Arbeit und Leben in Organisationen 2011 Risikofaktoren für Arbeitsqualität und psychische Gesundheit. Praxis der Selbstfürsorge

Arbeit und Leben in Organisationen 2011 Risikofaktoren für Arbeitsqualität und psychische Gesundheit Praxis der Selbstfürsorge 1 Sig...
Author: Eva Becke
7 downloads 0 Views 139KB Size
Arbeit und Leben in Organisationen 2011 Risikofaktoren für Arbeitsqualität und psychische Gesundheit

Praxis der Selbstfürsorge

1











Sigmund-Freud-Institut Johann Wolfgang Goethe-Universität Jügelhaus Mertonstraße 17 60325 Frankfurt/Main Telefon 069 - 798-25518 www.sigmund-freud-institut.de [email protected] April 2012

2

Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie Industrie- und Techniksoziologie 09107 Chemnitz Telefon 0371-531 -34388 www.tuchemnitz.de/hsw/soziologie/institut/voss [email protected]

Hintergrund Die Arbeitswelt verändert sich, das ist Gegenstand in vielen gesellschaftlichen, politischen und fachlichen Debatten und Anlass für zahlreiche Akteure, Handlungsoptionen zu entwickeln und Gestaltungsentscheidungen zu treffen. Supervisor/innen betreten als Berater/innen in Organisationen und Unternehmen deren „Hinterbühnen“ und nehmen durch ihre Beratungstätigkeit in besonderer Entwicklungen der Arbeitswelt wahr. Dieser Wissens- und Wahrnehmungsfundus soll für eine wissenschaftliche Untersuchung genutzt werden, die die Akteure in der Arbeitswelt bei ihren Debatten und Gestaltungsentscheidungen unterstützen will. Die dem vorliegenden Fachbeitrag zugrunde liegende Untersuchung ist die zweite wissenschaftliche Studie, in der Supervisor/innen, die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) sind, befragt wurden, wie sie aktuell die Arbeitsbedingungen in Profit- und Non-Profit-Organisationen wahrnehmen – so wie sie diese Bedingungen von den Arbeitnehmern/innen beschrieben bekommen, die sie beraten. Bereits 2008/2009 konnten in einer ersten grundlegenden Studie die psychosozialen Auswirkungen der vielfach beschriebenen Veränderungen der Arbeitswelt untersucht und in einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.1 Die wissenschaftliche Verantwortung für die Untersuchung tragen Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und Prof. Dr. Günter G. Voss von der Technischen Universität Chemnitz, die zusammen mit ihren Mitarbeitern/innen die Untersuchung konzipiert und durchgeführt haben. In den Forschungsgruppen arbeiteten Dipl.-Soz. Nora Alsdorf, Saskia M. Fuchs, Dipl.-Päd. Ullrich Beumer, Dr. Anke Kerschgens, Julian S. Fritsch und Dr. Bettina Daser (alle Sigmund-Freud-Institut) sowie Christoph Handrich M.A., Dr. Frank Kleemann, Dr. Ingo Matuschek und Dipl.-Soz. Benjamin Kahlert (alle TU Chemnitz) mit. Die Durchführung der Studie wurde mit Mitteln der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) gefördert. Der vorliegende Fachbeitrag ist der erste in einer Reihe detaillierter Ergebnisdarstellungen des gesamten Projekts. Weitere Beiträge zu weiteren Themen werden Schritt für Schritt im Verlaufe des Frühjahrs/ Sommers 2012 folgen. Voraussichtlich im Herbst 2012 wird eine Gesamtdarstellung in Form eines wissenschaftlichen Bandes (erneut bei Vandenhoeck & Ruprecht) erscheinen. Bis zu diesem Zeitpunkt können alle Beiträge aufgerufen werden unter http://www.dgsv.de/projekte-themen/arbeit-und-leben/

1

Vgl. Rolf Haubl/G. Günter Voß (Hg.)(2011): Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Psychosoziale Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit. Kölner Reihe – Materialien zu Supervision und Beratung, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) Band 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

