Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005

Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005 Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005 Bibliogra...
Author: Kajetan Böhme
1 downloads 0 Views 156KB Size
Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005

Oskar Niedermayer (Hrsg.)

Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15245-5

Inhalt Inhalt

Vorwort................................................................................................................. 7

Oskar Niedermayer Das fluide Fünfparteiensystem nach der Bundestagswahl 2005........................... 9 Ulrich von Alemann und Tim Spier Doppelter Einsatz, halber Sieg? Die SPD und die Bundestagswahl 2005 .......... 37 Josef Schmid Die CDU nach 2005: Von Wahl zu Wahl – und doch kein Wandel? ................. 67 Andreas Kießling Das lange Ende der Ära Stoiber. Die CSU nach der Bundestagswahl 2005....... 83 Melanie Haas Statt babylonischer Gefangenschaft eine Partei für alle Fälle? Bündnis 90/Die Grünen nach der Bundestagswahl 2005.................................. 101 Hans Vorländer Partei der Paradoxien. Die FDP nach der Bundestagswahl 2005 ..................... 135 Gero Neugebauer und Richard Stöss Die Partei DIE LINKE. Nach der Gründung in des Kaisers neuen Kleidern? Eine politische Bedarfsgemeinschaft als neue Partei im deutschen Parteiensystem ................................................................................. 151 Eckhard Jesse Die rechtsextremistische Nationaldemokratische Partei Deutschlands vor und nach der Bundestagswahl 2005.................................................................. 201

Die Autoren dieses Bandes ............................................................................... 221

Vorwort Vorwort

Mit der Bundestagswahl von 2005 ist das deutsche Parteiensystem endgültig zu einem ‚fluiden’ Fünfparteiensystem mit fünf relevanten Parteien im Bundestag und einer offenen Wettbewerbssituation sowohl zwischen den beiden Großparteien als auch zwischen den drei kleineren Parteien geworden. Der strukturelle Wandel hat eine neue Koalitionsarithmetik geschaffen, weil die traditionellen Zweierkoalitionen einer großen mit einer kleinen Partei in Zukunft unwahrscheinlich sind. Darauf müssen sich die Parteien in Zukunft einstellen und sich neue Partner suchen. Dies bedeutet auch, dass sie ihre Positionierung in der Konfliktstruktur des Parteiensystems überdenken und vielleicht neu justieren müssen. Hinzu kommen innerparteiliche Probleme, die nicht nur bei der CSU zu beobachten sind. Der vorliegende Band setzt eine Reihe von Veröffentlichungen fort, die mit der Bundestagswahl 1998 begonnen wurde. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine systematische Bestandsaufnahme der neuesten Entwicklungen im Parteienbereich unter Einschluss der Bundestagswahl 2005 und ihrer Folgen zu liefern und enthält sowohl einen Überblick über das gesamte Parteiensystem als auch ausführliche Einzelanalysen aller relevanten Parteien.

Das fluide Fünfparteiensystem nach der Bundestagswahl 2005 Oskar Niedermayer Das fluide Fünfparteiensystem

1

Einleitung

Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems nach der Vereinigung von 1990 ließ schon frühzeitig einen Trend in Richtung der Herausbildung eines „fluiden Fünfparteiensystems“ erkennen (Niedermayer 2001: 107). Dieser Systemzustand ist mit der Bundestagswahl von 2005 endgültig erreicht worden: Es sind fünf relevante Parteien parlamentarisch vertreten und es spricht einiges dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Zudem besteht – bei einer insgesamt deutlich gestiegenen Fragmentierung des Parteiensystems – sowohl zwischen den beiden Großparteien CDU/CSU1 und SPD als auch zwischen den drei kleineren Parteien FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen im Gegensatz zu der starren früheren Wettbewerbsstruktur mit einer strukturellen Asymmetrie zugunsten der Union und einer klaren ‚dritten Kraft’ in Form der FDP eine offene, ‚fluide’ Wettbewerbssituation, die Verfestigungen in den bisherigen Koalitionskonstellationen in Bewegung geraten lässt. Der Terminus ‚fluides Fünfparteiensystem’ bezieht sich somit sowohl auf die zentralen Struktureigenschaften des Parteiensystems – das parlamentarische Format, die Fragmentierung und die strukturelle Asymmetrie – als auch auf die inhaltliche Systemeigenschaft der Segmentierung, d.h. die gegenseitige Abschottung der Parteien in Bezug auf Koalitionen, die wiederum stark von der Polarisierung des Parteiensystems abhängt2. Im Folgenden soll das deutsche Parteien-

1

2

CDU und CSU werden in Parteiensystemanalysen als eine Partei gezählt, weil in kompetitiven Parteiensystemen nur konkurrierende Parteien als getrennte Einheiten betrachtet werden und die beiden Schwesterparteien weder auf der elektoralen noch auf der parlamentarischen Ebene miteinander konkurrieren. Die Polarisierung gibt das Ausmaß der inhaltlichen Distanzen der einzelnen Parteien im Rahmen der zentralen, den Parteienwettbewerb prägenden Konfliktlinien wieder. Zur Diskussion der strukturellen und inhaltlichen Eigenschaften auf der elektoralen und parlamentarischen Ebene, mit deren Hilfe Parteiensysteme und ihre Entwicklung analysiert werden können, vgl. ausführlich Niedermayer 2007a und 2007b.

10

Oskar Niedermayer

system anhand dieser Systemeigenschaften und ihrer Interaktionen charakterisiert werden.

2

Das gestiegene parlamentarische Format: fünf relevante Parteien im Bundestag

Die Struktur eines Parteiensystems wird wesentlich durch die Anzahl der das System bildenden Parteien bestimmt. Bei der Operationalisierung dieser als Format bezeichneten Eigenschaft stellt sich auf der parlamentarischen Ebene die Frage, ob alle im Parlament repräsentierten Parteien oder nur die nach einem bestimmten Kriterium als relevant angesehenen Parteien betrachtet werden sollen, wobei in der international vergleichenden Forschung die zweite Auffassung deutlich überwiegt. Das bekannteste Kriterium für die parlamentarische Relevanz von Parteien stammt von Sartori (1976), der nur diejenigen Parteien in die Analyse einbezieht, die entweder ‚Koalitionspotenzial’ oder ‚Erpressungspotenzial’ besitzen3. Danach kann eine Partei dann als irrelevant angesehen werden, wenn „it is never needed or put to use for any feasible coalition majority”. Unabhängig von ihrem Koalitionspotential, muss eine Partei jedoch immer dann mitgezählt werden, wenn „its existence, or appearance, affects the tactics of party competition“ (ebd.: 122f.). Gegen diese Lösung spricht, dass sowohl bei der Bestimmung der „feasible“ – also politisch machbaren – Koalitionen als auch des ‚Erpressungspotenzials’ einer Partei des Öfteren Operationalisierungsprobleme auftreten und dass durch diese Kriterien die strukturelle mit der inhaltlichen Dimension vermischt wird, das Format aber als eine rein strukturelle Parteiensystemeigenschaft konzeptualisiert werden sollte. Als rein strukturelle und problemlos operationalisierbare Alternative zur Bestimmung des parlamentarischen Formats bietet sich an, eine parlamentarisch vertretene Partei dann als relevant anzusehen, wenn mit ihr eine minimale Gewinnkoalition gebildet werden kann. Darunter wird im Rahmen der Koalitionstheorien eine Koalition verstanden, die zum einen über eine Regierungsmehrheit verfügt (im Gegensatz zu einer Minderheitskoalition) und zum anderen eine minimale Größe in dem Sinne besitzt, dass jede Koalitionspartei zum Erreichen der Mehrheit benötigt wird (im Gegensatz zu einer übergroßen Koalition)4. Kann 3

