Person und Gemeinschaft im Mittelalter

Sonderdruck aus: Person und Gemeinschaft im Mittelalter Kar1 Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag Herausgegeben von Gerd Althoff, Dieter Geuenic...
Author: Manfred Weiß
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Sonderdruck aus:

Person und Gemeinschaft im Mittelalter Kar1 Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag

Herausgegeben von Gerd Althoff, Dieter Geuenich, O t t o Gerhard Oexle und Joachirn Wollasch

Jan Thorbecke Verlag Sigmaringen 1988

@ 1988 by Jan Thorbecke Verlag GmbHBiCo., Sigrnaringen

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestarret. das Werk unter Verwendung mechanischer, elekironischci und anderer Systeme in irgeiideinei Weisc zu verarbeiten und zu verbreiren. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Ven-icif'älrigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der rontechnischen Wiedergabe. des Vortrags, der Fuok- und Fernsehsendung, der Speicherung in Darenveraibeitun~sanlagen,der Ubeiserzung und der

literarischen oder anderweitigen Bearbeitung Geramthersrellung: M. Liehnerr Hoibuchdiuckerei GmbH&Co., Sigrnaringcn Printed in Germanv-ISBN 3-7995-7063-2

Der Charakter Kaiser Heinrichs IV.

1,.f,

Zugleich ein Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter VON GERD TELLENBACH

