Patrice Ojoufack Der Selbe und der Andere

Patrice Ojoufack Der Selbe und der Andere L1TERATURWISSENSCHAFT Patrice Djoufack Der Selbe und der Andere Formen und Strategien der Erfahrung d...
Author: Alma Hofer
1 downloads 0 Views 3MB Size
Patrice Ojoufack

Der Selbe und der Andere

L1TERATURWISSENSCHAFT

Patrice Djoufack

Der Selbe und der Andere Formen und Strategien der Erfahrung der Fremde bei Franz Kafka

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Leo Kreutzer

Deutscher Universitats-Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber abrufbar.

Dissertation Universitat Jaunde II Universitat Hannover, 2002 Gedruckt mit Unterstutzung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAADI.

1. Auflage Juni 2005 Aile Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2005 Lektorat: Ute Wrasmann I Viktoria Steiner Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media . www.duv.de Das Werk einschlieBlich aller seiner TeBe ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verla.9s unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden duriten. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf siiurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

ISBN-13 978-3-8244-4584-4 001: 10.1007/978-3-322-81348-0

e-ISBN-13 978-3-322-81348-0

Fiir Lole Fiir Martina

Geleitwort Ausgangspunkt und Pointe der Dissertation von Patrice Djoufack ist die Beobachtung, daB es in Kafkas Erziihlen zu interkulturellen Konfrontationen des Selben und des Anderen auch ganz ohne Bezug auf ethnographische Sachverhalte komme. Diese Beobachtung nimmt der kamerunische Germanist zum AnlaB, an ausgewiihIten Texten Kafkas in exemplarischer Absicht Formen und Strategien einer Erfahrung der Fremde zu untersuchen, bei der es sich nicht urn eine ethnographische Erfahrung handelt. Bevor er in die Analyse der von ihm fUr seine Untersuchungszwecke ausgewiihlten literarischen Texte eintritt, befragt Djoufack eine Reihe von Kafka-Texten, die er mit Gerard Genette als ,,Paratexte" einstuft, nach Zusarnmenhiingen zwischen Kafkas asthetischer und interkultureller Erfahrung vor dem Hintergrund biographischer Konstellationen. Wenn er in diesem Ersten Teil seiner Dissertation bemiiht ist, aus Dokumenten, die er als "halbfiktional" klassifiziert, niimlich aus Kafkas Tagebiichem, Briefen, Oktavheften usw., dessen personliche Erfahrung der Fremde zu rekonstruieren, so geschieht das jedoch nicht in der Absicht, den Text-Analysen des ,,zweiten Teils" einfach Kafkas Selbstaussagen zugrunde zu legen. Vielmehr diskutiert Djoufack Kafkas Selbstdeutungen durchgiingig im Kontext einschlagiger theoretischer Diskurse. Mit diesem Vorgehen schiitzt er sich einerseits davor, theoretische Vorarmahmen allgemeiner Art aufKafkas Erziihlen anzuwenden und damit Gefahr zu laufen, dieses in seiner Besonderheit zu verfehlen; er schiitzt sich andererseits davor, den Abstand zwischen autobiographischer Reflexion und literarischem Werk einzuziehen. Indem Djoufack im Ersten Teil seiner Dissertation erortert, wie Kafkas Selbstaussagen sich zu verwandten Theorieansatzen verhalten, wo sie mit diesen iibereinstimmen, vor aHem aber, wo sie von ihnen abweichen, vermag er sich fUr die Text-Analysen des Zweiten Teils ein theoretisches Riistzeug zu erarbeiten, das zureichend systematisiert ist und zugleich gewahrleistet, daB ihm Kafkas Erziihlen nicht, wie nur allzu oft in der Kafka-Forschung, lediglich zum Beleg und zur Illustration langst als ausgemacht geltender Theoreme dient. Bei den Texten, die im Zweiten Teil detailliert ausgelegt und erortert werden, handelt es sich urn die Erziihlungen ,,Die Verwandlung" und ,,Das Urteil" sowie urn die Roman-Fragmente ,,Das SchloB" und ,,Amerika". In seiner Analyse der "Verwandlung" legt Djoufack dar, wie prekiir eine bloBe Duldung des Fremden sei und wie sie dieser ErziihIung zufolge nachgerade zwangslaufig in dessen Eliminierung urnschlage. Die Art und Weise, wie Kafka den Ablauf der ErziihIung aus einer von Natur aus unmoglichen ,,Kreuzung" zwischen Mensch und Tier entwickelt, nimmt Djoufack iiberdies zum AnIaB, in einem Exkurs Kafkas Einstellung zum Phiinomen einer Hybridisierung zu kliiren. Von den im weiteren herangezogenen Erziihltexten scheint sich das "Urteil" auf den ersten Blick am wenigsten fUr eine Erkundung interkultureller Konstellationen in Kafkas Werk

VII

anzubieten. Djoufack kann jedoch nachweisen, wie auch hier von einem Verhaltnis zwischen dem Selben und dem Anderen erziililt werde. Denn indem der Vater sich dort dem Sohn gegeniiber als Reprasentant von dessen "russischem Freund" ausgibt, nimmt der Familienzwist Ziige eines interkulturellen Konfliktes an. Insofem ist dieses zweite Kapitel des Zweiten Teils sogar besonders geeignet, Djoufacks These zu stutzen, Darstellungen von Interkulturalitat flinden sich in Katkas Erziililen auch dort, wo ethnographische Merkmale fehlten.

Am Roman "Das SchloB" interessieren Djoufack insbesondere die Kampfe, die der Autor den Landvermesser K. urn seine Integration in Dorf und SchloB fiihren laBt, sowie die Strategien, mit denen seine Ausgrenzung durch die Einheimischen, als die Selben, betrieben wird Auch hier wird gezeigt, wie eine bloBe Duldung des Fremden in seine Ausgrenzung miinden muB. Obwohl Kafka in seinem Amerika-Roman ganz auf eine ethnographische Ausstattung verzichtet, gelingt es Djoufack, auch an diesem Roman zu zeigen, wie Interkulturalitat dort ebenfalls als Konfrontation des Selben und des Anderen konstituiert werde. Was Karl RoBmann in den Vereinigten Staaten widerfahre, habe, so wird gezeigt, durchgehend damit zu tun, daB es ihm als Einwanderer nicht gelinge, sich an die SpieJregeln zu halten. Das taten in gewisser Hinsicht sogar die AuBenseiter dieser Gesellschaft, mit denen er zu tun bekomme. Sie gehOrten deshalb ebenfalls zu den Selben. DaB die Dissertation durchgiiJlgig theoriegeleitet ist, hindert den Verfasser nicht daran, sehr nah an die literarischen Texte heranzugehen und sich sehr genau auf sie einzulassen. Die theoretische Durchdringung des Materials verstellt nirgendwo den Blick auf das Erzahlen, man hat vielmehr den Eindruck, daB der Riickgriff des Verfassers auf Katkas Selbstreflexion und die Einbeziehung angrenzender theoretischer Diskurse sein Wahrnehmungsorgan fUr Kafkas Erziihlen geschiiIft haben. Leo Kreutzer