4

Daneben existieren in der Literatur z.B. rein quantitative Einschlusskriterien in Form einer bestimmten Mindestzahl von Sitzen, die die Parteien aufweisen müssen, um als relevant zu gelten. Die Größe einer solchen Schwelle lässt sich jedoch theoretisch schwer begründen. Eine spezielle Form dieser „minimal winning coalition“ ist die „minimum winning coalition“ oder Koalition der knappsten Mehrheit (smallest size coalition), bei der sich diejenigen Parteien zusammenschließen, deren gemeinsame Anzahl an Parlamentssitzen am nächsten an der

Das fluide Fünfparteiensystem

11

mit einer Partei eine minimale Gewinnkoalition gebildet werden, ist durch ihre Einbeziehung also rein rechnerisch die Bildung einer Mehrheitsregierung möglich, so ist diese Partei insofern relevant, als die für eine solche Koalition in Frage kommenden anderen Parteien die Partei in ihre prinzipiellen Koalitionsüberlegungen einbeziehen und eine positive oder negative Koalitionsentscheidung treffen müssen5. Ist dies nicht der Fall, dann spielt die Partei für Koalitionsbildungsüberlegungen keinerlei Rolle und ist daher für Regierungsbildungsprozesse vollkommen irrelevant. In der Geschichte der Bundesrepublik konnte eine Partei bisher nur ein einziges Mal die absolute Mehrheit der Bundestagssitze erringen und Minderheitsregierungen werden von der Bevölkerung nach wie vor eindeutig abgelehnt6. Im ersten Bundestag 1949 waren zehn im obigen Sinne relevante Parteien vertreten7 und die gebildete Mehrheitskoalition aus Union, FDP und DP war eine minimale Gewinnkoalition. In den Fünfzigerjahren ging die Anzahl der relevanten Parteien auf sechs (1953) bzw 1 (1957) zurück und die Regierungen waren übergroße Koalitionen, da die Union aus strategischen Gründen 1953 mit der FDP, der DP und dem GB/BHE und 1957 – trotz absoluter Mehrheit – mit der nur durch Wahlkreis-Absprachen mit der CDU in den Bundestag gelangten DP koalierte8. Seit den Sechzigerjahren waren die Regierungen ohne Ausnahme minimale Gewinnkoalitionen, wobei – mit Ausnahme der Großen Koalition 1966-1969 – immer eine der beiden Großparteien mit einer kleinen Partei regierte9. Von 1961 an wurde das Parteiensystem zwei Jahrzehnte lang durch drei relevante Parlamentsparteien bestimmt: CDU/CSU, SPD und FDP. Mit dem Hinzukommen der Grünen,

5

6 7 8

9

Mehrheitsschwelle liegt (vgl. zu den Koalitionstheorien schon Neumann/Morgenstern 1947 und als aktuellen Überblick z.B. Müller 2004). Es muss somit unterschieden werden zwischen minimalen Gewinnkoalitionen, die alle rechnerisch möglichen Koalitionsalternativen umfassen, und minimal verbundenen Gewinkoalitionen (minimal connected winning coalitions), die als Teilmenge nur die inhaltlich-politisch möglichen Alternativen umfassen. Kurz nach der Bundestagswahl 2005 waren drei Viertel der Deutschen grundsätzlich gegen eine Minderheitsregierung (Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer, September III 2005). Zusätzlich wurden drei unabhängige Kandidaten gewählt, die mit ihrer jeweiligen Stimme rein rechnerisch auch koalitionsrelevant waren. Auch auf der Landesebene wurden in der Frühphase nach dem Zweiten Weltkrieg übergroße (Allparteien-)Koalitionen gebildet, die jedoch sehr schnell durch minimale Gewinnkoalitionen ersetzt wurden. In neuerer Zeit gab es zwar zweimal das Angebot von Gesprächen zur Bildung einer übergroßen Koalition durch Parteien, die die absolute Mehrheit errungen hatten, nämlich 2003 in Hessen und 2006 in Rheinland-Pfalz (vgl. Schmitt-Beck/Weins 2003: 686 und Gothe 2007: 48). In beiden Fällen lehnte der kleine Partner (die FDP) jedoch ab, weil die Notwendigkeit eines Koalitionspartners zur Aufrechterhaltung der Regierungsmehrheit als Grundlage seines politischen Einflusses gilt. Auch die Große Koalition war eine minimale Gewinnkoalition und zudem wäre 1966 rechnerisch die Weiterführung der CDU-CSU/FDP-Koalition möglich gewesen.

12

Oskar Niedermayer

die 1983 das erste Mal parlamentarisch repräsentiert waren, änderte sich die Zahl der relevanten Parteien von drei auf vier, da rein rechnerisch sofort minimale Gewinnkoalitionen mit den Grünen möglich gewesen wären. Das traditionelle Koalitionsmodell wurde davon jedoch nicht berührt, da sowohl 1983 als auch 1987 eine Mehrheitskoalition allein aus Union und FDP gebildet werden konnte. Seit der Vereinigung sind in der Bundesrepublik fünf Parteien parlamentarisch repräsentiert. Vor 2005 waren jedoch immer nur vier – 2002 sogar nur drei – davon relevant und es konnten weiterhin Zweiparteienkoalitionen nach dem traditionellen Großpartei/Kleinpartei-Muster gebildet werden: Im Jahre 1990 war keine minimale Gewinnkoalition unter Einschluss der ostdeutschen Listenvereinigung Bündnis90/Grüne-BürgerInnenbewegung10 möglich, 1994 bis 2002 galt dies für die damalige PDS und 2002 zusätzlich auch für die FDP11. Erst mit der Bundestagswahl von 2005 stieg die Zahl der relevanten Bundestagsparteien auf fünf, da nun minimale Gewinnkoalitionen mit allen fünf Parteien rechnerisch möglich waren, und das traditionelle Koalitionsmodell wurde obsolet. Statt der üblichen Großpartei/Kleinpartei-Koalition blieben als mögliche Koalitionsvarianten nur die Große Koalition oder eine Dreiparteienkoalition. Dies bedeutete eine wesentliche Veränderung der Koalitionsarithmetik mit großen Auswirkungen auf die zukünftige Segmentierung des Parteiensystems, auf die im Abschnitt 6 näher eingegangen wird. Die bisweilen spektakulären Erfolge rechtsextremer Parteien bei Landtagswahlen in den letzten beiden Jahrzehnten12 haben immer wieder die Befürchtungen genährt, einer solchen Partei könnte auch der Einzug in den Bundestag gelingen. Der seit 1990 höchste Stimmenanteil einer der drei rechtsextremen Parteien bei Bundestagswahlen lag jedoch bei nur 2,1 Prozent (Die Republikaner 1990) und 2005 erzielten die Republikaner 0,6 Prozent und die NPD 1,6 Prozent (die DVU trat nicht an). Auch wenn man vor allem die NPD, die sich „zum Gravitationsfeld im Rechtsextremismus“ (Bundesamt für Verfassungsschutz 2006: 3) entwickelt hat, nicht unterschätzen sollte, sind die Chancen einer parlamentarischen Repräsentation dieser oder einer anderen rechtsextremen Partei auf der