Wie bei der Betrachtung aller Zeitalter haben die Erforscher des früheren Mittelalters große Mühe darauf verwandt, die Menschen dieser Zeit in allen ihren geschichtlichen Erscheinungen und Aktivitäten soweit wie möglich zu erkennen. In den letzten Jahrzehnten konnten dabei entscheidende Fortschritte erzielt werden. Einerseits sind die Bemühungen der älteren Forschung mit verfeinerten Methoden fortgesetzt worden, auf Grund der historiographischen Quellen, der Urkunden, der Inschriften, der Namenkunde. Andererseits ist liturgische Überlieferung, der man lange ziemlich hilflos gegenüberstand, in ihrer Entstehung besser verstanden und aus dem oft komplizierten Bestand ihrer Überlieferung, auch aus fragmentarischen Resten, öfter wiederhergestellt und kritisch bearbeitet worden. Indem sie mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung irerfügbarer gemacht wurde, konnten Beziehungen zwischen weit verstreuten Resten hergestellt und sich ergänzende Bruchstücke aller Arten von Quellen zusammengefunden werden. So sind die Aussichten vermehrt worden, mit Hilfe des neu erschlossenen Materials zu gesicherteren Resultaten zu gelangen. Menschen können in der Geschichte in einer Vielzahl Ungenannter erscheinen, als Stämme, Völker, Heere, Siedlungsgemeinschaften oder kirchliche Gemeinden und Gemeinschaften. Wo einzelne Menschen mit Namen genannt werden, sind sie Personen, und es ergeben sich sogleich die Fragen nach ihrer Stellung in ihrer Geschichte und ihrer menschlichen Umwelt, nach Lebensdaten, nach Eltern, Vorfahren, Kindern und Verwandten. Daraus folgt notwendigerweise die Suche nach genealogischen Zusammenhängen, zugleich nach genealogischen Gebilden, wie >Familie, Sippe und GeschlechtHausund DynastieRäteJugendgespiele. Der genannte dritte Graf Eberhard tritt zum ersten Mal im Sommer 1068, dann wieder zu Anfang 1069 als Intervenient aufa. Er steht also bereits dem König in seinen ersten Regiemngsjahren zur Verfügung, wird also auch älter als er gewesen sein. Von ihm, dem vir admodum sapiens, sagt Lampen von Hersfeld zu 1071: plurimum eo tempore rex consiliis utebatur und berichtet von seinen Versuchen, zwischen Heinrich und Otto von Nordheim zu vermitteln6i. Er ist wohl der Graf Eberhard, der nach Adam von Bremen zu den adulatores gehört, die Bremische Kirchengüter erhielten". Er war dann einer von den fünf Raten, die AlexanderII. 1073 mit dem Bann belegte oder bedrohte"'. Im Herbst des gleichen Jahres intervenierte er für die Äbtissin des Klosters Niedermünster in Regensburg, wobei ausdrücklich erwähnt wird, cuius consilium eo in tempore in nostra curia viguit". Offenbar gehörte er dann zu den quinque de familia regis, die auch GregorVII. auf der Fastensynode 1075 bannte69. 1075 war er in Italien tätig und reiste mit dem iralienischen Kanzler Gregor von Vercelli zu Robert Guiskard, um ihn zur Lehnsnahme seiner Eroberungen vom Reich zu bewegen". Nach dem Wormser Tag im Januar 1076 begleitete er die Bischöfe Huzmann von Speyer und Burchard von Basel nach Italien, um die gefaßten Beschlüsse dort bekannt zu machen7'. Er blieb beim König bis zu den Verhandlungen zwischen Oppenheim und Tribur, reiste im Winter mit anderen Getreuen nach Italien, und wir finden ihn, vom Bann gelöst, ~ ~ . fand er in der Schlacht bei Melrichstadt den Tod7). wieder bei Heinrich in P i a ~ e n z a 1078 Einer der getreuesten Räte Heinrichs war Udalrich von Godesheim, der gegen die Anschuldigungen Regengers seinen König und sich selbst im gottesgerichtlichen Zweikampf zu verteidigen bereit war". Auch er gehörte zu den fünf Raten, die schon 1073 von AlexanderII. und 1075 von GregorVII. mit dem Bann belegt oder bedroht wurden7j. Wahrscheinlich ist er identisch mit dem communi milite nostro, der in einer Schenkungsurkunde für den Markgrafen Ernst von Österreich genannt wird7" Er begleitete Heinrich 1075 auf seinem Feldzug durch Böhmen nach Meissen und soll nach Bruno mit Gütern des Markgrafen 63 KURTHILS, Die Grafen von Nellenbure" im Il.lahrhundert (Forschuneen zur oberrheinischen " Landesgeschichte19) Freiburg 1967, S. 75ff. 64 DH IV 205, 214 (wie Anm. 52). 65 MvK (wie Anm.5) I1 S.43; Lamperti Annales (wie Anm.3) ad 2.1071, S.119f. 66 Adami Bremensis Gesta Hammabuigensis ecclesiae pontificum, 111 c.49, hg. von BERNHARD SCHMEIDLER (MGH SS rer Germ.) Hannover-Leipzig 1917, S. 192. 67 Bonizonis libri (wie Anm. 3) S. 605. 68 DH IV 265 (wie Anm.52). 69 GregoriiVII. registmm iibri, hg. von ERICHCASPAR (MGH Epp. se1.2,l) I1 52a. Paris 1892, S. 298ff.; MvK (wie 70 Amatus, L'Ystoiie de li Normant, V11 c.27, hg. von ODOKDELARC, Anm. 5) I1 S. 573 Anm. 161. 71 MvK (wie Anm. 5) I1 S. 629ff. mit Anm.24; Manegoldi ad Gebehardum (wie Anm. 18) c. 25, S. 358. 72 DH IV 286 (wie Anm.6). 73 Bruno (wie Anm. 18) c.99 U. 102, S.90ff.; MvK (wie Anm.5) 111, Leipzig 1900, S. 144. 74 Vgl. Anm.48. 75 Vgl. Anm.67. 76 DH IV 271.

