die fast an Selbstzerstörungstendenzen erinnerte. Jeder in der Familie wußte und respektierte dies, weil man ohnehin nichts dagegen unternehmen konnte, da Alterssturheit in der Regel ein Privileg alter Menschen ist, die es selber nicht merken. Und so verwunderte es auch niemand, daß sich Großvater nach den Essensbeschreibungen der Familie wutentbrannt mitsamt seinem Rollstuhl um 180 Grad drehte und ihnen den Rücken zuwandte. Und da sie alle 224

sein Verhalten respektierten, drehten auch sie sich nicht um. Sie hätten sich auch sonst nicht umgedreht, da ihnen Opas Verhalten eigentlich egal war, es sei denn, er nervte wieder durch lautes Klopfen mit dem Stock. Aber auch sonst hätten sie lediglich erwartet, dass er einfach einschlief und es somit keinen Grund gab, ihn weiter zu beachten. Hätten sie ihn beachtet, hätten sie auch gesehen, wie Großvater langsam, aber langsam immer schneller werdend und entschieden gegen seinen Willen die Böschung hinter dem Camper herunterfuhr. Und sie hätten Großvaters mangels Kehlkopf stummen Schrei gehört, denn Großvater sah jetzt mehr wie sie, zum Beispiel, daß die Böschung direkt zur Steilküste führte. Aber er war, wie erwähnt, mit einer Alterssturheit gesegnet, die den stummen Schrei nicht lauter werden ließ. Zudem schmerzten ihm die Hände, weil sie in den Bemühungen, die rasante Rollstuhlfahrt abzumildern, anfingen zu rauchen. Er hatte fast das Gefühl, sie brannten bereits, was auch daran gelegen haben könnte, daß sie anfingen, Blasen zu schlagen. Doch Gott sei Dank löschte der Flugwind dieses Feuer, als er so annähernd dreihundert Meter in freiem Fall die Steilküste überwand.

Und noch etwas verlief eigentlich zu seiner Zufriedenheit. Er mochte es noch nie, sich unbekleidet 225

vor Anderen zu zeigen, was nach Abschluß dieses Fluges mit anschließendem Aufschlag wohl nicht zu vermeiden gewesen wäre. Und so fügte es sich zu seinen Gunsten, daß er sich noch während des Fluges von seinem Rollstuhl trennte, der auf einem großen Felsbrocken zerschellte. Großvater selbst verschwand in einer tiefen Felsspalte, wo ihn wohl die nächsten hundert Jahre niemand finden würde, was ihm in seiner aktuellen Lage allerdings nicht relevant erschien, denn die Ohnmacht setzte bereits nach etwa der halben Strecke bis zum Aufprall ein. Tatsächlich wurde sein Rollstuhl drei Monate später von Klippenwanderern gefunden, die sich noch wunderten, warum jemand seinen Rollstuhl auf diese Weise entsorgt hatte. Das Großvater nicht mehr dabei war, merkten sie eigentlich nur dadurch, daß alle nachts einigermaßen ruhig durchschlafen konnten, denn Opa mußte nicht mehr bei seinen üblicherweise drei nächtlichen Toilettenbesuchen betreut werden. Und sein lautes Schnarchen störte plötzlich ebenfalls nicht mehr. Ansonsten wurde er nicht weiter vermißt, da er ohnehin ständig schlief. Merkwürdigerweise war es Bubbles, dem es zuerst auffiel. Zwei Tage nach Opas Sturz fragte er seinen Vater, wo denn der Rollstuhl war, in dem sein Großvater sich üblicherweise bewegte. Bubbles hatte nämlich große Freude daran, während Großvaters Toilettenbesuche, die tagsüber sehr lange dauern konnten, mit eben diesem Rollstuhl wilde Fahrten auf den Campgrounds zu unternehmen. Irgendwie fehlte ihm das jetzt.

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Rainer, erstaunt über Bubbles Frage, fragte seinerseits die anderen Kinder und Lisa fragte, wonach oder nach wem sie suchten. Schließlich einigte man sich darauf, daß Großvater wohl vorzeitig abgereist war. Allerdings warf diese allgemeine Übereinstimmung die Frage auf, wie er das wohl bewerkstelligt hatte, mitten in Kanadas wildem Westen, ohne Aussicht auf vorbeifahrende Taxis zum Flugplatz und vor allem ohne Flugticket und Ausweispapiere, die sie ihm wegen seiner zeitweiligen Senilität abgenommen hatten. Nach kurzer Diskussion zu diesem Thema wendete man sich schließlich wichtigeren Dingen zu, wie beispielsweise, was es denn am Abend zu essen geben solle. Großvater war von diesem Augenblick an auch im Geiste der Familie nicht mehr präsent. * Lisa liebte nicht nur alles, was vulkanischen Ursprungs war, sondern die Natur insgesamt. Und sie teilte dabei ihre Liebe auf Pflanzen und Tiere gleichmäßig auf. Je größer die Tiere, desto interessanter wurden sie. Früher konnte sie mit den Kindern noch in den Zoo gehen und sich stundenlang für Elefanten oder Nashörner begeistern. Seitdem diese sich aber nur noch für Mädchen, Mädchenmode oder gar nichts mehr interessierten, brauchte sie für den Zoo keine Familienkarte mehr zu lösen. Bereits auf der Fahrt zum nächsten Campingplatz fielen ihr mehrere Schilder auf, die Whale-watching anpriesen. Mit dem Boot hinausfahren und die von ihr, die sonst 227

so gar nicht zur Romantik neigte, so geliebten Wale in freier Natur zu beobachten, war ein faszinierender Gedanke. Der Rest der Familie fand diesen Gedanken absurd. Warum sollte man so weit aufs Meer hinausfahren, nur um einen Wal zu sehen, wenn zuhause der Zoo gleich zwei davon bietet, die noch nicht einmal wegschwimmen konnten? Aber Lisa ließ sich jetzt nicht mehr beirren:" Warum soll ich die Gelegenheit nicht nutzen? Oder geht ihr mit mir in den Zoo?" Frank und Bubbles hatten diese Frage schon erwartet und sich deshalb anderen Dingen zugewandt. Andrea wollte lediglich wissen, welche modischen Kleidungsstücke aus Walhaut gemacht werden und Rainer überprüfte im Geiste seine Geldbörse, denn die Werbeschilder für Whale-watching wiesen unmißverständlich einen Betrag aus, den er für unverschämt hielt und der eigentlich nur die Anzahl aller Wale in allen Weltmeeren bedeuten könne, nicht aber den Preis für die Ausfahrt. Gleichwohl wollte er seiner Frau den Urlaubsspaß nicht vermiesen. Also zückte er die geforderten 55 kanadischen Dollar und wünschte ihr viel Spaß. Sie würden dann schon mal zum Campground, der von dort aus gut zu Fuß erreichbar war, vorfahren. Lisa nahm erfreut das Geld. Dafür liebte sie ihren Rainer. Zur richtigen Zeit hatte er das Richtige getan, nämlich sofort das für ihre Expedition notwendige Geld herausgerückt. Als Lisa am Kassenhäuschen ankam, war die Familie schon weg. Das Whale-watching an sich erwies sich dann aber als so nicht durchführbar. Wie ihr der 228