10 11

12

Die davon getrennt kandidierenden westdeutschen Grünen scheiterten an der für die beiden Wahlgebiete getrennt geltenden 5%-Klausel. SPD und Union konnten 2002 allein mit den Grünen ohne FDP eine minimale Gewinnkoalition bilden und eine Koalition einer der beiden Großparteien mit der FDP hatte – selbst unter Hinzunahme der mit zwei Abgeordneten im Bundestag vertretenen PDS – keine Mehrheit. In die Landtage zogen ein: Die Republikaner in Baden-Württemberg (1992 und 1996) und in Berlin (1989), die DVU in Brandenburg (1999 und 2004), in Bremen (1987, 1991 und seit 1999), in Sachsen-Anhalt (1998) und in Schleswig-Holstein (1992), die NPD in MecklenburgVorpommern (2006) und in Sachsen (2004).

Das fluide Fünfparteiensystem

13

Bundesebene in absehbarer Zukunft relativ gering13. Obwohl die NPD den autoritären Pol der kulturellen Konfliktlinie des deutschen Parteiensystems repräsentiert und in neuerer Zeit durch eine Neupositionierung im Rahmen der ökonomischen Konfliktlinie neue Wähler hinzugewinnen konnte, spricht eine Reihe von Gründen gegen einen bundespolitischen Erfolg (vgl. Niedermayer 2004: 60f.): Diese Parteien sind in Deutschland durch die nationalsozialistische Diktatur in den Augen der überwiegenden Mehrheit der Wähler diskreditiert, erhalten aus diesem Grund auch keine nennenswerte Medienunterstützung und sind in großem Maße gesellschaftlich ausgegrenzt. Zudem konnte diese Parteifamilie trotz etlicher Versuche ihre organisatorische Zersplitterung in mehrere Parteien nie überwinden, auch wenn die DVU und die NPD Anfang 2005 in einem ‚Deutschland-Pakt’ vereinbart haben, bis 2009 nicht gegeneinander anzutreten Auch verfügt keine der Parteien über eine charismatische, medientaugliche Führungspersönlichkeit, die bundesweit eine breitere Wählerschicht ansprechen könnte. Des Weiteren schränkt das Festhalten an Glaubenssätzen die programmatische Reformfähigkeit der Parteien ein, und das Handeln ihrer regionalen politischen Repräsentanten ist meist nicht dazu geeignet, ihnen bundesweite Reputation zu verschaffen. Mit einer sechsten im Bundestag vertretenen oder gar im obigen Sinne relevanten Partei ist somit mittelfristig wohl nicht zu rechnen.

3

Die gestiegene Fragmentierung: Ist das Parteiensystem noch ein System mit Zweiparteiendominanz?

Das sich nach dem Zweiten Weltkrieg neu herausbildende Parteiensystem14 war sowohl auf der elektoralen als auch auf der parlamentarischen Ebene zunächst relativ stark fragmentiert. Dennoch ließ es sich schon 1949 – wenn auch denkbar knapp – im Rahmen einer Strukturtypologie der Parteiensysteme dem Typ der Systeme mit Zweiparteiendominanz15 zuordnen, wenn man diesen Typ dadurch operationalisiert, dass zwei Großparteien im Parlament je über mehr als ein Viertel und zusammen über mindestens zwei Drittel der Sitze verfügen und die nächst kleinere Partei höchstens die Hälfte der Sitze der kleineren der beiden Großparteien erreicht: Die CDU/CSU und die SPD verfügten zusammen über 67,2 Prozent und die FDP über 12,9 Prozent der Sitze. 13 14 15

Vgl. z.B. Backes 2006, Brandstetter 2006, Niedermayer 2004, Stöss 2005 und das Kapitel von Jesse in diesem Band Zur Entwicklung des Parteiensystems vgl. z.B. von Alemann 2003, Jesse 2001, Niedermayer 2003a, 2006a und Stöss 2000. Zu der im Rahmen des internationalen Vergleichs von Parteiensystemen entwickelten Strukturtypologie, die Systeme mit einer prädominanten Partei, Systeme mit Zweiparteiendominanz, pluralistische und hoch fragmentierte Systeme unterscheidet, vgl. Niedermayer 2007b.

14

Oskar Niedermayer

In den Fünfzigerjahren bewirkte eine Konzentration der Wählerstimmen einen deutlichen Rückgang der Fragmentierung auf der elektoralen Ebene, der durch den leichten zusätzlichen Konzentrationseffekt des Wahlsystems zu einem noch etwas stärkeren Rückgang der parlamentarischen Fragmentierung führte16. Von 1965 bis 1976 vereinigten die Union und die SPD über 90 Prozent (1969: 94 Prozent) der Parlamentssitze auf sich, 1980 verfehlten sie diese Marke nur knapp; die FDP schwankte zwischen 6 und 11 Prozent. In dieser Zeit bildete das deutsche Parteiensystem ein Musterbeispiel eines Systems mit Zweiparteiendominanz. Seit den Achtzigerjahren steigt jedoch die Fragmentierung wieder an, wobei dies auf zwei sich gegenseitig bedingende Prozesse zurückzuführen ist: auf den Rückgang der elektoralen Mobilisierungsfähigkeit der beiden Großparteien17 und das Hinzukommen zweier neuer Parteien, der Grünen in den Achtzigerjahren und der PDS seit der Vereinigung. Nach einem nochmaligen sprunghaften Anstieg im Jahre 2005, der allerdings zum Teil auf kurzfristige Einflussfaktoren zurückgeführt werden kann, ist das Parteiensystem heute sowohl auf der elektoralen als auch auf der parlamentarischen Ebene wieder stärker zersplittert als Anfang der Fünfzigerjahre: CDU/CSU und SPD zusammen konnten 2005 nur noch gut die Hälfte (53,1%) der Wahlberechtigten für sich mobilisieren. Auf der parlamentarischen Ebene bildet das deutsche Parteiensystem mit nur noch 73 Prozent gemeinsamem Sitzanteil der beiden Großparteien von allen EU-Staaten das Schlusslicht der Systeme mit Zweiparteiendominanz (vgl. Niedermayer 2007b) und steuert, wenn die beiden Großparteien ihre Mobilisierungsprobleme nicht beheben können, auf einen Typwechsel zu einem pluralistischen System zu.

4

Der Zerfall der strukturellen Asymmetrie: die fluide Wettbewerbssituation zwischen den beiden Großparteien

Ganz zu Anfang der Bundesrepublik befanden sich die Union und die SPD in einer prinzipiell offenen Wettbewerbssituation: Beide erreichten bei der ersten Bundestagswahl 1949 annähernd den gleichen Stimmenanteil. Der Konzentrationsprozess der Fünfzigerjahre vollzog sich jedoch einseitig zugunsten der Union und brachte sie gegenüber der SPD in eine strukturelle Vorteilsposition. Die Gründe hierfür lagen darin, dass die Union einerseits als Regierungspartei den 16 17

Die Fünfzigerjahre waren durch einen generellen Konsolidierungsprozess des Parteiensystems gekennzeichnet, der zu einem deutlichen Wandel aller Systemeigenschaften führte. Konnten CDU/CSU und SPD in den Siebzigerjahren zusammen 82 Prozent der Wahlberechtigten für sich mobilisieren, so waren es 1990 im Wahlgebiet West nur noch 62 Prozent, im Wahlgebiet Ost nur 48,5 Prozent.