VIII

Vorwort Die vorliegende Dissertation entstand im Kontext der Auseinandersetzung mit europaischer und speziell mit deutscher Literatur in Schwarzafrika. Sie entwickelt sich aus offen gebliebenen, bislang im Grunde ungelosten Fragen, die bei unserer Lektiire von Kafkas Roman Der Prozess bereits in der Abschlussklasse aufgeworfen wurden. Sie versteht sich deswegen als Versuch einer Emanzipation aus dem geschlossenen Zirkel der uns Schiilem und Studenten damals im Frontalunterricht angebotenen Interpretationsmuster, die durchgehend von der Kafka-Interpretation in Frankreich gepragt waren. Zaghaft versuchten wir damals eine zufriedenstellende Antwort auf die heikIe Frage nach dem Absurden in Kafkas Werk, oder gar anders: nach der Absurditat (!) von Kafkas ProzessRoman zu finden. Wir lasen die franzosische, und spater die deutsche Originalfassung des Romans von vom bis hinten und wieder und wieder, doch wir fanden keine Antwort auf unsere Fragen: Wer hat Josef K. verleurndet? War das iiberhaupt eine Verleumdung? Wie lautet die Anklage? Und wie verhalt es sich mit dem UrteiI? Wer hat es gesprochen? Welches Gericht? War das iiberhaupt ein Gericht? Auf diese Fragen hatten unsere Lehrer und manche Dozenten bereits eine Antwort parat: Das sei es eben: L'absurde! Nur, diese Zauberformel brachte mich nicht weiter. Als im kommenden Studienjahr Kafka im Programm eines Dozenten stand, erhoffte ich eine andere Antwort aufmeine Fragen. Jedoch interessierte iIm nur Kafkas Brief an den Vater, den Vater-SoIm-Konflikt und Kafkas Liebesbeziehungen. Kafka habe seinen Vater gehasst. Er sei iiberhaupt unfahig gewesen, Frauen zu Iieben. Dieses biografische Interpretationsmuster war aIIes andere als zufriedensteIIend. Die deutschen Interpretationen, die ich las, kreisten ihrerseits urn die Existenzfrage, urn die Kritik einer unverstandlich gewordenen, von unsichtbaren Mlichten beherrschten burgerlichen Welt, die den Menschen unterdriickt. Es waren auch psychoanalytische Interpretationen, die dem Odipuskomplex in Kafkas Werk sowie Kafkas gestorter Beziehung zu Frauen u.a.m. auf der Spur waren. Das Sprachproblem bei Kafka biidete auch ein beliebtes Interpretationsthema, wobei Katkas Sprachkrise als ein Phiinomen betrachtet wurde, das generell bei burgerlichen Autoren zu finden ist. Obgleich diese Interpretationen Licht warfen auf Kafkas Werk, fanden meine Fragen kaurn eine Antwort. Als wir uns damaIs, im dritten Studienjahr, im RaIunen der von Herm Dr. - inzwischen Prof Dr. - Alioune Sow veranstalteten Seminare erstrnals mit Fragen der Interkulturalitat, eines interkultureIIen Denkens mit Literaturwissenschaft befassten, wurde ich auf eine andere Fahrte gebracht. Ich verstand, dass die bei meiner Beschiiftigung mit Kafka m.E. immer wieder kurz geschlossen Frage, was denn in Kafkas Werk los ist, anders formuliert werden soIIte, und zwar: wie konstruiert er seine Welten? Und vor aIIem: wie thematisiert er seine personlichen interkultureIIen Erfahrungen? Wie werden kultureIIe Begegnung in seinem Werk

IX

dargestellt? Mit diesen Fragen sollte das Augerunerk auf die Erfahrungsweise des Fremden und auf die Art gerichtet werden, wie mit ibm umgegangen wird. Durch ein Gleiten von der hermeneutischen Frage: was? zur asthetischen Frage: wie konnte der Interpretationsrahmen gesprengt werden, innerhalb dessen ich keine Antwort auf meine Fragen fand. Sollte meine Interpretation zu einer anderen Lesart von Katkas Werk, mithin zu einem Nachdenken iiber kulturelle Begegnungen fiihren, ware mein Ziel erreicht. Diese Arbeit konnte ohne die finanzielle Unterstiitzung des DAAD nicht zustande kommen. Dass ich meine Dissertation an der Universitat Hannover erarbeiten konnte, habe ich dieser Institution zu verdanken. Eine Promotion im Fach Germanistik ist an unseren heimathchen Universitaten in Anbetracht der sparhch ausgestatteten Bibliotheken unmoglich. Ich danke Prof Dr. Joseph Gomsu, Prof Dr. Alioune Sow und Dr. Walter Beller fUr ihre kritischen Fragen und fUr ihre Bereitschaft, meine Manuskripte zu lesen. Ihre Riickmeldungen waren fUr rnich ein wichtiger Halt. Prof Dr. Simo und Prof Dr. Leo Kreutzer mochte ich hier meinen besonderen Dank aussprechen. Sie hatten sich unverziighch erkliirt, meine Doktorarbeit zu betreuen und haben sie trotz der Distanz zwischen Hannover und Jaunde von Anfang bis zum Ende durch ihre Fragen, Ratschlage und unermiidhch durch ihr Engagement unterstiitzt.

Patrice Djoufack

x

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Erster Teil 1 Interkulturelle Erfahrung und ethnographischer Reiz 2 Asthetische als interkulturelle Erfahrung 2.1 Sprache als Handicap 2.2 Kafkas Verhiiltnis zur Tradition

3 Von der Suspension des Ethischen im Glauben zur Sakularisierung des ReligiOsen 4 Kafkas Erfahrungsweise der jiidischen Tradition und deren Wirknng auf sein Schreiben 4.1 Problemstellung 4.2 Zuriick nach Zion: Mit dem Finger auf der Landkarte 4.3 VerhiiItnis zum aschkenasischen Judentum 4.3.1 Mystisches Wissen in Katkas Erzahlen 4.3.2 Von der Erfahrung ostjiidischen Theaters zur eigenen Iiterarischen Produktion

5 Zur Funktion der Literatur Zweiter Teil 1 Die Verwandlung 1.1 Einleitendes 1.2 Jenseits des Traumes 1.3 Allegorie und Prosopopiia: Zur Stilisierung des Anderen und des Selben 1.3.1 Gregor Samsa, der Andere 1.3.2 Familie und Prokurist: Der Selbe 1.4 Exkurs: Hybriditiit, der Selbe, der Andere 1.5 Elemente des Lachens 1.5.1 Gregor - die Familie Samsa - Der Prokurist: Verwandlung als Lachstrategie \.5.2 Gregor und seine FamiIie: Das Prinzip Duldung 1.5.3 Tiir auflTiir zu: Die Schwelle 1.5.4 Sichtbar/unsichtbar: Zum Verhiiltnis von Mensch und Tier in einem Raum

1 11

12 17 17 28

37 43 43 45 52 53 61

68 75 76 76 78 80 84 93 98 110 112

113 114 122

XI

1.5.5 Doppelgangergestalten

2 Das Urteil

124 131

2.1 Einleitendes

131

2.2 Heimat versus Fremde

133

2.2.1 Auswanderung: Zur Stilisierung des Fremdwerdens 2.2.2 Der Brief als Strategie der Grenztiberschreitung 2.3 Von Freud zuKafka

2.3.1 Der Konflikt zwischen Vater und Sohn 2.3.2 Von der Skizze ,,Die stadtische Welt" zur Erzahlung ,,Das Urteil" 2.4 Verfremdung, Rollenspiel, Maske

3 Das Schloss

135

142 148

148

159 162

174

3.1 Zum Dorf- und Schlossmotiv im Roman

174

3.2 Das Alte, das Neue, das Fremde

176

3.3 K.s Kampf um Integration

184

3.3.1 Liige/Wahrheit, Verstellung 3.3.2 Instrumentalisierung der Liebe 3.3.3 AusgestoBene als Zugang zum Schloss 3.4 Das Schloss und K.: Strategien der Ausgrenzung

3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Reduktion und Verschiebung Ambivalenz von Amtlichem und Privatem Labyrinthische Elemente Proteus: Erscheinungsvielfalt und/oder das Unfassbare

4 Amerika 4.1 Die Konstruktion von Amerika

4.1.1 Von einem Traum von Amerika zum Roman Amerika 4.1.2 Exodus oder: ,,Ein Sprung ins Unbekannte" 4.1.3 Zur Konstitution von Amerika als einer Fremde

184 187

192 197

197

199 202 207

212 212

212 214

217

4.2 Dekonstruktion als Verfahren

223

4.3 Aufnahme und Vertreibung: Zum Umgang mit dem Anderen

225

4.4 Ein Exkurs iiber (Kinder)Erziehung

233

Schlusswort: Kafkas Inszenierung der Interkulturalitat

239

Literaturverzeichnis

245

XII

Einleitung Kafka war Jude, lebte in Prag unter Tschechen und schrieb in deutscher Sprache. Untersucht wird in dieser Arbeit die Art, wie interkulturelle Erfahrungen Kafkas Schreibweise gepragt haben, und aufwelche Weise sie zugleich in seinem Werk thematisiert werden. Ausgangspunkt meiner Analyse ist die Orientierungslosigkeit von Kafkas Heiden, sind die von der Kafkaforschung als widerspriichlich charakterisierten Konstellationen in seinem Werk. Mir liegt nicht daran, den Schltissel schlechthin zu Kafkas Werk zu finden. In diesem Sinne rnache ich mir den folgenden Hinweis von Roland Barthes zu eigen: ,,Le recit de Kafka autorise mille clefs egalement plausibles, c'est

