Patientensicherheit in der Anästhesie

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Author: Andrea Bieber
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Patientensicherheit in der Anästhesie

Patient safety in anaesthesiology A. Gottschalk

Zusammenfassung

Summary

Die Patientensicherheit steht zunehmend im öffentlichen Fokus. Im Bereich der anästhesiologischen Versorgung konnte in den letzten Jahrzehnten eine deut­liche Reduktion der perioperativen Morbidität und Mortalität in Zusammenhang mit anästhesiologischen Maß­nahmen erreicht werden. So liegt die anästhesieassoziierte Mortalität bei Pati­enten ohne relevante Systemerkrankungen weiterhin bei 0,4/100.000. Allerdings ist das Risiko bei älteren Patienten und bei Patienten mit relevanten Vorerkrankungen weiterhin deutlich höher. Durch ein adäquates anästhesiologisches Management kann die perioperative Morbidität relevant reduziert werden. Trotz der erreichten Fortschritte werden beispielsweise durch die „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology” weitere Maßnahmen zur Steigerung der Patientensicherheit gefordert. Hierzu zählen insbesondere die Einführung der sog. „Surgical Safety Checkliste“, die Kennzeichnung („Labelling“) von Spritzen, die Teilnahme an „Critical Incident Reporting Systemen“ sowie die Erstellung von klinikinternen spezifischen Verfahrensanweisungen für besondere sicherheitsrelevante anäs­thesiologische Aspekte. Darüber hinaus werden alle anästhesiologischen Kliniken aufgefordert, jährlich Morbiditäts- und Mortalitätsberichte zu erstellen, um Anhaltspunkte für eine Optimierung der Patientensicherheit identifizieren zu können.

Patient safety is of increasing interest in the public. A relevant reduction of anaesthesia-related morbidity and mortality in the perioperative period has been achieved during the last decade. Anaesthesia-related mortality has been reduced to 0.4/100,000 in patients with­out systemic comorbidities. But in patients of higher age and those with relevant coexisting diseases the perioperative anaesthesia-related risk still remained distinctly higher. An adequate perioperative anaesthesiological man­ agement is able to reduce perioperative morbidity to a relevant extent. In spite of this progress the “Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology” demands further activities to improve the safety of patients. These activities include the implementation of the “surgi­ cal safety checklist”, labelling of syringes, participation in critical incident reporting systems, and the introduction of standard operating procedures (SOP) for specific aspects in anaesthesia man­ agement with respect to patient safety. Additionally, all departments of anaes­ th­esiology are requested to establish an annual morbidity and mortality report to detect specific aspects of patient safety that can be improved.

Einleitung Nach Berechnungen der World Health Organization (WHO; Weltgesundheitsorganisation) werden auf der Erde jedes

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Schlüsselwörter Patientensicherheit – Anästhesieassoziierte Morbidität und Mortalität – Surgical Safety Checklist – Fehlermeldesysteme Keywords Patient Safety – Anaesthesiarelated Morbidity and Mortality – Surgical Safety Checklist – Critical Incident Reporting Systems