3

Rolf Haubl

Praxis der Selbstfürsorge „als ich da hinkam, hatte die Leitungskraft 600 Überstunden. Und alles, was unter 100 war, war irgendwie […] also die arbeiten nicht richtig.“ (F5) „… das ist das nächste große Thema, nicht nur, ‚ich schaffe meine Arbeit nicht mehr’, sondern, ‚ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich bewirke’. Also das Gefühl von Ohnmacht, und das ist ja etwas, was dann wirklich auch in Krankheit, psychische Erkrankung führt, dass nimmt zu.“ (F13) „Also ich finde, es wird billigend in Kauf genommen, dass immer mehr Menschen psychisch erkranken […] also Leute, die ich über mehrere Jahre kenne, werden schwer krank und müssen ihre Arbeit aufgeben.“ (F10) Die Zitate sind eine kleine, aber repräsentative Auswahl von Stimmen aus den qualitativen Interviews der aktuellen Erhebungswelle. Sie belegen, dass die Supervisoren/innen die Arbeitsbelastungen in den Organisationen, in denen sie supervisorisch tätig sind, nach wie vor als sehr hoch beurteilen, was für die Arbeitnehmer/innen bedeutet, überfordert zu werden und damit ihre Gesundheit zu riskieren.

4

Notwendigkeit und Legitimität von Selbstfürsorge Die Diskussion um Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz wirft Fragen nach deren Bewältigung auf, die konzeptionell das Verhältnis von Fürsorge der Arbeitgeber und Selbstfürsorge der Arbeitnehmer/innen betreffen. Beide sind zusammen zu denken. Wie sich Fürsorge und Selbstfürsorge empirisch zueinander verhalten, macht die jeweilige Kultur einer Organisation aus. Fürsorge meint die Unterstützung, die Arbeitnehmer/innen von ihren Arbeitgebern erwarten dürfen, um ihre Arbeitsaufgaben nachhaltig erfüllen zu können, was den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit einschließt. Fürsorgliche Unterstützungsleistungen reichen über formelle Arbeitsverträge hinaus. Sie sind eher Gegenstand „psychologischer Verträge“, deren Vertragspositionen nicht gleichermaßen einklagbar sind: Zum Beispiel sind die Erwartungen von Arbeitnehmern/innen, von ihren Arbeitgebern fair und respektvoll behandelt zu werden, nicht formalisiert; ob sie erfüllt oder nicht erfüllt werden, hat aber erhebliche Konsequenzen. Denn mangelnde Fairness und mangelnder Respekt sind Belastungsfaktoren, die zu einer arbeitsplatzbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigung führen können. Fürsorge hat eine deskriptive und eine normative Dimension. Auf der einen Seite geht es um das Verhältnis von tatsächlich erwarteter und tatsächlich erhaltener Unterstützung, auf der anderen Seite um die Unterstützung, die Arbeitnehmer/innen legitimer Weise erwarten dürfen. Diese Unterscheidung ist in doppelter Hinsicht relevant: auf der einen Seite, weil sie die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers begrenzt, denn unter Umständen erwarten Arbeitnehmer/innen mehr Unterstützung, als der Arbeitgeber verpflichtet ist, sie zu leisten. Auf der anderen Seite gilt das freilich auch umgekehrt: Arbeitgeber leisten weniger Unterstützung, als sie zu leisten verpflichtet sind. Aber wie gesagt: Pflichten sind keine rechtlichen, sondern arbeitsethischen Normen, die auch nicht ein für alle Male feststehen, sondern historisch-kulturell-gesellschaftlichen Veränderungen unterliegen. Generell formuliert, ist an der praktizierten Fürsorge eines Arbeitgebers abzulesen, wo er die Grenze der arbeitsplatzbedingten Belastungen seiner Arbeitnehmer/innen mehr oder weniger begründet zieht. Betriebswirtschaftlich gesprochen verweist die Frage nach der Fürsorge der Arbeitgeber auf deren legitimes Interesse, das Arbeitsvermögen ihrer Arbeitnehmer/innen zu nutzen. Für das Verhältnis von Fürsorge und Selbstfürsorge heißt das: Arbeitgeber dürfen ihrerseits von ihren Arbeitnehmern/innen erwarten, dass diese den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit nicht ganz an ihre Arbeitgeber delegieren, sondern auch selbst dafür Sorge tragen. Folglich markieren Fürsorge und Selbstfürsorge die Pole einer Dimension, auf der verschiedene Verhältnisse von Fürsorge und Selbstfürsorge abgetragen werden können. Diese Verhältnisse sind variabel, sowohl faktisch als auch normativ. Die aktuelle Kritik an der neo-liberalen Transformation der Arbeitswelt beruht auf der Diagnose, dass Arbeitgeber zunehmend ihre Fürsorgepflicht verneinen und stattdessen erwarten, dass ihre Arbeitnehmer/innen selbst für sich sorgen, mithin von sich aus darauf achten, keine arbeitsplatzbedingten physischen und psychischen Beschädigungen zu erleiden. Zugespitzt formuliert: Arbeitgeber nehmen sich das Recht heraus, das Arbeitsvermögen ihrer Arbeitnehmer/innen rücksichtslos zu nutzen, weil sie erwarten, dass diese ihre Grenzen kennen und infolgedessen selbst eine Grenze für die betriebliche Nutzung ihres Arbeitsvermögens ziehen. Die Unterstellung, eine solche Begrenzung durchsetzen zu können, ohne Sanktionen des Arbeitgebers fürchten zu müssen, trifft in der Regel aber nicht zu. Denn was für 5