Kassierer erklärte, müßten sich für die Bootstour mindestens zehn Passagiere einfinden, sonst lohne sich der beträchtliche Einsatz des Dieselöls nicht. Wie der Mann, der anscheinend auch gleichzeitig der Kapitän des kleinen, aber stolzen Schiffes war, erläuterte, müsse er schließlich eine Familie ernähren und könne sich Fahrten nicht leisten, bei denen er kein Geschäft machen würde. Aber er hatte auch gleich zwei praktikable Vorschläge parat. Lisa, die völlig allein und ohne Mitfahrer dastand, solle doch einfach noch neun Leute anheuern, die mitfahren und natürlich bezahlen würden. Auf Lisas Frage:" Wo soll ich die denn hernehmen?" konterte er mit der zweiten Möglichkeit, Lisa könne ja für zehn bezahlen, dann hätte sie ihre Wale und er sein erbärmliches Auskommen. Lisa wies ihn forsch in seine Schranken, was aber nur dazu führte, daß er das Kassenhäuschen schloß und Feierabend machte. Lisa war aber nicht mehr zu bremsen, sie wollte und sie würde Wale sehen. Und zwar in freier Natur! Während sie sich noch den Kopf zermarterte, wie sie dies bewerkstelligen könne, fiel ihr plötzlich ein anderes Werbeschild auf, das sich auf die stundenweise Vermietung von Kanus und Kajaks spezialisiert hatte. Eine kurze Lektüre des Schildes reichte, um festzustellen, daß ihr Geld für eine fünfstündige Fahrt ausreichte und zudem noch fünfzehn Dollar übrigblieben, die sie Rainer unter keinen Umständen wieder zurückgeben würde. Endlich konnte sie Wale sehen und sich nach dem Urlaub von dem restlichen 229

Geld die langersehnte geflochtene Jutehandtasche kaufen. Das Kajak war schnell gemietet und die kurze Einweisung in die Bedienung reichte aus, obwohl sie in dieser Zeit mehrfach Salzwasser schlucken mußte. Der Pazifik war eben nicht ganz so zahm wie die Ostsee, wo sie schon einmal den Versuch unternommen hatte, in diesem kleinen Plastikschlauch trocken zu bleiben. Aber sie lernte schnell, wie man die Eskimorolle bewältigte, ohne dabei abzusaufen. Also ging es schon kurz darauf los. Sie war recht kräftig gebaut und so ging es auch schnell voran. Sie hatte sich vorher noch erklären lassen, wo die Wahrscheinlichkeit, daß Wale auftauchen, am Größten sei. Bereits nach zwei Stunden konnte sie das Ufer kaum noch sehen, was entweder an der mittlerweile großen Entfernung dorthin oder an den immer höheren Wellen lag, zwischen denen ihr Kajak zum Spielball wurde. Aber die Wellen machten ihr nichts aus, zumal sie immer sicherer wurde, daß die Wale bald zu sehen sein würden. Sehr bald, wie sich herausstellte, um nicht zu sagen, unverzüglich. Ein aus Sicht des tiefliegenden Kajaks riesiger breiter schwarzer Rücken erhob sich leicht über der Wasseroberfläche und ein großer Strahl schoß mit einem prustenden Geräusch etwa dreißig Meter von Lisa entfernt in die Höhe. Lisa, übermannt von der Gewaltigkeit dieser Darbietung verspürte keinerlei Angst sondern glaubte, daß dieses Tier sie nur 230

begrüßen wolle, denn Wale sind friedvolle und schließlich von Plankton lebende Meeresbewohner. Sie wollte näher heran, da sie früher einmal gelesen hatte, daß Wale, oder vielleicht auch Delphine, sehr gelehrig seien und durchaus Kontakt zu den Menschen suchten. Wie anders war es sonst zu erklären, daß Tausende Wale jedes Jahr in die Fangnetze schwammen, wenn nicht wegen der versuchten Kontaktaufnahme? Leider verschwand der Wal wieder unter der Wasseroberfläche. Auch Lisas Versuche, seine Neugier mit eigenartigen gutturalen Lauten zu erwecken, fruchteten zunächst nicht. Lisa bereute, daß sie nicht mehr über Wale und deren Ausdrucksweise wußte. Schließlich entschloß sie sich, die am Bug des Kajaks befestigte Leine ins Wasser zu halten, um ihrer Kontaktfreudigkeit Ausdruck zu verleihen. Der Wal muß dies mißverstanden haben, denn er tauchte auf und sofort wieder unter, wobei seine furchteinflößende Schwanzflosse auf die Wasseroberfläche schlug und das Meer um Lisa herum anfing, zu schäumen. Lisa kannte keine Angst, zumindest bis dahin nicht, denn ihr fiel ein, daß sie nur sehr unzureichend schwimmen konnte und deshalb auf keinen Fall ihr Wasserfahrzeug loslassen dürfe.

Dem Wal hingegen schien das Spiel mit der Leine zu gefallen. Er tauchte auf und wieder unter und Lisa tauchte auf und wieder unter, bis sie beschloß, nicht mehr mitzuspielen, da sie soviel Salzwasser nicht 231

gewöhnt war. Nicht so der Wal, der Salzwasser besser vertrug und dessen Schwanzflosse sich mit der Leine verkeilte. Lisas weitere Berg- und Talfahrt gefiel ihr gar nicht, denn ihr ging so langsam die Luft aus. Dummerweise verfing sich die Leine, mit der sie den Wal ködern wollte, auch um ihr Handgelenk und verband sie enger mit dem Tier, als ihr lieb war. Der Wal war eindeutig der Stärkere und er spielte mit ihr, ob sie wollte oder nicht. Schließlich wurde sie aus dem Kajak geschleudert und die Leine, von der sie noch kurzfristig meinte, sie könne ihr helfen, verwickelte sie eng mit der riesigen Schwanzflosse des Wals. Der Anblick hätte Käpt´n Ahab zur Ehre gereicht. Hin und wieder auftauchend, aber seit längerem ohne Bewußtsein, hing sie gefesselt an der Schwanzflosse und ein Arm machte je nach Tauchrichtung winkende Bewegungen, als ob sie der Welt Lebewohl sagen wollte. Der Wal verlor alsbald die Lust am Spielen und gab sich seinem weiteren Tagewerk, etwa dem Planktonessen hundert Meter unter der Wasseroberfläche hin, ohne seinem Anhängsel weiter Beachtung zu schenken. Das Lisa nicht mehr da war, merkten alle sofort an dem wesentlich besseren Essen. Rainer hatte, ohne sich Lisas Abwesenheit zunächst richtig bewußt zu sein, die Aufgabe des Kochens übernommen. Und plötzlich gab es nicht mehr trockene Salatblätter und Gemüseburger mit geraspelten Karotten, sondern saftige T-BoneSteaks mit Kartoffeln, die in der Glut des Lagerfeuers geröstet und mit Sauercreme verfeinert wurden. In ihrer zwanzigjährigen Ehe waren Rainer und Lisa nie wirklich für längere Zeit getrennt. Urlaub machten sie 232

immer gemeinsam und lediglich Rainers Arbeit verschaffte ihm die nötige Erholung von Lisa. Jetzt war sie plötzlich nicht mehr da und Rainer fragte sich, ob sie ihn jetzt verlassen hatte, denn trotz der Kinder fühlte er sich einsam und er vermißte ihre Fragen, auf die er, wenn er denn wollte, so herrlich ausschweifend reden konnte. Die Sachlage war klar: hatte sie ihn verlassen, würde sie zum Wiedersehensessen im Berliner Funkturmrestaurant wahrscheinlich gar nicht erscheinen, was für ihn billiger wäre. Andererseits kämen bei einer Scheidung nicht unbeträchtliche Anwaltskosten auf ihn zu und der schmutzige Prozeß hätte möglicherweise Unterhaltszahlungen für Lisa zur Folge. Eher zu verschmerzen war da schon der wahrscheinliche Verlust der Berechtigung, die Kinder zu sehen. Also hoffte er im Stillen, daß Lisa einfach nur die Nase voll hatte und, wie zuvor schon Großvater, zurückgeflogen war. Egal, an der Tatsache, daß sie weg war, konnte er nichts ändern und so versuchte er, die Tage trotzdem zu genießen, was ihm auch ausgesprochen gut gelang.