a dire qu'i! n'en valide aucune."l Mir geht es

lediglich darum, einen in der Kafkaforschung bislang kaum beriicksichtigten Aspekt mit der Hoffnung zu behandeln, eine neue Interpretationsperspektive zu eroffnen und vielleicht dadurch die Kafkaforschung zu befruchten. Dieser Aspekt ist der der Interkulturalitat. In der inzwischen uniiberschaubar gewordenen Sekundarliteratur tiber Kafka ist der Kameruner Germanist Simo der Frage nachgegangen, wie Interkulturalitat zugleich Thema und Schreibweise Franz Kafkas ist. 2 Er geht damit tiber einen von Marthe Robert und, ihr folgend, Roland Barthes vorgeschlagenen Interpretationsansatz hinaus: Robert und Barthes hatten unterstellt, das Wesen der Literatur, zumal von Kafkas Literatur, sei nichts Anderes als ihre Technik. 3 Simo dagegen sieht Kafkas interkulturelle Wahrnehmungsweise als ein heuristisches Moment, als ein Moment, das Kafkas Schreibtechnik prage und von ihm thematisiert werde. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Weiterfiihrung und Vertiefung von Simos Ansatz. Dabei mochte ich Simo jedoch nicht hinsichtlich der Art und Weise folgen, wie er die Kategorien der Interkulturalitat und der asthetischen Erfahrung mit ethnographischer Erfahrung in Verbindung bringt. In seinen Analysen sieht Simo die Moglichkeit der Erfassung und der Darstellung der Interkulturalitat mit Hilfe der Kategorie der asthetischen Erfahrung. Beide verbindet er in seiner Studie tiber Hubert Fichte nun aber mit der Kategorie der ethnographischen Erfahrung, und zwar so: "Hans Robert JauB unterscheidet drei Seiten der asthetischen Erfahrung: die rezeptive, die kommunikative und die produktive. Diese Seiten decken sich mit den von Aristoteles beschriebenen Bereichen der Aisthesis, Katharsis und Poiesis. Dieselben Seiten lassen sich auch in der Ethnographischen Erfahrung identifizieren. Auch hier haben wir die Ebenen des

I

2

3

R. Barthes, 1964, La n\ponse de Kafka, in ders., Essais critiques, Paris, 138-142, hier 140; vgl. auch P. U. Beicken, 1974, Franz Kafka. Eine kritische Einfuhrung in die Forschung, FrankfurtlM., 99f.; vg1. auch M. Miiller, 1994, So viele Meinungen! Ausdruck der Verzweiflung? Zur Kafka-Forschung, in: Text + Kritik. Sonderband Franz Kafka, hg. von H.L. Arnold, Miinchen, 8-21. Simo, 1996, Interkulturalitat als Schreibweise und als Thema Franz Kafkas, in: Andere Blicke. Habilitationsvortriige afiikanischer Germanisten an der Universitiit Hannover, hg. von L. Kreutzer, Hannover, 126-141. Vgl. R. Barthes, La n\ponse de Kafka, a.a.O., 140; vg1. auch M. Robert, 1985, Einsam wie Franz Kafka, FrankfurtlM., 161.

Erkennenden Sehens (Aisthesis), des Affizierens des Sehenden (Katharsis) und der produktiven Verarbeitung des Gesehenen in einem Text (poiesis).,,4 Es handelt sich bei den drei Seiten der iisthetischen Erfahrung nicht notwendigerweise urn sich gegenseitig bedingende Seiten desselben Aktes. Diese konnen sich auch unabhiingig voneinander vollziehen. Simos Verfahren ist im Prinzip legitim. Die Kategorie der ethnographischen Erfahrung macht es moglich, eine Verbindung zwischen dem Schriftsteller und einem Ethnographen herzustellen, der sich der Fremde aussetzt, sie erfahrt und dariiber in einem Text Bericht erstattet. Die vom Ethnographen bezogene Position ist dabei die eines AuEenstenden, der, so Bronislaw Malinowski, "sich das Bild einer fremden Kultur aus den Elementen seiner eigenen und anderer, ihm aus Theorie und Praxis bekannter Kulturen zusammenfiigen. Aile Schwierigkeit und alle Kunst der Feldarbeit besteht darin, von denjenigen Elementen einer fremden Kultur auszugehen, die einem vertraut sind, urn allmahlich die befremdenden und ungewohnten in ein verstandliches Gesamtbild hineinzuarbeiten. Darin gleicht das Erlernen einer fremden Kultur dem Erlernen einer fremden Sprache: zunachst bloBes Sich-Anpassen und rohes Ubersetzen, schlieBlich ein vollkommenes Sich-Loslosen von der ursprunglichen Sprachwelt und wirkliches Beherrschen der neuen. ,,5 Als Erfahrungsmodus der Fremde ermoglicht die Kategorie der ethnographischen Erfahrung eine Pendelbewegung zwischen den Kulturen, eine Bewegung, die bei der Darstellung den (poetischen) Text pragt. Dabei solI noch betont werden, dass eine ethnographische Erfahrung eine iisthetische werden kann, aber nicht jeder poetische Text ist Produkt einer ethnographischen Erfahrung. Simo erweitert mit der Verbindung von iisthetischer und ethnographischer Erfahrung die von JauE bei seiner Bestimmung der Kategorie der asthetischen Erfahrung durchaus ins Auge gefasste "kulturell andersartige Welt", bei der es sich in JauE' Verstandnis urn eine geschichtfiche Ferne zwischen dem Beobachter und dem zu Beobachtenden handelt, urn die Dimension der raurnlichen Fremde6 : Mit der Kategorie der ethnographischen Erfahrung wird die Wahrnehmung und die Darstellungfremder Kulturen erfasst. Diese Wahrnehmung und diese Darstellung konnen sich auch durchaus aus einem Leseakt ergeben. Ein markantes Beispiel 4

5 6

2

Simo, 1993, Interku1turalitat und asthetische Erfaluung. Untersuchungen zum Werk Hubert Fichtes, Stuttgart Weimar, 2. B. Malinowski, 1975, Eine wissenschaft1iche Theorie der Ku1tur und andere Aufsatze, FrankfurtlM., 8. Vgl. A. Wieriacher, 1985, Mit fremden Augen oder: Fremdheit als Ferment. Oberiegungen zur Begriindung einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur, in: Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, hrsg. von A. Wieriacher, Miinchen, 3-28, bes. 12ff Freilich wurde der dort verwendete Begriff einer "echten Fremde" inzwischen mit Recht problematisiert. In diesem Zusamrnenbang schlieBe ich mich den in der Diskussion iiber eine interkulturelle Germanistik erhobenen Einwiinden an. V gI. dazu N. Ndong, 1993, Entwicklung, Interku1turalitiit und Literatur. Oberiegungen zu einer afiikanischen Germanistik als interkultureller Literaturwissenschaft, Miinchen, bes. 34; vgl. auch A. Sow, 1986, Germanistik als Entwicklungs-Wissenschaft? Oberiegungen zu einer Literaturwissenschaft des Faches ,,Deutsch a1s Fremdsprache" in Afrika, Hildesheim. Ziirich. New York, 9; vgl. auch D. Krusche, 1985, Die Kategorie der Fremde. Eine Problemskizze, in ders., Literatur und Fremde. Zur Hermeneutik kultureller Distanz, Miinchen, 129-138, hier 13 I.