Arbeitnehmer/innen an Selbstfürsorge möglich ist, hängt immer auch davon ab, wie weit Arbeitgeber es letztlich zulassen, dass ihre Arbeitnehmer/innen für sich sorgen. Soll heißen: Da Organisationen keine herrschaftsfreien Räume sind, sondern Räume, in denen um einen Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital gerungen wird, stehen Arbeitnehmer/innen vor der Aufgabe, Selbstfürsorgepraktiken zu wählen, die unter den Bedingungen einer ungleichen Machtverteilung greifen.

Arbeitgeberpraktiken Jenseits der individuellen Fürsorge für Arbeitnehmer/innen zum Beispiel durch ihre Vorgesetzten verfügen Arbeitgeber über institutionelle Fürsorgepraktiken, die allerdings alle mehr oder weniger ambivalent sind.

Zielvereinbarung Diese Form indirekter betrieblicher Steuerung setzt eine hohe Selbsterkenntnis der Arbeitnehmer/innen voraus: Nur diejenigen Arbeitnehmer/innen, die genau wissen, welche Ressourcen sie für bestimmte Leistungen benötigen, und überzeugend darstellen können, dass sie mindestens diese Ressourcen benötigen, können mit realistischen Vereinbarungen rechnen. Aber: Der Hintergrund der Vereinbarungen ist die Antizipation dessen, was von Arbeitnehmern/innen unausgesprochen erwartet wird, wenn sie institutionell anerkannt sein wollen. Bedienen Arbeitnehmer/innen diese Erwartung, ist die Zielvereinbarung unmerklich zu einer indirekten Zielsetzung geworden. Erreichen sie die in der Regel „herausfordernd formulierten“ (hohen) Ziele, steigt unausgesprochen die Erwartung an die nächsten Ziele. Bleiben Arbeitnehmer/innen hinter ihren deklarierten Zielen zurück, sind Erklärungen verlangt, wobei Arbeitgeber, repräsentiert durch Vorgesetzte, oft nicht akzeptieren, dass Arbeitnehmer/innen externe Hindernisse angeben. Stattdessen wird – Stichwort: „Eigenverantwortung“ – eine internale Ursachenzuschreibung erwartet, was Schamangst mobilisiert.

Überlastungsanzeige Dies ist ein Instrument, Vorgesetzte darauf hinzuweisen, dass die professionell gebotene Qualität der Arbeit aufgrund von zu hohen Belastungen nicht länger gewährleistet ist. Arbeitnehmer/innen werden daraufhin nicht von ihrer Arbeit entbunden; indem sie ihre Überlastung anzeigen, weisen sie aber auf ihre gesundheitliche Gefährdung und damit – aus der Perspektive des Arbeitgebers – auf ein mögliches Haftungsrisiko hin, das entsteht, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, Sicherheitsstandards einzuhalten. Arbeitnehmer/innen nutzen das Instrument aber nur zögernd, wenn sie befürchten müssen, dass Vorgesetzte es gegen sie selbst wenden, indem sie den Verdacht schüren, diese seien den Aufgaben nicht gewachsen.

Gesundheitszirkel Gesundheitszirkel sind Einrichtungen in Organisationen, die sich als lernende Organisationen verstehen. Organisationen lernen, indem ihre Mitglieder eine forschende Haltung gegenüber ihrer Praxis einnehmen: So sammeln Arbeitnehmer/innen in den Positionen, die sie bekleiden, tagtäglich Erfah6

rungswissen, das verloren geht, wenn es nicht systematisch aufbereitet wird. Um Arbeitgebern und / oder Arbeitnehmer/innen zu nützen, muss dieses Wissen evaluiert, gespeichert und immer wieder neu in Umlauf gebracht werden. Gesundheitszirkel dienen einer solchen Systematisierung mit der erklärten Absicht, physische und psychische Gesundheit gefährdende Arbeitsbedingungen zu reduzieren. Ob ein Gesundheitszirkel dies tatsächlich leistet, hängt nicht zuletzt davon ab, ob er in der Erfüllung seiner Aufgabe frei ist oder lediglich eine Alibifunktion hat.

