Objekte als virtuelle Hüllen

veröffentlicht in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 15. Dezember 2005. (http://www.inst.at/trans/15Nr/10_4/oetsch15.htm) 1 Obje...
Author: Gerda Lehmann
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veröffentlicht in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 15. Dezember 2005. (http://www.inst.at/trans/15Nr/10_4/oetsch15.htm)

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Objekte als virtuelle Hüllen. Beispiele aus der griechischen Antike Walter Ötsch Zentrum für Soziale und Interkulturelle Kompetenz und Institut für Volkswirtschaftlehre Johannes Kepler Universität Linz, A-4040 Linz Tel.: +43-732-2468-8364 oder 8486 [email protected], www.econ.jku.at/oetsch

1. Hüllen Nach Susanne Langer ist nur der Mensch fähig, dinghafte Objektvorstellungen zu entwickeln. Diese Fähigkeit ist nach Piaget nicht angeboren, sondern erlernt.1 Merleau-Ponty hat gemeint, wir könnten uns ein Objekt visuell nur präsent machen, wenn wir seine aktuell unsichtbare Rückseite mit-imaginieren. Das Sehen eines Gegenstandes schließe das Wissen um das Vorhandensein aller An-Sichten ein, die aus der gegenwärtigen Positionierung des Objekts zum wahrnehmenden Leib aktuell nicht erkenntlich sind. Ein Gegenstand werde

gleichsam

(gedanklich) „von außen“ von allen Seiten berührt. Die Berührungs-Fläche selbst können wir uns (in einem visuellen Bild) als virtuelle Hülle denken. Sie zieht eine Grenze zur Umwelt, umschließt den Gegenstand vollständig und macht ihn zur abgegrenzten Einheit. (Sie schafft in Merleaus-Pontys Worten „einen Innenhorizont für das Objekt, in dem andere Gegenstände um das Objekt herum selbst zum Horizont werden“.)2 Die Wahrnehmung von Objekten steht nach Merleau-Ponty in direktem Rückbezug auf die Eigenwahrnehmung des Leibes. Auch der Leib kann als (vorgestellte) Hülle klassifiziert werden. Die Empfindung des Leibes als abgegrenztes und einheitliches Selbst bedarf des Gewahrseins einer „unsichtbaren“ Rückseite, die fast zur Gänze außerhalb des Gesichtsfeldes liegt. Sie grenzt den >Innen-Raum< des Leibes vom >Außen-Raum< der Dinge ab.3 Durch die Hülle bekommt der Leib einen Innen-Horizont, aus dem der Außen-Horizont des Raumes entsteht. (Beide Horizonte liegen in einem gemeinsamen Feld.)

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Vgl. die diesbezüglichen Implikationen in den Modellen der Selbst-Entwicklung nach Stern 2000. Merleau-Ponty 1965, 92f. 3 Merleau-Ponty 1965, 28. 2

2 Das Konzept einer Hüllenbildung um den Leib und um Objekte kann für kulturgeschichtliche Zwecke nutzbar gemacht werden. Wenn die Bildung virtueller Hüllen um Objekte eine menschliche Leistung ist, dann können wir fragen, ob in unterschiedlichen Kulturen und Epochen „Objekt-Hüllen“ auf jeweils kultureigene Weise gebildet worden sind. Können für bestimmte Kulturen, Epochen oder soziale Schichten jene Muster einer Hüllenbildung um Objekte ausfindig gemacht werden, die nur ihnen als Ausdruck einer besonderen Wahrnehmungs-Form eigen sind? Welche Indizien vermögen wir auf welche Weise als genuine Wahrnehmungs-Berichte deuten, die Hinweise auf die „Funktions-Leistung der Sinne“ geben? Erlaubt ihre Identifikation ein Verständnis fremdartiger Wahrnehmungs-Vorgänge, speziell des Sehens? Im folgenden einige Andeutungen zu diesen Fragestellungen. Aus der Fülle möglicher Anwendungsfälle greife ich zwei Beispiele aus dem antiken Griechenland auf.