einer soIchen Erfahrung stellt der Autor dar, der, fremde Literatur lesend, eigene Texte schreibt. 7 Der Leseakt ist somit auch ein Akt der Wahrnehmung der Fremde, und er kann deren Darstellung ennoglichen. Indem Simo Interkulturalitiit und ethnographische Erfahrung verbindet, bezieht er auch diese von der Leseakttheorie gewonnenen Erkenntnisse ein. Der so gewonnenen Kategorie der ethnographischen Erfahrung bedient sich Simo nun bei der Analyse von Kafkas Werken. Dies kann prinzipiell dadurch begrtindet werden, dass Kafka nicht nur auf jiidische Traditionen zuriickgreift, sondem auch auf europiiische und auf asiatische Diskurse, auf Themen und Motive aus der griechischen Mythologie sowie auf personliche Erlebnisse in der multikulturellen Stadt Prag, so dass in seinem Werk Diskurse aus unterschiedlichen Traditionsstriingen in gebrochener Fonn einander dialogisch gegeniiberstehen. Indes stolpert eine erstmalig in der Kafkaforschung mit Hilfe der Kategorie der ethnographischen Erfahrung durchgefUhrte Analyse von Kafkas Werken iiber Hindernisse, die Simo erkennt und folgendennaBen zum Ausdruck bringt: "Wie seine [Kafkas, P.D.] literarischen Texte belegen, interessiert ihn weniger ,der ethnographische Reiz' (Br. 334), von dem er in einem Brief an Max Brod spricht, d.h. die Mannigfaltigkeit der kulturellen Erscheinungen, als vielmehr allgemeine Probleme, die sich hinter diesen Erscheinungen verbergen. Trotz der ethnographischen Eintragungen in den Tagebiichem, trotz seinem Interesse fiir die Ausdrucksmoglichkeit verschiedener Kulturen, wie seine Lektiire belegt, finden sich in seinem Werk kaum detaillierte ethnographische Darstellungen. ,,8 Simo stellt deshalb eine interkulturelle Lektiire jener Werke in Abrede, in denen ethnographische Angaben nicht deutlich zum Vorschein kommen. Seine ZuriickhaItung begrtindet er in Bezug auf Kafkas Roman Der Verschollene so: ,,zwar wird die Nationalzugehorigkeit vieler Figuren angegeben, aber die Angaben haben keinen EinfluB auf ihre Charakterisierung, und ihre VerhaItensweisen lassen sich kaum auf eine kulturelle Identitat zuriickfiihren. In diesem Roman finden sich zwar einige interkulturelle Vergleiche - Karl Rossmann sieht sich in einem fremden Kontext mit neuen Gewohnheiten konfrontiert -, von einer echten ethnographischen Erfahrung kann aber nicht die Rede sein. Von einer interkulturellen Kommunikation kann in diesem Roman also nur bedingt gesprochen werden. ,,9 In einer der Untersuchungen, in denen sich Simo mit Kafkas Werk befasst, umschreibt er den Begriff "ethnographischer Reiz" mit ,,Mannigfaltigkeit der kulturellen Erscheinungen"IO Das, was Kafka interessiere, sei aber eher die Schilderung von allgemeinen problemen, "die sich hinter diesen Erscheinungen verbergen", als die Mannigfaltigkeit der kulturellen Erscheinungen als solche. Detaillierte ethnographische Darstellungen findet Simo in Kafkas Werk so 7

8 9

Vgl. G. Genette, 1982, Palimpsestes: La litterature au second degre, Paris; vgl. auch 1. Kristeva, 1974, La revo-Iution du langage pot\tique, Paris; vgl. auch A. P. Nganang, 1998, Interkulturalitat und Bearbeitung. Untersuchungen zu Soyinka und Brecht, Munchen. Simo, Interkulturalitat als Schreibweise, a.a.O., 134f Ebd., 135.

gut wie gar nieht. Obwohl man in den Tagebiiehem einige ethnographisehe Eintragungen finden konne, ersehienen doeh in Kafkas literarisehen Werken ethnographisehe Gegebenheiten nur selten. Was Simo dort findet, das sind vordergriindig realistisehe Situationen, hinter denen allgemeine Themen wahmehmbar seien. Hier gehe es, so sehreibt Simo in 8ezug auf Kafkas Notiz iiber den Weltausstellungsneger, urn Themen wie ,,Entwurzelung, Depersonalisation, Maske bzw. Rollenspiel, psyehotisehe Vermisehung von Rollen USW."II Das sind bekanntlieh jene Themen, die nieht fUr eine bestimmte Kultur spezifiseh sind. AllBer in manehen Erzahlungen, so Simo folgeriehtig, wie z.B. Ein Bericht for eine Akade-

mie, In der Strafkolonie, oder aueh in der Eintragung iiber den Ausstellungs-Neger, lassen sieh in der Tat die "Verhaltensweisen und die Charakterisierung der Figuren kaurn auf eine kulturelle Identitat zuriiekfUhren." Eine interkulturelle Lektiire soleher Katka-Texte wird jedoeh aus der Perspektive einer Intertextualitiit moglieh: Der Akt des Lesens fremdkultureller Texte erseheint dabei als Modus der Erfahrung der Fremde, der ebenfalls die Mogliehkeit zu eigener Iiterariseher Produktion eroffnen kann. Das hat jedoeh zur Folge, dass es m.E. problematiseh ist, eine Analyse der Interkulturalitat aufgrund des Fehlens von detaillierten ethnographisehen Angaben in Kafkas Werk in Abrede zu stellen. Genau an diesem Punkt stimme ieh mit Simos Vorgehensweise nieht iiberein. Das Fehlen von ethnographisehen Angaben in den meisten Texten von Kafka erseheint als bewusster Zug des Autors. Etwas Anderes ware vielleicht aueh nieht von dem assimilierten Juden zu erwarten, der Kafka ist. Gewiss, die Angabe der Nationalzugehorigkeit vieler Figuren im Amerika-Roman suggeriert ein Bild Amerikas als eines kosmopolitisehen Staates. Jedoeh tiiusehen diese Angaben die Erwartungen des Lesers. Dies kann dadureh begriindet sein, dass Kafkas Erfahrungen im multikulturellen Prag bei seiner Darstellung eine entseheidende Rolle gespielt haben: Der assimilierte Jude weist vordergriindig keine ethnographisehen Merkmale auf, die ihn von Tseheehen oder von Juden unterseheiden. Hinzu kommt, dass das Mit- und Nebeneinander versehiedener Kulturen, gestarkt dureh den Bruch mit den urspriingliehen Kulturen, zu einer weehselseitigen 8eeinflussung der jeweiligen Kulturen geftihrt hat. Statt eines multikulturellen Staates wird das Bild eines Landes vermittelt, wo kulturelle Partikularitiiten nieht erseheinen oder vielleieht aueh nivelliert wurden, so dass man nur noeh mit Amerikanem zu tun hat. Der frisch eingereiste Karl Rossmann, der das typiseh Bohmisehe zum Ausdruek bringen sollte, unterseheidet sieh von vornherein nieht von den amerikanisehen Figuren. Kafka interessiert sieh ja, wie Simo zureeht bemerkt, nieht rur den "ethnographisehen Reiz". Lasst sieh der Gegenstand der Analyse nieht mehr oder kaum noeh mit der Kategorie der ethnographisehen Erfahrung erfassen, sind kulturelle Merkmale auf der Textoberfliiehe verSiroo, 1996, Interkulturalitat und Asymmetrie. Koloniale Situation und Kommunikationsprobleme bei Kafka. In: Jura Soyfer, Internationale Zeitschrift fur Kulturwissenschaften, hrsg. von der Jura Soyfer-Gesellschaft, Wien, 5. Jahrgang, NT. 2, 3-6, bes. 4, Spalte 1. "Ebd. 4 10

schwunden und treten an ihrer Stelle nur noch "allgemeine Probleme,,12 in Erscheinung, dann muss die Frage gestellt werden, wie das Fremde und das Andere definiert werden konnen, damit gleichwohl von Interkulturalitlit gesprochen werden kann. Diese Bestimmung ist erforderlich, um bei Kafka Interkulturalitlit als Impetus und Modus der poetischen Darstellung erfassen zu konnen. Michel Foucault hat gezeigt, dass der Gegenstand der Untersuchung mitunter zu verschwinden droht, verschwimmt, dass er entstellt, verhehlt wird oder sich gar der Wahrnehmung entzieht. Gerade dann muss man "den Ereignissen dort auflauern, wo man sie am wenigsten erwartet und wo sie keine Geschichte zu haben scheinen".13 Der Selbe und der Andere werden im Folgenden anders als durch ethnographische Merkmale definiert. Zu ihrer Bestimmung greife ich auf die Untersuchungen des Sozialwissenschaftlers Zygmunt Bauman zurUck und mache mir seine Definitionen zu eigen. In seinem Buch Modeme und Ambivalenz14 kommt Bauman auf die Bestimmung des Fremden zu sprechen und unterscheidet diesen von dem Freund und von dem Feind. Die nach Ordnung suchende modeme Gesellschaft unterscheide lediglich zwischen Freunden und Feinden und setze diese in eine Beziehung der Opposition zueinander. ,,Es giibe keine Feinde", so Bauman, "wenn es keine Freunde giibe, und es giibe keine Freunde, wenn es nicht den giihnenden Abgrund der Feindschaft drauBen gilbe.,,15 Erscheinen die Freunde und die Feinde beim ersten Hinsehen als zwei Seiten ein und desselben Sachverhalts und scheinen sie damit in einem symmetrischen Verhitltnis zueinander zu stehen, erweist sich dieses letztendlich als eine Tiluschung. Denn diese Symmetrie sei, so Bauman, "eine lllusion. Es sind Freunde, die die Feinde dejinieren [ ... ] Es sind die Freunde, die die Klassifikation und die Zuordnung kontrollieren. Die Opposition ist eine Leistung und Selbstbehauptung der Freunde. Sie ist das Produkt und die Bedingung der narrativen Herrschaft der Freunde, die Geschichtsschreibung der Freunde als Herrschaftsausiibung.•.16 Obschon die Feinde aus einer konfliktuellen Situation, aus einer gesellschaftlichen Kampfpraxis entstehen und als Existenzbedrohung fUr die Freunde gelten, bilden beide, Freunde und Feinde, bei aller Opposition zwischen ihnen ,,Formen der Vergesellschaftung", sie "bilden zu-