Das fluide Fünfparteiensystem

15

gesellschaftlichen Wandel und die ökonomische Prosperitätsphase (Wirtschaftswunder) sehr viel stärker für sich nutzen konnte als die SPD und andererseits eine aktive Integrationsstrategie betrieb, die auf das gesamte bürgerliche Wählerpotenzial zielte und das bürgerlich-konservative Kleinparteienspektrum weitgehend absorbierte. Die strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union hielt bis Mitte der Neunzigerjahre an. In diesen vier Jahrzehnten konnte die SPD die Union nur ein einziges Mal knapp schlagen: bei der nach einem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum der Union gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt vorgezogenen Bundestagswahl 1972, wo die beiden kurzfristigen Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens, die Kandidaten- und die Sachthemenorientierung, maximal zugunsten der SPD und zu Lasten der Union wirkten. Erst 1998 konnte die SPD die Union wieder überflügeln, und diesmal sehr deutlich. Dies ist sicherlich auch auf eine Reihe von kurzfristigen Faktoren zurückzuführen, vor allem darauf, dass es der SPD gelang, in dem ‚modernsten’ Wahlkampf ihrer Geschichte eine Allianz der modernisierungsorientierten bürgerlichen Wählerschichten der ‚neuen Mitte’ mit ihrer Traditionswählerschaft aus dem Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu zu schmieden. Der Machtverlust der Union war jedoch nicht nur auf kurzfristige Einflussfaktoren zurückzuführen, sondern auch Ausdruck langfristiger Entwicklungen. CDU und CSU wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als konfessionsübergreifende Parteien mit dem Anspruch gegründet, die christlich orientierten Wähler beider Konfessionen anzusprechen. Dennoch waren sie ihren bis in die Gründungsphase des Kaiserreichs zurückreichenden historischen Wurzeln verhaftet, nämlich der bereits seit der Reformation existierenden und mit der Etablierung der politischen und kulturellen Hegemonie des Protestantismus durch die von Preußen dominierte Reichseinigung politisch aktualisierten konfessionellen Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Protestantismus, die durch die Bildung eines katholischen Milieus noch verstärkt und mit der katholischen Kirche als zentraler Milieuorganisation organsiatorisch abgesichert wurde (vgl. Niedermayer 2006a: 111f.). Ihre traditionelle Kernklientel besteht daher bis heute aus den kirchengebundenen Katholiken18. Dieser Kern schmolz aufgrund der soziokulturellen Wandlungsprozesse in den letzten Jahrzehnten jedoch zusehends: Vor 35 Jahren machten in Westdeutschland kirchengebundene Katholiken noch 18

In der Wahlforschung wurde zwar seit den Achtzigerjahren die Ersetzung der konfessionellen durch eine religiöse Konfliktlinie diskutiert, welche kirchengebunden-religiöse Wähler jeglicher Konfession von nicht religiösen Wählern trennt, neueste Analysen für die letzten drei Wahlen zeigen aber die „ungebrochene(n) Attraktivität der CDU/CSU für das katholische Milieu“ mit deutlich höheren Unionsanteilen bei den kirchengebundenen Katholiken im Vergleich zu allen anderen Wählergruppen in Ost- und Westdeutschland. In Westdeutschland wählten zu jedem Zeitpunkt „selbst nominelle Katholiken häufiger christdemokratisch als dies religiöse oder kirchlich gebundene Protestanten tun“ (Roßteutscher 2007: 326).

16

Oskar Niedermayer

knapp die Hälfte der Unions-Wählerschaft aus, heute stellen sie nur noch ein knappes Achtel (Roth/Wüst 2006: 55). Durch das Hinzukommen der ostdeutschen katholischen Diaspora nach der Vereinigung ist dieser Kern noch deutlich kleiner geworden. Neben der Erosion des Katholischen verlor die Union immer stärker eine Reihe von weiteren Machtressourcen, die ihr in der Vergangenheit erlaubt hatten, eine breite Koalition bürgerlicher Wählerschichten zu schmieden (vgl. Bösch 2002: 226ff. und Walter/Bösch 1998: 52ff.): Die Parteireform der Siebzigerjahre und die der selbst erzeugten Besitzstandswahrungsmentalität zuwiderlaufenden Flexibilitätszumutungen der Neunzigerjahre haben zur Entfremdung der Partei von ihren lokalen Honoratiorenschichten beigetragen, der forsche Wirtschaftsliberalismus eines Teils der Führungsschicht teilt das christlich-bürgerliche Lager, mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Ansteuern der politischen Mitte durch die SPD entfiel der Antikommunismus als integrative Klammer der verschiedenen bürgerlichen Milieus und der Anteil der im goldenen christdemokratischen Zeitalter der Adenauer-Ära politisch sozialisierten und an die Union gebundenen Generation an der Wählerschaft schrumpft zusehends. Hinzu kommen spezifische Mobilisierungs-, Identitäts- und Organisationsprobleme der CDU in Ostdeutschland. All dies deutet darauf hin, dass die jahrzehntelange strukturelle „CDU/CSULastigkeit des bundesdeutschen Parteiensystems“ (Kolinsky 1993: 46) seit Ende der Neunzigerjahre nicht mehr besteht (vgl. Niedermayer 2001: 120, s.a. Lohauß 2002, Raschke 2003 und Stöss 2004). Sie ist auch nicht durch eine neue strukturelle Asymmetrie zugunsten der SPD ersetzt worden, wie dies von der SPDFührung nach der Wahl von 2002 angenommen wurde (vgl. Raschke 2003: 14). Vielmehr spricht vieles dafür, dass wir es wohl auch in Zukunft mit einer offenen Wettbewerbssituation zwischen den beiden Großparteien zu tun haben werden: Beide Parteien können nur noch in sehr geringem Maße auf einen längerfristig stabilen Wählerstamm setzen19, die Wähler zeichnen sich vielmehr durch eine „langfristig und kontinuierlich wachsende Bereitschaft zum Wechsel“ (Neu 2006: 5) aus, politische Stimmungsschwankungen fallen weit dramatischer aus als in der Vergangenheit, und mittlerweile ist die Hälfte der Wähler den so genannten „Spätentscheidern“ zuzurechnen, die sich in den letzten Wochen bzw. Tagen vor der Wahl oder sogar erst am Wahltag selbst entscheiden (Infratest dimap 2005: 81), sodass die Wahlkampagnen der Parteien und ihre Reaktion auf 19

Nach einer groß angelegten Untersuchung im Auftrag der SPD im Jahr 2001, also lange vor der durch die Agenda 2010 produzierten Wählerkrise, betrug der Anteil derjenigen Wähler, die die SPD immer gewählt haben und dies auch in Zukunft sicher tun wollen, nur noch 13 Prozent, bei der Union lag der Anteil bei 12 Prozent (vgl. Matthias Machnig: Anforderungen an eine Organisationsreform, o.O., o.J., von der SPD im Internet publiziert).