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G E R D TELLENBACH

Ekkehert 11. beschenkt worden sein. Er war in Heinrichs Umgehung in Oppenheim, und wir finden auch ihn, vom Bann gelöst, nach Canossa abermals heim König. Es ist anzunehmen, daß Udalrich schon 1081 mit über die Alpen gezogen ist und die Eroberung der Leostadt am 3.Juni 1083 miterlebt hat. Denn er gehörte, wohl als Kommandant, zur Besatzung auf dem befestigten Palatiolus, die Heinrich zurückließ, als er schon Ende des Monats nach Norden abmarschierte. Unter den Deutschen brach dann die Seuche aus, von der er, wie fast alle, hingerafft wurde7'. Es sind, wie sich zeigt, nur wenige fideles, amici, consiliarii HeinrichsIV., von deren Namen und Schicksalen einiges überliefert ist. Andere, wohl ebenso wichtige, werden in den Quellen nicht faßbar. Es ist bezeichnend, daß von den exkommunizierten fünf Raten nur Eherhard und Udalrich von Godesheim einigermaßen bekannt sind. Von einem dritten, Hartmann, wird nur der Name erwähnt, von dem vierten und fünften wissen wir überhaupt nicht, um wen es sich handelt78. Doch so viel lehren uns die wenigen von uns aufgeführten Falle, daß der König einen gewissen Spielraum bei der Auswahl seiner Vertrauten gehabt haben muß. Die Erzhischöfe und großen weltlichen Fürsten mußte er hinnehmen und sich mit ihren Ansprüchen auseinandersetzen. Mit wem von den Bischöfen und Grafen er eng und ständig umgehen wollte, vermochte er offenbar selbst zu entscheiden. Unter ihnen finden wir solche, die er über lange Fristen in seiner Nähe hielt und die er mit wichtigen Aufgaben betraute. Mir einigen Bischöfen war er Jahrzehnte hindurch eng verbunden. Beispielhaii unter den weltlichen Raten und Helfern sind Graf Eberhard und Udalrich von Godesheim, von denen der eine zwanzig, der andere zehn Jahre dem König eng verbunden war. Beide haben in seinem Dienst den Tod gefunden. Die Übersicht über die Heinrich IV. nahestehenden Bischöfe und weltlichen Berater läßt sicherlich gewisse Charaktereigenschaften des Königs erkennen. Es zeigt sich nämlich, daß er innerhalb langer Fristen nähere Beziehungen zu einem engeren Kreis von Personen zu pflegen, daß er dessen Vertrauen zu gewinnen und zu bewahren fähig war. Von beiden Seiten muß mehr als die offizielle, so oft gebrochene Treue gehalten worden sein. Mindestens dabei zeigt sich eine gewisse Stetigkeit und Bedachtsamkeit Heinrichs im Umgang mit den Menschen seiner Umgebung7?. Bei dem Versuch, eine Vorstellung von dem Charakter des Königs zu gewinnen, ist es naheliegend zu fragen, ob sich seine Persönlichkeit in den in seinem Namen verfaßten Urkunden und Briefen bemerkbar macht, ob und wie er die Personen, die dabei mitwirken, beeinflußt oder von ihnen heeinflußt wird. Ist direkt oder indirekt etwas von seiner Art in diesem Schriftgut zu fassen oder zu vermuten? Erzkanzler werden bekanntlich zu seiner Zeit automatisch die Erzhischöfe von Mainz für 77 MvK (wie Anm. 5) 111, Leipzig 1900, S. 489 U. 494.

78 Lamperti Annales (wie Anm. 3) ad a. 1016, S.282. Schon danach läßt es sich kaum halten, wenn man Heinrich unausgeglichen und treulos (WOLFRAM VON DEN STEINEN, Canossa. HeinrichIV. und die Kirche Uanus-Bücher51 München 1957, S.72) genannt oder ihm eine total veriehlte Personalpolitik (HARALD ZIMMERMANN, HeinrichIV. j1056-1106] [Kaisergestalten des Mittelalters, hg. von HELMUT BEUMANN, München 1984, S. 116134] S. 139) vorgeworfen hat. 79