12Ebd. 13 M. Foucault, 1987, Von der Subversion des Wissens, FrankfurtIM., 69-90, hier 69; vgl. auch ders., 1976, Uber-wachen und Strafen. Die Geburt des Gefangnisses, FrankfurtlM. 14 Z. Bauman, 1992, Modeme und AmbivaIenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg. Bauman unterscheidet zwischen Modeme und Modernismus. FOr ibn bezeichnet die Modeme eine historische Periode, die in Westeuropa im 17. Jh. mit sozio-strukturellen und intelIektuelIen Transformationen begann und seither ihre Reife erreichte. Sie ist mit dem Beginn der Aufldiirung aIs kulturelles Projekt zu verstehen, und mit dem Entstehen der industriellen Gesellschaft aIs vollendete Lebensform zu sehen. Der Modernismus dagegen ist ein intellektueller Trend, der "seinen Hohepunkt zu Beginn des gegenwartigen lahrhunderts erreichte und in der ROckschau [ ... J aIs ein ,Projekt' der Postmodeme oder aIs Vorstadium der postmodemen Situation angesehen werden kann." 348. IS Ebd., 73. 16 Ebd., 73f Hervorh. i. O.

sammen ihre zweiteilige Matrix. Sie bilden den Rahmen, innerhalb dessen Vergesellschaftung moglich ist".17 Der Fremde ist dagegen derjenige, der sich iiber den Antagonismus FreundIFeind hinwegsetzt und gegen "dieses von Konflikten zerrissene Zusammenspiel von Freunden und Feinden rebelliert". Er bedroht "die Moglichkeit der Vergesellschafiung".18 Er ist das Unvertraute, vor dem man nicht mehr weiterweiB, weil er sich den Trennungs- und Klassiftkationsmethoden der modemen Gesellschaft in Freund und Feind entzieht. Einerseits weist er Merkmale des Freundes, aber gleichzeitig auch so1che des Feindes auf. Andererseits erscheint er in Bezug auf die Opposition FreundIFeind zugleich als unter- und iiberdeterminiert. Er ist das Ambivalente per se. Erwachsen die Feinde zwar aus einer antagonistischen Situation mit den Freunden, so zeichnen sich doch beide dadurch aus, dass sie an derselben Geschichte Anteil haben. Der Fremde dagegen bleibt trotz seiner physischen Niihe geistig fem. Er ist durch seine Exterioritat gekennzeichnet. 19 ,,Er gehOrt nicht ,von Anfang an', ,urspriinglich', ,schon immer', ,seit undenklichen Zeiten' in diese Lebenswelt und stellt infolgedessen die Extemporalitat der Lebenswelt in Frage, bringt die bloBe ,Historizitat' der Existenz zum Vorschein. ,.20 Dieser Unterschied tritt in einem Nationalstaat deutlich zum Vorschein, wo Freunde und Feinde uniformiert und als die Einheimischen deftniert werden. Alles, was nicht in dieses Raster hineinpasst, wird als Fremder oder Einwanderer klassiftziert. Die Beziehung der Einheimischen zu dem Fremden beschreibt Bauman als Vergegnung (Mar-

tin Buber) oder als Suche nach Gleichformigkeit. Die Vergegnung besteht in "eine[r] Anzahl von Techniken, die dazu dienen, die Beziehung zu dem Anderen zu entmoralisieren. Ihre Gesamtwirkung ist die Negation des Fremden als moralisches Objekt und als moralisches Subjekt. Oder eher der Ausschluss aus so1chen Situationen, die dem Fremden moralische Signiftkanz zubilligen.,,21 Die Suche nach "Gleichformigkeit" bezeichnet das Bemiihen, den Fremden seiner Fremdheit zu berauben, sei es indem er erzogen wir~2 - die Erziehung erscheint dabei als Mittel der sprachlichen und der kulturellen Homogenisierung -, sei es indem er rechtlich unterworfen wird. 23 Ebd., 75. Hervorh. i. O. Die Vergesellschaftung versteht Bauman im Sinne Georg Simmels. Ebd., Hervorh. i. O. 19 Bauman stiitzt sich sowohl lIuf Emmanuel Levinas Begriffe der Nahe als auch auf Jacques Derridas Begriffe eines Innen und eines AuBen, vgl. ebd., 81, 73, 76£ 20 Ebd., 81. 21 Ebd. 85. Hervorh. i. o. 22 Vgl. ebd., 87£ 23 Hier nehme ich Bezug auf Habermas' Antwort auf C. Taylors Pliidoyer fUr einen Umgang mit dem Anderen, in dem dessen Partikularitat anerkannt wird. (Vgl. C. Taylor, 1993, Multikultura1ismus und die Politik der Anerkennung. Mit Kommentaren von A Gutmann (Hg.) u.a. FrankfurtlM., 13-78.) Habermas setzt sich fur ein universa1istisches LiberaIismusmodell ein, das auf den Prinzipien der Verfassung aufbaut und allen Biirgern ungeachtet ihrer kulturellen Eigenarten gilt. Er befurwortet die "Assimilation" des Anderen "an die ethischkulturellen Gegebenheiten der Majoritiiten." (p. M. Liitzeler, 1993, Europiiische Identitiit und Multikultur. Fallstudien rur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik, Tiibingen, 18£) Vgl. J. Habermas, Anerkennungskampfe im demokratischen Rechtsstaat, in: C. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a.a.O., 147-I 96. 6 17 18

Mit dem Fremden zu leben bedeutet paradoxerweise auch, ibn physisch auszuschalten. Dies geht von der Vertreibung und dem Genozid tiber die territoriale Ausgrenzung - z.B. in einem "Homeiand,,24 - bis hin zur seiner Stigmatisierung als Fremder. 25 Baumans Unterscheidung zwischen FreundIFeind und Fremdem, die KlassifIzierung der Freunde und der Feinde als die Einheimischen gestattet es, in einem Raum, in einer Situation oder in einem Text, wo ethnographische Erfahrungen unauffindbar sind, den Fremden und den Einheimischen durch ihre KlassifIkation zu identiftzieren, sie nach ihrem Verhiiltnis zueinander zu fragen und dieses als eine Manifestation von Interkultura1itat zu verstehen. Als Moment, das jede Polaritat von Freund und Feind zum Kollabieren bringt, sich tiber jegliche Form der Vergemeinschafiung hinwegsetzt, kann der Fremde nur noch in dieser und durch die ihm eigentiimliche dekonstruktive Funktion identifIziert werden.

1m Lichte der so deftnierten Begriffe des Anderen und des Selben als des Fremdenldes Einwanderers und des Eigenenlder Einheimischen, wird in dieser Arbeit untersucht, auf welche Weise Kafka den Kontakt zwischen dem Selben und dem Anderen wahrgenommen und dargestellt hat. Asthetische Erfahrung bezeichnet fUr meine Zwecke diese besondere Form der Wahrnehmung und Darstellung der Begegnung des Fremden und des Eigenen trotz fehlender ethnographischer Angaben bei der Charakterisierung der Figuren und ihrer Handlungen. Sie bezeichnet zugleich die durch Lektiire gewonnenen Erfahrungen tiber das Fremde, ja tiber Interkulturalitat tiberhaupt. Meine Untersuchung setzt sich eine Dekonstruktion zur Aufgabe, bei der Katkas Texte als Schrift aufgefasst werden. Mit Bettine Menke kann dieses Text-Verstandnis zusammenfassend so defIniert werden: "Texte stellen die Frage nach der Lesbarkeit, indem sie diese durch ihre textuellen Strategien in Frage stellen. Sie behaupten und inszenieren mit der Heterogenitat der Schrift die des Textes: ,Die Schrift ist zahlreich oder sie ist nicht' [ ... ] Sie ist ,zahlreich' zum einen, wei! die Schrift des Textes nicht eingeht in den ,einen Sinn' des Textes, sich nicht in diesem ein- und auflost. Sie ist ,zahlreich' zum anderen, weil jeder Text Lektiire anderer Texte ist: Die Schrift des Textes ,geht ganzlich in der Lektiire anderer Texte auf'. Das ist der (zweite) Zusammenhang von jener Theorie, die ,Dekonstruktion' genannt wird, und Lektiire: dekonstruktive Lektiiren, wie die Derridas, lesen Texte als heterogene; dieses ihr Lesen ist Dekonstruktion. ,,26 Die Dekonstruktion gestattet es, die Schrift des Textes als in sich selbst gespalten, als nicht homogen, sondem als heterogen aufzufassen. 27 Sie erlaubt gleichzeitig, Texte immer als Lek-