* Andrea war sehr geschichtsbewußt. In der Schule war Geschichte schon immer ihr Lieblingsfach, da Sport für sie überhaupt nicht in Frage kam. Auf den wenigen Reisen, die sie in ihrem kurzen Leben gemacht hatte, 233

interessierte sie sich immer auch für die Geschichte der besuchten Orte. Als sie hörte, daß ganz in ihrer Nähe wieder ein altes und völlig verlassenes Goldgräberdorf war, schnappte sie sich ein Fahrrad und fuhr hin. Das Dorf war tatsächlich verlassen und sah recht gruselig aus. Die alten Holzhäuser waren nicht mehr in Bestzustand und die Straße sah aus wie in einem Wildwestfilm, staubig und mit vom Wind umhertreibenden Grasbüscheln. Hier hatten also die alten Goldgräber gelebt, sich aus materiellen Gründen gestritten und duelliert, wie sie aus einem der besagten Filme wußte. Aus gutem Grund verzichtete sie allerdings darauf, ihre Augen nach möglicherweise auf dem Weg liegenden Goldklumpen suchend auf den Weg zu schicken. Sie besichtigte statt dessen die offenstehenden Häuser und ging auch in die bereits zur Hälfte eingefallene Kirche. Sie erkundete, wie die Menschen damals hier gelebt haben müssen. Und die Lebensweise gefiel ihr ganz und gar nicht. Alles war sehr dreckig, was sie, die sie im Gegensatz zu ihren Geschwistern eher reinlich war, befremdet feststellte. Sie roch förmlich den Gestank, der von Menschen ausgehen mußte, die sich trotz des vielen Staubes aufgrund des vorherrschenden Wassermangels nicht waschen konnten. Angst hatte sie eigentlich nicht, wenngleich sie hinter jedem Gemäuer zumindest eine dreckige Person vermutete, die ihr auflauern wollte, während sie die einzige große Straße entlanglief, die der Ort zu bieten hatte. Schließlich entdeckte sie am Ortsrand einen großen Brunnen und stellte sogleich fest, daß sie schon recht

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lange unterwegs war und dementsprechend großen Durst hatte. Andrea merkte, wie sie das Gleichgewicht verlor, sofern man ob der Leibesfülle kaum mehr von gleich sprechen konnte, denn ihr Kopf war definitiv leichter als ihre Beine. Sie rutschte trotzdem kopfüber und angeschoben vom Rest ihres fülligen Körpers in den antiken Brunnen und hing zunächst einmal fest. Ihre Schreie verhallten, da in Richtung Brunneninneres gerufen und mangels anderer Menschen in der weiteren Umgebung, ungehört. Immerhin fiel sie nicht, sondern hing zu ihrer Erleichterung etwa einen Meter unterhalb der Oberfläche fest. Tränen schossen ihr in die Augen, aber nicht, weil sie wie sonst auch, heulte, sondern weil sie mit dem Kopf nach unten hing, was zusätzlich zu einer gewissen Gesichtsröte führte. Sport war zwar nie ihre Leidenschaft, ein vorheriges Training hätte aber auch nicht viel geholfen. Wäre sie sportlicher und deshalb vermutlich auch dünner, würde sie jetzt nicht festhängen, sondern wäre bereits die etwa dreißig Meter bis zum Brunnenboden durchgereicht worden, wie sie zunächst erleichtert feststellte. Allen Mut zusammennehmend, holte sie tief Luft um die Kraft für den rückwärtigen Ausstieg zu sammeln. Ihr etwas unförmiger Körper bewirkte jedoch das Gegenteil. Statt Kraft zu sammeln verdichtete sich ihr Körper an gewissen Stellen, zog sich zusammen und sorgte so für freie Fahrt nach unten. Den Aufschlag und die Tatsache, daß am Brunnenboden wirklich Wasser war, spürte sie nicht mehr, denn die harten Brunnenwände verwandelten ihren Kopf in etwas, was 235

noch häßlicher aussah als vorher, was auch zu einer gewissen Bewußtlosigkeit führte. Etwa ein Jahr nach diesem dramatischen Zwischenfall wurde der Brunnen geschlossen. Niemand konnte sich die offenbar durch das Brunnenwasser aufgetretenen Vergiftungsfälle bei vielen Touristen, die das kleine Dorf besuchten, erklären. Aus Mangel an Geld wurde auch nicht weiter nachgeforscht, denn der SponsoringGedanke war bei der Aufstockung finanzieller Mittel für die Abtragung von Brunnen noch nicht allzu weit verbreitet. Nun, Bubbles interessierte auch das Verschwinden seiner Schwester nicht sonderlich, Frank und sein Vater hingegen waren ernsthaft besorgt, denn Andrea war irgendwie nicht selbständig genug, um allein nach Deutschland zurück zu fliegen. Also machten sie sich schon zwei Tage später auf die Suche, die sie jedoch nach zehn Minuten abbrachen, weil sie nicht wußten, wo sie mit der Suche anfangen sollten und weil es bereits anfing, dunkel zu werden. Rainer überlegte hin und her, wie er das sicher recht üppige Wiedersehensessen bezahlen solle, denn der Urlaub war bis dahin wesentlich teurer als geplant. Insbesondere die Freßorgien seiner Kinder und manchmal auch von ihm seit der vermuteten Abreise seiner Ehefrau kosteten ein kleines Vermögen. Aber er behielt sich die Entscheidung darüber, ob er überhaupt zu dieser Wiedersehensfeier gehen würde und, weil er sie nicht auslösen würde, statt dessen Frau und Kinder 236

abwaschen müßten, vor. Vielleicht könnte er, um die Strapazen des Urlaubes besser verarbeiten zu können, auch ganz allein in ein ganz anderes Restaurant, welches dann auch wesentlich besser und damit teurer sein dürfte, gehen. Über diesen Gedanken schlief er dann trotz der Sorge um die stete Verringerung der Familiengröße mit einem Lächeln im Gesicht ein. * Bubbles liebte das Meer. Das lag zum einen daran, dass der Pazifische Ozean fast genauso wild war, wie er selbst, zum anderen war es der Teil der Welt, auf dem er sich allein, also ohne nervige Familie aufhalten und seine jugendliche ungestüme Kraft austoben konnte. Er schwamm zwar nicht gern, hatte aber viel Freude am Wassersport mit allerlei Geräten wie Wasserskiern oder auch nur einfachen Luftmatratzen, sofern sie sein Gewicht aushielten. Und so verwundert es nicht, daß Bubbles, als er das Schild mit der Aufschrift „Jetski zu vermieten“, Luftsprünge machte. Zumindest bis er den Inhalt seines Portemonnaies überprüfte, der bei weitem nicht ausreichte, um auch nur zwei Minuten mit dem ersehnten Sportgerät zu fahren. Die Geldbörse seines Vaters zu leeren hatte keinen Sinn, denn die war bereits leer, wie er am Sättigungsgrad seiner Geschwister erkannte. Aber Bubbles hatte viel Phantasie. Sein Körperumfang war der eines übergewichtigen Achtzehnjährigen und die Kreditkarte seines Vaters in greifbarer Nähe. Da zwischen ihm und seinem Vater Namensgleichheit 237

herrschte, war der Mietvertrag für einen Tag Benutzung der Jetski, die auch noch mit einem starken Motor ausgestattet waren, schnell geschlossen. Und so raste Bubbles vom Strand weg mitsamt der Kreditkarte seines Vaters hinaus auf das offene Meer. Das das Wetter nicht allzu gut war, störte ihn überhaupt nicht. Auch die dicht vor ihm liegende Nebelwand fand er eher interessant als furchteinflößend. Während er über das Wasser raste, erinnerte er sich an einen Film, den er im Fernsehen gesehen hatte. Da fuhr ein Mann auch durch eine Wolke und es ist ihm nichts, zumindest nicht gleich, passiert. Und so war Bubbles innerhalb weniger Minuten Fahrt mit Vollgas inmitten der riesigen Nebelwolke. Alles, was er hören konnte, war das dröhnende Geräusch seines Jetskis. Aber Bubbles hatte keine Angst. Auch die Tatsache, dass er wegen des dichten Nebels die Hand nicht vor den Augen sehen konnte beunruhigte ihn nicht. Denn die Hände benötigte er ohnehin, um den Jetski über die ansonsten ruhige See zu steuern und bei diesem Nebel gab es ohnehin niemanden, der sich wie er auf das Wasser gewagt hätte. Die bislang fehlende Sicht fiel ihm auch gar nicht sonderlich auf.