Selbstfürsorge als lebensgeschichtlich erworbene Kompetenz Psychologisch betrachtet ist Selbstfürsorge die Kompetenz, mehr oder weniger effektiv für die eigene physische und psychische Gesundheit zu sorgen, ob im Privatleben oder im Berufsleben. Diese Kompetenz hat lebensgeschichtliche Wurzeln. Konstitutionslogisch formuliert ist die Selbstfürsorge von Erwachsenen ein Niederschlag ihrer Erfahrungen, wie fürsorglich sie als Kind und Jugendlicher von ihren signifikanten Bezugespersonen behandelt worden sind. Die Selbstfürsorgepraktiken, die sie dabei entwickeln, sind zuallererst habituell und das heißt: vorreflexiv. Im Laufe des Lebens werden diese Praktiken dann mehr oder weniger reflexiv. Als entwickelte Kompetenz umfasst die Selbstfürsorge ein Repertoire verschiedener Praktiken, zwischen denen eine Person wählen und die sie je nach Situation und Erfolgsaussicht modifizieren kann. Arbeitsplatzbezogene Selbstfürsorgepraktiken sind so gesehen Varianten von Praktiken, die für die gesamte Lebensführung einer Person gelten.

„Selbstfürsorge (ist) manchmal nicht so ganz selbstverständlich mit in die Wiege gegeben. Also Selbstfürsorge heißt für mich als erstes Mal, dass ich es gut mit mir meine und ich ein Stück dem auf die Spur kommen muss, wo ich destruktiv mir selbst gegenüber bin. Insoweit finde ich, ist die Selbstfürsorge immer auch ein Punkt der Selbstreflexion. […] Es gibt Menschen, die wissen immer, wo sie irgendwie gut rauskommen und –. Aber für die anderen finde ich es als etwas ganz Wichtiges, an dem Punkt immer mal wieder zu sich hinzugucken, wie gut meine ich es eigentlich mit mir und welche Wurzeln meiner Geschichte oder was an der jetzigen Situation ist dem gegenläufig, da immer wieder in die Reflexion zu gehen. Insoweit ist Reflexion aus meiner Sicht schon Selbstfürsorge.“ (F2)

Selbstfürsorge ist aber nicht nur eine Kompetenz, sondern zuvorderst eine Einstellung und mehr noch: ein bestimmter Wert. Das zu betonen, ist wichtig, weil es sonst so aussehen könnte, als würden Arbeitnehmer/innen nichts anderes im Sinn haben, als sich (am Arbeitsplatz) physisch und psychisch gesund zu halten. Gesundheit steht in Konkurrenz zu anderen Werten, mit denen sie ausbalanciert werden muss. Eine Haltung wie die einer „interessierten Selbstgefährdung“ macht das deutlich. Gemeint sind Arbeitnehmer/innen, die sich sehenden Auges dafür entscheiden, ihre physische und / oder psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu riskieren, um etwas zu gewinnen, was ihnen – zumindest hier und jetzt – als wertvoller erscheint: z. B. Anerkennung von Vorgesetzten zu erhalten und Karriere zu machen. Die Beurteilung einer solchen Entscheidung ist alles andere als einfach. Denn es sind Selbsttäuschungen denkbar. Dann erkennen Arbeitnehmer/innen vielleicht gar nicht die Wahlmöglichkeiten, die sie – zumindest aus der Perspektive eines unvoreingenommenen Beobachters – haben. Oder sie glauben fälschlicherweise, sich frei zu entschieden, obwohl sie mit ihrer Entscheidung – in der Beobachterperspektive – lediglich ihre Konfliktscheu rationalisieren. 7