Das fluide Fünfparteiensystem

17

ungeplante Ereignisse einen deutlichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wie die letzten beiden Bundestagswahlen eindrucksvoll belegen. Dies bedeutet nicht, dass bei zukünftigen Wahlen die Ergebnisse der beiden Großparteien immer so nahe beieinander liegen müssen wie 2002 und 2005. Die kurzfristigen Bedingungskonstellationen können auch in Zukunft einen eindeutigeren Sieg einer der beiden Parteien möglich machen, nur sollte dies dann nicht sofort als Beginn einer erneuten strukturellen Asymmetrie (miss-)verstanden werden.

5

Wer ist die dritte Kraft in Parteiensystem? Die fluide Wettbewerbssituation zwischen den drei kleineren Parteien

Die drei kleinen Parteien haben sich in den Wahlergebnissen mit der Zeit so stark angenähert, dass zwischen ihnen eine prinzipiell offene Wettbewerbssituation um den dritten Platz im Parteiensystem entstanden ist. Die FDP büßte ihre Stellung als jahrzehntelang unangefochtene ‚dritte Kraft’ des deutschen Parteiensystems Mitte der Neunzigerjahre ein und musste mit den Grünen konkurrieren. Durch ihr gutes Abschneiden schickte sich die PDS 1998 an, in diesen Wettbewerb einzugreifen, mit der Bundestagswahl 2002 schien diese Phase jedoch schon wieder vorbei zu sein. Dies war jedoch ein Trugschluss, da das Wahlergebnis einer Reihe von durch die Partei selbst verschuldeten Faktoren geschuldet war20. Schon bei der Europawahl von 2004 zeigte die PDS mit 6,1 Prozent, dass mit ihr bundesweit noch zu rechnen ist, und durch die Zusammenarbeit mit der neu entstandenen, westdeutsch geprägten WASG in Form der Platzierung von WASG-Mitgliedern auf offenen Listen einer in ‚Die Linkspartei.PDS’ umbenannten PDS überflügelte sie bei der Bundestagswahl 2005 sogar die Grünen (vgl. Tabelle 1).

20

Von ihren Erfolgen ab Mitte der Neunzigerjahre verwöhnt, versäumte es die PDS zu Beginn des neuen Jahrtausends, die personellen, inhaltlich-programmatischen und koalitionsstrategischen Voraussetzungen für eine Verstetigung ihres gesamtdeutschen Wählerpotenzials zu schaffen (vgl. Niedermayer 2003b: 63ff.).

18

Oskar Niedermayer

Tabelle 1: Bundestagswahlergebnisse der drei kleineren Parteien seit 1990

FDP Grüne1 LP.PDS

1990

1994

1998

2002

2005

11,0 5,0 2,4

6,9 7,3 4,4

6,2 6,7 5,1

7,4 8,6 4,0

9,8 8,1 8,7

1) 1990 einschließlich Bündnis 90/Grüne-BürgerInnenbewegungen. Quelle: offizielle Wahlstatistik des Bundeswahlleiters.

Mittlerweile wird in der Parteienforschung allgemein davon ausgegangen, dass nicht nur die FDP, sondern auch die Grünen im deutschen Parteiensystem so fest verankert sind21, dass ein Abrutschen unter die 5-Prozent-Marke äußerst unwahrscheinlich ist. Beide Parteien haben gezeigt, dass sie die Hürde der parlamentarischen Repräsentation ohne ‚Leihstimmen’ von koalitionsstrategischen Wählern der beiden Großparteien problemlos nehmen können: die Grünen 2005, als sie keine koalitionspolitische Hilfestellung vom (Noch-)Koalitionspartner SPD mehr erhielten, und die FDP 2002, als sie bis zum Schluss aufgrund ihrer Äquidistanzstrategie eine Koalitionsaussage zugunsten der Union vermied (vgl. Niedermayer 2007c: 37ff.). Hierzu hat auch beigetragen, dass sich regionale Disparitäten in der Wählerbasis abgebaut haben: Die Grünen übersprangen 2005 zum ersten Mal seit der Vereinigungswahl in Ostdeutschland insgesamt die FünfProzent-Hürde, die FDP kam 2005 erstmals in allen 16 Bundesländern über fünf Prozent. In der Wählergunst liegen die Grünen seit der Bundestagswahl zwischen 7 und 10, die FDP zwischen 7 und 13 Prozent22, ihr weites Wählerpotenzial – einschließlich der Wähler, die es sich unter Umständen vorstellen können, die Partei zu wählen – liegt Mitte 2007 bei 35 (Grüne) bzw. 29 (FDP) Prozent23. Es spricht also vieles dafür, dass beide Parteien in Zukunft eher in Richtung zweistellige Wahlergebnisse als in Richtung der 5-Prozent-Hürde tendieren werden. Es spricht auch vieles dafür, dass es der Partei DIE LINKE – dem im Juni 2007 erfolgten Zusammenschluss der Linkspartei.PDS mit der WASG – gelingt, 21 22

23

Vgl. hierzu auch die Kapitel von Vorländer und Haas in diesem Band. Zugrunde gelegt werden die Projektionen der Forschungsgruppe Wahlen e.V. Im Gegensatz zur momentanen, von kurzfristigen Ereignissen stark beeinflussten politischen Stimmung werden in die Projektion längerfristige Grundüberzeugungen und taktische Überlegungen einbezogen, die das Wahlverhalten stärker beeinflussen, als es in der augenblicklichen Stimmung zum Ausdruck kommt. Sie stellt daher einen besseren Indikator für die Abschätzung eines möglichen Wahlergebnisses dar. Umfrage von Infratest dimap für die Zeitschrift Cicero im Juni 2007, http://www.infratestdimap.de/print.asp, 19. Juli 2007.

Das fluide Fünfparteiensystem

19

die von der Linkspartei.PDS 2005 eingenommene Position einer ernstzunehmenden Mitbewerberin um die Rolle als dritte Kraft im deutschen Parteiensystem zu behaupten. Einerseits ist nicht zu leugnen, dass es eine ganze Reihe inhaltlichprogrammatischer, politisch-strategischer, personeller und lebensweltlichkultureller Unterschiede zwischen den beiden Partnern gibt24, die das Zusammenwachsen nicht einfach machen werden. Andererseits kann die „ausgesprochen disziplinierende Wirkung“ (Neu 2007: 7), die das gute Bundestagswahlergebnis 2005 im Westen auf die Parteibildung hatte, nach dem ersten Einzug in ein westdeutsches Landesparlament 2007 in Bremen auch für den Konsolidierungsprozess der neuen Partei konstatiert werden. Zudem hat die Partei schon bei der Bundestagswahl 2005 ihr Wählerpotenzial über die solide traditionelle Basis in Ostdeutschland hinaus verbreitert, indem sie einen Teil der ‚Modernisierungsverlierer’ eingebunden hat (vgl. Niedermayer 2006b), und angesichts des „Gezeitenwechsel(s) von einer Politik der Wohltaten zu einer Politik der Zumutungen“ (Wiesendahl 2004: 19) dürfte es der sich als einzige wahre Sozialstaatspartei stilisierenden LINKEN25 gelingen, einen Großteil dieser Wählerschaft auch mittelfristig an die Partei zu binden. Dabei hilft ihr in Westdeutschland das zunehmende Verblassen des spezifisch ostdeutschen Interessenvertretungs-Images und der für die westdeutschen Wähler problematischen Vergangenheit ihrer Vorgängerin26. In den fast zwei Jahren nach der Bundestagswahl von 2005 lag die LINKE daher in der Wählergunst beständig zwischen 7 und 9 Prozent27 und ihr weites Potenzial wurde Mitte 2007 auf 16 Prozent (West 13, Ost 27) geschätzt28. Selbst Autoren, die die Chancen der früheren PDS auf einen längerfristigen Erfolg im deutschen Parteiensystem immer skeptisch beurteilt haben, konzedieren immerhin, dass mit der Vereinigung von PDS und WASG „zum ersten Mal in der Geschichte ... ein Akteur links von der SPD die Chance (habe), sich auf Dauer im politischen System der Bundesrepublik Deutschland zu etablieren“ (Moreau/Schorpp 2006: 76).