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Jahr ca. 230 Millionen größere operative Eingriffe in Allgemeinanästhesie durchgeführt [1]. Dabei kommt es in den Industrienationen in 3-16% der Fälle zu Komplikationen; bei 0,4-0,8% aller Patienten kommt es zu bleibenden Schäden oder gar Todesfällen. Dies entspricht einer Anzahl von ca. 1 Million Patienten, die in den Industrienationen bleibende Schäden erleiden oder gar versterben. In einer Aufsehen erregenden Untersuchung mit dem Titel „To err is human. Building a safer health care system“ [2] musste das U.S. Institute of Medicine (IOM) im Jahr 1999 feststellen, dass dort mit jährlich bis zu 98.000 Todesfällen durch medizinische Fehler zu rechnen ist. Übertragen auf die Luftfahrt in den USA würde dies dem täglichen Absturz eines Passagierflugzeuges mit ca. 270 Menschen an Bord entsprechen. In einer jüngeren Publikation [3] konnte in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass die Krankenhausmortalität in den USA – vermutlich durch eine Optimierung der Patientenversorgung – von 1,64% im Jahr 1996 auf 1,14% im Jahre 2006 reduziert werden konnte. Eine entsprechende europäische Untersuchung [4] wirkte dagegen sehr ernüchternd. Es wurde gezeigt, dass von ca. 47.000 untersuchten Patienten 4% während des Krankenhausaufenthaltes verstarben – in Deutschland waren es immerhin 2,5% der Patienten. Daher stellt sich die Frage, wieweit die perioperative anästhesiologische Versorgung diese Zahlen beeinflusst – und ob die Krankenhausmortalität und -morbidität durch eine optimierte anästhesiologische Versorgung reduziert werden kann.

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talität – zeitlich parallel zur Einführung neuer Überwachungs- und Sicherheitsstandards wie der Pulsoxymetrie und Kapnometrie – auf 0,4/100.000 reduziert werden [7].

wurde. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den anästhesiologischen Maß­nahmen und dem Versterben des Patienten kann jedoch nicht hergestellt werden. Aus diesem Grund ist die anästhesieassoziierte Mortalität schwer zu fassen, wodurch sich die genaue Bewertung der Anästhesie im Gesamtergebnis schwierig gestaltet.

In Abbildung 1 sind die Daten verschiedener Untersuchungen [6-14] zur Entwicklung der Mortalität in der Anästhesie zusammengestellt.

Anästhesiebedingte Mortalität Mortalität, die direkt durch anästhesiologische Maßnahmen hervorgerufen wird.

Bezüglich neuerer Daten zur Mortalität in Zusammenhang mit der Anästhesie ist festzuhalten, dass es sich bei den publizierten Studien regelmäßig um retro­ spektive Analysen handelt, deren Methodik wiederholt kritisiert worden ist. So wurden in den USA im Rahmen einer epidemiologischen Studie anhand von ICD-10-Kodierungen (ICD = International Classification of Diseases), die sich auf anästhesiologische Komplikationen beziehen, Todesbescheinigungen aus den Jahren 1999-2005 ausgewertet [9]. Dabei ergab sich eine anästhesieassoziierte Mortalität von 8,2/100.000, während die anästhesiebedingte Mortalität lediglich 0,22/100.000 betrug. Lienhart et al. [8] fanden in einer weiteren Untersuchung zum Einfluss der Anästhesie auf die Mortalitätsrate eine anästhesieassoziierte Mortalität von 4,7- 5,5/100.000 Anästhesien (und von 13,6/100.000 in den ersten 24 Stunden postoperativ); die anästhesiebedingte Mortalität betrug 0,69/100.000 Anästhesien. Darüber hinaus konnten die Autoren einen Zusammenhang zwischen dem Patientenstatus

In den letzten Jahrzehnten konnte eine deutliche Reduktion der anästhesieassoziierten und -bedingten Mortalität erreicht werden. Bei dieser Entwicklung dürften die Entwicklung neuer Techniken (wie Pulsoxymetrie und Kapnometrie), wissenschaftliche Fortschritte, Einführung neuer Anästhetika sowie Bemühungen um eine verbesserte Ausbildung der Anästhesisten eine Rolle spielen. So wurde in den USA in den Jahren 19481952 an zehn Universitätskliniken noch eine anästhesieassoziierte Mortalität von 64/100.000 Anästhesien festgestellt [6] – dies entsprach einer Mortalität von 3,3/100.000 bezogen auf die gesamte Einwohnerzahl (inklusive der Einwohner, die keine Anästhesie erhalten haben). Damit lag die Mortalität bezogen auf die gesamte Einwohnerzahl höher als durch die damals epidemisch auftretende Poliomyelitis. Bis zum Ende der 1980er Jahre konnte die anästhesiebedingte MorAbbildung 1 Beecher und Todd (1954)* Bodlander (1975)*

