Partizipation – wir gestalten die soziale Stadt Sozialpolitischer Diskurs in der Landeshauptstadt München
WORKSHOP 8: Sozialraumorientierung
Am Montag, 20. Dezember 2004, im Stadtmuseum München
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VORWORT „Alter Wein in neuen Schläuchen“ – nimmt die Diskussion um die Sozialraumorientierung der sozialen Arbeit in München lediglich die Themen aus der fast schon in Vergessenheit geratenen „Gemeinwesenarbeit“ wieder auf oder sind neue Inhalte, Ausrichtungen, Prioritätensetzungen etc. damit verbunden? Der Sozialpolitische Diskurs hat dazu einen Protagonisten der Gemeinwesenarbeit – Prof. Dr. Wolfgang Hinte – eingeladen, seine Sicht zur aktuellen Diskussion von Sozialraumorientierung vorzustellen. Der Saal des Stadtmuseums war aus diesem Anlass mit etwa 150 Gästen gefüllt. Das Thema hatte also das Interesse der Münchner Sozialarbeit getroffen, und die Veranstalter/innen haben ihr Ziel erreicht, die Diskussion auf einer verbreiterten Basis in Bewegung zu bringen. Franz Lindinger
Der Workshop Sozialraumorientierung fand im Rahmen des Sozialpolitischen Diskurses statt. Vorbereitet wurde er von Franz Lindinger, Karin Majewski und Jutta Döring. VeranstalterInnen: Geschäftsführung der Caritas-Zentren München Stadt/Land, Münchner Trichter, Katholische Jugendfürsorge, Sozialdienst Katholische Frauen, Katholische Stiftungsfachhochschule München, IN VIA Katholische Mädchensozialarbeit. UnterstützerInnen: Fachforum Freizeitstätten, Innere Mission München, Kreisjugendring München-Stadt, Paritätischer Wohlfahrtsverband. Dank geht an die ModeratorInnen, ReferentInnen, OrganisatorInnen und an alle TeilnehmerInnen. Die vorliegende Dokumentation stellt das von Wolfgang Hinte gehaltene Referat zur Verfügung. Auf eine Verschriftlichung der Diskussionsbeiträge wurde diesmal verzichtet.
Das Referat wurde von Wolfgang Hinte zur Verfügung gestellt und wird von ihm verantwortet. Redaktionelle Bearbeitung und Gestaltung: Martina S. Ortner
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Wolfgang Hinte
„Entlang den Interessen der Wohnbevölkerung“ – zur Erinnerung an die Radikalität eines Konzepts Ein Gemeinwesenarbeit-Projekt Anfang der
offenes Wort („Willi, mach jetzt keinen
70er Jahre im Ruhrgebiet. Wir (eine Gruppe
Scheiß!“) allerdings immer aufgeschlossen.
von Gemeinwesenarbeitern) lernen dort Willi
Wir kennen Willi ein knappes Jahr lang, als
Kloos kennen. 13 Jahre, ziemlich kräftig, für
wir erfahren, dass er vom Jugendamt betreut
sein Alter geradezu ein Riese, pflegt eine
wird und seine Mutter Sozialhilfe bezieht.
Sprache zwischen Revolverheld und James
Diese hat, nicht nur wegen ihm, sondern
Bond, mimt gerne den starken Mann und ist
auch wegen ihrer anderen vier Kinder, das
eine herzensgute Seele. Er ist Mitglied einer
Jugendamt zu Hilfe geholt, weil ihr „das al-
Mieterinitiative, die sich für die Sanierung
les“ über den Kopf wächst. Bezogen auf Willi
heruntergekommener Wohnungen aus den
heißt das: Er hat seinem Lehrer Schläge
50er Jahren einsetzt. Willi setzt sich gerne
angedroht, ist bereits zweimal sitzen geblie-
mit Erwachsenen an einen Tisch, vielleicht
ben, wird wohl kein Hauptschulabschluss
auch deshalb, weil er selbst kaum gleichalt-
kriegen, ist schon mal beim Autofahren ohne
rige Freunde hat. Er gibt sich immer etwas
Führerschein erwischt worden, kommt a-
großspurig, raucht gelegentlich (heimlich),
bends bzw. nachts gelegentlich ziemlich spät
passt sich dem Erwachsenenjargon an, zeigt
nach Hause, und lässt sich von seiner Mutter
sich insbesondere jüngeren Kindern gegen-
nichts sagen, falls er überhaupt mit ihr redet.
über äußerst fürsorglich und fungiert beim
Im Gespräch mit dem Jugendamts-
sommerlichen Stadtteilfest mit beachtlicher
Sozialarbeiter erfahren wir: Willi sei ein klas-
Übersicht als gerechter Preiseverteiler beim
sischer Leistungsverweigerer, latent aggres-
Dosenwerfen. Beim anschließenden Kampf-
siv, hochgradig kriminalitätsgefährdet, viel zu
trinken ist er in der Regel sturzbesoffen und
kräftig für sein Alter, geistig retardiert, nahe-
protzt anderntags mit der Menge der geköpf-
zu verwahrlost und jetzt schon gemeinge-
ten Bierflaschen. Außerdem bietet er uns
fährlich (im übrigen sei die Mutter erzie-
Gemeinwesenarbeitern seine Hilfestellung in
hungsschwach!). Da bleibt uns die Spucke
allen möglichen praktischen Lebenssituatio-
weg: So was hätten wir von unserem Willi
nen an, was dazu führt, dass er mir bei mei-
nie gedacht. Ab und an, speziell im Sommer,
nem Umzug unzählige Kisten und Schränke
kam Willi gar nicht nach Hause. Er schlief
zwei Stockwerke runter und vier Stockwerke
dann einfach irgendwo draußen, auf einem
rauf schleppt. Willi ist im Umgang mit uns
Feld, in einer windgeschützten Ecke, auf
absolut pünktlich, zuverlässig, manchmal ein
einem Hinterhof oder wo auch immer. Wir
bisschen aufdringlich, für ein
fanden das irgendwie spannend, weil wir uns
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das nicht trauten, wir hatten Angst, es würde
Willi bewahrt vor Intelligenztests in der Er-
regnen oder wir würden uns wertvolle Kör-
ziehungsberatung, einer drohenden Heim-
perteile erkälten, aber für Willi war das nor-
einweisung, vor systematischer Hausaufga-
mal. Die Mutter hingegen ging fest davon
benhilfe, vor Mediationsgesprächen mit sei-
aus, dass Willi in diesen Nächten kriminelle
ner Lehrerin, seelsorgerischen Hinweisen
Taten vollbrachte, und der Sozialarbeiter
des Sozialarbeiters, Erlebnispädagogik im
meinte ohnehin, dass Kinder nachts ins fami-
Schwarzwald, Citybound in Dortmund und
liäre Bett gehören und alles andere allenfalls
Auswegberatung im Sozialamt. Familie und
unter erlebnispädagogischer Aufsicht statt-
Institutionen taten sich damals schwer: Die
haft sei. Nachdem uns das Jugendamt deut-
Lehrerin fand nie Zugang zu seinem de-
lich auf diese Tatbestände hingewiesen hat,
monstrativ-protzenden Verhalten, der Sozi-
beschließen wir, diese Institution und ihren
alarbeiter war erschreckt ob der Körperkraft
Vertreter nicht weiter ernst zu nehmen. Willi
und sah ihn als „Fall“, die Mutter hatte genug
scheint uns zwar etwas merkwürdig, ansons-
mit sich selbst und den anderen Kindern zu
ten allenfalls so gestört wie sein Sozialarbei-
tun und wollte Willi am liebsten los werden,
ter, und wir wollen ihn künftig vor der für-
und das größte Problem für alle Beteiligten
sorglichen Belagerung des Jugendamtes
schien zu sein, Willi irgendwie intelligenter
schützen. Wir nutzen unsere Sozialraum-
machen zu müssen und zu einem Haupt-
kenntnisse mit folgendem Ergebnis: Willi
schulabschluss zu bringen. Interessante
erhält (ohne Hauptschulabschluss) durch
Randnotiz: Bei unseren Gesprächen mit dem
seine und unsere Kontakte eine Aushilfsstel-
Sozialarbeiter wirkte der Kollege so, als sei
le als ungelernter Hilfsarbeiter bei einer loka-
er in einem Aktenkoffer zur Welt gekommen,
len Baufirma (die regelmäßig unser Stadtteil-
und zwar in einem Aktenkoffer mit eingebau-
fest sponserte), macht dort einen guten Ein-
ter Sonnenbank. Blasiert, besserwisserisch,
druck wegen seines enormen Arbeitspen-
bürgerliche Normalität pflegend und voll auf
sums und aufgrund seiner Kollegialität, er-
den Amtsbonus setzend. Ein für uns ab-
hält danach einen Dauerjob als Hilfsarbeiter
schreckender Typ – nach heutigen Maßstä-
im Bau, findet drei Jahre später ein (nach
ben der perfekte Teilnehmer einer Nachmit-
unseren Kriterien recht quirliges) Mädchen,
tags-Talkshow bei RTL. Spannend war dann
das ihn heiratet und auf das er mit seiner
indes eine Begegnung mit diesem vermeint-
großkotzig-beruhigenden Art einen unge-
lichen Bürokraten bei einem Konzert in ei-
mein beruhigenden Einfluss hat. Irgendwo
nem damals selbstverwalteten Kulturzent-
im Ruhrgebiet finden sie eine preiswerte
rum: Plötzlich wirkte der Kollege richtig
Wohnung, streiten sich bis heute gelegent-
menschlich, flippte bei der Musik sympa-
lich, betrinken sich ab und an, lieben sich,
thisch lebendig aus und prostete uns dau-
freuen sich und ärgern sich über die Nach-
ernd mit seinem Weinglas zu, weil er sich
barn. Heute würden wir sagen: Wir haben
freute, auf nette Bekannte zu treffen. Und wir
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fanden ihn gar nicht mehr unnahbar oder
dalisieren oder aufzuklären. Insofern er-
arrogant sondern durchaus sympathisch und
staunte es nicht, wenn etwa Aktivierungs-
locker. Rückblickend gesagt: Wir haben Willi
prozesse seitens Politik und Verwaltung als
nicht aktiviert (er war einfach aktiv), wir ha-
Aufwiegelei gebranntmarkt, Forderungen
ben ihn nicht beteiligt (er hat sich einfach
nach Beteiligung mit dem Hinweis auf die
selbst beteiligt), und wir haben auch keine
angebliche Inkompetenz der Betroffenen
Lernprozesse organisiert (Willi hat jedoch mit
zurückgewiesen wurden oder der Verzicht
uns eine Menge gelernt). Aber wir hatten
auf pädagogische Besserwisserei bis hin zur
gute Kontakte im Gemeinwesen, haben Willi
„Abschaffung der Erziehung“ kurzerhand als
gelegentlich die Meinung gesagt, und – ganz
terroristischer Anschlag auf abendländische
wichtig! – wir respektierten Willis Aus-
Traditionen umdefiniert oder zumindest in
drucksweise und Lebensstil und waren be-
den Bereich von Illusion und Vision verwie-
eindruckt von seinen Stärken.
sen wurde. Die Schärfe der Reaktionen des Establishments war für uns ein Gradmesser für die Radikalität des Konzepts.
GWA – Grundlagen und Irrwege
Auch heute noch sind bewährte gemeinwesenarbeiterische Prinzipien wie etwa der konsequente Ansatz an den Interessen und
Die Unterstützungsleistungen für Willi`s ge-
dem Willen der Wohnbevölkerung, der Vor-
sellschaftliche Integration waren damals e-
rang aktivierender und auf Selbsthilfe set-
her ein Nebenprodukt unserer GWA. Im
zender Arbeit vor Betreuungsangeboten, der
Zentrum stand dort eher die Organisation
systematische Einbezug personeller und
von Bürgeraktivität für die Sanierung von
sozialräumlicher Ressourcen bei der Gestal-
Wohnungen, für eine bessere Verkehrsan-
tung von Wohnquartieren sowie der ziel-
bindung oder für den Bau eines Jugendzent-
gruppen- und bereichsübergreifende Ansatz
rums. Gleichsam am Rande ergaben sich
zur Bildung professioneller und lebensweltli-
Geschichten wie die zuvor erzählte, die in-
cher Netzwerke orginäre „Pfunde“, derer
dessen in dieser Form schwerlich denkbar
man sich aus der fachlichen Tradition der
waren ohne unsere radikale Akzeptanz der
Sozialarbeit bedienen kann und die nicht
Eigenarten von Menschen und ihres Milieus.
zum zigsten Male neu erfunden werden
Für die Gemeinwesenarbeiter/innen in den
müssen.
siebziger Jahren waren Radikalität und An-
Nicht sonderlich überraschend, aber doch
stößigkeit von Theorie und Praxis eines fort-
bemerkenswert scheint mir der Prozess zu
schrittlichen GWA-Konzepts absolut selbst-
sein, in dessen Verlauf fundamentale ge-
verständlich. Vieles war ja auch gezielt dar-
meinwesenarbeiterische Konzeptbestandtei-
auf angelegt, Bestehendes in Frage zu stel-
le in die Fachdiskussion sozialer Arbeit wie
len, Widerspruch herauszufordern, zu skan-
auch in das bürokratische Handeln der
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Fachkräfte Eingang fanden und dabei durch
meinwesenarbeit einzuordnen sind.“ (ebd.).
verschiedene Mechanismen ihrer Brisanz
Wenn heute einige Technokraten und Juris-
beraubt wurden (Richard Hauser würde sa-
ten daher kommen und „Sozialraumorientie-
gen: sie wurden untermauert, übermauert
rung“ kurzerhand auf Sozialraumbudgets
und zugemauert): etwa durch inflationären
reduzieren (etwa Münder 2001), so outen sie
Gebrauch, sprachliche Verformung, Umdefi-
sich damit als partiell ahnungslos und einem
nition des Bedeutungsgehaltes oder durch
ordentlichen Literaturstudium eher abge-
kontextuelle Überformung. Interessant ist in
neigt.
diesem Zusammenhang der Umgang mit der
Doch auch auf Seiten der GWA gab es Verir-
GWA seitens der Jugendhilfe. GWA wirkte
rungen, die von dem Kern des Konzepts
für die Jugendhilfe der 70er Jahre wie ein
ablenkten. Angesichts spärlicher Praxiserfol-
Schnellball in der Hölle – allenfalls recht
ge und zahlreicher unterfinanzierter Projekte
niedlich und nur von äußerst begrenzter
folgte man allzu unbedacht aktuellen Mode-
Ausstrahlung. In den 80er und 90er Jahren
trends, die Beachtung versprachen. Doch
wurde sie behandelt wie ein außerehelich
wer GWA vornehmlich in einem funktionalen
gezeugtes, eher ungeliebtes Kind, das man
Zusammenhang mit jeweils aktuell auftre-
am liebsten dauerhaft stationär unterge-
tenden Herausforderungen oder vermeintlich
bracht hätte, um es sich vom Leibe zu hal-
dauerhaft virulenten Fragestellungen sieht –
ten. Doch seit Ende der 90er Jahre wird aus
etwa GWA als Drogenprävention, GWA ge-
dem störrischen Kind, das man jahrelang
gen Gewalt gegen Frauen, GWA und lokale
gemieden hatte, gleichsam per fachlicher
Ökonomie, GWA gegen Rassismus usw. – ,
Rückführung ein vollwertiges Familienmit-
der bzw. die trägt ebenso zur Verwässerung
glied, das man in den Jugendhilfe-Schoß
des Konzepts bei wie so mancher Jugendhil-
aufnehmen will, als sei man immer schon ein
fe-Akteur. Aber so ist das eben: Angesichts
Herz und eine Seele gewesen. Gelinde ge-
unscharfer Begrifflichkeiten, schlecht doku-
sagt ist das ein geschichtsloses und eher
mentierter Fachdiskussion und äußerst hete-
oberflächliches Vorgehen. „Neues erscheint
rogener Praxis mutierte GWA zu einer belie-
häufig jenen als neu, die sich kein histori-
big verwendbaren Worthülse, die immer
sches Gedächtnis aneignen konnten und die
dann herausgekramt wird, wenn man sich
deshalb Schwierigkeiten haben, in Jahrzehn-
fortschrittlich, links oder zumindest auf der
ten zu denken statt in Etatjahren.“ – soweit
Höhe der Zeit verorten will. Die Publikation,
C.W. Müller (2000, S. 18), das Langzeitge-
in der dieser Beitrag erscheint, ist – so fürch-
dächtnis der Sozialpädagogik. Lebenswelt-
te ich – ein beredtes Beispiel für die Kraut-
orientierung, Ressourcenarbeit, Case-
und Rüben-Szene, die sich auf schlichtem
Management und Empowerment sind zeit-
Niveau der Vokabel „GWA“ bedient und die
genössische Trend-Begrifflichkeiten, „die
eigene (gelegentlich durchaus respektable)
unschwer in die Tradition etablierter Ge-
Praxis oder die (gelegentlich durchaus inte-
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ressanten) Überlegungen durch einen locker
nen sozialen Arbeit genutzt werden und –
hingeworfenen GWA-Bezug adeln will. Ich
heute wie damals – gelegentlich dazu bei-
warte auf: GWA gegen Waldbrände, GWA
tragen, patriarchale, Betroffenen feindliche
und Gesundheitsreform, GWA gegen Kin-
und lebensweltferne Strukturen, Verfahren
derpornos und GWA für sichere Renten.
und Haltungen zu verschleiern. Es geht um
Dabei ist GWA derzeit wieder voller Enga-
die Begriffe Aktivierung, Beteiligung und
gement unterwegs auf dem Marsch ins Get-
Lernen.
to. Nur wenige Akteure aus der GWA sind bereit, sich etwa in kompliziertere Zusammenhänge der Jugendhilfe hineinzudenken,
1. Aktivierung
kaum jemand beschäftigt sich mit komplexeren Steuerungsfragen etwa im Quartierma-
„Gemeinwesenarbeit sieht ihren zentralen
nagement, juristische Grundlagen aus der
Aspekt in der Aktivierung der Menschen in
Sozialhilfe werden seitens der GWA kaum
ihrer Lebenswelt.“ (Oelschlägel 2001a, S.
rezipiert, und das KJHG wird nur insofern
101). In der Gemeinwesenarbeit war und ist
wahrgenommen, als dass dort etwas drin-
die „aktivierende Befragung“ (Hinte/Karas
steht, das mit dem Lebensumfeld zu tun hat:
1989) eine Verfahrensweise erster Wahl,
zwar kein Hinweis auf GWA, aber gern von
wenn man sich in ein Wohnquartier begibt
schlichteren GWA-Leuten entsprechend in-
und dort nach Themen sucht, die mit Betrof-
terpretiert. Ein Hinweis dafür, wie man sich –
fenheit, Ärger, Neugier oder anderen Emoti-
wie so oft im Verlauf der letzten 30 Jahre –
onen belegt sind. Denn um solche Themen
unter Ausblendung der in der Tat etwas
herum – so die Erfahrung aus der GWA –
komplizierteren Restwelt ins eigene Nest
sind Menschen aktiv: Sie regen sich auf, sie
zurückzieht, in dem man zwar auch keine
reden darüber, sie beschweren sich oder sie
Wärme findet, sich aber zumindest die Mühe
unternehmen etwas. Um solche Themen
der Auseinandersetzung mit anderen Sys-
herum organisiert Gemeinwesenarbeit vor-
temen erspart.
handene Aktivitätsbereitschaft – der große
Dabei ist das Programm der „alten“ GWA
Organizer S.D. Alinsky hat für die Schlag-
weiterhin nicht nur aktuell, sondern auch
kraft solcher Organisationen Maßstäbe ge-
brauchbar als fundamentale Analyse und
setzt. GWA hat also immer nach bereits vor-
Kritik modernistischer Erscheinungsformen
handener Aktivität gesucht – und insofern
von scheinbar fortschrittlichen Programmen
müsste die „aktivierende Befragung“ besser
mit gelegentlich doch ziemlich konservati-
„aktivitätserkundende Erfragung“ heißen.
vem Inhalt. Ich will dies verdeutlichen an-
Klar war immer, dass es nicht um pädagogi-
hand von drei Begriffen, die derzeit in Theo-
sche Tricks geht, um Menschen zu irgend-
rie und Praxis häufig recht unbedarft und wie
etwas zu aktivieren, das möglicherweise gar
selbstverständlich im Kontext einer moder-
nicht „ihr Ding“ ist, sondern dass nach vor-
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handener Aktivitätsbereitschaft geforscht
ausgequetscht wie eine Zitrone. Die landauf
wird, die dann möglichst durchsetzungsstark
landab gepredigten Formeln von „fördern
organisiert wird. Vereinfacht gesagt: Wir mo-
und fordern“ oder „aktivierender Hilfe“ wer-
tivieren nicht, sondern suchen nach vorhan-
den in einem Kontext missbraucht, der die
denen Motiven. GWA geht es also nicht dar-
ursprüngliche Radikalität dieses Prinzips
um, Leute zu etwas zu bringen, das sie nicht
nicht nur weich spült, sondern geradezu kon-
wollen, sondern der Zugang besteht darin,
terkariert. „Warum heißt es ... nicht aktiver
herauszufinden, was die Menschen wollen
Sozialstaat, statt aktivierender Sozialstaat?“
und dann mit ihnen gemeinsam darüber
(Trube 2003, S. 616). Die aufmerksame,
nachzudenken, wie sie selbst möglichst er-
respektvolle Suche nach Ressourcen, Po-
folgreich an der Durchsetzung ihrer Interes-
tentialen und Ansätzen von Selbsttätigkeit
sen arbeiten können. Denn nur, wer selbst
wird ersetzt durch eine geradezu mafiöse
mit seinen Möglichkeiten etwas tut, erhält
Herangehensweise unter der Überschrift:
darüber Würde – deshalb tut GWA nichts für
Gefördert wird, nur wer sich fordern lässt.
die Leute und bedient sie nicht, denn über-
Damit wird unter der Hand wieder das Sub-
mäßige wohlfahrtsstaatliche Betreuung wäre
jekt-Objekt-Verhältnis eingeführt, bei dem es
geradezu entwürdigend. GWA achtet konse-
auf der einen Seite die aktive, fordernde In-
quent die Tatsache, dass Menschen immer
stanz gibt und auf der anderen Seite den
schon aktiv sind, und es folglich darum geht,
Geforderten, (noch) passiven Menschen, der
vorhandene Aktivität zu kombinieren mit dem
nur als Behandelter auftaucht: Er „wird“ ge-
vorhandenen Methodenrepertoire der Fach-
fördert, er „wird“ gefordert. Dass man staatli-
kräfte.
che Leistungen von bestimmten Bedingun-
Doch Aktivierung degeneriert heute einer-
gen abhängig macht, ist grundsätzlich in
seits zu banalen Werbefeldzügen, bei denen
Ordnung, und dass es bei Nichterfüllen be-
um Beteiligung geworben oder Menschen
stimmter Bedingungen zu Leistungskürzun-
irgendein Engagement schmackhaft ge-
gen kommt, ist nachvollziehbar. Doch beim
macht wird. Zum anderen wird das Prinzip
fachlich-methodischen Handeln geht es um
der aktivierenden Arbeit derzeit auf recht
etwas anderes. Sozialarbeiterisch ist es not-
schäbige Art und Weise zurechtgestutzt zu
wendig, aufmerksam danach zu suchen, wo
einem Instrument staatlicher Kontrolle. Was
Menschen sich gleichsam schon selbst for-
wir einst als Kontrapunkt zu „Inszenierungen
dern, wo sie eigene Kräfte besitzen, aktiv
der Hilfebedürftigkeit in der Sozialen Arbeit“
sind und Ressourcen aufgebaut haben bzw.
(Herriger 1997, S. 65) setzten, wird heute
weitere Potentiale entwickeln können. Wer
kurzerhand zur Ausbeutungsstrategie der
sozialarbeiterisch fördern will, muss genau
ohnehin Benachteiligten umfunktioniert: das
diese Aspekte kleinteilig und präzise her-
untere Drittel dieser Gesellschaft wird unter
ausarbeiten und sie als Grundlage für den
dem Stichwort „Ressourcenorientierung“
professionellen Kontakt nutzen. Genau darin
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liegt die Kunst einer aufgeklärten und aufklärenden sozialen Arbeit, nämlich vorhandene
2. Beteiligung
sozialstaatliche Förderinstrumente und unter bestimmten Voraussetzungen garantierte
Angesichts eines durchaus dominanten Tra-
Leistungen klug zu kombinieren mit den je
ditionsstrangs der Jugendhilfe ist die Verfüh-
individuellen Möglichkeiten der leistungsbe-
rung groß, auf dem Hintergrund bürgerlicher
rechtigten Menschen und ihren individuellen
Normalitätsvorstellungen über gelungenes
Lebensentwürfen. Es geht also nicht um
Zusammenleben in schnuckeligen Wohn-
Aktivierung im Sinne wohlfahrtstaatlicher
quartieren solche Lebenswelten gutwillig
Erpressung (etwa: „Ich mache Ihnen ein An-
okkupieren zu wollen, in denen es anders
gebot, das sie nicht ablehnen können.“),
zugeht als bei Professoren, Sozialarbeitern,
sondern um die oft mühsame Suche nach
Architekten und Studienräten. Dies zeigt sich
dem Willen und den Interessen der Men-
etwa am Gebrauch des Begriffes „Beteili-
schen und der Suche nach Möglichkeiten,
gung“. In bester Absicht sollen Menschen
diese mit gesetzlich verbrieften Leistungen
beteiligt „werden“ – nicht nur sprachlich ist
zu unterstützen. Dabei ist klar, dass Leistun-
klar, wer hier Objekt und wer Subjekt ist. Die
gen nicht erschlichen werden dürfen, dass
konsensförmig vorgetragenen Formeln von
die Voraussetzungen für den Leistungsbe-
Beteiligung, Aktivierung oder sozialem Kapi-
zug überprüft werden und dass dies in einem
tal in funktionierenden Netzwerken ver-
fairen Verfahren geschieht – im Rahmen
schleiern, dass Aktivität und Beteiligung
guter sozialer Arbeit etwa durch Kontrakte in
grundsätzlich mehrere Seiten haben. Wer
der Hilfeplanung, die kleinschrittige Erarbei-
Telefonzellen zerschlägt, ist hochgradig ak-
tung von Willen und Zielen der Betroffenen
tiv; wer zum eigenen Vergnügen und zum
sowie präzise Vereinbarungen, die in einer
Ärger anderer Leute Autoreifen zersticht,
Atmosphäre „auf Augenhöhe“ geschlossen
beteiligt sich auf durchaus unterhaltsame
werden. Grundlage sind aber immer die Inte-
Weise am öffentlichen Leben; und zu außer-
ressen der Menschen, und diese herauszu-
ordentlich gut funktionierenden Netzwerken
arbeiten und genau darauf die sozialstaatli-
zählen ohne Zweifel auch die Mafia, die Ter-
chen Leistungen abzustimmen (wenn es
roristentruppe um Bin Laden, zahlreiche
denn rechtlich zulässig ist), ist der Kern so-
Drogenhändlerringe sowie lokale Gangs.
zialarbeiterischer Tätigkeit.
Somit geht es also vermutlich nicht um beliebige Formen von Beteiligung, sondern um ganz spezifische, gewünschte Partizipationsweisen (s. dazu Lüttringhaus 2000). Doch geordnete Bürgerversammlungen oder runde Tische, methodisch sauber moderiert, etwa mit Kärtchen und Flip-Chart, grenzen genau diejenigen Bevölkerungsgruppen aus,
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die sich eher ungeordnet, lautstark und
Ähnliches gilt für die Handhabung des
anarchisch äußern und bei denen der Unter-
KJHG, insbesondere im Bereich des § 36.
schied zwischen guter Laune und Randale
Betroffene als handelnde Subjekte sind der
nicht immer so genau zu erkennen ist. Zahl-
Jugendhilfe im Grunde immer noch suspekt.
reiche Beteiligungsverfahren sprechen in
Unstrittig ist mittlerweile, dass die Beteili-
ihrem „heimlichen Lehrplan“ gezielt die privi-
gung der Betroffenen beim Hilfeplange-
legierte Mittelschicht an; den Benachteiligten
spräch noch erheblich verbesserbar ist. Da-
stehen die Foren selbstverständlich offen,
für gibt es zahlreiche Gründe, u.a. die Tatsa-
und man wünscht sich sogar, dass sie kom-
che, dass der Beteiligungsbegriff in der
men. Doch wenn sie einmal da sind, entzie-
deutschen Diskussion auf unangenehme Art
hen sie sich jeder geordneten Moderation
und Weise „erzieherisch“ okkupiert wurde.
und sind partout nicht bereit, ihre Bedürfnis-
Interessant ist ja, dass da „jemand beteiligt
se auf Kärtchen zu schreiben – ein Horror für
wird“, ihm geschieht also etwas, es wird et-
Moderationskoffer-Technokraten und Pla-
was mit ihm gemacht. Beteiligung wird „ge-
nungsmonster. Bestimmte Formen der di-
währt“, der Beteiligte wird erst in einem pas-
daktischen Feinplanung, die Einteilung in
siven Akt zu einem solchen. Dies illustriert,
verschiedene Phasen und Schritte, die
wie sehr in der Diskussion um die Betroffe-
Kommunikations- und Moderationsregeln,
nenbeteiligung der Wille der Menschen aus-
das scheinbar gerichtete und geradlinige
geklammert wird. Denn letztlich sind die Be-
Vorgehen: all das hat mit dem wirklichen
troffenen ja immer beteiligt, auch wenn ihnen
Leben fast nichts zu tun. Eher handelt es
keine Beteiligung gewährt wird. Sie beteili-
sich um politische Bildung für das beflissene
gen sich z.B. durch Passivität, durch Wider-
Bildungsbürgertum. Wer auch nur einige Zeit
stand, durch Tricks, durch Kooperation oder
mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen
durch gelangweiltes Herumlümmeln. Zahl-
gearbeitet hat, wird wissen, dass dort ganz
reiche Fallgeschichten, die aus der Sicht der
andere Formen des Umgangs herrschen,
AutorInnen insbesondere schiefgegangene
und zwar solche, die man eben nicht syste-
Jugendhilfe-Karrieren illustrieren sollen,
matisch trainieren oder in das Korsett einer
zeugen von der Nachhaltigkeit der Beteili-
didaktischen Planung zwängen kann. Häufig
gung der Betroffenen. Sie boykottieren die
degeneriert Bürgerbeteiligung zu einer bür-
Kooperation, wenn ihr Wille nicht geachtet
gerlichen Verformung eines im Kern basis-
wird; sie entziehen sich der vermeintlich hel-
demokratischen, gemeinwesenarbeiteri-
fenden Beziehung, wenn ihre originären Be-
schen Ansatzes, der der etablierten Sozial-
dürfnisse keinen Raum einnehmen; sie zei-
arbeit immer schon ein wenig suspekt war
gen es den professionellen Fachkräften,
und der derzeit angesichts der Hilflosigkeit
wenn ihre Interessen mißachtet werden.
der bürokratischen Apparate zumindest ver-
Somit geht es nicht darum, die Menschen
bal ein glänzendes Comeback feiert.
irgendwie zu beteiligen, sondern darum,
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dass ihr Wille wirkungsvoll Eingang findet bei
verabschiedet und als zentrale Kategorie –
dem Prozeß, an dem sie ohnehin beteiligt
durchaus in Übereinstimmung etwa mit Pä-
sind. Die Jugendhilfe tut sich mit dem Wort
dagogen wie Hermann Giesecke (1985) –
„Willen“ enorm schwer. Man spricht von
den Lernbegriff benutzt. „So geht es bei poli-
Wünschen, von Bedürfnissen oder Perspek-
tischer Gemeinwesenarbeit auch wesentlich
tiven der Betroffenen – aber ganz selten von
um Lernprozesse.“ (Oelschlägel 1974, S.
dem Willen oder den Interessen der Men-
181). Vereinfacht gesagt: Es geht uns nicht
schen. In der GWA-Tradition indes waren
darum, Menschen zu erziehen, sondern sie
genau diese Begriffe – mit allen damit ver-
in ihren ohnehin ständig statt findenden
bundenen Unwägbarkeiten – handlungslei-
Lernprozessen durch Bereitstellung materiel-
tend. Denn der Wille der Menschen ist unbe-
ler und kommunikativer Ressourcen zu be-
rechenbar, er ist nicht pädagogisch zuzurich-
gleiten. Menschen lernen immer etwas, sie
ten, er ist nicht erzieherisch verformbar, er
entwickeln sich ständig – indes gelegentlich
ist potentiell subversiv und so ziemlich allen
auf recht eigenwillige Art (eben: mit einem
Prozessvorgaben abträglich. Mittlerweile will
eigenen Willen) und häufig auf andere Art,
man zwar programmatisch die Betroffenen
als wohlmeinende bürgerliche PädagogIn-
beteiligen, aber selbst dieser Akt ist letztlich
nen sich das wünschen. In der GWA geht es
eine Subjekt-Objekt-Aktion, bei der die
darum, immer wieder neue Arrangements zu
Fachkräfte die Gewährenden und die Betrof-
finden, in denen Menschen mit ihrer bisheri-
fenen die Empfangenden sind. Das klassi-
gen Lernerfahrung in Entwicklungsprozes-
sche Erzieher-Zögling-Verhältnis wird somit
sen daran arbeiten, ihre Lebensbedingungen
allenfalls durch einen modernistischen Beg-
so zu verändern, wie es ihnen zusagt. Wir
riff verschleiert, jedoch nicht substantiell in-
maßen uns nicht an, darüber zu urteilen,
frage gestellt, geschweige denn verändert.
was eine „gute“ Entwicklung ist oder welche
Dass es auch anders geht, zeigen aktuelle
Lernprozesse „konstruktiv“ sind. Aber wir
Projekte insbesondere im Kontext sozial-
fragen die Menschen, wie sie mit dem, was
räumlicher Jugendhilfe (s. dazu Hin-
sie gelernt haben, klar kommen und wie sich
te/Litges/Groppe 2003; Früchtel/Budde
künftig entwickeln möchten. Diese Herange-
2003).
hensweise ist der klassischen Sozialpädagogik durchaus geläufig, aber im Grunde
3. Lernen
wohl doch noch suspekt. Und gelegentlich verrät sich einer. So behauptet Michael Winkler (mit Bezug auf die Jugendhilfe in
In der Gemeinwesenarbeit haben wir uns –
stationären Wohnformen), es ginge darum,
auch mit Rückgriff auf antipädagogische
„Kindern und Jugendlichen einen anderen
Theorien (etwa v. Braunmühl 1975; Hinte
Ort, einen Lebensort zur Verfügung zu stel-
1990) – vom Erziehungsbegriff konsequent
len, an welchem Entwicklungs- und Lernpro-
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zesse überhaupt erst möglich werden“
ständlich ausdrückt oder einen eher autisti-
(1999, S. 309). Damit drückt er unverblümt
schen Schreibstil pflegt, nahe zu legen, ihm
aus, dass sich besagte Kinder und Jugendli-
solle ein „Lebensort zur Verfügung“ gestellt
che an den bisherigen Sozialisationsorten
werden, „an welchem Entwicklungs- und
weder entwickelt noch etwas gelernt haben –
Lernprozesse überhaupt erst möglich wer-
Willi Kloos wäre von Michael Winkler vermut-
den“?
lich „an einem anderen Ort“ untergebracht
An derlei Beispielen lässt sich anschaulich
worden.
verdeutlichen, wie sich bis heute großbürger-
Möglicherweise meint der Autor noch etwas
liche Einstellungen über den Erziehungspro-
anderes, das auszudrücken ihm vielleicht die
zess in zunächst unverdächtigem Vokabular
sprachlichen Möglichkeiten fehlen: Er glaubt
fortpflanzen.