VgI. Z. Bauman, Modeme und Ambivalenz, a.a.O., 89f Vgl. ebd., 91. 26 B. Menke, 1990, Dekonstruktion-Lektiire. Derrida literaturtheoretisch, in K.-M. Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einfuhrung, Opladen, 235-264, bier 235f, Herv. i. 0.; vgl. aueh J. Derrida, 1972, La Dissemination, Paris, 396; ders., 1986, Positionen, Wien. Kiiln, 34; ders., 1972, La differance, in: Marges de la pbiloso-pbie, Paris, 1-29. 27 VgI. M. Baehtin, 1979, Die Asthetik des Wortes, hrsg. von R. Grubel, FrankfurtlM. 7 24 25

tiire anderer Text aufzufassen. Und jene "alIgemeine[n] Probleme", von denen Simo spricht, sind demnach eben als Zeichen fUr Interkulturalitat zu begreifen. Mir geht es nicht einfach um eine Applikation def von Bauman definierten Kategorien des Fremden und des Selben einerseits und der Dekonstruktion andererseits auf Katkas Werk, sondem mein Vorgehen ergibt sich aus Kafkas iisthetischer und interkultureller Erfabrung selbst. Diese werden in der Arbeit zunachst rekonstruiert. Wenn unter dem literarischen Werk eines Autors gemeinhin seine fiktionalen Texte verstanden werden, so lassen sich diese doch sehr oft nicht von seinen halbfiktionalen Arbeiten trennen. 28 Wie konnte man Kafkas Romane Amerika, Der Prozess, Das Schloss, um nur diese zu erwiihnen, anaiysieren, ohne dabei auf seine eigenen AuBerungen fiber diese Werke in seinen Tagebfichem und Briefen Bezug zu nehmen und umgekehrt? Wie lieBe sich die groBe Masse der Dokumente erfassen, die aus vollendeten Erziihlungen bestehen, aber vom Autor nicht veroffentlicht wurden? Es kommt hinzu, dass Kafka in seinen Tagebfichem und Briefen Entwiirfe, Skizzen, Kommentare, Umarbeitungen festhiilt, dass er dort fiber schOpferische Schwierigkeiten und fiber erste Verarbeitungen seiner Wahrnehmungen berichtet. Er teilt dort aber auch Varianten fiktionaler Texte mit. Mit der Einbeziehung halbfiktionaler Dokumente mache ich mir folgende Bemerkung von Peter BUrger zu eigen: Auch die Tagebuchaufzeichnungen sind literarische Texte. Sie mogen sich im Grad der Ausarbeitung von anderen Aufzeichnungen unterscheiden; einen grundsatziich anderen Status [... ] haben sie nicht. Die Nahe zwischen dem Ich der Tagebficher und anderen Figuren Katkas ist so groB, daB der Nachweis sich eriibrigt.29

.

Wenn in dieser Arbeit, vor allem in ihrem ersten Teil, aufKatkas Tagebficher, Briefe, Oktavhefte und Betrachtungen zurUckgegriffen winl, so ist diese Vorgehensweise nicht mit der Absicht verbunden, Katkas Werk durch seine Biographie und seine Briefe zu erklaren, sondem sie resultiert zunachst aus der Feststellung der Schwierigkeit einer Abgrenzung von Tagebuch, Briefen und fiktionalem Text. Die Verschachtelung von Tagebuch, Briefe und fiktionalem Werk hat der franzosische Literaturwissenschaftler und -kritiker Gerard Genette in seiner Bestimmung des Begriffes des Paratextes erfasst und analysiert. FUr Genette kann es sich bei Paratexten um Peritexte oder Epitexte handeln. Er situiert sie "im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes, wie der Titel oder das Vorwort, mitunter in den Zwischenraumen des Textes, wie die Kapitelfiberschriften oder manche Arunerkungen; diese erste und sicherlich typische Kategorie [.,,] bezeichne ich als Peritext. Immer noch im Umfeld des Textes, aber in respektvollerer (oder vorsichtigerer) Entfemung finden sich aile Mitteilungen, die zumindest urspriinglich auBerhalb des Textes angesiedelt sind: im allgemeinen in einem der Medien (Interviews, Gesprache) oder unter dem Schutz privater Kommunikation 28

8

VgL dazu G. Guntennann, 1991, Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben, Kafkas Tagebiicher als literarische Physiognomie des Autors, Tiibingen; auch M. Jiirgensen, 1979, Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern. Miinchen; auch M. Hornschuh, 1987, Die Tagebiicher Franz Kafkas. Funktionen - Formen - Kontraste, Frankfurt/M. u.a.

(Briefwechsel, Tagebiicher und iilmliches). Diese zweite Kategorie [... J nenne ich in Ennangelung einer besseren Uisung Epitext.'.30 Mit dem Riickgriff auf den Begriff des Paratextes wird "eine Bewegung an den Texten,,31 vollzogen und dem Umstand Recbnung getragen, dass "fiktionales Werk", Tagebiicher und Briefe sich wechselseitig ergiinzen und erheHen. Genettes Bestimmungen sind hil:freich fur die Beschreibung dessen, was der Kafkasche Text ist, vor aHem wenn man berucksichtigt, dass Kafkas Texte iiberwiegend von seinem Freund Max Brod veroffentlicht wurden, der bei der Veroffentlichung auf die Uberschriften der Kapitel, aufihre Reihenfolge und auf die zu einem Text gehOrenden Fragmente und Varianten Einfluss genommen hat. Sie ennogiichen es auch, die groBe Masse der Dokumente aus Katkas Nachlass - Briefe, Tagebiicher, Betrachtungen, aber auch Erziihlungen und Romanfragmente usw. - einzubeziehen. Aber zu den - privaten - Epitexten gehoren nicht nur die Briefwechsel, die miindlichen Mitteilungen, die Tagebiicher, sondem auch, was Genette Vor- und Nachtexte nennt. Mit diesen Begriffen erfasst er die QueHen, die vorbereitenden Dokumente, die programmatischen Skizzen, die Entwiirfe, den Nachlass eines Autors USW. 32 Dazu ziililen aber auch Romanfragmente, wie zum Beispiel Amerika, Der Prozess, Das Schloss, sowie die groBe FiiHe von Erzahlungen, die Kafkas Werk mitkonstituieren. "Wie gebrechlich die Unterscheidung zwischen Text und Paratext ist,,33, zeigt sich mithin vor aHem an Katkas Werk. Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. In einem ersteq, eher theoretischen Teil wird versucht, ausgehend von Katkas AuBerungen in seinen Tagebiichem, Briefen, Oktavheften und Betrachtungen seine Wahmehmungsweise einer Interkulturalitat herauszuarbeiten. Seine Konfrontation mit der deutschen Sprache als kiinstlerischem Medium offenbart ihm sein Wort im Schreibprozess als in sich selbst gespalten, indem es ibn Merkmale seiner eigenen und einer fremden Kultur gewahr werden liisst, was den Schreibvorgang beeintriichtigt, aber ibn zugleich tOrdert. Andererseits und damit zusammenhangend wird gezeigt, wie Kafka sein Assimiliertsein in die Diskussion einbringt, indem er sich zwar auf jiidische und europiiische Diskurse srotzt, aber mit diesen angesichts seiner personlichen Erfahrungen bricht. Zugleich wird Katkas literarische Produktion auch als Ergebnis der Lektiire anderer Texte betrachtet. Aus der Rekonstruktion all dieser Gesichtspunkte wird die Funktion erarbeitet, die Kafka der Literatur beimisst. 1m zweiten Teil der Arbeit widme ich mich der Analyse ausgewiihlter literarischer Texte, und zwar der Erzahlungen Die Verwandlung und Das Urteil sowie der Romane Das Schloss und P. Burger, 1992, Prosa der Modeme, FrankfurtlM., 306. G. Genette, 1989, Paratexte. Aus dem Franztisischen von D. Hornig, FrankfurtlM.- New York., 12. 31 Ebd., 382. 32 Ebd., 378ff 33 Ebd., 382. Gustav Janouchs Buch "Gespriiche mit Franz Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen" (FrankfurtlM. 1968) berucksichtige ich nicht, weil sie so viele Umarbeitungen erfahren haben, wie Janouch in seinem Vorwort erkliirt, dass ihre Authentizitiit zweifeJhaft wird. 9 29