Mortalität und Morbidität in der Anästhesiologie In der Diskussion um Anästhesiologie und Mortalität muss zwischen anästhesieassoziierter und anästhesiebedingter Mortalität unterschieden werden [5]: Anästhesieassoziierte Mortalität Mortalität im Rahmen einer Operation, die unter Anästhesie (Allgemeinoder Regionalanästhesie) durchgeführt

Harrison (1978)* Hovi-Viander (1980)* Tikkanen (1995)* Warden (1996)* Eichhorn (1998)* Lienhart (2006)* Li (2009)* 00

20

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Motalität/100.000 Anästhesisten Mortalität in Zusammenhang mit Anästhesie [6-14]. * = anästhesiebedingte Mortalität.

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Die in der Literatur geschätzten Häufigkeiten der einzelnen Komplikationen sind in Tabelle 2 zusammengestellt.

der Krankenhausentlassung verstarben. Von diesen Patienten waren 73% zu keinem Zeitpunkt auf einer Intensivstation behandelt worden. • Zu den eingriffsbezogenen Risikofaktoren für ein Versterben der Patienten zählten dringliche Eingriffe (OddsRatio [OR] als Assoziationsmaß für den Zusammenhang zwischen dem genannten Parameter und der daraus folgenden Risikoreduktion 1,71) bzw. Notfalleingriffe (OR 3,2), Gefäßeingriffe (OR 1,61), Eingriffe am oberen (OR 1,88) bzw. unteren Gastrointestinaltrakt (OR 1,54) sowie hepato-biliäre Eingriffe (OR 1,35). • Patientenbezogene Risikofaktoren waren Leberzirrhose (OR 3,64), Herzinsuffizienz (OR 2,1), chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (OR 1,21), koronare Herzkrankheit (OR 1,73), insulinpflichtiger Diabetes mellitus (OR 1,73), metastasierte Tumorerkrankung (OR 1,91) und Schlaganfall (OR 1,57). • Laparoskopische Eingriffe konnten das Risiko für die Patienten senken (OR 0,69).

Im September 2012 wurden die Ergebnisse der European Surgical Outcome Study (EuSOS) publiziert [4]. In dieser Kohortenstudie wurden innerhalb einer Woche in 498 Krankenhäusern in 28 europäischen Ländern 46.539 postoperative nicht-kardiochirurgische Patienten (>16 Jahre) erfasst, von denen 4% vor

Wenngleich Deutschland mit einer Rate von 2,5% verstorbenen Patienten im gesamteuropäischen Vergleich recht gut dasteht, stellt sich doch die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass Länder wie die Niederlande, Norwegen, Schweden, Finnland, die Schweiz und auch Island eine niedrigere Rate aufweisen.

Tabelle 1 Bewertung von Risikofaktoren der anästhesiologischen Versorgung (nach [15]). Odds-Ratio = Assoziationsmaß für den Zusammenhang zwischen dem genannten Parameter und der daraus folgenden Risikoreduktion. Faktor

Odds-Ratio

Check der Geräte mit Checkliste

0,64

Dokumentation des Gerätechecks

0,61

Kein Wechsel des Anästhesisten während der Operation

0,44

Direkt verfügbarer Anästhesist

0,46

Anwesenheit von Anästhesiepflege (Ganztagsstelle)