D E R CHARAKTER KAISER H E I N R I C H S

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Deutschland und von Köln für Italien. Der König wird bei ihrer Auswahl also nur tätig, indem er bei ihrer Wahl zu Erzbischöfen das entscheidende Gewicht hat und ihnen die Investitur gewährt. Doch außer ihrer Nennung in der Rekognitionszeile, die von den Urkundenschreibern ohne ihre Mitwirkung vorgenommen wird, haben die Erzkanzler ja nichts mit der inhaltlichen oder formalen Gestaltung der Schriftstücke zu tun. Immerhin ist daran zu erinnern, daß Heinrich IV. nach dem Übergang Siegfrieds zum Gegenkönig jahrelang auf die Bestellung eines anderen Mainzer Erzbischofs verzichtet hat und daß infolgedessen kein Erzkanzler für Deutschland mehr vorkommt. An dieser Entscheidung dürfte der König mindestens beteiligt gewesen sein. O b an den damals seltsamen Formulierungen der Rekognitionszeile im Bezug auf den Erzkanzler eine hewußte Entscheidung des Königs mitbeteiligt war, Iaßt sich bezweifeln. In Italien hat Erzbischof Herimann von Köln keinen Nachfolger mehr als Erzkanzler erhalten. Die Kanzler, die wirklichen Leiter des königlichen Urkundenwesens, wurden vom König bestellts0. Der erste nach Heinrichs Wehrhaftmachung war Pibo (1068). Ihm folgten Adalbero (1069), Bischof Gebhard von Prag (1072), Herimann (1085), Humbert (1089)s'. Als Heinrich formal 1065 die Regierung übernahm, war italienischer Kanzler Bischof Gregor von Vercelli, dem 1079 Bischof Burchard von Lausanne und zu einem ungewissen Zeitpunkt (nach 1088) Bischof Ogerius von Ivrea folgtens2. Soweit sie nicht schon früher ein Bistum innehatten, sind alle Kanzler Bischöfe geworden außer Adalbero, der im Sommer 1077 zum Gegenkönig übergings3. Die Kanzler gehörten zum engsten Beraterkreis und kamen zweifellos häufig in persönliche Berührung mit dem König. Vielfach sind sie auch zu auswärtigen Verwaltungsfunktionen oder zu diplomatischen Missionen verwandt worden. Doch scheinen unter den ihm nahestehenden Bischöfen und Raten einige den Kanzlern an Einfluß mindestens gleich gewesen zu sein. Mit der Herstellung von Urkunden und Briefen haben die Kanzler nur ausnahmsweise envas zu tun gehabt. Diese Aufgabe fiel bekanntlich ständig beschäftigten Notaren, daneben aushilfsweise ratigen Schreibern zu, von denen die Texte konzipiert und mundiert wurden. O b der König oder der Kanzler dieses Personal bestellte, ist ungewißS4.In der Recognitionszeile werden aber nur die Kanzler genannt, während die von der neueren Forschung ermittelten Notare von ihr nur mit einer Sigle bezeichnet zu werden pflegen (AdalberoC). Bei dem Zustandekommen der Konzepte konnten auch Empfänger mitwirken, von denen Vorurkunden und andere beglaubigende Texte vorgelegt werden konnten. Es gibt seltene Hinweise dafür, daß eingereichte Urkunden vor dem König verlesen wurdens5. Dieser wurde außerdem mindestens in der Regel bei der Unterschrift (Vollziehungsstrich) tätig. So muß er bei dem Zustandekommen der Urkunden mit dem Kanzler oder dessen Stellvertreter sowie einem oder BRESSLAU, Handbuch dcr Urkundenlehre für Deutschland und Italien I, Berlin-Leipzig '1912, 80 HARRY S.452. 81 DIETRI~H VON GLADISS - ALFRED GAWLIK, Die Kanzlei Heinrichs IV. (MGH DDGerm. 6,3, bearb. GAWLIK, Hannover 1978, S.XX1-LXXXIV) S.XXXVff.; über die Kanzlerschaften der von ALFRED letzten Jahre ebd. S.XLVIIff. 82 Ebd. S.LXXIIIff. 83 Ebd. S. XXXVIII. 84 Bn~ssL~n (wie Anm. 80) I, S.4581. 85 BRESLAU (wie Anm. 80) 11, Berlin-Leipzig '1915, S. 28f. Anm. 7, wo auch DH IV 476 (wie Anm. 6) (von zweifelhafter Geltung) zitiert ist.