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Er bemerkte sie erst, als dicht vor ihm die riesige Rückwand eines riesigen Öltankers auftauchte, der just in dem Moment, als Bubbles es gerade noch schaffte zu bremsen, die Turbinen anliefen ließ, um seinen Ankerplatz zu verlassen. Als Bubbles merkte, daß die riesige Stahlwand offenbar kleiner wurde, lag das keineswegs daran, daß der Tanker sich entfernte. Jedenfalls nicht ohne ihn. Die große Gischtwelle nahm ihm den Blick auf den Stahlkoloß und zog ihn langsam unter Wasser. Das ihm dabei so langsam die Luft ausging, bemerkte er zunächst gar nicht, denn er fing an zu rotieren. Genauer gesagt fing die Schiffsschraube an zu rotieren und bezog Bubbles in diese Bewegung mit ein, zog ihn immer näher heran und stellte schließlich Körperkontakt her. Bubbles hatte riesiges Glück, daß er das alles nicht mehr richtig wahrnahm, sonst wäre ihm vermutlich schlecht geworden. Bei der direkten Begegnung mit der schnell drehenden stählernen Schraube war er bereits mit den Gedanken ganz woanders. Und so kam es, daß sich Bubbles ebenso unfreiwillig wie leider auch unvollständig in Richtung Südamerika aufmachte.

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Rainer, der sich wieder einmal Sorgen um die schrittweise Verkleinerung seiner Familie machte, freute sich jetzt aber gleichzeitig auf die Wiedersehensfeier mit dem abhanden gekommenen Rest der Familie, denn er hatte beschlossen, nicht in das verabredete, sondern allein in ein Nobelrestaurant zu gehen. Dies würde es ihm daheim sicher sehr erleichtern, wenn die übrige Familie wütend auf ihn war, weil er ihre Rechnung nicht bezahlte. Schließlich ließen sie ihn ja jetzt, bis auf den übriggebliebenen Frank, offenbar auch allein.

* Und da Rainer jetzt mit seinem ältesten Sohn allein war, fand er es eine gute Idee, Frank das Fahren beizubringen, denn es hätte ja sein können, daß ihm etwas passiere und er nicht mehr selbst zu fahren in der Lage war. Frank war natürlich begeistert, wollte er doch schon lange seinen Führerschein machen, aber die finanziellen Möglichkeiten seines Vaters erforderten andere Prioritäten. Jetzt war es endlich so weit. Stolz saß er hinter dem Steuer und sein Vater erklärte ihm völlig überflüssigerweise, wozu Lenkrad und Bremse dienten und wo diese zu finden waren. Er war schließlich überzeugt davon, bereits fahren zu können, da er oft genug seinem Vater dabei zugesehen hatte. Und jetzt war es sogar noch einfacher, weil der Camper eine Automatikschaltung besaß. Rainer war von den 240

Fahrkünsten seines Sohnes noch nicht so überzeugt und er erklärte alles akribisch genau. Schließlich wurde der Motor angelassen und bei der ersten Berührung von Franks Fuß mit dem Gaspedal schoß der Wagen nach vorne und wurde nur dadurch sofort wieder abgebremst, weil Frank vor Schreck den Fuß zurückzog und die Handbremse noch angezogen war. Glücklicherweise war nichts weiter passiert, denn Rainer hatte wohlweislich den Camper so geparkt, daß Frank nach vorne hin genügend Platz haben würde. Den brauchte er auch, denn sein zweiter Versuch schleuderte den Wagen zwar nicht mehr ganz so weit nach vorn, aber dafür kamen die Bäume bedrohlich nahe. Franks Feinmotorik paßte sich dem staken Motor an und vorsichtig lenkte er den Camper um die Bäume herum und fuhr zur Straße. Dort angekommen gab es kein Halten mehr für ihn. Er drückte aufs Gas und der Wagen fuhr mit mindestens achtzig Stundenkilometer geradeaus. Rainer versuchte noch, seinem Sohn zu erklären, daß man auch langsamer fahren könne, aber seine Worte waren zu gepreßt und unverständlich, weil er sich einen Arm vor sein Gesicht hielt und mit dem zweiten den Haltegriff über seinem Kopf fest umklammerte. Auch die Tatsache, daß sie sich noch immer in einem Nationalpark befanden, wo eine Höchstgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern vorgeschrieben war, kümmerte Frank in seinem Fahrrausch nicht.

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Besonders die Straßenkreuzungen brachten Rainer an den Rand der Verzweiflung, denn in Amerika gab es Kreuzungen, bei denen an allen vier Ecken große rote Stop-Schilder standen. Frank hatte dafür kein Verständnis, denn seiner Meinung nach dürfte, wenn man sich daran hielte, niemals irgendein Auto die Kreuzung überqueren, was dem Sinn einer Straßenkreuzung widersprach. Also fuhr er, weil alle anderen Autos zunächst anhielten, munter drauflos, weil er die Regelung nicht kannte, daß immer derjenige zuerst fährt, der zuerst an der Kreuzung angekommen ist. Dies führte zu einem bei den ansonsten eher ruhig agierenden amerikanischen Autofahrern zu einem wilden Hubkonzert, das Frank und Rainer aber nicht mehr hören konnten, weil sie mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit bereits an der nächsten Kreuzung angekommen waren. Frank, jung, enthusiastisch und schließlich zum ersten Mal am Steuer, kümmerte das ebenso wenig, wie die Tatsache, daß sie möglicherweise schon von der Polizei gesucht wurden, denn die Ausweichmanöver der anderen Autos führten auch zu dem einen oder anderen kleineren Unfall mit Blechschaden. Nach zwei Stunden wilder Fahrt, bei der Frank immer sicherer wurde, ging ihnen das Benzin aus. Sie waren beide zu sehr auf die Straße fixiert und merkten so nicht, daß die Benzinnadel stetig zurückging. Da sie auch nicht wußten, wo sie sich befanden, konnten sie nur auf Hilfe warten, die in Gestalt eines netten Autofahrers dann auch kam. Er verkaufte ihnen einen Benzinkanister, der bis zur nächsten Tankstelle reichen sollte und verlangte dafür, seine Monopolstellung 242

ausnutzend, einen horrenden Preis, den Rainer zähneknirschend mangels Alternative auch bezahlte. Den weiteren Weg fuhr dann sicherheitshalber wieder Rainer. Im nächsten Dorf fanden sie eine Tankstelle und Rainer bog ab. Das die Höhe des Campers und das niedrige Dach der Tankstelle gut zusammenpaßten, merkten sie an dem kratzenden Geräusch, als sich die obere Lackschicht des Campers und die Stahlträger der Tankstelle vereinigten. Rainer war aber überzeugt, daß dies bei der Rückgabe des Campers nicht bemerkt werden würde, denn die Kratzer würden sicher mit denen des Vorfalles auf der Fähre nach Vancouver Island farblich gut harmonieren. Die Rückfahrt durfte dann wieder Frank übernehmen. Er war mittlerweile gut trainiert und fuhr schnell, aber relativ sicher zum Campground zurück. Erst als sie dort ankamen und zu ihrem Platz fuhren, erwischte er in einer Kurve einen Baum, der eine kräftige Beule in die Wagenseite drückte. Das die unteren Äste des Baumes auf dem Dach entlangschrammten fiel dagegen nicht mehr ins Gewicht, denn dort war der Lack bereits ab. Am Abend saßen sie nebeneinander am Feuer und überlegten, ob sie den Schaden vielleicht selbst beheben könnten, verwarfen die Idee jedoch mangels Werkzeug und Kenntnissen im Fahrzeugbau sowie dem Lackieren von Karosserien. * 243