30

Amerika. Mit dieser Auswahl erhebe ich nicht den Anspruch, eine bestimmte Tendenz oder eine Entwicklung in Kafkas Werk nachzuzeichnen. Es wird ebenfalls nicht bezweckt, diese als Werke aufzufassen, in denen Interkulturalitat am deutlichsten erscheint. Ganz im Gegenteil. Die von mir getroffene Auswahl ist vielmehr von der Absicht geleitet, gerade jene Werke zum Gegenstand meiner Analyse zu machen, in denen ethnographische Angaben bei der Charakterisierung der Figuren und bei ihren Handlungen nicht deutlich zum Vorschein kommen. Diese Werke erfiillen dabei lediglich eine exemplarische Funktion. Die Analyse der Verwandlung und des Urteil zeigt mit einer mikroskopischen Untersuchung von Gregor Samsas und Georg Bendemanns Familie und deren WohnverhiUtnissen, wie interkulturelle Konflikte sich abspielen konnen. In die Analyse der Verwandlung ist ein Exkurs eingefiigt, urn Probleme der Hybriditat und der Interkulturalitat systematisch aus Kafkas Werk zu erschlieBen und sie vor dem Hintergrund der Auffassung der Hybriditat in der Psychoanalyse und in der poststrukturalistischen Theorie zu diskutieren. Dabei wird sich zeigen, wie das zu einer systematischen Bestimmung des Fremden und des Selben beitragen kann. In den abschlieBenden beiden Kapitein wird dargelegt, wie Kafka die Heiden seiner Romane Das Schloss und Amerika, K. und Karl Rossmann, in fremde Riiurne versetzt und wie er ihre Begegnung mit den Einheimischen, in dem einen Fall eines unbenannten Dorfes und Schlosses, in dem anderen der Vereinigten Staaten von Amerika, inszeniert.

JO

ErsterTeiI

1 InterkoIturelle Erfahrong ond ethnographischer Reiz Die vorliegende Untersuchung geht von der Feststellung aus, dass die Lektiire von Kafkas interkultureller und asthetischer Erfahrung besonders dadurch erschwert ist, dass das Wort in seinem Werk doppeldeutig ist Es widerspricht sich und schlieBt sich stiindig aus, so dass die HeIden, mithin der Leser gar nicht wissen, worauf sie sich beziehen oder was sie verstehen soIlen, zumal der Gegenstand, den das Wort darsteIlt, dynamisch ist, mitunter verschwimmt und sich folglich nicht erfassen lasst. Aus diesem Grunde scheint es mir vonnoten zu sein, Kafkas Redeweise iiber Interkulturalitat aus seinen Schriften zu rekonstruieren. Aus dieser Rekonstruktion lassen sich, so hoffe ich, Kategorien herausarbeiten, die eine Analyse seines Diskurses ermoglichen. Ende Dezember 191 I kommt Kafka auf das Verhalten der Schauspieler zu sprechen, die in der osgiidischen Theatergruppe seines Freundes LOwy spiel en, deren Auffiihrungen er regelmiillig besucht Was ihn interessiert und wovon er sich, als SchriftsteIler, in dieser Tagebuchnotiz abzugrenzen sucht, ist die Nachahmungsweise der Schauspieler, und zwar die der schlechten: "Das Wesen des schlechten Schauspielers besteht darin [ ... ], daB er infolge von Miingeln seiner Bildung, Erfahrung und Anlage falsche Muster nachahmt Aber sein wesentlicher Fehler bleibt, daB er die Grenze des Spiels nicht wahrt und zu stark nachalunt. Seine dammerhafte Vorstellung von der Forderung der Biihne treibt ihn dazu, und selbst wenn der Zuschauer glaubt, dieser oder jener Schauspieler sei schlecht [... ] so ist doch auch dieser auf die Biihne herabgeschneite Schauspieler nur deshalb schlecht, weil er zu stark nachahmt, weun er dies auch nur in seiner Meinung tut." (T. 161) Kafkas Kritik richtet sich gegen das Verhalten des Schauspielers, dessen ungeniigende Begabung und Ausbildung ihn dazu fiihrt, dass er falsche Muster nachahmt. AuBerdem hat er keinen deutlichen Einblick in die Forderung der Biihne, in die Funktion der Biihne und in die ihm zukommende Rolle. Die als schlecht charakterisierte Nachalunungsweise des Schauspielers wird nicht als eine bewusste gezeichnet, sondem von Kafka auf den Mangel an Erfahrung, Bildung und Anlage zuriickgefiihrt. Dies setzt voraus, dass Kafka sich einen ausgebildeten und erfahrenen Schauspieler vorstellt, der bei der Nachahmung das richtige MaB hat. Aus der Vorstellung des schlechten Schauspielers leitet er implizit das Verhalten des guten Schauspielers ab und vergleicht es mit dem des Schriftstellers. Aus seinen Worten ist zu entnehmen, dass der gute Schauspieler iiber bestimmte Eigenschaften verfiigen miisse, die ihm gestatten, die nachzuahmenden Muster richtig zu erkennen und sie folglich richtig nachzuahmen. Wenn er sich von dem schlechten Schauspieler zu distanzieren sucht, dann deswegen, weil er diese Eigenschaften erst beim guten Schauspieler voraussetzt. Er schreibt: ,,Das Grobe, auffallend Charakteristische in seinem ganzen Umfange kann ich gar nicht nachahmen, ilhnliche Versuche sind mir immer miBlungen, sie sind gegen meine 12

Natur. Zur Nachahmung von Details des Groben habe ich dagegen einen entscheidenden Trieb, die Manipulation gewisser Menschen mit Spazierstocken, ihre Haltung der Hande, ihre Bewegung der Hande nachzuahrnen driingt es mich und ich kann es ohne Miihe. Aber gerade dieses Miihelose, dieser Durst nach Nachahmung entfemt mich vom Schauspieler, weil diese Miihelosigkeit ihr Gegenspiel darin hat, daft niemand merkt, daft ich nachahme. (T. 160, Herv. von mir, P.D.) Der Schauspieler, von dem Kafka Distanz nimmt, ist wohl der schlechte, von dem bereits gesprochen wurde. Hier wird aber eine AhnJ.ichkeit zwischen dem Schriftsteller und dem guten Schauspieler angedeutet. Aber im Gegensatz rum schlechten Schauspieler vollzieht sich die Nachahmungsweise des Schriftstellers auf einer anderen Ebene: Er interessiert sich in erster Linie nicht fUr das Allgemeine, sondem er dringt vor allem tief hinein in die Einzelheiten des Dargestellten, in das, was die Nachahmung nicht von vornherein erkennbar macht. 34 Dabei handelt es sich niimlich nicht urn eine "auBerliche Nachahmung", d.h. urn das auBerliche, auffaIlige Verhalten der Figuren, urn die Nachahmung des Groben, sondem urn eine "innerliche". (Ebd.) Was Kafka unter innerlicher Nachahmung versteht, ist die Nachahmung der Details, welche das Wahre, das Wesen des darzustellenden Gegenstandes erscheinen lassen. Dieses wird in Katkas Verstandnis erst in den Details erkennbar. 1m Gegensatz zurn schlechten Schauspieler, der seine Rolle nicht meistert, sich deswegen rum Souffieur wendet und keine Distanz zwischen sich selbst und dem nachgeahrnten Charakter schaffi, dringt der Schriftsteller, den sich Kafka hier denkt, in das Wesen des dargestellten Objektes ein. Diese Vorstellung des Schauspielers, mithin des Schriftstellers, impliziert eine distanzierte Haltung zu der Rolle, die er zu spielen hat. Er vermag folglich, das Objekt seiner Darstellung griindlicher wahrzunehrnen und zu schildem als der schlechte Schauspieler. Eine so1che Nachahmung geschieht aus Katkas Sicht miihelos. Niemand merkt, dass er nachahmt. Das hier beschriebene Verhalten des guten Schauspielers bei der Nachahmung der Details lasst an eine Beobachtungsart denken, von der Kafka am 27. Januar 1922 in seinem Tagebuch sagt: ,,Merkwiirdiger, geheirnnisvoller, vielleicht gefahrlicher, vielleicht erlosender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlagerreihe, Tat-Beobachtung. Tatbeobachtung, indem eine hohere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine hOhere, keine schiirfere, und je hOher sie ist, je unerreichbarer von der ,Reihe' aus, desto unabhiingiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg." (T. 413) Die Forderung, die das Schreiben an den Schriftsteller stellt, ist eine andere, hOhere Beobachtungsweise, die es dem Schriftsteller ermoglicht, die Details des Groben wahrzunehrnen und zu schildem. Diese Forderung spielt eine gewichtige Rolle auch in der Erziihlstrategie des

34

Vgl. G. Guntennann, Vom Fremdwerden der Dinge beim Scbreiben, a.a.O., 44f 13

Autors. Diese Strategie hat nicht ausschlieBlich mit der Beobachtungsposition des Autors zu tun. Sie wird auch von ihrn thematisiert.