auch mehreren Notaren persönlich zusammengekommen sein. Es mögen, besonders bei wichtigen Verfügungen, weitere Persönlichkeiten, die am Hof weilten, dabeigewesen sein. Für unsere Fragen bedeutsam sind die dabei erfolgenden persönlichen Kontakte. O b diese zu irgendwelchen, wenn auch noch so seltenen Einwirkungen des Königs auf den Inhalt von Urkunden führen konnten, ist nicht zu ermitteln. Andererseits darf wohl nicht bezweifelt werden, daß der König in gewissem Maß Kenntnis von Texten oder Teilen von ihnen nahm. Zu der goßen Menge von Diplomen kommen Briefe. Aus der Zeit Heinrichs IV. sind 42 überliefert. Das sind fast doppelt so viele als aus den anderthalb Jahrhunderten vom Ausgang der Karolingerzeit bis auf HeinrichIII. Die Periode hat begonnen, in der sich der Briefverkehr steigerte und das Interesse an literarischen Briefsammlungen die Überlieferung begünstigtes6. Unter den im Namen HeinrichsIV. geschriebenen und versandten Briefen sind zahlreiche, in denen prinzipielle Auffassungen dargelegt werden. Die neuere Forschung hat über ihre Verfasser und Schreiber verhältnismäßig genaue Feststellungen machen können. Zwei von ihnen sind sogar mit bekannten Personen identifiziert worden. Von ihnen hat der Notar AdalberoC, der schon lange als der nachmalige Propst Gottschalk von Aachen erkannt ist, zehn der Briefe verfaßt (1075-1103/05)87, der Kapellan, dann Kanzler Erlung, der schließlich Bischof von Würzburg wurde, achts8. Gottschalk ist außerdem Diktator zahlreicher Diplome, während sonst keiner der Kanzleinotare auch Briefe hergestellt hat. Es ist vielmehr anzunehmen, daß Bischöfe oder Räte dabei tätig wurden, zuletzt wohl auch Geistliche, die dem König nur vorübergehend nahegetreten sind". Unter den Briefen sind jene aus der Konfliktzeit von 1076, ferner die großen Schreiben, in denen sich der Kaiser gegen den abgefallenen HeinrichV. verteidigt. In ihnen kommen die Auffassungen vom Königtum wohl am klarsten zum Ausdruck. Deshalb ist die Frage dringlich, ob und wie sie mit Heinrichs Denken und seiner Politik zusammenhängen. Gottschalk ist der Verfasser von Heinrichs Brief an Klerus und Volk der römischen Kirche, des zweiten propagandistischen Absetzungsschreibens (descende, dercende) und des Einladungsschreibens zur Pfingstversammlung in WormsgO.Nicht von ihm stammt das ursprüngliche Absetzungsschreiben, ebensowenig Heinrichs Briefe an GregorVII. von 1073 und 10759'. Carl Erdmann hat seine Charakteristik Gottschalks wesentlich auf dessen Briefen aufgebaut. Er erkennt zwar an, daß Gottschalk es war, .der dem Streit vor der Öffentlichkeit jene Wendung ins Theoretische und Grundsätzliche gab, die sich dann jahrzehntelang ausgewirkt hat.. Andererseits meint er, ndaß dieser verstiegene Theologe kein praktischer Politiker war und keinen bestimmenden Einfluß auf die Beschlüsse Heinrichs ausübte«92. Aber wie sollen wir dies wissen? Bei den nicht von Goitschaik geschriebenen oder erwähnten Briefen findet es Erdmann annehmbar, ,>daßsie aus Sonderheratungen hervorgingen~~j. Ist nicht das Gleiche für die von ihm verfaßten wahrscheinlich? So muß man es für möglich 86 CARLERDMANN, Unterruchun:en zu den Briefen Heinrichs IV. Archiv für Urkundenforschung 16, 1939, S.184-253) S. 185f. 87 ERDMANNvofi GLAD~SS (wie Anm.25) S. 165ff.; ERDMANN, Untersuchungen (wie Anm. 86) S. 250f. 88 ERDMANN, Untersuchungen (wie Anm. 86) S.238ff. 89 Ebd. S.253. 90 Briefe HeinrichsIV. (wie Anm. 25) Nrn. 10, 12, 13, S. 31 ff., S. 39ff. 91 Ebd. Nrn.11, 5, 7, S.l3ff., Sf:, 10f. 92 ERDMANN -VON GLADISS (wie Anrn.25) C. 156f. 93 Ebd. S. 152.