Tags darauf war Frank allein im Wald. Er genoß dieses Gefühl, denn seitdem er eine Freundin hatte, ging er natürlich immer mit ihr spazieren. Was ihn weniger beglückte, denn seine Freundin maulte gern. Mal war ihr zu warm, dann, besonders wenn sie völlig durchgeschwitzt war, wieder zu kalt. Regen mochte sie ebenso wenig wie Sonne. Das einzige, was sie offenbar mochte, war Frank, weshalb sie ihm ständig auf der Pelle hockte. Aber bei seinem Aussehen blieb ihm die Qual der Wahl bezüglich des weiblichen Geschlechtes erspart. Daher ergab er sich seinem Schicksal und nahm die vermutlich Einzige, die er wohl jemals haben konnte. Deshalb genoß er dieses Gefühl der momentanen Einsamkeit. Vogelgezwitscher und raschelnde Geräusche der Streifenhörnchen wechselten sich mit Vogelgezwitscher und anderen raschelnden Geräuschen ab und vermittelten einen ungetrübten Eindruck von Natur. Während Frank im Wald so dahinschlenderte, hörte er hin und wieder leise Geräusche hinter sich, die fast diskret waren und die er deshalb kaum bemerkte. Erst als der Bär auf einen quer über dem Weg liegenden Baumstamm trat und der wie Kleinholz in der Mitte zerbrach, drehte sich Frank erschreckt um.

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Der Bär und Frank sahen sich verdutzt in die Augen. Wer mehr und wer weniger verdutzt war, erwies zunächst als unerheblich, denn der Bär nutzte den Vorteil des ersten Hiebes. Frank, der sich mit der Situation zwar nicht anfreunden konnte, sie aber so langsam realisierte, wunderte sich über das viele Rot vor seinen Augen. Der Bär hingegen, der offensichtlich an seinem neuen Spielkameraden Freude fand, hob zum zweiten Mal die riesige Pranke und machte es Frank damit schwer, noch wegzulaufen. Der versuchte, sich kriechend und dem Bär drohend, zu entfernen, wobei seine Wortwahl eher unhöflich war und aufgrund der schweren Blessuren im Gesicht dieses zudem sehr schmerzte. Gerade als er sich vornahm, sich ernsthaft zu wehren, kam der dritte Hieb und machte aus Frank einen leblosen Körper, der zu nichts anderem mehr taugte, als von dem Bären in eine Höhle geschleppt zu werden. Da Bären eher Beeren und Fische aßen, taugte Frank auch nicht als Winternahrung und so verlor der Bär recht bald die Lust, den Kadaver hinter sich her zu ziehen. Frank, nicht mehr unter den Lebenden weilend, machte sich deshalb auch keine Sorgen darum, wo er wohl liegengelassen werden würde, obwohl den Hundertschaften von Krähen, die die Situation 245

hoffnungsvoll mit ansahen, an diesem Ort sicher die Arbeit erleichtert werden würde. Rainer machte sich allerdings große Sorgen um ihn. Er wußte zwar um Franks Leidenschaft, gelegentlich und gern durch den Wald zu ziehen, aber nachdem er nun zwei Tage weg war und er endlich weiter reisen wollte, weil er keine Lust mehr hatte, allein auf dem Campground zu hausen, kam der Hund ins Spiel. * Jasper war kein sehr umgänglicher Hund. Seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, Hunde zu suchen, die wesentlich kleiner waren als er, um sie richtiggehend zu verprügeln. Die Familie mochte Jasper auch nicht wirklich. Lediglich die Tatsache, daß er zweimal täglich einen gut gefüllten Fressnapf vorfand, hielt ihn davon ab, diese Familie zu verlassen und sich fortan von kleineren Hunden zu ernähren. Und er liebte Waldspaziergänge. Schon deshalb fand er Rainers Vorschlag annehmbar, nach Frank zu suchen und dabei auf seine Erfahrung als Fährtensucher zurückzugreifen. Obwohl er sich mit seinem Herrchen nie so richtig anfreunden konnte, wollte er ihn dennoch in dieser Hinsicht nicht enttäuschen. Und schließlich besaß er eine gehörige Portion Stolz, um das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Kaum im Wald angekommen, rannte Jasper los und scherte sich einen Dreck darum, ob ihm irgendwer 246

folgen konnte. Er ließ seinem Spürsinn freien Lauf und hatte schon bald die Fährte von Frank gefunden. Er hatte mit seiner Spürnase auch noch eine andere Fährte entdeckt, konnte sie aber nicht richtig zuordnen. Der Geruch jedoch war eindeutig nicht von Frank sondern etwas wilder und naturverbundener. Einige Kilometer suchte Jasper und schien dem Fährtenende auch immer näher zu kommen, zumal jetzt auch eindeutig Blut zu riechen war. Es irritierte den Hund nur wenig, dass dieses Blut wohl von Frank stammen müsse, aber Fährte ist schließlich Fährte und da kann man sich um solche Kleinigkeiten nicht kümmern. Und dann sah Jasper den Bär. Er, auch als Stadthund nicht gänzlich bar seiner Instinkte, ließ eben diese spielen und sprang angesichts der Größe des Bären, die sich von den sonst für ihn üblichen kleinen Hunden beträchtlich unterschied und einen Angriff nicht tunlich erscheinen ließ, zurück. Leider konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, daß direkt hinter ihm ein Bach war, der sich aufgrund der stärkeren Regenfälle in den Bergen in einen ziemlich reißenden Fluß verwandelt hatte. Und schwimmen war eine Fähigkeit, die ihm offensichtlich abging, was seine schlimmsten Ahnungen nährte, vielleicht sogar von einer Katze abzustammen.

Er versuchte noch, das rettende Ufer zu erreichen, wurde aber immer wieder Richtung Flußmitte gespült. Dort verließen ihn dann auch schnell die Kräfte, da er zwar ausdauernd rennen, nicht aber schwimmen 247

konnte. Der Bär sah nur kurz und tatenlos zu, denn Jasper entfernte sich schnell. Gern hätte er noch einen kleinen Spielgefährten gehabt, zumal dieser anscheinend lustiger und besser für einen Zeitvertrieb geeignet schien als der leblose Körper vor ein paar Tagen, aber einem Hund hinterher schwimmen mochte er nun auch wieder nicht. Und so war Jasper allein auf dem weiten Weg, auf dem er immerhin auch zwei dreißig und neunzig Meter hohe Wasserfälle kennenlernen würde, die in einen Canyon stürzten. Rainer vermißte Jasper nicht wirklich. Ehrlich gesagt merkte er erst drei Tage nach der Weiterfahrt, daß schon wieder irgend etwas fehlte. Allerdings machte ihn die Überlegung stutzig, daß ein Hund allein nach Hause fliegen könnte und er überlegte, ob sein Hund so schlau sein würde, sich wieder in irgendeinem Koffer zu verstecken, um den Quarantänebestimmungen zu entgehen. Er glaubte es nicht und so freute er sich, daß Jasper beim Familientreffen in Berlin keine zusätzlichen Kosten verursachen würde.

*

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Die nächsten Tage verbrachte Rainer also allein und diese Einsamkeit verleitete ihn dazu, über sich und seine Familie nachzudenken.

Lisa und Rainer führten eine fast vorbildliche Ehe. Er war den ganzen Tag arbeiten, sie zu Hause im Haushalt und bei den Kindern. Die Tatsache, daß nur er Geld verdiente und sie zu Hause praktisch nur faulenzte und ansonsten die Hände über ihr nicht unbeträchtliches Erbvermögen hielt, machte ihm nichts aus, denn er genoß die Freiheit, die er dadurch hatte. Manchmal ging er sogar am Wochenende arbeiten. Unter dem fadenscheinigen Vorwand, an seiner Karriere zu basteln, verbrachte er manchmal auch Samstage in der Firma. Das er statt dessen seine Zeit Zeitung lesend und sich sehr wohlfühlend in einer Kneipe verbrachte, wußte Lisa seit einem Anruf ihrer besten Freundin. Es machte ihr nichts aus. Sie wusste es und billigte es, weil sie nur dadurch auch an Samstagen Ruhe vor ihm hatte. Nicht, daß sie ihn nicht mehr liebte, aber bei diesem stillschweigenden Abkommen konnte sie einen Tag mehr in der Woche ihren eigenen Weg gehen, der meist in der Lektüre der Apothekerzeitschrift und dem anschließenden Ausprobieren der vielen gesunden Kochrezepte bestand. 249

Nur der Sonntag war tabu. Rainer hätte es niemals gewagt, auch den Sonntag als Arbeitstag zu verbringen. Nicht, daß er diese Idee nicht hätte umsetzen möchten, aber Lisa war von jeher sehr gläubig. Und da konnte nichts anderes in Frage kommen als ein sonntäglicher Kirchenbesuch mit anschließendem Besuch auf dem Friedhof, um ihren Eltern mitzuteilen, dass es ihr mit deren Geld gut gehe und sie sich keine Sorgen zu machen bräuchten. Der Kirchenbesuch war nicht nur Pflicht, sondern auch ausgesprochen lästig für alle Familienmitglieder, außer natürlich für Lisa. Der Ablauf war eigentlich jeden Sonntag gleich. Sie betraten die Kirche, Andrea fing an zu heulen, weil die geschnitzten Figuren an der Seite so traurig aussahen, Frank war traurig, weil kein hübsches Mädchen anwesend war, Bubbles blieb in der engen Sitzreihe hängen und war einige Zeit bewegungsunfähig, Rainer schlief nach den ersten Worten des Pastors ein und Lisa war glücklich. So glücklich, daß sie an nichts anderes als an Gott und seine Engel dachte, was ihr die Kraft für die nächste Woche verlieh. Ansonsten führten sie wirklich eine glückliche Ehe. Sie hatte ihm zwar nie verziehen, daß er sie einmal betrogen hatte und sie ließ ihn das auch manchmal spüren. Aber Rainer fichtt das nicht an und er sah generös über ihr Verhalten hinweg, zumal er von einem Seitensprung seinerseits nichts wußte. Lisas Freundin hatte sie mal wieder angerufen und, weil 250

entsprechender Gesprächsstoff fehlte, eine märchengleiche Geschichte erzählt, wie sie Rainer mit einer dunkelhaarigen und aufregend hübschen Frau gesehen hatte. Sie müßte wohl seine Sekretärin gewesen sein. Schon dies hätte Lisa eigentlich stutzig machen müssen, denn Rainer hatte keine Sekretärin und die einzige dunkelhaarige Frau in seiner Umgebung war die Sekretärin seines Chefs. Die war zwar dunkelhaarig, aber das fiel nicht weiter auf, weil die etwa drei Zentner Gewicht einen nahtlosen großflächigen Übergang von den großen Füßen bis zu den schmierigen Haaren gewährleisteten. Zudem hatte Lisa die Frau schon kennen gelernt und anschließend als äußerst hässlich, dumm und geschwätzig beschrieben. Drei Eigenschaften, die Rainer ausgesprochen abstoßend fand und ihn wohl eher nicht an eine Affäre denken ließen. Rainer jedoch hatte keinen Grund, sich über Lisa zu beschweren. Sie machte den Haushalt und benahm sich auch sonst eigentlich nicht schlecht. An die Tatsache, daß sie keine normale Unterhaltung führen konnte, weil sie sich ausschließlich in fragender Form äußerte, hatte er sich schnell gewöhnt. Es war auch recht praktisch, denn wenn man keine Antwort geben wollte oder konnte, war das Gespräch beendet und man hatte seine Ruhe. Zumindest bis die nächste Frage gestellt wurde. Aber Gott sei Dank war Lisa nicht allzu gesprächig. Und alle Versuche, ihr dieses Diskussionsverhalten abzugewöhnen, verliefen ergebnislos und endeten fast immer mit einem „warum sollte ich damit aufhören? Hast du keine anderen Sorgen?“ und einem anschließenden „warum hast du mich denn überhaupt 251

geheiratet?“ Rainer haßte diese Frage, denn er konnte sie nicht eindeutig beantworten. Und sie kümmerte sich um die Kinder. Die hatte Rainer eigentlich nie gewollt, aber mangels fehlender Aufklärung durch seine Eltern waren die drei Kleinen irgendwie plötzlich da und ließen sich auch nicht mehr abwimmeln. Er hatte nie so richtig verstanden, daß es zwar Tierheime gibt, wo man die kleinen Freunde problemlos mit dem Hinweis abgeben kann, sie seien einem zugelaufen, es aber kein entsprechendes Gegenstück für Kinder gab. Natürlich gab es Kinderheime, nicht nur für Waisenkinder, sondern auch für Schwererziehbare, für die er die Seinen immer hielt, aber es war, wie Rainer anlässlich einer unverbindlichen Recherche herausfand, auch unglaublich schwierig, seine Kinder dort unterzubringen, die immensen Kosten nicht einmal betrachtend. Abgesehen von dem Ärger mit Lisa hätte er Tausende von Formularen ausfüllen müssen und wäre nicht einmal sicher gewesen, daß seine Drei tatsächlich aufgenommen worden wären, weil sie in den Augen der Prüfer eigentlich ein intaktes Familienleben hatten und keineswegs einer Behinderung unterlagen, die eine Kindererziehung nicht gestatteten. Also beugte er sich seinem Schicksal und schaffte das Geld für das Heranwachsen seiner Kinder heran, das Lisa und, als die Kinder älter wurden auch sie, ungeniert ausgaben. Das Haushaltsgeld war eine Quelle ewiger Unruhe in der Familie. Als die Kinder noch klein waren, mußten 252

Unmengen an Geld herbeigeschafft werden, um sie großzuziehen und als sich endlich groß waren, verlangten sie plötzlich Taschengeld. Rainer, der von seinen Eltern nie Taschengeld bekommen hatte, weil sie der Meinung waren, Geld verderbe den Charakter, schloß sich zwar schon bald nach der Gründung der eigenen Familie dieser Meinung an, konnte sich aber mangels Unterstützung und zahlenmäßiger Unterlegenheit nicht gegen die Forderungen wehren. Übrigens hatte Rainer diesem Grundsatz des Erhaltes des Charakters zumindest bei der Beerdigung seiner Mutter Rechnung getragen, was ihm viel Erspartes übrig ließ. Und so ging er Tag für Tag arbeiten, um seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber seiner Familie und insbesondere seinen Kindern nachkommen zu können. Lisa, so schien es zumindest, brauchte viel Geld, denn sie war eher kein sehr sparsamer Typ. Natürlich hatten sie eine gemeinsame Haushaltskasse, in der er einzahlte und aus der sie herausnahm, aber schließlich entsprach das seiner Vorstellung von Tradition, Familie und Geschlechtertrennung. Manchmal hätte er sich ja gewünscht, sie würde völlig über die Strenge schlagen und sich, möglichst von ihrem eigenen Geld, ein neues Kleid kaufen, etwa eines, daß auch ihm mal gefallen würde und schon deshalb nicht wie üblich aus Jute bestehen dürfte, aber er wußte auch, daß ihn diese Freude angesichts ihrer Eigenwilligkeit sehr viel gekostet hätte und sie auf der Suche nach etwas Passendem wohl einige Wochen außer Haus gewesen wäre, was womöglich Reisekosten in ungeahnter Höhe nach sich gezogen hätte. 253