24 25

26

27 28

Vgl. hierzu z.B. Neu 2007 und den Beitrag von Neugebauer und Stöss in diesem Band. Im programmatischen Gründungsdokument der LINKEN, den auf den Parteitagen der WASG und der Linkspartei.PDS im März 2007 beschlossenen „Programmatischen Eckpunkten“, findet sich daher auch „ein Füllhorn sozialer Wohltaten“ (Neu 2007: 14). Schon bei der Bundestagswahl 2005 wurde die PDS durch die Zusammenarbeit mit der WASG „nicht mehr auf die Rolle der Vertreterin ostdeutscher Interessen reduziert“ und für eine knappe Mehrheit (im Westen 45 Prozent) der Wähler war sie eine demokratische Partei wie alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien auch (Infratest dimap 2005: 110). Projektionen der Forschungsgruppe Wahlen e.V. (vgl. Anm. 22). Infratest dimap, vgl. Anm. 23.

20 6

Oskar Niedermayer

Der voraussichtliche Rückgang der Segmentierung: neue Koalitionen am Horizont

Die neue Struktur des Parteiensystems mit fünf relevanten Parteien im Bundestag und einer prinzipiell offenen Wettbewerbssituation sowohl zwischen den beiden Großparteien als auch zwischen den drei kleineren Parteien hat wesentliche Auswirkungen auf seine inhaltlichen Eigenschaften, insbesondere auf seine Segmentierung. Versteht man unter dieser Eigenschaft das Ausmaß der Abschottung der Parteien untereinander in Bezug auf mögliche Koalitionen, so wird die Segmentierung eines Parteiensystems umso geringer, je höher der Anteil der politisch möglichen an den rechnerisch möglichen Koalitionen ist. Damit stellt sich die Frage, welche Faktoren die politische Möglichkeit von Koalitionen zwischen den Parteien determinieren. Wir unterscheiden vier Faktoren: ƒ ƒ ƒ

ƒ

die rechnerische Möglichkeit einer Koalitionsbildung – wobei wir hier aufgrund der jahrzehntelangen Praxis in der Bundesrepublik nur minimale Gewinnkoalitionen betrachten, die Nähe oder Distanz zwischen den beteiligten Parteien in Bezug auf politische Inhalte, die Orientierungen der Parteiführungen und der Parteibasis gegenüber den anderen Parteien, wobei insbesondere für die Parteiführung sowohl die Erfahrungen mit vergangenen Koalitionen als auch Erwartungen in Bezug auf das Verhalten der bisherigen bzw. möglichen neuen Koalitionspartner mit einfließen und dies auch und gerade die ‚Chemie’ zwischen den beteiligten Personen einschließt und die Orientierungen der Parteianhängerschaften gegenüber den anderen Parteien.

Rein rechnerisch möglich waren nach der Bundestagswahl 2005 sechs minimale Gewinnkoalitionen: Union/SPD, Union/FDP/Grüne, Union/Grüne/LINKE, Union/FDP/LINKE, SPD/Grüne/FDP und SPD/Grüne/LINKE29. Versucht man die Frage, welche dieser Koalitionen politisch eher möglich und welche eher nicht möglich waren, aufgrund von quantitativ-empirischen Analysen der inhaltlichen Nähe bzw. Distanz der Partner zu beantworten, so stößt man auf Probleme. Dies liegt an zwei Gründen: Zum einen lässt sich die Konfliktstruktur des deutschen Parteiensystems nicht auf eine Dimension – etwa die Links-Rechts-Dimension – reduzieren, zum anderen ist eine Operationalisierung der inhaltlichen Parteipositionen auf vielfältige Weise möglich. 29

Der Einfachheit halber wird in diesem Abschnitt einheitlich von der LINKEN gesprochen, auch wenn sich die Argumentation auf die Zeit vor der Gründung der Partei bezieht.

Das fluide Fünfparteiensystem

21

Das deutsche Parteiensystem wird in neuerer Zeit primär durch zwei Wertekonflikte geprägt: den ökonomischen Sozialstaatskonflikt zwischen sozialer Gerechtigkeit und Marktfreiheit und den kulturellen Konflikt zwischen libertären und autoritären Wertesystemen30. In den Neunzigerjahren haben die Verstärkung der Globalisierungsprozesse, der demographische Wandel in Gestalt der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und die vereinigungsbedingten finanziellen Lasten den deutschen Wohlfahrtsstaat zunehmend an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gelangen lassen. Dies hat zu einer Revitalisierung der ökonomischen Konfliktlinie in Gestalt des Sozialstaatskonflikts geführt. Der Sozialstaatskonflikt ist ein Wertekonflikt, in dem von beiden Seiten mit unterschiedlichen Konzeptionen des Grundwerts der Gerechtigkeit argumentiert und dabei auch auf die Grundwerte der Freiheit und Gleichheit Bezug genommen wird. Nach der traditionellen (Markt-)Gerechtigkeitskonzeption sind Verteilungsergebnisse des Marktes, die nach bestimmten Grundregeln zustande kommen, auch gerecht. Politik hat demnach nur – durch Gewährleistung der Marktfreiheiten – die Einhaltung der Grundregeln zu sichern. Damit wird auf den Grundwert der Freiheit rekurriert und Gerechtigkeit stellt sich als Leistungsgerechtigkeit dar. Im Rahmen der Gegenposition werden materiell ungleiche Marktergebnisse als sozial ungerecht angesehen, es wird auf den Grundwert der Gleichheit gesetzt und soziale Gerechtigkeit stellt sich als solidarische Verteilungsgerechtigkeit dar. Seinen konkreten Niederschlag findet dieser Wertekonflikt in den entgegengesetzten Politikkonzeptionen des sozialstaatlichen Interventionismus auf der einen und der liberalen Marktwirtschaft auf der anderen Seite. Auch die Gründe für die Herausbildung libertärer und autoritärer Wertesysteme werden vor allem im sozio-ökonomischen Wandel von der klassischen Industriegesellschaft zur globalisierten postindustriellen Gesellschaft gesehen. Deren zentrales Kennzeichen besteht in der gleichzeitigen Zunahme von Chancen und Risiken, die je nach konkreter Lebenswelt und mentalen Kapazitäten von den Individuen entweder „in Form einer Öffnung hin zu moralischer und kultureller Permissivität“ oder in Form „einer schutzsuchenden Schließung mit Hilfe autoritärer Schemata“ (Ruß/Schmidt 1998: 277) verarbeitet werden, sodass die mit der Globalisierung verbundenen kulturellen Entgrenzungsprozesse entweder als Bereicherung oder als Bedrohung empfunden werden.