DER CHARAKTER KAISER H E I N R I C H S

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halten, daß Heinrich wenigstens ungefähr hewußt war, was man in seinem Namen verkündete. Es ist unmöglich zu erkennen, wieviel von dem Inhalt dieser Briefe Heinrichs geistiges Eigentum ist und selbständige Willensäußerung, wieviel er von seinen Beratern oder den Diktatoren übernommen hat. Aber daß ihn und seine Umgebung die Idee des theokratischen Königtums in der Auseinandersetzung mit den Päpsten bewegt hat, ist nicht zu bezweifelnY4. Es läßt sich ferner vermuten, daß besonders in Heinrichs letzten Briefen viel von seinen eigenen Gedanken und bitteren Gefühlen aufklingt. Der Kaiser hatte nach seiner Flucht aus Ingelheim in Bischof Othert von Lüttich, den Bürgern von Köln, Herzog Heinrich von Niederlothringen, Graf Gottfried von Namur und Graf Roben von Flandern Helfer gefunden. Mit der alten Energie versuchte er, von diesem engen Raum aus seinen Geltungsbereich zu erweitern. Er soll sich mit Eifer um militärische Rüstung gekümmert haben. Aber in diese Zeit fallen auch die letzten großen Propagandahriefe an Hugo von Cluny, PhilippI. von Frankreich, HeinrichV. und die Reichsfursten, die, möglichst weit verbreitet, die Anhänger ermutigen, die Feinde unter Druck setzen sollteny5.In dieser Notlage stand dem Kaiser wohl kein Personal mehr zur Verfügung, das sonst am Hof Schriftstücke angefertigt hatte. So wurden vielleicht gelehrte und schreibkundige Kleriker aus den damaligen Aufenthaltsorten herangezogen, die vom Kaiser oder seiner nächsten Umgehung informiert gewesen sein mögeny6.So enthalten diese Briefe viele Klagen über das bittere Unrecht, das ihm widerfahren war, von seinen unglücklichen Erlebnissen in den letzten Monaten, von den verzweifelten Versuchen, doch noch zu einem Frieden mit Papst und Kirche zu kommen. Ihre Thematik ist bedingt von außen, von der Notsituation, die eine freiere Entfaltung der Persönlichkeit gewiß nicht mehr erlaubt. Unsere Beobachtung des Verhältnisses HeinrichsIV. zu seiner persönlichen Umgehung läßt einige vorsichtige Schlüsse zu. Sein Verhalten zu dem engen Kreis seiner geistlichen und weltlichen Berater spricht für eine konsequente und bedachte Menschenbehandlung. Ihnen gegenüber benimmt er sich keineswegs schwankend und unzuverlässig, wie man es ihm in älteren und neueren Zeiten oft vorgeworfen hat. Und mit den Personen, die seine Urkunden und Briefe konzipieren, steht er in einer gewissen persönlichen Verbindung, so daß angenommen werden darf, daß er im wesentlichen von ihrem Inhalt unterrichtet war, ihn vielleicht sogar mehr oder weniger mitbestimmte. Gewiß wird das M& seiner Orientiertheit und seiner Beteiligung nicht in allen Situationen gleich gewesen sein. Aus allen diesen, von anderen stilisierten Schriftstücken eine genauere Vorstellung von seinem Charakter zu gewinnen, ist unmöglich. Immerhin läßt sich wenigstens so viel feststellen, daß Heinrich IV. ein König war, der die Zügel nicht überwiegend anderen überließ oder gar zur Untätigkeit neigte, sondern in einem beträchtlichen Maß selbst Entscheidungen traf. Deshalb kann versucht werden, von den erkennbaren Akten seiner Regierungszeit vorsichtig auf seine Persönlichkeit zurückzuschlie-