Aber ihm fiel natürlich auf, dass Lisa, egal wie viel er an Einkommen zur Haushaltskasse beisteuerte, diese immer leer war, obwohl die Qualität des heimischen Essens nicht zunahm. Was sie mit dem Geld machte, wurde sehr bald klar und erschreckte ihn, weil es eigentlich sein Geld war. Sie gab alles Überschüssige für Kurse aus. Rainer war schon immer ein Freund von Fortbildungsmaßnahmen, denn ihm wurde während seiner Jugend beigebracht, daß Bildung nichts koste, aber viel bringe. Hier irrte er, zumindest was die Kosten anging. Lisa belegte nicht etwa kostenlose Kurse an Volkshochschulen, sondern mietete sich Privattrainer für Tai-Chi-Kurse und „Joga für Gestresste“. Rainer, der dies entdeckte, sorgte fast für einen Eklat, denn er wollte den Kurpfuschern den Geldhahn abdrehen. Diese sahen ihre ergiebige und wohl einzige Geldquelle in Gefahr und drohten damit, daß Lisa sich scheiden lassen würde, wenn er seine finanziellen Vorstellungen nicht revidieren würde. Eigentlich wollte Rainer in der Sache ja hart bleiben, aber dann kam ihm merkwürdigerweise und unerwartet Lisa zu Hilfe, die plötzlich zwischen den Stühlen stand und damit nicht umgehen konnte. Sie wollte sich, was auch ihrer Erziehung entsprach, natürlich nicht scheiden lassen und so zogen Tai-Chi-, Joga- und Ernährungslehrer grollend und ohne Aussicht auf eine finanziell gesicherte Zukunft ab und die Familieneinheit war wieder hergestellt.

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Zumindest bis zu diesem Kanada-Urlaub. * Rainer, nunmehr allein in einem ramponierten Camper, grübelte zwei Tage lang, wie er aus seiner verzweifelten Lage herauskommen könnte. Am dritten Tag schließlich ging er in den Supermarkt. Eigentlich wollten sie ihn dort gar nicht erst auf den Parkplatz fahren lassen, weil er selbst und der Wagen in einem bedauernswerten Zustand waren. Aber Rainer hatte ja schließlich eine logische Erklärung dafür. Als die Angestellten des Supermarktes mit dem Lachen fertig waren, respektierten sie seine ausgeprägte Phantasie, hielten ihn für einen Spinner oder, schlimmer noch, für einen Schriftsteller und ließen ihn einkaufen. Der Supermarkt war groß und angenehm gekühlt und so ließ sich Rainer Zeit. An der Kasse merkte er dann, daß er kein Portemonnaie dabei hatte. Auch gut, er stellte die Waren an der Kasse ab und ging zum Camper, wo seine Geldbörse gut versteckt unter der Matratze lag. Bereits an der Tür fiel ihm auf, daß diese sich recht leicht öffnen ließ. Das lag wohl daran, dass kein Schloß mehr vorhanden war. Er kannte das aus Berlin, wo findige Nachbarn aus östlichen Ländern solche Vorgehensweise nutzten, um Autos zu stehlen. Also war die Panik gering, denn der Camper war ja noch da. Allerdings nicht seine Geldbörse mit dem gesamten übrigen Geld und natürlich seiner von Bubbles gestohlenen Kreditkarte, ohne die in Kanada kein Weg weiter als zehn Meter führt. Die Diebe hatten 255

nichts weiter angerührt, sondern offenbar lediglich die Matratze hochgehoben und sein Portemonnaie gestohlen. * Noch während er diese Professionalität bewunderte, wurde er sich bewusst, daß er in einer ziemlichen Klemme steckte, denn er hatte die Waren im Supermarkt noch nicht bezahlt. An weitere Folgen dieses Diebstahls konnte er ob des Pechs, das anscheinend immer ihn verfolgte, noch nicht denken. Und er sah am Rande des Parkplatzes zwei Männer stehen, die offensichtlich etwas zu verheimlichen hatten. Es konnten nur die Diebe sein, die sich gerade das gestohlene Geld untereinander aufteilten. Rainer war entschlossen wie nie in seinem Leben. Mit dem Mute der Verzweiflung nahm er die Verfolgung auf, als die beiden Männer in ein Auto stiegen und wegfuhren. Sie fuhren nicht schnell und so konnte er mit dem arg ramponierten Camper gut mithalten. Während der Fahrt zermarterte er sein Hirn, wie er die beiden nicht nur zum Stehen bringen, sondern auch sein Geld wiedererlangen könnte, denn die Diebe sahen recht kräftig aus und das Ergebnis seiner Begegnung mit dem Berber vom Campingplatz, als er seinen Sohn retten wollte, hatte er nicht vergessen. Also war Vorsicht angebracht. Durch seine Gedanken kurzzeitig abgelenkt, hatte er etwas zuviel Abstand gewonnen, was dazu führte, daß das verfolgte Auto noch bei grüner Ampel über eine 256

Kreuzung fuhr. Rainer, noch immer entschlossen genug, konnte zwar dem von rechts kommenden Lastwagen noch entwischen, als er bei Rot an der Ampel vorbeikam, nicht aber um den Laternenmast auf der anderen Straßenseite herumkurven. Dieser knickte wie ein Streichholz zusammen und fiel auf den dahinter stehenden Verteilerkasten, der unverzüglich und funkensprühend Sylvesterathmosphäre verbreitete. Um die möglichen Folgen totaler Dunkelheit in der Stadt bei Nacht und die neben dem Verteilerkasten stehenden Autos mit den Brandflecken im Lack konnte er sich nicht kümmern, denn er beschloß, den vor ihm fahrenden Wagen mit den Dieben durch kräftiges Rammen zum Stehen zu bringen. Dieser jedoch wurde immer schneller, denn die beiden völlig unschuldigen Mitarbeiter des Supermarktes, die gerade ihre Schicht beendet hatten, bemerkten den Verrückten hinter ihnen, der sie offenbar umbringen wollte und versuchten verzweifelt zu fliehen. Kurz vor einem Bahnübergang bogen sie schnell und scharf nach rechts ab. Rainer, der die Schwere des Campers zwar berücksichtigt hatte, aber gegen die Fliehkräfte machtlos war, bremste scharf, um ebenfalls abzubiegen, kam jedoch erst auf den Schienen zu stehen. Da, wie hätte es anders sein können, sich gerade einer der in Kanada üblichen besonders langen Güterzüge näherte, war an den Rückwärtsgang nicht mehr zu denken. Er trat auf das Gaspedal und schaffte es tatsächlich. Zumindest fast, denn der Zug erwischte ihn nur ganz leicht am hinteren Teil des Wagens, was einerseits zum Verlust der rückwärtigen Stoßstange und andererseits zu einer plötzlichen Drehung um 257