2. Mythische Objekte Der erste große Text des europäischen Abendlandes ist Homers Ilias. Homer entwirft das grandiose Panorama einer mythischen Welt. Objekte sind hier Manifestationen göttlicher Kräfte, Kurt Hübner spricht von der „mythischer Substanz“, mit der alle Dinge (gedanklich) „ausgefüllt“ sind. 4 Mythische Substanzen bezeichnen keine Bausteine eines Systems, das in sich eine feste Struktur besitzt, sondern sind wie „kristallisierte Atmosphären“, die an einem Ort und zu einer Zeit präsent sind und zugleich im gesamten Wahrnehmungs-Feld zu finden sind. Demeter ist bei Homer eine Göttin und zugleich in jedem reifen Getreidekorn enthalten: es besitzt die „Substanz“ demeter. Die Erde ist die Göttin Gaia, sie zeigt sich in jeder Scholle Erde, usw. Götter agieren in der Ilias als eigenständige Personen und sind zugleich dauerhaft an vielen Orten präsent. Die Homerischen Götter „verkörpern“ sich auch „überall“ zu bestimmten Zeiten, wie an Festtagen, sowie in ausgezeichneten Personen und Dingen. Sie sind in diesen „enthalten“, allerdings nicht in einer erschöpfenden Weise, weil sie auch anderswo zu finden sind. Der Name eines Gottes steht bei Homer für ein „Etwas“, das sich in ausgezeichneten Szenen und Ereignissen regelmäßig oder spontan „manifestiert“.5 Göttliche Wesen sind keine abgegrenzten und einmalige Personen, sondern Namen für Individuen und zugleich Begriffe mit

Allgemein-Bedeutung

Allgemeinheitsbedeutung“).

4

5

Hübner 1985, 113. Hübner 1985, 111.

(Kurt

Hübner

spricht

von

„Individuen

mit

3 Dieser Götter-Begriff mischt Ideelles und Materielles, Physisches und Psychisches. Nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen sind belebt und „beseelt“ (es gibt aber noch keinen Begriff für eine psychologische Seele), sondern auch alle Objekte. Sie sind bei Homer von göttlichen Personen-Kräften „aufgeladen“: „Steine, Metalle, die vier Elemente: Erde, Wasser Luft und Feuer usw. Die Erde ist gaia, der Himmel uranos, des Meer poseidon, die Quellen und Flüsse werden beherrscht von Nymphen und Flussgöttern, im Brausen der Luft zeigt sich boreas, im Blitz zeus, einsame Waldgegenden sind das Gebiet des Pan.“, usw.6 Gott und Natur, Psyche und Geist sind in diesem Wahrnehmungs-Feld vermengt: der „psychische Gegenstand“ und der „Naturgegenstand“ ist durch eine Gottheit bestimmt, es wird ihm der gleiche Name zugeordnet. Die „mythische Substanz“, die über das gesamte Feld ausgebreitet ist, überflutet auch das >Innere< des Menschen (später spricht man vom „Geist“). Überall wo ein Krieg tobt, ist ares am Werk. Wo Menschen in Liebe entbrennen, ist aphrodite präsent. Wo praktische Intelligenz oder kluger Rat anzutreffen sind, hat sich athene eingenistet. Apollo macht Weisheit, Maß und Würde und entrückt die Menschen durch die Leier in ein traumhaftes Schweben. Gleichzeitig muss jedes Gedachte (in unserer Denk-Weise) ein göttliches Wesen sein: Streit ist eris, Frieden eiréne, Gerechtigkeit díke, Ordnung eunómia, Satzung thémis, usw. 7 Wenn bei einem Gastmahl plötzlich eine Stille eintritt, ist Hermes zu Gast. Jeder spürt seine Anwesenheit. „Man weiß nie“, meint G. Nebel zu diesen Begriffen „ob man ein Wort groß oder klein schreiben soll, ob es als Person oder Sache gilt – eben diese Unsicherheit ist Mythos.“8 Homer schildert Menschen, die in allen wichtigen Belangen direkt von Götter und Göttinnen gelenkt werden. Vor allen entscheidenden Weichenstellungen treten Götter oder Göttinnen auf den Plan. Sie verkünden, was zu tun ist. Speziell in der Ilias, Homers älterem Werk, werden die Befehle der Götter von den beteiligten Helden ohne Widerrede oder Aufbegehren unmittelbar in die Tat umgesetzt. Dabei ist zu beachten, dass die göttlichen Wesen, folgt man Homers Text, ohne Zweifel >real< gemeint sind. Sie werden mit dem Ton der größten Selbstverständlichkeit geschildert, niemals schleicht sich eine allegorische oder symbolische Note ein. Die Götter und Göttinen sind, wie Homer sie schildert, Wesen, die den Menschen zu bestimmten Zeiten präsent sind. Götter kann man unmittelbar und direkt wahr-nehmen, oft in Augenblicken heftiger Gefühle oder bei weitreichender Entscheidungen. (Ihr flackerndes Wesen beschreibt Ernst Cassirer als „Augenblicksgötter: mythische Objektivikationen einzelner Eindrücke“).9