30

Vgl. schon Niedermayer 2003a: 11f.. In neuester Zeit wird diese Charakterisierung in der Parteienforschung von einer Reihe von Autoren mit teilweise unterschiedlichen Bezeichnungen verwendet (vgl. z.B. Geiling/Vester 2007, Haas 2006, Jesse 2006, Jun 2007 und Schoon 2006). Die beiden Konfliktlinien wurden schon von Stöss (1997: 153ff.) analysiert, der jedoch letztlich von einer Hauptachse der Parteienkonkurrenz mit den Polen sozial-libertäre Politik und neoliberal-autoritäre Politik und damit von einer eindimensionalen Konfliktstruktur ausgeht.

22

Oskar Niedermayer

Die Operationalisierung der Positionen der einzelnen Parteien auf diesen beiden Konfliktlinien kann auf vielfältige Weise durch Indikatoren auf der Angebots- und Nachfrageseite des Parteienwettbewerbs erfolgen (vgl. Niedermayer 2008). Angebotsorientierte Operationalisierungen mit Hilfe von quantitativen Inhaltsanalysen der Parteiprogramme zur Bundestagswahl 2005 (vgl. Jun 2007, Pappi/Shikano 2005 und Proksch/Slapin 2006) kommen aufgrund unterschiedlicher Zuordnungen und Methoden zu unterschiedlichen Ergebnissen, die sich wiederum von nachfrageorientierten Analysen mit Hilfe der Positionierung der Parteien durch die Bevölkerung31 unterscheiden. Fast einig ist man sich immerhin in der Platzierung der LINKEN und der FDP als Polparteien im Sozialstaatskonflikt und der Grünen und der NPD als Polparteien im kulturellen Libertarismus/Autoritarismus-Konflikt32. Die quantitative Analyse der inhaltlichen Parteidistanzen hilft bei der Analyse der Segmentierungslinien im Parteiensystem somit nur begrenzt weiter, sodass der nächste Faktor – die Orientierungen der involvierten Akteure – in den Blick genommen werden muss. Die Orientierungen der Führung, Basis und Anhängerschaft der jeweiligen Parteien gegenüber ihren Mitbewerbern lassen sich am besten vor einer Wahl – also während des Wahlkampfes – feststellen, da nach der Wahl die Orientierungen von den durch das Wahlergebnis präjudizierten Koalitionsalternativen beeinflusst werden. Die Haltung der Parteiführung einer Partei gegenüber einer anderen Partei im Wahlkampf kann in fünf qualitativen Abstufungen der Koalitionsbindung bzw. -abschottung operationalisiert werden: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

eine Koalition mit der anderen Partei wird explizit ausgeschlossen, eine Koalition wird nicht ausgeschlossen, aber nicht präferiert, es wird keinerlei Aussage über eine Koalitionspräferenz getroffen, man lässt eine Präferenz zugunsten der anderen Partei erkennen, es wird eine explizite Koalitionsaussage zugunsten der anderen Partei getroffen.

Mit dieser Abstufung lässt sich auch ein Konzept präziser fassen, das zur Beschreibung der Segmentierungs- bzw. Koalitionspräferenzlinien im deutschen Parteiensystem oftmals verwendet wird: die Lager- oder Blockbildung. Jun (2007: 491) geht von einer „seit den 1990er Jahren prägenden Lagerbildung innerhalb 31

32

Die Daten zu den Orientierungen der Bevölkerung wurden im Rahmen des vom Verfasser zusammen mit Bettina Westle und Steffen Kühnel geleiteten DFG-Projekts „Bürger und Parteien“ erhoben. Es handelt sich dabei um eine Nachwahlbefragung zur Bundestagwahl 2005. Zur Analyse vgl. Niedermayer 2008. Wobei die Bezeichnung ‚Polpartei’ immer relativ und nicht absolut zu verstehen ist, d.h. die jeweilige Partei wird in Bezug auf die jeweilige Konfliktlinie am weitesten in Richtung des jeweiligen Pols verortet, muss aber keine Extremposition am jeweiligen Pol einnehmen.

Das fluide Fünfparteiensystem

23

des Parteiensystems“ zwischen CDU/CSU und FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite aus, Jesse (2001, 2006) sieht die gesamte Geschichte des bundesrepublikanischen Parteiensystems durch eine Lager- bzw. Blockbildung geprägt und Decker (2005: 66) spricht für die neuere Zeit sogar von einem bürgerlichen (Union und FDP) und einem linken Lager aus der SPD, den Grünen und der LINKEN. Ein sozialwissenschaftlich tragfähiges Lagerkonzept kann allerdings nicht allein eine Zusammenfassung von verschiedenen Parteien aufgrund einer diffusen inhaltlichen „Nähe“ zwischen ihnen und/oder aufgrund existierender Koalitionen darstellen. Für Rohe (1992: 22) ist „ein politisches Lager mehr als eine Zweckkoalition unterschiedlicher Parteien..., vielmehr ist es ein historisch-kulturelles Gebilde, das nicht zuletzt in historischen Erinnerungen und Mentalitäten sowie in den damit verknüpften Emotionen und Aversionen tief verwurzelt ist“. Selbst wenn man die Anforderungen nicht ganz so hoch setzt, kann nicht sofort nach dem Eingehen einer Koalition bzw. nach einem Koalitionswechsel von einem neuen Lager gesprochen werden. Zudem bietet sich als klarer Indikator für das Bestehen eines Lagers das Verhalten der Parteiführungen an: Von einem Lager sollte nur gesprochen werden, wenn für die beteiligten Parteiführungen die Bindung an die andere(n) Lagerpartei(en) so stark ist, dass sie diese Bindung vor einer Wahl durch eine explizite und eindeutige Koalitionsaussage verdeutlichen, also so genannte „pre-electoral coalitions“ (Golder 2005: 643) oder „Protokoalitionen“ (Pappi/Herzog/ Schmitt 2006: 495) miteinander eingehen. Legt man dieses Erfordernis zugrunde, dann gab es in der Geschichte der Bundesrepublik seit Anfang der Fünfzigerjahre nur zwei Wahlkämpfe, in denen eindeutige Protokoalitionen gebildet wurden: 1953 zwischen CDU, FDP und DP und 1972 zwischen SPD und FDP. Seit der Vereinigung wurde kein einziger Wahlkampf von beiden Seiten der vermeintlichen Lager (Union/FDP und SPD/Grüne) als eindeutiger Lagerwahlkampf geführt33. Dies zeigen die Daten von Pappi/Herzog/Schmitt (2006: 512f.), die die in verschiedenen Quellen (Medienberichte und wissenschaftliche Literatur) berichteten koalitionspolitischen Aussagen der Parteien nach der Art des Koalitionssignals (positiv/kein Signal/negativ) von mehreren Personen verschlüsseln und sodann Mittelwerte bilden ließen, um zu validen quantitativen Daten zu gelangen. Allerdings ist diese Methode für die Erhebung von Koalitionspräferenzen geeigneter als für die hier primär interessierende Frage von Segmentierungslinien, also von koalitionspolitischen Abschottungen gegenüber anderen Parteien: 33

Damit ist auch eine Berechnung der Asymmetrie im Parteiensystem nicht aufgrund der Wahlergebnisse der beiden Großparteien, wie es hier getan wird, sondern der Zusammenfassung von SPD und Grünen auf der einen und CDU/CSU und FDP auf der anderen Seite, wie es Jesse (2006: 35) tut, nicht sinnvoll.