94 TELLENBACH, Westliche Kirche (wie Anm. 14) S. 189. 95 Briefe HeinrichsIV. (wie Anm. 25) Nrn. 3742, S. 46ff. 96 ERDMANX, Untersuchungen (wie Anm.86) S.252f.; ZIMMERMANN, HeinrichIV. (wie Anm.79) S. 131: versierte Räte stilisierten die letzten Briefe und Manifeste nach des Kaisers Anweisungen.

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GERD TELLENBACH

ßeng7. Dabei mufl aber vermieden werden, über die oft engen Grenzen des Erkennbaren hinauszugehen und sich in Vermutungen zu verlieren. Heinrichs Verhalten im Januar 1076 und in den folgenden Frühjahrs- und Sommermonaten wird mit Recht übereinstimmend leichtfertig, übereilt, unrealistisch genannt. Umso unbegreiflicher ist es, daß ihm damals fast der gesamte deutsche Episkopat zustimmte, darunter auch solche Bischöfe, von denen man eigentlich Widerspruch erwartet hatte. Heinrich ließ sich hemmungslos und schroff zu einem aussichtslosen Vorgehen hinreißen, was seinem Verhalten vor und nach dieser katastrophalen Fehlentscheidung durchaiis nicht entspricht. Als er am Ende der sechziger Jahre begann, selbständig zu regieren, waren acht und Ansehen des Königtums schwer beschädigt. In dieser bedenklichen Lage zeigte Heinrich seit seiner Wehrhaftmachung immer wieder Nachgiebigkeit, Anpassung, nüchterne Kompromißhereitschaft, die Fähigkeit, abwartend Entschlüsse und Plane aufzuschieben oder abzuändern. Erinnert sei etwa daran, wie er sich 1066 in Trihur dem erpresserischen Begehren der Fürsten fügte, Adalhert von Bremen zu entlassen, wie er in der Ehefrage nicht nur nachgab, sondern mit der verschmähten Braut bald in ein mindestens normales, vielleicht sogar gutes Verhältnis kam, wie er die Bischöfe Kar1 von Konstanz und Hermann von Bamberg fallen ließ, das ihn beleidigende Attentat auf seinen Erzieher und Freund Kuno zunächst ignorierte, den Sachsen Lünehurg preisgab, um seine treue Besatzung zu retten, sich mehrfach mit den süddeutschen Herzögen versöhnen ließ und sie sogar nach langem Widerstreben zum Kampf gegen die Sachsen gewann, wohei er ihnen wahrscheinlich handfeste Konzessionen wie er 1073 durch das demütige Schreiben an GregorVII. den Druck von dieser Seite zu erleichtern suchte. Das alles spricht nicht für einen starren, die Folgen seines Verhaltens nicht vernünftig bedenkenden Charakter. Den skandalösen Ausbruch in Worms kann man vielleicht am ehesten mit dem Sieg über die Sachsen erklären. Ihr Widerstand hatte wohl von seiner frühesten Jugend an seine besten Hoffnungen zerstört, seine Hilflosigkeit gegen ihr aggressives Auftreten in Goslar, gegen ihr barbarisches Wüten auf der Harzburg ihn zutiefst verletzt und gequält. Da sah er sich in dem Augenblick, in dem er sich endlich von dieser vitalen Gefährdung befreit fühlte, vom Papst so hart bedroht wie noch nie, und bestärkt durch die empörten Stimmungen innerhalb des Episkopats, verlor er Maß und Realitätssinn. Doch schon nach wenigen Monaten fand er zu seinem früheren vorsichtigen und elastischen Regierungsstil zurück. Das zeigten die Zugesfandnisse in Oppenheim, besonders die ihm sicher schmerzliche Preisgabe der treuen Wormser, am meisten die Demütigung in Canossa. Dem Gegenkönig und seinen Anhängern, mit dem keine Verständigung mehr möglich war, leistete er energischen Widerstand, wohei er richtig mit der wirksamen Unterstützung der heimischen Gegner seiner Feinde rechnete. Den Forderungen des Papstes begegnete er hinhaltend, vorsichtig ausweichend, in der Form entgegenkommend, und er sah sogar darüber hinweg, daß einer der päpstlichen Legaten entschlossen die Partei seiner Gegner ergriff und ihn sogar entgegen den Anweisungen des Papstes erneut bannte. Der abermalige 97 Vgl. o. S.346 und die treffende Bemerkung von RUDOLF SCHIEFFER, HeinrichIII. (1039-1056) (Kaisergestalren des Mirreiaiters [wie Anm.791 S.98-115) S. 115: .Der Mensch, der sich hinter dem historischen Geschehen verbirgt, isr "ns so wenig wie die meisten anderen Herrschergestalten des frühen