6

Gloy 1995, 45. Hervorhebung von mir. nach Hübner 1985, 126. 8 Nebel, G.: Pindar und die Delphik, Stuttgart 1961, 173; zit. nach Hübner 1985, 127. 9 Cassirer 1997c, 240. 7

4 Die Wahrnehmung der Götter, nur manchmal möglich, steht mit der Wahrnehmung von Objekten, regelmäßig möglich, in Zusammenhang. Das Gemeinsame ist die Erfahrung einer Kraft, die als „göttlich“ verstanden wird. Objekte sind in diesem Wahrnehmungs-Raum Ausprägungen mythisch-personaler Substanzen. Ein Ding ist, so meint Hübner, „nur eine Hülle, ein Gefäß, in welches eine solche Substanz in größerer und geringerer Dichte eindringt, weswegen das Numinose darin stärker oder schwächer anwesend sein und verspürt werden kann.“10 Ein Ding ist eine Kapsel, die eine göttliche Kraft umschließt. Alle Objekte sind in diesem Konzept mythische „Verdichtungen“. Ein Objekt als Objekt zu erkennen, bedeuten die Präsenz einer mythischen Substanz zu SPÜREN. Dinge werden, so können wir vermuten, in diesem Wahrnehmungs-Raum als kondensierte Kraft-Hüllen erfahren. Im Umgang mit Dingen erlebt man die Präsenz von Kräfte,, die von ihnen ausgehen. Jeder sinnliche Eindruck, den sie hervorrufen, wird als Resultat göttlicher Kraft-Energien erkannt, das alltägliche Handeln ist automatisch davon geprägt. Dies bedeutet auch, daß jedes noch so geringfügige Ereignis religiös-symbolische Bedeutung besitzen muß. Eine religiöse Orientierung

ist in diesem

kollektiven Wahrnehmungs-Raum selbstverständlich (es gibt nicht einmal einen Begriff von Religion als einem abgegrenztem Bereich). Der gesamte Alltag wird mythisch-kultisch begangen. Den Boden zu bestellen ist ein Kult, den die Bauern den Göttern abstatten. Auf Kyporos hieß Ernten wörtlich „der Demeter huldigen.“ Die Hüllenbildung um Objekte steht mit der Hüllenbildung um Personen in direktem Bezug („Objektivifikation“ – die Hüllen-Bildung um Objekte - und „Personifikation“ – die HüllenBildung um Personen - beziehen sich auf eine gemeinsame grundlegende Art, kulturell relevante Hüllen zu erfahren). Bei Homer sind auch Personen Gefäße für göttliche Energien, sie werden als „Träger“ mythischer Substanzen gedeutet. Diese fließen in die Menschen in stärkerem oder shcwächerem Ausmaß ein ein. Die Identität einer Person ist von dem „Dichte“ der in ihr kondensierten Gottes-Atmosphäre bestimmt. Personen „strahlen“ göttlich gedeutete Kräfte aus, sie bestimmen ihr eigentliches Wesen. Im Zentrum der Ilias stehen die Helden. Sie stammen von den Göttern ab und sind am meisten von allen Menschen mit Gottes-Kraft erfüllt. Ihre ausgezeichnete Stellung begründet sich aus der Sippe, der sie entstammen.11 Eine Sippe ist gleichsam eine soziale Hülle (in einem sozialen Feld), die mit einer eigenen mythischen Sippen-Substanz „angefüllt“ ist. Sie floß in grauer Vorzeit von einem göttlichen Wesen direkt in einen Ahnen ein und wird seither von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben. Eine Sippe „transportiert“ göttliche Kräfte über Generationen. Sie „ergießen“ sich nicht nur in die Menschen (in ihre personal-mythischen Hüllen), sondern auch in die Dinge (in ihre sachlich-mythischen Hüllen) im Besitz einer Sippe. Die Substanz einer 10 11

Hübner 1985, 174. Das folgende nach Hübner 1985, 121f.

5 Sippe ist nicht nur in den Verwandten, sondern auch in ihren Besitztümern verkörpert. Dinge im Eigentum einer Sippe sind von gleicher Energie wie die Menschen selbst erfüllt (Die Personifikation in den Sippen-Mitglieder spiegelt sich in der Objektivation der Sippen-Dinge.) In einer Sippe schwingen Personen und Dinge in derselben atmosphärischen Substanz, die sich in ihnen ergossen hat. Besitz und Mensch sind auf diese Weise direkt verbunden. Beim Tode werden sie gemeinsam bestattet, weil sie ja Teil desselben sind.12 Eine Sippe gibt ihre Energie nicht nur „persönlich“ (durch Kinder), sondern auch durch ihren Besitz, ihre Dinge weiter (auch hier Subjekt und Objekt noch nicht klar getrennt und „substantiell“ gleich). Homer bezeichnet dieses „Etwas“ mit Begriffen wie kydos, time, euchos und kléos.13 Die Götter haben den Helden kydos verliehen (oft mit Ruhm, Macht, Glück oder ruhmvolle Kraft übersetzt). Sie steckt in ihnen, in ihren Leibern, in ihrer Sippe, in ihrem Besitz. 14 Aus diesem Grunde ist es bei allen Kämpfen der Ilias so überaus wichtig, den Feinden nicht nur das Leben, sondern auch die Rüstung zu rauben. Mit der Rüstung geht gleichsam die Wurzel des Lebens vom Besiegten auf den Sieger über: er wird von dessen Lebens-Kraft „aufgeladen“.

