Patienten als Partner in der letzten Lebensphase

Leitthema: Der informierte Bürger Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2004 · 47:992–999 DOI 10.1007/s00103-004-0906-4 © Springer...
Author: Dieter Kramer
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Leitthema: Der informierte Bürger Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2004 · 47:992–999 DOI 10.1007/s00103-004-0906-4 © Springer Medizin Verlag 2004

B. van Oorschot1 · C. Hausmann2 · N. Köhler1 · K. Leppert3 · S. Schweitzer1 K. Steinbach1 · R. Anselm1, 4 1 Modellprojekt „Patienten als Partner“, Friedrich-Schiller-Universität Jena 2 Projekt:Contor; Wissenschaftliche Dienstleistungen und Forschungsberatung, Jena 3 Institut für medizinische Psychologie, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena 4 Professur für Ethik, Theologische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen

Patienten als Partner in der letzten Lebensphase Erste Ergebnisse und Perspektiven eines Modellvorhabens

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ie gleichberechtigte Zusammenarbeit von Patienten und Ärzten und die Einbeziehung der Patienten in medizinische und pflegerische Entscheidungen ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal des modernen Gesundheitswesens. In der Überwindung eines paternalistischen Verständnisses wird das Arzt-Patienten-Verhältnis als partnerschaftliche Beziehung verstanden, in der die Beteiligten gleichberechtigt je eigene Rechte und Pflichten haben. Dabei setzen sowohl Partizipation als auch die konkrete Entscheidungsbeteiligung des Patienten eine adäquate Aufklärung voraus. Patienten haben das Recht auf ausreichende Informationen, denn – so Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz, und Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung – “... nur ein informierter Patient kann sich am Behandlungsprozess aktiv beteiligen, in eigener Verantwortung Entscheidungen treffen und so Mitverantwortung im Entscheidungsprozess übernehmen“ []. Patientenorientierung und Partizipation an medizinischen und pflegerischen Entscheidungen ist auch für die letzte Lebensphase zu fordern. Viele Menschen befürchten, am Lebensende hilflos möglicherweise der anonymen medizinischen Technik und medizinsystemimmanenten Automatismen ausgeliefert zu sein. Sie

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wünschen sich, am Ende ihres Lebens möglichst schmerzlos und ohne sonstige belastende Symptome selbst bestimmt sterben zu können. Zumeist soll sich dabei das Sterben im privaten, vertrauten Umfeld und in Anwesenheit nahe stehender Menschen ereignen [2]. Von den Handelnden im medizinischen System wird erwartet, dass sich ihr professionelles Tun an den individuellen Präferenzen des Sterbenden ausrichtet und dass es individualitätsunterstützend zur Förderung der eigenen Selbstbestimmung beiträgt [3]. Im Modellvorhaben „Patienten als Partner – Tumorpatienten und ihr Mitwirken bei medizinischen Entscheidungen“ soll das aus dem angelsächsischen stammende Modell der Partizipativen Entscheidungsfindung (PEF, aktuell dazu [4]; shared decision making (sdm, [6]) auf seine Leistungsfähigkeit in der Palliativsituation und bei Entscheidungen am Lebensende überprüft werden. Die Projektplanung ging davon aus, dass durch die Stärkung der Patientenposition im Kontext partnerschaftlicher Entscheidungsfindung individuelle Wünsche und Bedürfnisse besser berücksichtigt werden. Als Folge der intensiveren Partizipation wird eine patientenorientiertere und damit insgesamt bessere Versorgung in der letzen Lebensphase erwartet. Indikatoren für eine Patientenorientie-

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rung und Partizipation sind das Versterben am gewünschten Ort, die Berücksichtigung von Patientenverfügungen sowie – aus Hinterbliebenensicht – die Information und die Partizipationsmöglichkeiten. Um die partnerschaftliche Partizipation bei medizinischen Entscheidungen zu verbessern, wurden in Jena gemeinsam mit dem Förderverein Hospiz Jena e.V. unter wissenschaftlicher Begleitung eine Anlaufstelle für Patientenverfügungen und ein konsiliarisch tätiges Palliativteam etabliert [6]. Im Folgenden werden ausgewählte erste Ergebnisse der Befragungen zu Projektbeginn sowie einer Hinterbliebenenbefragung des Palliativteams vorgestellt.

Material und Methode In der Projektplanungsphase lagen keine international anerkannten Instrumente zur Erfassung Shared-Decision-MakingKonstruktes (sdm, partizipative Entscheidungsprozesse) sowie zur Beurteilung der Effektivität verschiedener Interventionen vor. Diese Situation hat sich bisher nicht Das Modellvorhaben „Patienten als Partner – Tumorpatienten und ihr Mitwirken bei medizinischen Entscheidungen“ wird vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gefördert (Laufzeit September 2001–August 2004, Förderkennzeichen: 217-43794-5/3).