0,41

Zwei Personen bei Narkoseausleitung

0,69

Antagonisierung von Muskelrelaxantien und/oder Opioiden

0,1 / 0,29

Postoperative Analgesie mit Opioiden Lokalanästhetika Opioide + Lokalanästhetika

0,16 0,06 0,325

nach der Klassifikation der American Society of Anesthesiologists (ASA) und der Mortalitätsrate feststellen – die Mortalität stieg von 0,4/100.000 bei ASA-1-Patienten über 5/100.000 bei ASA-2-Patienten und 27/100.000 bei ASA-3-Patienten bis auf 55/100.000 bei ASA-4-Patienten. Auch das Alter der Patienten hatte einen Einfluss: Die Mortalität betrug in der Altersgruppe bis 7 Jahre 0,6/100.000, 8-15 Jahre 1,2/100.000, 15-39 Jahre 0,52/100.000, 40-75 Jahre 5,2/100.000 und >75 Jahre 21/100.000. Arbous et al. [15] haben zur Optimierung von Sicherheitsaspekten gezielt die anästhesiologischen Risikofaktoren untersucht, indem sie im Rahmen einer „Matched-pairs“-Analyse 807 perioperative Todesfälle 883 anderen Fällen gegenüberstellten. Eine Aufstellung der identifizierten Risikofaktoren findet sich in Tabelle 1. Sowohl bei der Allgemein- als auch bei der Regionalanästhesie kann es zu anästhesiespezifischen Komplikationen und Nebenwirkungen kommen. • In der Allgemeinanästhesie steht unverändert der schwierige Atemweg im Vordergrund, aber auch Komplikationen wie Aspiration, postoperative Übelkeit und Erbrechen, Wachheit (Awareness) sowie die postoperative Restkurarisierung müssen in diesem Zusammenhang genannt werden.

• Im Bereich der Regionalanästhesie stehen insbesondere Infektionen und Nervenschäden sowie die Querschnittssymptomatik nach rückenmarksnaher Leitungsanästhesie im Vordergrund.

Tabelle 2 Morbidität in der Anästhesiologie nach Schätzungen in der Literatur. Komplikation

Inzidenz / Anästhesien

Aspiration allgemein

1 / 2 - 3.000 [16]

Aspiration bei Schwangeren im 2. Trimenon

1 / 1.000 [17]

Wachheit (Awareness)

1-1,5 / 1.000 [18]

Atemwegs-/Intubationsprobleme

1,5-13 / 100 [19]

Querschnittslähmung nach rückenmarksnaher Leitungsanästhesie

1 / 3.600 - 1 / 200.000 [20,21]

Transiente neurologische Schäden nach peripherer Nervenblockade Interskalenäre Blockade Axilläre Plexusblockade Femoralisblockade

2,84 / 100 [22] 1,48 / 100 [22] 0,34 / 100 [22]

Infektiöse Komplikationen bei Katheterverfahren Rückenmarksnah Peripher

2,7 / 100 [23] 1,3 / 100 [23]

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Nach einer Publikation von Ghaferi et al. [24] erscheint insbesondere der Umgang mit Komplikationen relevant. In der in den Jahren 2005-2007 durchgeführten Untersuchung an ca. 85.000 operativen Patienten wurde festgestellt, dass sich die Häufigkeit von Komplikationen zwischen Krankenhäusern mit sehr niedriger (3,5%) und sehr hoher Mortalität (6,9%) während des Krankenhausaufenthaltes nicht signifikant unterscheidet. Daher muss – so folgern die Autoren – neben der Vermeidung von Komplikationen ein Schwerpunkt auf die frühzeitige Erkennung und Behandlung der Komplikationen gelegt werden.

Maßnahmen zur Erhöhung der Patientensicherheit Grundlagen und grundlegende Initiativen Mellin-Olsen et al. [25] haben in einem Beitrag zur „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology” ausgeführt: „…there should be no room for complacency when there is more to be done.“ Diese Worte (complacency bedeutet Selbstgefälligkeit) verdeutlichen die Notwendigkeit, die Patientensicherheit weiter zu erhöhen – auch wenn die anästhesieassoziierte und anästhesiebedingte Mortalität als niedrig einzuschätzen ist. Im gleichen Zusammenhang schreiben Hardmann und Moppett [26] in einem Editorial: „Errors are an inevitable part of anaesthetic practice. Anaesthetists are humans and humans make errors“. Es muss daher alles unternommen werden, um Fehler in der Anästhesie mit ihren ggf. schweren Folgen soweit wie möglich zu vermeiden – ohne zu vergessen, dass das Fachgebiet Anästhesiologie bei der perioperativen Patientenversorgung – und damit auch bei der Steigerung der Patientensicherheit – in einem engen interdisziplinären Kontext steht. Viele Schritte zur Verbesserung der Patientensicherheit können nur in