einhundertachtzig Grad führte. Also stand er wieder in der richtigen Richtung, um die Verfolgung fortzusetzen, aber der Zug fuhr vor seinen Augen. Und es war ein besonders langer Zug, denn vierzehn Minuten später wurde sich Rainer bewußt, daß die vermeintlichen Diebe wohl nicht auf ihn gewartet hatten. Nach und nach wurde ihm erst klar, daß er den Camper nicht mehr zurückgeben konnte. Der Wagen war so nicht rückgabefähig, mit Schrammen und Beulen, aber ohne jegliche Nummernschilder hätten ihn die Verleiher nicht ohne beträchtliche Zuzahlungen seinerseits abgenommen. Dafür fehlten ihm sowohl Geld als auch Kreditkarte. Die Polizei wollte er nach den schlimmen Erfahrungen auch nicht mit einbeziehen, zumal die wahrscheinlich nicht einmal angefangen hätten, die Diebe zu suchen. Die fehlenden Nummerschilder konnte er sich nur so erklären, daß die Diebe durch sein Zurückkommen in ihrem Tun unterbrochen wurden und überhaupt nur deshalb der Camper noch dastand. Glück im Unglück, befand Rainer und fuhr in Richtung Flugplatz. Dort, so hoffte er, würde er schon einen Weg finden, um nach Hause zu kommen und seine Familie, die ihm in diesem Urlaub eigentlich nur Unannehmlichkeiten bereitet hat, wieder in die Arme schließen zu können. Als er am Flugplatz ankam, verließen ihn die Kräfte. Zwei rauchende und deshalb draußen stehende Mitarbeiter des Flugplatzes legten ihn auf die Ladeklappe eines kleinen Container-Lastkraftwagens, damit er sich wieder erholen konnte. Als ihre Pause 258

vorüber war, gingen sie wieder zur Arbeit, ließen Rainer aber liegen. Der Fahrer des Wagens hatte vorne eine Einrichtung, mit der er die Heckklappe schließen konnte. Praktisch für ihn, denn er mußte nicht aussteigen, unpraktisch für Rainer, weil er nicht entdeckt wurde und von der sich schließenden Klappe in das Wageninnere geschaufelt wurde. * Was sich ihm nach seinem Aufwachen hier bot, erschien ihm in seiner mißlichen Lage wie ein Wunder. Er befand sich offenbar in einem Container voller Köstlichkeiten und er war sehr schnell Willens, dieses Wunder bis zur Neige auszukosten. Nachdem er etwa zwei Pfund Krabbencoctail und ein Pfund Kaviar, der für die First-Class eines Transatlantikfluges gedacht war, heruntergeschlungen hatte, hielt er es angesichts der Güteklasse der gebotenen Waren für angemessen, ab sofort genußvoller zu speisen. Mangels geeigneten Bestecks mußte er zwar die äußerst wohlschmeckende Lachsforelle mit den Händen essen, aber für den tatsächlich gut gekühlten Champagner waren die guten Vorsätze schon wieder Vergangenheit und er setzte mit dem Trinkspruch "Fisch muß schwimmen" hemmungslos die Flasche an. Die Fertig-Crêpe ließ er links liegen, da eine Mikrowelle nicht zur Verfügung stand. Und dann schlief Rainer mit einem erschöpfenden Sättigungsgefühl inmitten der so unverhofft 259

dargebotenen kulinarischen Gaben mit dem Gedanken ein, wie schön es doch sei, Urlaub zu haben. Er träumte davon, wie er auf wunderschönen weißen Wolken schwebte, was irgendwie auch der Realität entsprach. Im steten Rhythmus „schlafen, essen, schlafen“ verbrachte er wohl etliche Stunden in seinem kleinen, aber gut bekochten Gefängnis. Schließlich rüttelte es an dem Container und er merkte, daß dieser offenbar mit ihm im Innern wegfuhr. Als das Ganze zum Stillstand kam, öffnete sich wie von Geisterhand die hintere Klappe und Rainer schlüpfte schnell hindurch ins Freie. Als er schließlich auf der Straße stand, war er etwas überrascht von dem Sprachverhalten der Leute um ihn herum. Diesen Dialekt kannte er von Kanada überhaupt nicht und auch die Kleidung entsprach nicht unbedingt den kanadischen Gepflogenheiten. Daher blieb ihm nur die Vermutung, daß es sich wohl um Indianer handeln müsse. Er blickte sich suchend und etwas hilflos um, denn er fand seinen Camper nicht und so versuchte er zu trampen. Er wußte zwar, wohin er wollte, hatte aber etwas die Befürchtung, daß er sich nicht klar verständigen konnte. Und so hoffte er einfach auf sein Glück. Während der Fahrt fiel ihm Merkwürdiges auf. Die Straßen sahen in Kanada sonst sehr ordentlich und eigentlich schön gebaut aus. In dieser Gegend nicht, was zum einen daran lag, daß die vielen Bäume, durch die Kanada auch berühmt war und die besonders am 260

Lake Louise besonders schön aussahen, fehlten und zum anderen, weil die Straße nicht wie sonst betoniert war. Man konnte sie eigentlich gar nicht als Straße im herkömmlichen Sinne erkennen, sondern eher als Schotterpiste mit extrem viel Staub und sehr vielen kleinen Steinen. Wie er aus den zur Vorbereitung dieses schönen Urlaubes benutzten Katalogen wußte, gab es solche Straßen hauptsächlich in Alaska, was auch das recht eigentümliche Sprachverhalten erklären könnte. Aber dies war ihm egal, denn auch dort gab es sicher Flugplätze, von wo aus er sich auf den Weg in die Heimat begeben könnte. Seine Fragen an den Fahrer des Lastwagens blieben allesamt unbeantwortet. Er führte dies darauf zurück, daß der merkwürdige Dialekt eine sinnvolle Kommunikation verhinderte. Und so ging das drei Tage lang, in denen er fast immer schlief. Nach einigen Stunden Fahrt am dritten Tag hielt der Fahrer plötzlich an und zeigte in eine Richtung. Rainer wertete dies als wertvollen Hinweis für seinen weiteren Weg zum Flugplatz und lief los. Die Sonne brannte und Rainer, der dies nicht gewohnt war, spürte bereits nach vier Stunden einen starken Schmerz, den er so nur von Brandblasen kannte. Eigentlich war es etwas zu heiß für Alaska. Er entdeckte in der Ferne etwas, das wie eine Hütte aussah, nur drei Außenmauern, dafür aber kein Dach hatte. Und so setzte er sich erschöpft nieder und dachte an seine Familie, die bestimmt schon im Funkturmrestaurant in Berlin saßen, auf ihr Familienoberhaupt tranken und sein Geld verpraßten.

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Und dort saß er, umgeben von der unwirklichen Welt der ostanatolischen Hochebene zwischen diesen Mauern und irgendwie genoß er die Ruhe, die er in diesem etwas turbulenten Urlaub nur selten gefunden hatte. Hätte er gewußt, daß ganz in der Nähe die Arche Noahs nach der großen Sinnflut am Berg Ararat gelandet war, hätte er ebensowenig einen Gedanken daran verschwendet wie an die Tatsache, daß er sich in einer tektonischen Schwächezone befand. Es wurde Abend und noch immer genoß er die Ruhe, die nur ein ostanatolisches Lagerfeuer ausstrahlen konnte. Und er ahnte ja schließlich noch nichts von dem kurz bevorstehenden großen Erdbeben, das in dieser Gegend in regelmäßigen Abständen vorkam und ebenso kurz wie alles vernichtend sein würde... Ebenso vernichtend übrigens, wie der Schrei Lisas, mit dem er in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Er war schlicht in seinem Sessel zu Hause eingeschlafen, während sich der Rest der Familie endlich reisefertig gemacht hatte. Und irgendwie war er froh, daß er sie alle wiedersah. Allerdings wäre sein Glück gewiß größer gewesen, wenn er tatsächlich in sein Traumland Kanada hätte fliegen und einen richtigen Abenteuerurlaub mit einem Camper hätte verbringen können und nicht mit dem vollbesetzten Auto die beschwerliche Reise an die Nordsee auf sich nehmen müßte, nachdem sich Lisa mit ihrem Ersatz-Urlaubswunsch durchgesetzt hatte…

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