Zusammenfassung · Abstract Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsf - Gesundheitsschutz 2004 · 47:992–999 DOI 10.1007/s00103-004-0906-4 © Springer Medizin Verlag 2004

B. van Oorschot · C. Hausmann · N. Köhler · K. Leppert · S. Schweitzer · K. Steinbach R. Anselm

Patienten als Partner in der letzten Lebensphase. Erste Ergebnisse und Perspektiven eines Modellvorhabens Zusammenfassung Im Modellvorhaben „Patienten“1 als Partner – Tumorpatienten und ihr Mitwirken bei medizinischen Entscheidungen“ wurden zwischen März 2002 und August 2003 272 palliativ behandelte Tumorpatienten u. a. nach ihrem Informationsstand, dem gewünschten Sterbeort und nach Patientenverfügungen befragt. Darüber hinaus beantworteten 72 Hinterbliebene von Patienten, die von dem im Rahmen des Modellvorhabens etablierten Palliativteam betreut wurden, eine analoge Fragebogenversion, die über die Frage nach dem Er1 Wenn in dem Artikel von „Patient“ bzw. „Arzt“

die Rede ist, ist damit selbstverständlich auch die jeweilige weibliche Form gemeint. Der Verzicht auf die politisch korrekte Darstellung beider Geschlechtsanreden erfolgt aus Gründen der Lesbarkeit und platztechnischen Gründen.

krankungs- und Prognosewissen auch eine Frage nach dem Vorhandensein und der Relevanz von Patientenverfügungen sowie dem Sterbeort enthielt. Sowohl aus Patienten-, Ärzte- als auch aus Hinterbliebenensicht ist vor allem die Prognoseinformation unbefriedigend. 75% der befragten Patienten wollten zu Hause versterben, 15% im Krankenhaus. 36% der vom Palliativteam betreuten Patienten hatten nach Angaben der Hinterbliebenen eine Patientenverfügung abgeschlossen. In der Hinterbliebenenbefragung fand sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein einer Patientenverfügung und dem Versterben am gewünschten Ort. Aus Hinterbliebenensicht waren medizinisch/gesundheitliche Gründe, Hoffnung auf Besserung bis zuletzt, akute Zustandsverschlechterung und Defizite in

der pflegerischen Versorgung entscheidende Gründe für das ungewünschte Versterben im Krankenhaus. Zukünftig sollten Patientenverfügungen verstärkt als Kommunikationshilfen und für die Versorgungsplanung genutzt werden. Dazu ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit unerlässlich, die sich in der Bereitschaft zu Gesprächen, in Zeit sowie in Beratung realisiert. Die erforderliche Kommunikationskompetenz der Ärzte müsste verstärkt eingeübt werden. Schlüsselwörter Partizipative Entscheidungsfindung · Arzt-Patient-Beziehung · Partizipation · Palliativtherapie · Medizinische Entscheidungen · Patientenverfügung

Patients as partners. Tumour patients and their participation in medical decisions Abstract Between March 2002 and August 2003 as part of the research project “Patients as partners – tumour patients and their participation in medical decisions” tumour patients undergoing palliative therapy (n=272) were interviewed and asked about their level of information, their desired place to die and whether they had prepared an advance directive. Furthermore, 72 relatives of deceased patients who had been looked after by the project’s palliative care team were given a similar questionnaire including questions concerning their knowledge about disease and prognosis, the actual place of death and the relevance of ad-

vance directives. According to patients and relatives, information particularly about prognosis is unsatisfactory. Of the interviewed patients, 75% said they wanted to die at home and 15% in a hospital. According to their relatives, 36% of the patients looked after by the palliative care team had an advance directive. The survey of the relatives showed a significant relation between the preparation of an advance directive and dying at the desired place. According to the relatives, medical and health reasons, hope for an improvement up to the very end, acute worsening of the condition and deficits in medical care were important reasons

for dying in hospital against the patient’s wish. In future, advance directives should be used as an aid for communication and the planning of care. Therefore, co-operation between doctors and patients based on a partnership is necessary. The required competence in communication should be improved. Keywords Shared decision making · Physician-patient relationship · Palliative oncology · Place of death · Advance directive