enger Zusammenarbeit mit den operativen Disziplinen umgesetzt werden. Einen wichtigen Schritt in Richtung Optimierung der Patientensicherheit stellt die „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology“ dar, die in Zusammenarbeit des European Board of Anaesthesiology (EBA) und der European Society of Anaesthesiology (ESA) verfasst und verabschiedet wurde [25]. In dieser Erklärung werden alle europäischen Kliniken für Anästhesiologie u.a. aufgefordert, folgende Maßnahmen zur Optimierung der Patientensicherheit zu ergreifen: • Erstellen klinikspezifischer StandardVerfahrensanweisungen (standard operating procedure; SOP) für folgende sicherheitsrelevante anästhesiologische Aspekte: – Präoperative Einschätzung und Vorbereitung der Patienten, – Regelmäßiger Geräte- und Medikamentencheck, – Schwieriger Atemweg bzw. Intubation, – Maligne Hyperthermie, – Anaphylaxie, – Toxizität von Lokalanästhetika, – Massiver Blutverlust, – Infektionsvermeidung, – Postoperative Versorgung inklusive Schmerztherapie. • Kennzeichnung („Labelling“) von Sprit­zen. • Anwendung der „Surgical Safety Checklist“ (Operative SicherheitsCheckliste) der WHO [27]. • Beteiligung an Fehlermeldesystemen (critical incident reporting system; CIRS). • Jährliche Erstellung eines Berichts über die anästhesieassoziierte und -bedingte Morbidität und Mortalität. • Jährliche Erstellung eines Berichts über die zur Optimierung der Patientensicherheit getroffenen Maßnahmen und deren Ergebnisse. Auf einzelne Aspekte der „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology“ soll im Folgenden detaillierter eingegangen werden.

Erstellen von klinikspezifischen Standard-Verfahrensanweisungen Leitlinien – z.B. die der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) – sind systematisch entwickelte und wissenschaftlich begründete praxisorientierte Entscheidungshilfen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen [28]. Es handelt sich grundsätzlich um Orientierungshilfen im Sinne von „Handlungs- und Entscheidungskorridoren“, von denen im begründeten Einzelfall abgewichen werden kann oder muss; sie haben damit a priori weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung. Im Unterschied zur Leitlinie ist eine Standard-Verfahrensanweisung oder SOP eine detaillierte, verbindliche Anweisung, die sowohl eine adä­ quate Vorbereitung bzw. Nachsorge des Patienten als auch das Vorgehen in typischen Krisensituationen beschreibt. Eine SOP ist unter Beachtung der organisatorischen und räumlichen Gegebenheiten der jeweiligen Klinik zu erstellen und muss von den Mitarbeitern insbesondere in Krisensituationen leicht und unkompliziert umsetzbar sein. Im Gegensatz zu Leitlinien handelt es sich um eine klinikintern verbindliche Vorschrift, die im QualitätsmanagementHandbuch hinterlegt wird. Eine wichtige Voraussetzung für die adäquate Umsetzung von Verfahrensanweisungen ist eine adäquate und regelmäßige Schulung der Mitarbeiter, damit die jeweiligen Verfahrensanweisungen auch gelebt werden können. Darüber hinaus muss eine Verfahrensanweisung regelmäßig hinterfragt und bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Problemen in der Umsetzung modifiziert werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass die Anzahl der SOP für die Mitarbeiter noch nachvollziehbar und umsetzbar sein muss.