24

Oskar Niedermayer

Zwischen bestimmten Parteien ist die koalitionspolitische Unvereinbarkeit so eindeutig, dass sie im Wahlkampf nicht explizit thematisiert werden muss, während es in vielen Fällen durchaus sinnvoll ist, die deutliche Affinität zu einer anderen Partei den Wählern auch im Wahlkampf mitzuteilen, um Zweifel auszuräumen und koalitionsstrategisch denkende Wähler zu mobilisieren34. Um die gegenwärtig auf Seiten der Parteiführungen bestehenden Segmentierungslinien innerhalb des deutschen Parteiensystems und die Wahrscheinlichkeit ihrer mittel- und langfristigen Aufrechterhaltung abzuschätzen, muss daher doch auf qualitative Einschätzungen zurückgegriffen werden. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005 haben die Union und die FDP keinen Zweifel daran gelassen, dass sie nach der Wahl nach Möglichkeit eine Koalition eingehen wollten. Die SPD hat sich zwar im Wahlkampf schon frühzeitig von den Grünen gelöst und diese haben in der Schlussphase auch keine rot-grün Strategie mehr gefahren, an der Koalitionsfähigkeit der beiden Parteien besteht jedoch kein Zweifel. Eine Große Koalition gilt beiden Großparteien zwar immer nur als ultima ratio und sie wird in Deutschland von vielen als potenzielle Gefährdung der Demokratie angesehen35, möglich ist sie jedoch, wenn andere Koalitionsalternativen nicht tragen, wie ihre Bildung nach der Wahl zeigt. Von der Großen Koalition abgesehen, kamen nach der Wahl nur Dreierkoalitionen als minimale Gewinnkoalitionen in Betracht, von denen jedoch keine realisiert werden konnte. Wenn die hier verdeutlichte gegenwärtige Gestalt des Parteiensystems nicht nur eine Momentaufnahme darstellt, sondern mittelfristig Bestand hat, wofür nach der bisherigen Analyse sehr viel spricht, dann sind auch in Zukunft mehrheitsfähige Zweierkoalitionen in Gestalt des traditionellen Großpartei/Kleinpartei-Musters zwar nicht ausgeschlossen, aber eher unwahrscheinlich. Wenn man nicht mittelfristig auf Große Koalitionen setzt36, ergibt sich daraus auf der Ebene der Parteiführungen ein starker machtstrategischer Anreiz zur Erweiterung der Koalitionsoptionen, der mittelfristig tendenziell zu einer abnehmenden Segmentierung des Parteiensystems – sprich: neuen Koalitionskonstellationen in Form von Dreierkoalitionen – führen dürfte. 34

35 36

Daher gab es z.B. im Wahlkampf 2005 eine eindeutige wechselseitige Koalitionsaussage von Union und FDP aber keine großen Bemühungen von Union und Linkspartei.PDS, ihren jeweiligen Wählern explizit zu versichern, dass man miteinander keine Koalition eingehen würde. Obwohl die erste Große Koalition 1966-1969 im Gegenteil „zur Bewährung der westdeutschen Demokratie“ (Hildebrand 2006: 625) beitrug. Aus momentaner Sicht (Frühsommer 2007) scheint eine Fortführung der Großen Koalition sehr unwahrscheinlich: Sie besteht nur noch als „alle Anzeichen früher Zerrüttung“ aufweisende „Scheinehe“ mit „allenthalben frostig“ gewordenen Klima, in der der „Gedanke, es weiter miteinander aushalten zu müssen“, die Akteure „mit Grausen“ erfüllt, sodass die Strategen beider Parteien statt Gemeinsamkeiten auszuloten „längst damit befasst sind, den nächsten Bundestagswahlkampf vorzubereiten“ (Alexander Neubacher: Szenen einer Scheinehe. In: DER SPIEGEL, Nr. 22 vom 26. Mai 2007).

Das fluide Fünfparteiensystem

25

Von den fünf rechnerisch möglichen Dreierbündnissen scheiden die beiden Alternativen mit Beteiligung der Union und der LINKEN wegen unüberbrückbarer Differenzen offensichtlich auch mittelfristig aus. Damit verbleiben an den zukünftig prinzipiell möglichen Nahtstellen im Parteiensystem momentan noch drei Segmentierungslinien: zwischen SPD/Grünen und der LINKEN, zwischen SPD/Grünen und FDP und zwischen Union/FDP und den Grünen. Die Grünen werden für alle drei Alternativen gebraucht und sind damit koalitionsstrategisch in einer Schlüsselposition, wenn sie sich aus der „baylonischen Gefangenschaft“ (Poguntke 1999: 83) der SPD vollständig lösen und sich vorbehaltlos als eigenständige Kraft profilieren, die prinzipiell nach allen Seiten koalitionsfähig ist und ihre Koalitionsentscheidung davon abhängig macht, wie viele eigene politische Vorstellungen mit den möglichen Partnern realisierbar sind. Die inhaltlich-programmatischen Voraussetzungen für eine solche Positionierung sind im Bereich der ökonomischen Konfliktlinie insofern vorhanden, als die Grünen zwar keinen „neo-liberal turn“ (Rüdig 2002: 13) vollzogen haben, aber als Partei des „neuen Bürgertums“ mit der Zeit „bürgerlicher und ‚mittiger’ geworden“ sind (Haas 2006: 216, 201) und den Sozialstaatskonflikt in der eigenen Organisation internalisiert haben, sodass sie nicht mehr eindeutig auf einer Seite stehen37. Sie könnten sich somit sowohl in einer Koalition mit der SPD und der LINKEN als auch in einem Bündnis mit der Union und der FDP jeweils als Korrektiv profilieren und wären in einer solchen strategischen Position für breite Wählerschichten interessant. Die Mehrheit der Grünen-Führung folgt der skizzierten Strategie: Der Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz in Oldenburg kurz nach der Wahl, „Inhalte vor Macht“ zu stellen, wies schon eindeutig in diese Richtung, die bisher konsequent durchgehaltene Weigerung, sich öffentlich auf irgendeine Koalitionsalternative festzulegen, führt die Strategie fort, und die Äußerung des GrüneVorsitzenden Reinhard Bütikofer Mitte 2007 verdeutlicht sie in ungewohnter Klarheit: „Wir verfolgen einen eigenständigen Kurs und schauen dann, wie viel grüne Politik in einer Koalition realisierbar wäre“38. Natürlich ist es deutlich leichter, sich prinzipiell in dieser Weise zu positionieren, als dann tatsächlich eine Koalition einzugehen, da gegen alle drei Koalitionsalternativen sowohl innerparteilich als auch bei den Wählern Widerstände zu erwarten sind. Helfen könnte hier, wenn man sich bei der Betonung der eigenen Inhalte auf den Markenkern der Grünen bezieht, d.h. die Position als Polpartei auf der kulturellen

37 38

Vgl. den Beitrag von Haas in diesem Band. Zit. n. Schäuble flirtet mit den Grünen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. Juli 2007.

Suggest Documents