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Leitthema: Der informierte Bürger geändert [4, 7]. Die Begleitforschung eines Modellvorhabens, in dem Patientenorientierung, partnerschaftliche Zusammenarbeit und auch partizipative Entscheidungsprozesse in der Palliativsituation und am Lebensende gefördert werden sollen, muss darüber hinaus berücksichtigen, dass eine Evaluation der Versorgungsqualität in der Sterbephase partiell nur indirekt über Dritte möglich ist. Dabei ist offen, ob und inwieweit Angehörige, Pflegende oder Ärzte die richtigen Adressaten für eine solche rückwirkende Bewertung der letzten Lebensphase sind. Um dieser Problematik gerecht zu werden, wurde im Modellvorhaben zunächst ein eigenes Erhebungsinstrument entwickelt, das unter Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven vergleichbare Fragen für den Einsatz bei Patienten, Angehörigen/Hinterbliebenen, Ärzten und Pflegenden enthält. Angesichts der komplexen und sensiblen Themen sollten die Patienten- und Angehörigenfragen möglichst erfahrungsnah und alltagssprachlich formuliert sein und auch die psychische Situation der Betroffenen und die Ambivalenz im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Sterben berücksichtigen. Daher wurden zur Generierung der Fragen und Items in einer ersten Projektphase (September 2002 bis Februar 2003) 6 narrative Interviews mit Patienten, Angehörigen, Hinterbliebenen, Ärzten, Pflegenden, Bestattern und medizinischem Assistenzpersonal nach sozialwissenschaftlichen Regeln durchgeführt und mit Hilfe der Methoden der Grounded Theory und der Objektiven Hermeneutik theoriegeleitet ausgewertet [8, 9]. Die standardisierte Fragebogenendversion enthält neben verschiedenen Fragen zur Einstellung zum Gesundheitswesen, zur Patienten- und Arztrolle, zu Sterben und Tod und zur gewünschten Entscheidungsbeteiligung auch Fragen zum selbst eingeschätzten Informationsstand und zu den Partizipationsmöglichkeiten, zum gewünschten Sterbeort und zur Einstellung zur Patientenverfügung. Die Fragen zur Soziodemographie sind dem Allbus [0] entnommen. Durch die Kombination von offenen und geschlossenen Fragen sind quantitative und qualitative Analysen möglich. Zur Vorbereitung der vergleichenden Auswertung der Befragungen von Hinterbliebenen und letztbehandelnden Ärzten

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mit der Patientenerstbefragung wurden sowohl den Patienten als auch den Angehörigen und den Ärzten in der Erstbefragung möglichst identische Fragen gestellt. Die geplante Parallelbefragung der Pflegenden war aufgrund fehlenden Interesses der avisierten Kooperationspartner nicht zu realisieren. Als Hintergrund für die Befragung der vom Patienten vorgeschlagenen Hausärzte als Vertreter der letztbehandelnden Ärzte wurde im Sommer 2003 eine Befragung repräsentativ ausgewählter Thüringer Hausärzte durchgeführt []. Die persönlich-mündlichen Patientenerstbefragungen fanden im Zeitraum von März 2002 bis August 2003 in verschiedenen Kliniken (Abt. Strahlentherapie der Klinik für Radiologie, Klinik und Poliklinik für Hämatologie/Onkologie und Universitätsfrauenklinik des Klinikums der FSU Jena sowie des Zentralklinikums Bad Berka) statt. Geplant war eine Vollerhebung aller in dem genannten Zeitraum palliativ behandelten Tumorpatienten mit einer ärztlich geschätzten Lebenserwartung von bis zu einem Jahr. Durch das persönliche Interview sollte die Belastung der Patienten möglich gering gehalten werden. Zum Ausschluss von Interviewereffekten wurden die Befrager speziell geschult und gezielt supervidiert. Nach der Patientenbefragung sollte ein vom Patienten vorgeschlagener Angehöriger interviewt werden. Der behandelnde Arzt erhielt einen schriftlich zu beantwortenden Fragebogen. Derzeit erfolgen quartalsweise kurze telefonische Intervallbefragungen sowie 6 bis 0 Wochen nach dem Versterben des Patienten schriftliche Befragungen des von ihm benannten Angehörigen und des benannten Hausarztes. Das Palliativteam nahm seine Arbeit im März 2002 auf. Eine Ärztin und eine Schwester sind im stationären und im ambulanten Sektor in enger Vernetzung mit dem Hausbetreuungsdienst des Fördervereins Hospiz Jena e.V. in Jena und in der näheren Umgebung konsiliarisch und beratend tätig. Nachdem im Frühsommer 2003 erkennbar wurde, dass aufgrund des großen Einzugsgebietes des Universitätsklinikums (einziges Universitätsklinikum in Thüringen) und infolge der nicht gelingenden Patientenrekrutierung in den Polikliniken der kooperierenden Kliniken die Schnittmenge der erstbefragten und der

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vom Palliativteam betreuten Patienten wider Erwarten sehr gering war, wurde ab Juni 2002 mit einer Hinterbliebenenbefragung aller vom Palliativteam betreuten oder beratenen Patienten begonnen, die keine Patienteneingangsbefragung durchlaufen hatten. Etwa 8 bis 2 Wochen nach Versterben des Patienten wird die Hauptbezugsperson mit einer verkürzten Version des Hinterbliebenenfragebogens schriftlich befragt. Aus forschungsethischen Gründen wird bei allen Hinterbliebenenbefragungen auf eine Erinnerungsaktion verzichtet. Die Datenanalyse erfolgte mit SPSS für Windows. Für die statistischen Analysen wurden chi-quadrat- und gamma-basierte Verfahren verwendet. Das Signifikanzniveau wurde auf p