In Kafkas Texten kennzeichnet diese Beobachtungsart nicht nur den Heiden, der andere Figuren beobachtet, sondem dieser wird seiber von anderen beobachtet. Die Position, die der Beobachter als Autor undJoder als Held einnimmt, gestattet es ihrn, "nahe genug am Geschehen" zu sein, "urn es aufzunehrnen, geniigend weit entfemt, urn der Verpflichtung zur Teilnahrne enthoben zu sein.,,35 Hier zwei Beispiele aus Das Schloss: ",Hier ist ein kleines Guckloch, hier konnen Sie durchsehen'. -,Und die Leute hier?' fragte K. Sie warf die Unterlippe und zog K. mit einer ungemein weichen Hand zur Tiir. Durch das kleine Guckloch, das offenbar zu Beobachtungszwecken gebohrt worden war, iibersah er fast das gesamte Nebenzimmer. " (S. 38f.) - "Wenn K. das SchloB ansah, so war es ihrn manchrnal, als beobachtete er jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondem frei und unbekiimmert, so als sei er allein und niemand beobachte ihn, und doch muBte er merken, daB er beobachtet wurde [ ... ]." (S. 96) Wenn Kafka im Juni 1921 in einem Brief an seinen Freund Max Brod das Fehlen des ethnographischen Reizes bei den christlichen Figuren in Brods Jiidinnen bemangelt, so will er dadurch auf den Mangel des Charakteristischen bei diesen Figuren hinweisen, das sie von den jiidischen Gestalten unterscheidet und sie als Christen identifizieren lasst. Schon im Miirz 1911 prangert er das im Tagebuch als Manko in den Jiidinnen an, da viele seine Zeitgenossen "in westeuropais.chen Erzahlungen, sobald sie nur einige Gruppen von Juden urnfassen wollen, unter oder iiber der Darstellung gleich auch die Losung der Judenfrage 36 zu suchen und zu finden." (T. 41) Aber nach Kafka spieJt die Gestaltungsweise der Erziihlungen und Theaterstucke eine entscheidende Rolle. Fiir ihn ist es unerlasslich, sowohl jiidische als auch christliche Figuren zu schildem. Die den christlichen Figuren zukommende Rolleist vermutlich dieselbe, die er von der Anwesenheit christlicher Zuschauer erwartet ,,Den ,Jiidinnen' fehlen die nichtjiidischen Zuschauer, die angesehenen gegensatzlichen Menschen, die in anderen Erzahlungen das Iiidische herauslocken, daB er gegen sie vordringt in Verwunderung, Zweifel, Neid, Schrecken, und endlich in Selbstvertrauen versetzt wini, jedenfalls sich aber erst ihnen gegeniiber in seiner ganzen Lange sich aufrichten kann. Das eben verlangen wir, eine andere Aufiosung von Judenmassen erkennen wir nicht an."

Ebd., 40. Guntermann beschreibt diese Haltung als ,,Beobachtung aufHalbdistanz", ebd., 39 Die Formel "Losung der Judenfrage" darf in diesem Zusammenhang nicht mit seiner Bedeutung zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verwechselt werden. Wenn die jiidische Frage sowohl in friiheren Jahrhunderten als auch im Nationalsozialismus mit Begriffen wie Judenverfolgung und -vernichtung, Pogrom, Unterdriickung usw. inhaltlich identisch ist, so muss man feststellen, dass es sich hier um Gewaltaktionen handell, die gegen Juden geiibt wurden. Dem Konzept, wenn es von Juden bzw. von Kafka verwendet wird, kommt eine andere Bedeutung zu. Es handelt sich um das Nachdenken iiber Losungsmoglichkeiten von Problemen, auf die die Juden im Veri auf der Emanzipation gestoBen sind. Solche Losungsmoglichkeiten sind im Rahmen der zionistischen Bewegung zur Sprache gekommen ( vgl. T. 41) und lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: I) Die Bildung einer Nation; 2) das Erlemen der hebriiischen Sprache und die Wiederbelebung der jiidischen Kultur sowie 3) die Riickkehr nach Palastina, dem Lande der Verheillung. 14

35

36

Die christlichen Figuren iiben den ethnographischen Reiz eben dadurch aus, dass sie, als vom Autor konstruierte, in religioser bzw. kultureller Opposition zu den jiidischen Gestalten stehende Figuren, das Jiidische herauslocken. Sie werden in diesem Sinne zum Moment, welch das Jiidische erkennbar macht. Erst in Opposition zu ihnen konnen sich die jiidischen Figuren besser wahrnehmen. Entsprechend sollen die christlichen Zuschauem in diesem Theater als Christen erkennbar sein. Es geht bei ihm nicht urn die Losung der jiidischen Frage nach dem zionistischen Modell, sondem via Literatur.

Man sieht also, dass Kafka sich eine bestimmte Konstellation im kiinstlerischen Schaffen denkt: Er stellt sich eine kiinstlerische Produktion vor, in der Personen unterschiedlicher kultureller Herkunft auftreten und miteinander kontrastieren. Was ihn zu einer solchen Vorstellung fiibrt, ist die Oberzeugung, dass das Wesen einer Person erst zutage treten kann, wenn man ihr eine andere Figur gegeniiberstellt. Die kulturellen und weltanschaulichen Unterschiede erhellen einander und stellen wechselseitig das Eigentiimliche der jeweiligen Figuren in Frage. Auf diese Weise konnen sich die Figuren selbst besser verstehen und sie konnen besser verstanden werden. Genau das vermisst Kafka in Brods Judinnen, "denn gerade jene Personen, die sich mit solchen Fragen beschilftigen, stehen in der Erziihlung weiter vom Mittelpunkt ab, dort, wo die Ereignisse sich schon rascher drehn, so daB wir sie zwar noch genau beobachten konnen, aber keine Gelegenheit mehr finden, urn von ihnen eine ruhige Auskunft iiber ihre Bestrebungen zu erhalten. ,,(T. 41) Dieses Urteil betrifft offensichtlich die Figur NuBbaurn in Brods Roman, aber auch Alfred Popper und den Russen Pitroff. Sie offenbaren sich als Figuren, die die Rolle von jiidischen Antisemiten spielen. NuBbaurn wird als ein getaufier Jude dargestellt, der eine Christin geheiratet hat und dadurch jede Bindung zu seinen jiidischen Verwandten und Freunden verloren hat. Er erscheint, und mit ihm seine Freunde Pitroff und Popper, als ein iiberzeugter jiidischer Antisemit, ein Antizionist, ohne dass der Leser Naheres iiber seinen Judenhass erfahrt. Da der Roman, in dem ausschlieBlich jiidische Figuren spielen, hauptsachlich zwischen dem jungen Hugo Rosenthal und Irene Popper handelt, wird das Motiv des Antisemitismus in den Hintergrund geschoben. 37 Kafka zufolge lasst Brods Darstellungsstrategie zu wUoschen iibrig. Kafka erwartet eine aktive Teilnahme der christlichen Figuren am Geschehen. Seine Erwartung fuBt darauf, dass es sich bei jenen jiidischen Figuren urn assimilierte Juden handelt, denen die urspriingliche jiidische Religion abhanden gekommen ist, so dass ihre Eigentiimlichkeiten erst wieder zutage treten konnen, wenn ihnen christliche Figuren gegeniibergestellt werden, und wenn sie von diesen beobachtet werden. Kafkas Kritik fuBt vermutlich auf seiner Oberzeugung von der Notwendigkeit eines fremden Blickes in der Erzahlung als Kontrast, aber offenbar auch auf dem Wunsch, dass der Roman seines Freundes die multikulturelle Lebenswelt seiner jiidischen Figuren widerspiegeln moge. 37

Vgl. dazu M. Brod, 1915, liidinnen, Leipzig. 15