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Die Führungskräfte der Kliniken müssen sich darüber im Klaren sein, dass das Erstellen von Verfahrensanweisungen die adäquate klinische Ausbildung weder ersetzen kann noch darf. Kennzeichnung („Labelling“) von Spritzen In Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin werden zahlreiche Medikamente – und dies oftmals in Notfallsituationen – verwendet, so dass diese Arbeitsbereiche geradezu prä­desti­ niert für Medikationsirrtümer sind. In einer europäischen Studie [29] wurden im intensivmedizinischen Arbeitsbereich 75 Medikationsirrtümer pro 100 Patiententage gezählt, wobei ca. 1% der Patienten einen bleibenden Schaden erlitten oder verstarben. Vor diesem Hintergrund wurde von der International Organization for Standardization (ISO; Internationale Organisation für Standardisierung) die Norm ISO-26825 entwickelt, die dem bereits in vielen Ländern (USA, Australien, Neuseeland, Großbritannien) eingeführten Standard zur farblichen Kennzeichnung anästhesiologischer Medikamente entspricht. Dabei werden Medikamente einer Wirkungsgruppe einer bestimmten Farbe zugeordnet (z.B. Opioide/Opiate hellblau), da davon ausgegangen werden kann, dass die Verwechslung beispielsweise zweier Opioide weniger relevante Konsequenzen hat als z.B. die Verwechslung eines Opioids mit einem Muskelrelaxans. Im Jahr 2009 hat die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensiv­ medizin (DGAI) die Umsetzung der ISO-Norm empfohlen [30]; im Jahr darauf wurde die Umsetzung von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) – u.a. in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) und der DGAI – auch für den

Bereich der Intensiv- und Notallmedizin empfohlen [31]. Die einheitliche farbliche Kennzeichnung der Spritzen in allen anästhesiologischen und intensivmedizinischen Arbeitsbereichen ist eine wichtige Maßnahme zur Erhöhung der Patientensicherheit, wozu auch die erleichterte Einarbeitung von Kollegen anderer Arbeitsbereiche oder Fachdisziplinen oder nach einem Klinikwechsel beiträgt. Der „Faktor Mensch“ mit seinen Fehlermöglichkeiten bleibt jedoch Realität. So kam es auch nach Einführung der ISO-Norm noch zu Verwechslungen von Medikamenten, weil z.B. das Rot für Muskelrelaxantien und das Orange für Benzodiazepine zu ähnlich waren und insbesondere in abgedunkelten Räumen, z.B. bei endoskopischen Eingriffen, verwechselt wurden. Aus diesem Grund wurden die Empfehlungen im Jahr 2012 überarbeitet [32]. Als weitere Maßnahme ist zu diskutieren, insbesondere im Bereich der Intensivmedizin eine elektronische Überprüfung mittels Strichcode-Scanner einzuführen. „Surgical Safety Checklist“ – Operative Sicherheits-Checkliste Bereits im Jahr 2008 hat die WHO Empfehlungen zur Erhöhung der Patientensicherheit im chirurgischen Arbeitsbereich publiziert [33]. Auf Grundlage dieser Empfehlungen wurde die 19 Punkte umfassende „Surgical Safety Checklist“ (Operative Sicherheits-Checkliste) entwickelt, die (ggf. nach gewisser Modifizierung) in zahlreichen Kliniken angewendet wird. In Abbildung 2 ist die in der Klinik des Autors verwendete Version dargestellt. Durch den Einsatz dieser Checkliste soll die Rate schwerer perioperativer Komplikationen gesenkt werden. Im Rahmen einer prospektiven, multizentrischen, prä- und postinterventionellen Studie [34], an der jeweils ein Krankenhaus aus acht verschiedenen Ländern (Jordanien, Indien, USA, Neuseeland, Tansania, Philippinen, Kanada, England) teilnahm, wurde die Effektivität der Checkliste überprüft. Vor Einführung der Checkliste wurden 3.733 Patienten, nach Einführung 3.955 Patienten eingeschlossen.

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Durch die Einführung der „Surgical Safety Checklist“ wurden die allgemeine perioperative Mortalität von 1,5% auf 0,8% und die perioperative Komplikationsrate von 11% auf 7% gesenkt. Im Bereich der Notfalloperationen konnten eine Reduktion der Mortalität von 3,7% auf 1,4% und der Komplikationsrate von 18,4% auf 11,7% erreicht werden [35]. Wenngleich die Checkliste keine wirklich neuen Aspekte in die perioperative Versorgung der Patienten eingebracht hat und teilweise Selbstverständlichkeiten abgefragt werden, ist sie demnach dennoch von Nutzen. Dies scheint einerseits mit einer verbesserten Kommunikation aller am perioperativen Prozess Beteiligten zu liegen, andererseits aber auch an der Implementierung einer Sicherheitskultur in den beteiligten Kliniken [36]. Dazu wurden in einer Übersicht [37] über 20 Publikationen zu den Effekten der WHO-Checkliste in Bezug auf die Entwicklung einer Sicherheitskultur u.a. folgende Aspekte herausgestellt: • Die Kenntnis von Aufgaben und Namen der Teammitglieder, der Patientenidentität sowie von Anamnese, Medikamenten und Allergien wird verbessert • Die Mitarbeiter betrachten die Anwendung als Gelegenheit, Probleme zu identifizieren und zu lösen • Eine überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter ist der Meinung, dass die Sicherheit im OP erhöht wird • Operateure und Anästhesisten be­ sprechen häufiger kritische Ereig­ nisse • Hierarchische Kommunikationshemmungen können abgebaut und das Betriebsklima verbessert werden • Die Teamkooperation wird ver­bessert. Darüber hat die Implementierung der Checkliste neben einer Verbesserung der Kommunikation über potentielle Komplikationen auch zu einer Steigerung der Zufriedenheit der Mitarbeiter geführt [38] – ein Aspekt, der auch in Bezug auf die Patientensicherheit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

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Abbildung 2

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M

Operative Sicherheits-Checkliste der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin des Diakoniekrankenhauses Friederikenstift Hannover.

Die Einführung einer Operativen Sicherheits-Checkliste erfordert das uneingeschränkte Engagement der Entscheidungsträger aller beteiligten Bereiche – der Chefärzte und Pflegedienstleitungen ebenso wie die der administrativen Leitungen [39]. Beteiligung an Fehlermelde­systemen In den letzten Jahren haben Fehlermeldesysteme (critical incident reporting system; CIRS) in der Medizin zunehmende Bedeutung erlangt. Diese Entwicklung kann als Teil einer sich langsam entwickelnden Fehlerkultur gedeutet werden – wobei überholte hierarchische

Strukturen und unzureichende Selbstreflexion insbesondere von Führungskräften diesem Prozess in vielen Bereichen durchaus noch im Wege stehen. Dabei gilt gerade für die Fehlerkultur der bereits zitierte Satz: „To err is human“.

Ein konstruktiv-kritischer Umgang mit Fehlern oder Beinahefehlern ist dar­über hinaus dazu geeignet, systematische Probleme zu entdecken und anzugehen. Als Beispiel sei der Umgang mit Gerätefehlern in der Anästhesie genannt [42].

Wenn im medizinischen Bereich Fehler auftreten, dann sollen sie dazu genutzt werden, das Geschehene abteilungsintern oder interdisziplinär konstruktiv zu diskutieren und dazu beizutragen, dass Beteiligte und auch Unbeteiligte aus diesen Fehlern oder Beinahefehlern lernen können [40,41].

Neben klinikinternen Fehlermeldesystemen können auch klinikübergreifende Systeme zu einem kon­ struktiven Umgang mit Fehlern bei­ tragen. Entsprechende Systeme er­ lauben es, quasi prophylaktisch aus Fehlern anderer Institutionen zu lernen, die dazu jedoch regelmäßig sachgerecht kommentiert und zugänglich gemacht werden müssen.