Mittelalters durch verbürgte eigene Außeningen fa5bar.u 98 Vgl. o. S. 356, Anm49.

DER CHARAKTER KAISER HEINRICHS

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Bruch mit Gregor erklärt sich wahrscheinlich nicht durch eine offene Weigerung, dessen Entscheidung anzunehmen, sondern einfach durch Heinrichs wachsendes Übergewicht in Deutschland, das den Papst in die Sorge versetzte, daß der von ihm geforderte Schiedsspruch praktisch-politisch bedeutungslos würdew. So ging 1080 der endgültige Bruch zwischen Gregor und Heinrich wohl doch vom Papst aus. Carl Erdmann ist bei seinen Untersuchungen der Briefe Heinrichs IV. auf den Unterschied der Schreibweise der früheren Kaiser und ihres Sohnes und Enkels aufmerksam geworden. *In ottonischer und frühsalischer Zeit hatten die Kaiser stets als Herren geschrieben, unter HeinrichIV. herrschte statt Vorschrift und Befehl die Bitte.. ->>DasKönigtum ist höflich und bescheiden geworden.. Erdmann beobachtete bei Heinrich auch eine Neigung, Entschlüsse und Zugeständnisse aufzuschieben'". Er kann um Verschiebung einer erbetenen Schenkung bis zu einem persönlichen Zusammentreffen mit dem Petenten bitten oder kündigt durch Gesandte nur eine weitere Gesandtschaft zur endgültigen Behandlung eines Problems an. Er ist höchst fähig, Zeit zu gewinnen und definitive Zugeständnisse zu verzögern. Man hat ihn einen >>Meisterin der Kunst, seine Feinde zu spaltenBischofcivitas ' ,' Hanimartin Schwarzmaier, Kirlrrzhe Die Gründung des Prämonsriatenserkiosters Allerheiligen. Ein Beiriag zum Thema ,Staufer- Welfen - Zähringen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diecer Merienr, Tübrngen Beutelsbach und Wirrembeig irn Codex Hirsaugiensis und in verwandten Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hxbert Houbrn, Lecce Eine Mönchslisre aus den Abruzzen (S. Giovanni in Venere, I. Januar 1200) . . . . Berent Schwineköpei, Freiburg i. Br. Hochmirtelaiterliche Fürstenbegrabnisse, Anniversarien und ihre religiösen Motivationen. Zu den Rätseln um das Grab des letzten Zihringers (BerrholdV. 11861218). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michaei Boigoice, Freibzig i. Br. Nepotismus und Papstmemoiia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . RoifSprandei, Würzburg Studien zu Heinrich von Herfoid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hagen Keller, Münrter ~Kommune*:Städtische Selb~tre~ierung und mirieialterliche sVolkrhernchaftim Spiegel italienischer Wahlveriahren des 12.-14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Schriften von Kai! Schmid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Orts- und Peisonennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .