out Freak Die Marble Machine der schwedischen Band Wintergatan

STORY ■ ■ ■ Freak out Die „Marble Machine“ der schwedischen Band Wintergatan Von Nicolay Ketterer. Fotos: S. Westergren, M. Molin 2.000 Murmeln, e...
Author: Arthur Dressler
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Die „Marble Machine“ der schwedischen Band Wintergatan Von Nicolay Ketterer. Fotos: S. Westergren, M. Molin

2.000 Murmeln, eine Kurbel und die Schwerkraft: Die „Marble Machine“ des Schweden Martin Molin bietet analoges Sequenzer-Feeling in Reinform und spielt Vibrafon, E-Bass und Drums. Molin, Vibrafonist und Frontmann der Folkpop-Elektro-Band Wintergatan, hat 14 Monate an dem komplexen Ungetüm gebastelt. Ein Video mit speziellem Song wurde zum viralen Ereignis. Von einem Getriebenen und der Umsetzung einer Fantasie – ein Blick hinter die haptische Klangtüftelei.

Abb. 1: Abgefahren? Untertrieben: Die „Marble Machine“ ist ein selbst gebauter Murmelautomat … (Foto: Samuel Westergren)

Experimente sind abseits des musikalischen Mainstreams der Nährboden vielerlei kreativer Ausprägungen, mitunter gar Bedingung für das Überschreiten der Reizschwelle aufgrund medialer Sättigung. Das gipfelt oft genug in optischem „Paradiesvogel“-Aufmerksamkeitsbuhlen à la Lady Gaga, gelegentlich resultieren daraus ungewöhnliche musikalische Projekte. Das schwedische Quartett Wintergatan produziert experimentellen, elektronisch angehauchten Folk-Pop mit allen möglichen Instrumenten – darunter Vibrafon, Glockenspiel, Synthesizer, Bass, Schlagzeug, Akkordeon und Schreibmaschine. Die Truppe hat bislang ein Album veröffentlicht, trat letztes Jahr beim dänischen Roskilde-Festival auf und hat sich mittlerweile ein festes Publikum erspielt.

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Frontmann und Vibrafonist Martin Molin gehört zur Kategorie exzentrischer musikalischer Tüftler: Der 33-Jährige hat einen überdimensionalen Spielautomaten konstruiert – aus 2.000 Murmeln, Holzbausteinen, Zahnrädern und Lego-Technik-Teilen (Abb.1, 2), kombiniert mit Instrumenten, die durch herabfallende Murmeln ausgelöst werden. Das Konzept erinnert an selbst spielende Klaviere mit Stiftwalzen und sogenannte „Symphonic Organs“ oder auch an Pat Methenys „Orchestrion“ (tools 4 music, Ausgabe 4/2011). Die ursprüngliche Idee kam Molin nach dem Besuch eines Spieluhrenmuseums im niederländischen U trecht. „Ich stieß auf den YouTube-Kanal von Matthias Wandel, der unter anderem ein Computer-Programm zum Entwurf von Holzbauteilen geschrieben hatte.“ Murmelautomaten haben ihn schon immer fasziniert, erzählt Molin. „Als ich wusste, wie ich die Bauteile entwerfen konnte, wollte ich eine Murmelmaschine bauen. Ich dachte mir, es könnte interessant sein, die Murmeln so zu programmieren, um sie auf Töne fallen zu lassen.“

Die Marble Machine enthält BassDrum-, Snare- und HiHat-Klangfarben sowie ein Sizzle-Becken, E-Bass und Vibrafon. Nach dem Auftreffen auf das jeweilige Instrument werden die Murmeln von Trichtern aufgefangen und über vorgefertigte Bahnen zum Transportband geleitet. Kleine „Baggerschaufeln“ bieten Platz für vier Murmeln, die sie – ähnlich wie ein Paternoster-Aufzug – nach oben transportieren (Abb. 3). Dort angekommen, werden sie durch eine ausgeklügelte ZahnradUmschaltung auf unterschiedliche Instrumente verteilt.

Matrix Angetrieben wird das Gerät manuell durch eine Kurbel. Ein Zahnrad überträgt den Antrieb auf zwei gekoppelte Räder. Auf beide Laufflächen hat Molin eine SequenzerMatrix aus Lego-Technik-Bausteinen konstruiert, in die er Stifte steckt. Die lösen die Murmeln in der gewünschten Reihenfolge aus – wie ein analoger Step-Sequenzer in Reinform. Die Matrix ist in 16tel-Auflösung gerastert, insgesamt 256 Schritte auf jeder der beiden SequenzerLaufflächen. Eine Lauffläche steuert das Vibrafon an, die zweite Bass und Drums. 64 Kurbelumdrehungen entsprechen einer Umdrehung der Räder, er nutzt sie passend für einen Loop aus 64 Takten (Abb. 4, 5). Der Beat – die „1“ – kommt immer auf der unteren Position seiner Kurbel, erzählt Molin. „Das hilft, mit der Musik ‚in time‘ zu bleiben.“ Er arbeitet mit großen Schwungrädern, um durch die Schwungmasse den mechanischen Gleichlauf zu stabilisieren. Auf der Seite hat Molin die 64 Takte markiert, damit er weiß, an welcher Position im Loop er sich gerade befindet.

Rhythmische Harmonie Die Kriterien, nach denen er die Instrumente ausgewählt hat? „Es ging darum, Rhythmus, Akkorde und Melodien abzudecken. Sie sollten sich gegenseitig ergänzen und mussten natürlich durch Murmeln ausgelöst werden können.“ Als größte Hürde erwies sich der E-Bass: „Es war schwierig, die Murmeln so zu steuern, dass sie die Saiten sinnvoll anschlagen.“ Die Murmeln werden von einem Holzkamm auf die Saiten gelenkt (Abb. 9), sie treffen wie bei einer Slap-Spieltechnik auf den Saiten auf. Den Bass hat er auf E-G-E‘-G‘ gestimmt, statt der üblichen Stimmung. „Die Murmeln spielen die Rolle der rechten, anschlagenden Hand. Ich verändere mit der linken die Noten und Akkorde.“ Für den BassDrum-Sound fallen Murmeln auf eine Filzscheibe, darunter befindet sich ein Piezo-Mikrofon. Das Ergebnis erzeugt einen kurzen, elektronisch anmuten-

Molin schätzt, dass die Maschine aus rund 3.000 Teilen und ebenso vielen Schrauben, 500 Lego-Technik-Teile sowie 2.000 Murmeln besteht. Ursprünglich hatte er 500 Murmeln anvisiert. Der Grund für den Mehrbedarf: „Die Maschine hat 22 Kanäle. In jedem warten 50 bis 60 Murmeln, ich dachte, es würden weniger sein. Dazu kommen noch die Murmeln, die gerade in der Maschine unterwegs sind.“ Die klanglich passende Murmelsorte? „Zuerst probierte ich eine Art, die zu leicht war – schließlich kaufte ich größere, schwerere Murmeln.“

12 + 2 Statt der ursprünglich anvisierten Bauzeit von zwei Monaten dauerte die Konstruktion 14 Monate, das Ungetüm wurde Anfang 2016 fertig. Die größte Herausforderung stellten die „Murmelgeber“ (Abb. 8), die jeweils nur eine Murmel auf das passende Instrument fallen lassen sollten, dar. Das erwies sich als problematisch, manchmal fiel ein knappes Dutzend Murmeln heraus, gelegentlich gar keine, erzählt Molin. Nach einem halben Jahr habe er letztlich beschlossen, das Konzept zu ändern. „Ich wurde sieben Monate zurückgeworfen und musste noch mal anfangen. Das war eine schwerwiegende Entscheidung!“ Aufgeben kam indes nicht in Frage: „Das wäre viel schlimmer gewesen, als die Maschine zu bauen.“ Wie er verhinderte, während der Bauzeit zum „Ultra-Nerd“ zu werden, der sich im Projekt verliert? „Gar nicht! Ich bin für ein Jahr komplett abgetaucht!“

Abb. 2: … vom schwedischen Wintergatan Vibrafonisten Martin Molin (Foto: Samuel Westergren)

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Abb. 3: „Murmelaufzug“ – auf einem Gummiband werden die herabgefallenen Murmeln nach oben transportiert (Foto: Samuel Westergren)

Abb. 4: Die Laufflächen der beiden Räder tragen den „Spielplan“ für die einzelnen Instrumente wie bei einem Step-Sequenzer: Das linke Rad ist für die Vibrafon-Noten zuständig, das rechte deckt die vier Bass-Saiten und die Schlaginstrumente ab (darunter Mitte links: „Snare“-Filzscheibe mit Basmati-Reisbett, rechts eine BassDrum-Filzscheibe) (Foto: Samuel Westergren)

Abb. 5: Für die Sequenzer-Lauffläche verwendet Molin Lego-Technik-Bausteine, die Einsätze sind ebenfalls Lego-Bausteine – ein Rad bildet 64 Takte ab, in 16tel-Noten – insgesamt 256 Abstufungen (Foto: Samuel Westergren)

Abb. 6: Molin hat 14 Monate am Instrument gebaut (Foto: Samuel Westergren)

Abb. 7: Die Murmeln werden über vorgefertigte Bahnen zum jeweiligen Instrument gelenkt (Foto: Samuel Westergren)

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Abb. 8: Haken, die pro Auslöser jeweils nur eine Murmel pro Auslösen durchlassen. Molin: „An diesem Problem habe ich ein halbes Jahr gearbeitet.“ (Foto: Samuel Westergren)

Abb. 10: Die Vibrafon-Klangstäbe werden durch Murmeln angespielt und anschließend von Trichtern aufgefangen – links davor: per Riemen getriebene Welle, die unter den Klangstäben Abdeckungen öffnet und schließt, für Vibrafon-typische Schwebungen (Foto: Samuel Westergren)

Abb. 9: Musikalisch stellte der E-Bass die größte Hürde: Die Murmeln werden von einem Holzkamm auf die Saiten gelenkt, sie treffen wie bei einer Slap-Spieltechnik auf den Saiten auf; Molin: „Die Murmeln spielen die Rolle der rechten, anschlagenden Hand, und ich verändere mit der linken Noten und Akkorde.“ (Foto: Samuel Westergren)

den Klang. Molin bearbeitet die Spur mit einem Noise Gate, sonst sind die mechanischen Geräusche der rotierenden Holzteile über den Tonabnehmer zu hören. Das Ergebnis klingt wie ein isolierter BassDrum-Track. Der Snare-Klang wird ebenfalls von einem PiezoPickup wiedergegeben. Diesmal unter zwei Filzschichten, darunter eine längliche Box, gefüllt mit BasmatiReis. Sie übernimmt die klangliche Funktion eines Snare-Teppichs. Das Ergebnis wird bereits über den Tonabnehmer mit übertragen. Der ebenfalls elektronisch anmutende HiHat-Sound wird über eine Streichholzschachtel erzeugt und per Piezo-Mikrofon übertragen. Das Editieren der einzelnen Drum-Sounds am Rechner helfe, einen wuchtigeren Klang-Eindruck zu vermitteln, meint Molin. „Ich wollte, dass alles analog entsteht, ohne MIDI-Trigger. Das Vibrafon wäre einfacher zu triggern gewesen!“ Das Sizzle-Becken wurde ganz getreu dem Vorbild „traditionell“ umgesetzt: Martin Molin hat in ein Crash-Becken Löcher gebohrt, um lose hängende Drahtstücke zu montieren, für den Sizzle-Klang. Für das Vibrafon hat er eine mechanische Verbindung hergestellt. Die Bewegung öffnet und schließt Löcher unterhalb der Vibrafon-Klangstäbe, was die typischen Schwebungen des Instruments erzeugt, die sonst mit motorgetriebenen Abdeckklappen erzeugt werden.

Am Ende steht … Musik Im März hat er unter dem Namen der Band ein Musikvideo veröffentlicht, das ein gleichnamiges Musikstück

zeigt, speziell zur Vorführung der Maschine ersonnen (https://www.youtube.com/watch?v=IvUU8joBb1Q). Bei dem Beispiel sei es darum gegangen, „etwas zu kreieren, das die verschiedenen Funktionen der Maschine zeigt und gleichzeitig eine Melodie zum Mitsummen, die im Ohr bleiben kann, vermittelt.“ Ob die Einschränkung durch die Murmeln neue Klangfarben und Ideen angeregt hat? „Eher nicht. Im Endeffekt stehen die MurmelLimitierungen der Kreativität nur im Weg. Andererseits: Ich lege mir gerne Beschränkungen auf.“ Für abrupte Stopps des Laufrads hat er einen Bremshebel integriert. Im Video stoppt Molin die Maschine im Mittelteil und spielt eine Melodie, indem er Murmeln manuell ausgibt. Den Vibrato-Effekt erzeugt er durch Bedienen der Vibrafon-Welle von Hand. Ob die Latenz der fallenden Murmeln beim Spielen auffällt? „Ja, im manuellen Part muss ich sehr ‚früh‘ spielen. Die Kurbel berücksichtigt die Latenz bereits, dadurch entsteht keine Irritation beim Spielgefühl.“ Die größte Schwierigkeit beim Spielen? „Die Kurbel in gleichmäßigem Tempo mit der rechten Hand zu drehen, während ich den Rest der Maschine mit der linken Hand steuere.“ Molin nimmt die Vibrafon-Klangstäbe mit zwei Mikrofonen ab. Zusätzlich mikrofoniert er die „Marble Machine“ mit Raummikrofonen, um die Atmosphäre „auf angenehme Art“ einzufangen, wie er sagt – dadurch wird das geruhsame Rollen der Kugeln in ihren Bahnen übertragen. Die Kombination beider Signalanteile vermittelt bei direkt abgenommenen Bass- und den Percussion-Signalen die erforderliche „Live-Atmosphäre“.

Tour „Im Moment baue ich eine Motor-gesteuerte Spieluhr, die wir auf Tour mitnehmen können und die als fünftes Bandmitglied agieren soll.“ Das ging schneller – nach neun Tagen war das Instrument, das gestanztes Papier durchzieht, spielbereit (Abb. 11). Als Erkenntnis erhofft er sich, Elemente der großen „Marble Machine“ so umzukonstruieren, dass sie zuverlässiger funktioniert und live eingesetzt werden kann. Die Maschine ist bislang

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für den Tour-Betrieb zu anfällig, deshalb will er eine zweite bauen. Gewogen hat er die Maschine nie. „Ich kann sie nicht anheben, aber über den Boden entlangziehen. Sie ist richtig schwer. Die ‚Marble Machine 2.0‘ wird aus sechs, sieben Modulen bestehen, die individuell

Abb. 11: Die motorgetriebene Spieluhr soll Erkenntnisse für die Tour-taugliche Überarbeitung der „Marble Machine“ bringen (Foto: Martin Molin)

transportiert werden können!“ 2017 soll der erste Gig mit der „Marble Machine 2.0“ stattfinden. Wintergatan bedeutet auf Deutsch übrigens Milchstraße. Molin: „Ich begeistere mich für das Universum und die Idee von Parallel-Universen. Es beruhigt mich, daran zu denken, wie klein wir eigentlich sind. Die Milchstraße zu beobachten, halte ich für eine unglaubliche Perspektive auf das große Ganze. Ich lese Bücher über theoretische Physik zur Entspannung.“ Die sehr entspannende Wirkung durch die „Marble Machine“ hat Molin mindestens einem Hörer vermitteln können: Auf YouTube hat ein Hardcore-Fan Molins Performance als zehnstündigen Loop eingestellt. ■

www.wintergatan.net www.instagram.com/wintergatan2000 Abb. 12: Bald mit Spieluhr oder „Marble Machine 2.0“ auf Tour? Wintergatan, v.l.n.r.: David Zandén, Marcus Sjöberg, Martin Molin, Evelina Hägglund – das Instrumentarium: wechselnd zwischen Vibrafon, Schlagzeug und Schreibmaschine (Foto: Samuel Westergren)

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