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Gleichzeitig können durch überregionale oder bundesweite Fehlermeldesysteme evtl. bestehende systematische Mängel entdeckt und einer Lösung zugeführt werden. Bei CIRS-Meldungen an übergeordnete Strukturen soll jedoch zunächst eine klinikinterne Analyse erfolgen. Weiter muss geprüft werden, ob eine CIRSMeldung aus einer anderen Einrichtung für die eigene Klinik (Dienstplangestaltung, Geräteausstattung, Räum­lich­keiten etc.) relevant ist. Der Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA), die DGAI und das ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (äzq) unterhalten derzeit gemeinsam ein bundesweites Meldesystem (www.cirs-ains.de) zur anonymen Erfassung und Analyse von sicherheitsrelevanten Ereignissen in allen Bereichen der Anästhesiologie. Morbiditäts- und Mortalitäts­berichte in der Anästhesiologie Gemäß der „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology“ [25] sollen alle anästhesiologischen Abteilungen Daten zur Patientenmorbidität und -mortalität erheben und jährlich darüber berichten. Darüber hinaus sollen alle Anästhesieabteilungen einen jährlichen Bericht über die Maßnahmen und deren Ergebnisse zur Erhöhung der Patientensicherheit abgeben. Die Aufstellung der Patientenmorbidität und -mortalität führt von selbst zu der Frage, welche klinik- bzw. krankenhausweiten Maßnahmen zur Reduktion der Morbidität und Mortalität zu ergreifen sind, was wiederum in den jährlichen Bericht über die Maßnahmen zur Erhöhung der Patientensicherheit einmündet. Beide Berichte können im Sinne eines PDCAZyklus (Plan-Do-Check-Act) zu einer sachgerechten Selbstreflexion führen und die Sicherheitsstandards in der Abteilung bzw. dem Krankenhaus erhöhen. Vordrucke für die Abteilungsberichte zu Morbidität und Mortalität sowie zur Patientensicherheit sind auf der Internetseite www.patientensicherheit-ains.de zu finden. Über die o.g. Aspekte hinaus muss besonderer Wert auf die Optimierung der Ausbildung in der Anästhesiologie gelegt werden [43]. Diese umfasst nicht nur die

Fortbildung zum Facharzt für Anästhesiologie, sondern auch die kontinuierliche Weiterbildung für Fachärzte usw., wozu insbesondere ein regelmäßiges Sicherheitstraining im Anästhesiesimulator unter Beteiligung des anästhesiologischen Pflegepersonals gehört [44,45]. Nicht zuletzt muss im Zusammenhang mit der Patientensicherheit [46] auf die Urteile des Bundesgerichtshofes zur Parallelnarkose hingewiesen werden, in denen rechtliche Mindestanforderungen festgelegt werden und die Schlussfolgerung gezogen wird, dass Anästhesieverfahren „grundsätzlich nur von einem als Facharzt ausgebildeten Anästhesisten oder – bei entsprechend fortgeschrittenem Ausbildungsstand – zumindest unter dessen unmittelbarer Aufsicht von einem anderen Arzt vorgenommen werden darf, wobei Blick- und Rufkontakt zwischen beiden bestehen muss“.

Einfluss der Anästhesiologie auf das Langzeitergebnis der Patienten In einer Studie [47] an 1.064 Patienten wurde festgestellt, dass nach einer Operation in Allgemeinanästhesie 5,5% aller Patienten innerhalb eines Jahres verstarben, bei Patienten >65 Jahre waren es sogar 10,3%. Das Versterben innerhalb des ersten Jahres nach einer Operation war in erster Linie mit den bestehenden Vorerkrankungen des Patienten assoziiert – allerdings wurden auch die kumulative Dauer einer sehr tiefen Narkose und intraoperative systolische Druckwerte

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