3. Poröse System-Objekte Mythische Objekte bilden kein System, in dem Teile und Ganzes eindeutig unterschieden werden können. Die Erfindung des Konzepts des Systems (in dieser Bedeutung) ist bekanntlich die große Leistung der ersten Philosophen des Abendlandes. Sie fragen nach einer neuen MetaEbene: gibt es hinter dem undurchschaubaren Wirrwarr der Erscheinungen etwas Gemeinsames? Gibt es ein Grund-Prinzip von allem, ein Grund-Element, das sich im Fließen der Dinge nicht verändert, die arché aller Dinge, ihren „Ursprung, Urgrund und Abgrund“?15 (Arché bedeutet auch Herrschaft: was ist der gemeinsame Ursprung und zugleich unveränderliche Urgrund, der alles „steuert“?). Mit dieser Frage wird eine neue Meta-Ebene erfunden: hinter den Erscheinungen, so denkt man, gibt es etwas Zusätzliches, die Welt. Sie besitzt einen Ursprung, eine arché. Aus ihr hat sich alles entwickelt, ihr ist die physis, die Natur

12

Eine Totenfeier zu veranstalten, hieß ktéra kterézein, wörtlich „den Besitz als Eigentum bestatten“ [z.B. Ilias 24, 38]. Dabei wurde (folgerichtig) nur das dem Einzelnen Gehörende (ktéma oder ktérea) zu Grabe getragen, während der kollektive Besitz (pátroa, Eigentum der Sippe) „am Leben bleiben“ musste: dieser garantierte die Fortdauer des Lebens einer Sippe. Vgl. ebenda, 228. 13 ebenda, 118ff. 14 Time (Achtung, Ehre, Würde, Wert) begründet die Würde eines edlen Menschen. Die time eines Königs stammt von den Göttern. Agamennon verweist im Streit mit Achill auf sein Szepter [Ilias I, 234ff.]. Es stammt von seinen Vätern, diese haben es von Zeus. Die Time seines Geschlechts „lebt“ darin wie eine Erbmasse fort und genau bei diesem, nicht bei irgendeinem Szepter, ist zu schwören und bei diesem Szepter verbannt Agamemnon den aufmüpfigen Achill „von den Söhnen Achaias“ im Kampf. Gleich danach wirft er „auf die Erde den Szepter“: eine Bekräftigung für alles, was er ist: seine Würde, seine Ehre, seine gesamte Sippschaft, seine kollektive mythische Substanz. 15 so die Deutung von Weischedel 1998, 40.

6 entsprungen (Das Wort physis stammt von phyein was „hervortreiben“, „sprossen“, „wachsen“ bedeutet.)16 Mit dem Konzept der Welt bzw. des Seins wird zugleich das Konzept eines (formalen) Systems entworfen: eine Anordnung von Basis-Teilen, die sich stimmig aufeinander beziehen und ein geordnetes Ganzes bilden. Jeder Teil steht für sich und zugleich in eindeutiger Beziehung zu anderen Teilen. Teil und System bilden ein wohlgeformtes Ganzes. Objekte werden jetzt zu abgegrenzten Bausteinen eines Systems, des kósmos. Er besitzt ein Substrat, das in allen göttlichmythischen Substanzen gemeinsam zu finden ist: das Göttliche (to theion). Ihr mythischer System-Stoff (hyle) ist Materie, Leben, Kraft und Geist zugleich. Alles ist belebt, es wird gezeugt und geboren; Thales von Milet spricht vom "Samen der Dinge".17 Die Welt stammt allerdings nicht von einem Gott oder einer Göttin ab. Sie kann nicht von einer Götter-Intensität alleine, nicht einmal aus der Summe aller Götter verstanden werden. Nicht sie geben der Welt ihre neue tiefe arché. Das Göttliche überschreitet alle Götter, weil es in jedem einzelnen Gott, in allen Göttern insgesamt >existiert