nämlich, dass bestimmte Entwicklungs- und Lernprozesse besser, höherwertiger oder
„Gemeinwesenarbeit (GWA) ist eine sozial-
sinnvoller seien als andere. Über diese Posi-
räumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf
tion könnte man trefflich streiten, doch diese
den Stadtteil und nicht pädagogisch auf ein-
Diskussion wird kurzerhand vermieden, in-
zelne Individuen richtet.“ (Oelschlägel
dem frechweg unterstellt wird, dass es Milie-
2001b, S. 192). Insbesondere die kommuna-
us gibt, in denen Menschen sich eben nicht
le Jugendhilfe als wesentlicher gesetzlich
entwickeln bzw. rein gar nichts lernen. Doch
verankerter Bereich für die Praxis sozialer
natürlich entwickeln sich Menschen, auch
Arbeit ist sowohl im Rahmen klassischer
unter äußerst widrigen und einschränkenden
Einzelfallarbeit, aber auch etwa in den Be-
Bedingungen; natürlich lernen Menschen
reichen Jugendförderung, Streetwork, Kita-
immer, auch etwa in Lebenszusammenhän-
Arbeit geradezu angewiesen auf konstruktiv
gen, die von Gewalt, Armut und Vernachläs-
funktionierende Segmente eines Wohnquar-
sigung geprägt sind. Dort lernen sie etwa
tiers, die wirkungsvolle Beiträge zu einer
z.B. unter widrigsten Bedingungen zu über-
sozialraumbezogenen, nicht nur auf „Fälle“
leben, sich durchzuschlagen oder zuzu-
fixierten Jugendhilfe leisten könnten. Res-
schlagen, sich zu wehren oder zu betrügen:
sourcen im Quartier zu erkunden ist zentra-
für manche Lebenssituationen recht wertvol-
les Merkmal der sog. fallunspezifischen Ar-
le Kompetenzen, über die z.B. der klassi-
beit: Tätigkeiten, die eine Fachkraft zu einem
sche Akademiker nicht verfügt. Nun kann
Zeitpunkt erledigt, da sie noch nicht weiß, für
man im Hinblick auf den Gebrauchswert die-
welchen später auftretenden „Fall“ sie die in
ser Fähigkeiten für eine gelungene gesell-
diesem Segment erworbenen Kenntnisse
schaftliche Integration geteilter Meinung
oder aufgebauten Ressourcen benötigen
sein, doch dann müsste man konsequenter-
wird (s. dazu Hinte 1999). Dazu zählen etwa
weise auch etwa einem Hochschulprofessor,
Kontakte zu Vereinen, Pfarrgemeinden, Eh-
der betrügt, andere austrickst, sich unver-
renamtlichen, zur lokalen Wirtschaft, zu ver-
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schiedenen Milieus im Quartier, aber auch
Praxis – die handelnden Subjekte so konse-
die Mitarbeit bei Öffentlichkeitsaktionen,
quent als autonome Gestalter ihrer Lebens-
Straßenfesten, quartierbezogenen Aktivie-
welt begriffen werden wie in der GWA. Ent-
rungsprozessen oder beim Aufbau von be-
leert wird ein solches Konzept auch deshalb,
wohnergetragenen Aktivitätsstrukturen. Die-
weil der Umgang mit Eigenart und Eigenwil-
se und andere Formen aufsuchender Arbeit
ligkeit der Betroffenen in benachteiligten
im Wohnquartier sind Kerngeschäft der
Milieus den bürgerlichen Subjekten oft fremd
GWA, und davon kann sozialräumliche Ju-
und bedrohlich ist; weil manche Leistungs-
gendhilfe konzeptionell und praktisch profi-
gesetze einen Kontakt „auf Augenhöhe“ er-
tieren.
schweren und institutionalisierte Macht ver-
Dass GWA sich in diesem Kontext, aber
teilen und weil scheinfachliche Überlegen-
auch etwa im Programm „Soziale Stadt“,
heit, pädagogische Besserwisserei oder
nicht angemessen wiederfindet, hat auch mit
auch durchaus gut gemeinte Sorge um die
ihrem System und ihrer Tradition zu tun. Es
Lebenschancen von Menschen in prekären
gibt keine systematisch geordnete und orga-
Lebensbedingungen die Betroffenen konzep-
nisierte fachliche „Schule“, in der die zahlrei-
tionell (vielleicht mit bester Absicht) entmün-
chen Praxiserfahrungen und Theoriediskus-
digen. Diese Mechanismen gehen häufig in
sionen der 70er bis 90er Jahre bezogen auf
einer sozialpädagogischen Rhetorik unter,
Gemeinwesenarbeit, stadtteilbezogene sozi-
die sich zentraler Termini (nicht nur aus) der
ale Arbeit, sozialraumorientierte Ansätzen
GWA bedient. Deshalb gilt es wach zu blei-
usw. gebündelt sind. Wir haben in Deutsch-
ben und konkret hinzuschauen, welche Pra-
land bis heute keine quantitativ und qualitativ
xis sich hinter Begriffen verbirgt und evtl.
ins Gewicht fallende Gruppe gut ausgebilde-
Unschärfen rechtzeitig zu benennen. Die zu
ter GemeinwesenarbeiterInnen, es gibt bis
Beginn des Beitrags erzählte Geschichte aus
heute (abgesehen vom ISSAB in Essen)
den 70er Jahren könnte sich auch heute
keine langjährig bestehende Ausbildungsin-
noch (mit einigen anderen Vorzeichen) in
stanz für Gemeinwesenarbeit im Hochschul-
ähnlicher Weise abspielen. Unklar ist indes
bereich, wir verfügen nicht über gewachsene
zum einen, ob Fachkräfte aus der GWA heu-
und einflussreiche berufsständische Organi-
te immer noch über eine entsprechende
sationen, und die ohnehin wenigen überregi-
Verankerung in den Wohnquartieren verfü-
onalen Zusammenschlüsse sind irgendwo
gen, und zum anderen, ob nicht heute das
angesiedelt zwischen Sektierertum, enga-
Jugendamt zumindest sprachlich-
gierter Verwirrung und strategischer Bedeu-
konzeptionell die GWA vereinnahmt oder
tungslosigkeit.
überholt hätte, so dass Willi Kloos zwar zu einem Fall für sozialraumorientierte Hilfen
Ich kenne kein Konzept der sozialen Arbeit,
zur Erziehung und dennoch „an einem ande-
in dem – programmatisch und auch in der
ren Ort“ landen würde.
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