Klassifizierung von Selbstfürsorgepraktiken Ein Ziel unserer Untersuchung ist es, zu rekonstruieren, was die Supervisoren/innen unter Selbstfürsorge verstehen, welche Selbstfürsorgepraktiken sie bei den Arbeitnehmern/innen, die sie supervidieren, vorfinden und welches Verständnis von Selbstfürsorge deren Praktiken nahe legen. Da sich diese drei Aspekte nicht leicht trennen lassen, sollen sie auch integriert behandelt werden. Unsere Rekonstruktion zielt deshalb auf Erfahrungsbestände der Supervisoren/innen, die wir als „subjektive Theorien der Selbstfürsorge“ konzipieren. Dabei meint „Theorie“, dass die Erfahrungsbestände mehr oder weniger geordnet sind, und „subjektiv“, dass sie eine mehr oder weniger idiosynkratische Evidenz besitzen (was freilich die Bezugnahme auf professionelle und wissenschaftliche Erkenntnisse keineswegs auszuschließen braucht). Im Folgenden seien vier solcher subjektiven Theorien vorgestellt, die weitgehend das rekonstruierte Spektrum abdecken. Bei allen Differenzen überwiegt eine Familienähnlichkeit, die aus ähnlichen Beobachtungen aufgrund ähnlicher Beobachtungsperspektiven resultieren dürfte. Vor allem darin sind sich die befragten Supervisoren/innen einig:  Selbstfürsorgepraktiken haben nicht nur einen Nutzen, sondern auch Kosten, die von den Arbeitnehmern/innen, die sie praktizieren, oft übersehen werden.  Die Selbstfürsorgepraktiken eines/er jeden einzelnen Arbeitnehmers/in treffen auf die Selbstfürsorgepraktiken aller anderen Arbeitnehmer/innen, woraus folgt, dass der Nutzen einer Praktik mit davon abhängt, in wieweit die Praktiken der Kollegen/innen mit bedacht werden.  Individuell erfolgreiche Selbstfürsorgepraktiken sind nicht per se sozialverträglich.  Es lassen sich verschiedene Typen unterscheiden, auch wenn sie nicht trennscharf sind:



+ Ausgleichen + real oder mental Aussteigen + aktiv oder passiv Widerstand leisten + Arbeitsbedingungen verändern

 Wer welche Praktik wählt, hängt auch von der Persönlichkeit, dem Geschlecht und von der Generation der Arbeitnehmer/innen ab.

Supervisorin F4 Die Supervisorin stellt Selbstfürsorge in einen normativen Kontext. Nur in Arbeitsverhältnissen, in denen Selbstfürsorge „nicht [als] unanständig“ gilt, ist sie auch zu erwarten. Als Beispiel für Organisationen, in denen es an einer solchen Unterstützung fehlt, nennt sie kirchliche Organisationen. Dort haben die Arbeitnehmer/innen „einen hohen Anspruch an Fürsorge der Organisation“, dagegen ist „das Bewusstsein unterentwickelt“, für sich selbst zu sorgen. Dieser Anspruch an Fürsorge ist so hoch, dass er gar nicht erfüllt werden kann. Als Folge entsteht ein Organisationsklima, in dem ein „Jammerton“ herrscht, der dem ständigen „Gefühl“ der Arbeitnehmer/innen entspricht, „da ist zu wenig“. Diese Dau8

erklage erweist sich aber nicht selten als eine Rationalisierung, mit der Arbeitnehmer/innen eine geringe Leistungsbereitschaft verdecken: „Also da sind schon Leute dabei, die in einem Maße nicht mehr wahrnehmen sozusagen, dass sie eine bezahlte Tätigkeit haben zum Beispiel (lacht).“ Das Lachen und die gedrechselte Formulierung lassen vermuten, dass die Supervisorin an ein Tabu rührt. Es besteht ihrer Wahrnehmung nach darin, dass Minderleistungen nicht sanktioniert werden: „vor allen Dingen verblüfft, dass denen ganz viel-, einfach oft diesen Menschen ganz und gar nichts passiert“. So gesehen erscheinen Erwartungen an Selbstfürsorge in den kirchlichen Organisationen, in denen sie supervisorisch tätig ist, als ein unzumutbarer Verzicht auf eine Fürsorge, die genau genommen die Erwartung einer Schonhaltung ist. Damit suchen solche Organisationen außen vor zu halten, was in Unternehmen an der Tagesordnung ist: Selbstfürsorge, um sich vor Überlastung zu schützen, weil Fürsorge nicht zu erwarten ist. Selbstfürsorgepraktiken des Ausgleichens liegen vor, wenn Arbeitnehmer/innen etwas tun, was ihre Belastbarkeit erhöhen soll. Dazu gehören Ausgleichssport, die Pflege von Hobbys sowie Geselligkeit, denn „Leute, die so viel arbeiten, die verarmen ja im sozialen System“. Alle diese Maßnahmen stehen unter dem Motto „’es gibt ja noch was anderes im Leben als Arbeit’“. Als Belastungsausgleich bleiben sie aber auf die Arbeit bezogen, mithin instrumentell. Deshalb besteht auch die Gefahr, dass es kein echter Ausgleich ist: „wenn sie dann anfangen, Marathon zu laufen, ist das mehr vom selben“. Bei den Selbstfürsorgepraktiken des Aussteigens gibt es reale und mentale Varianten. Real heißt zu versuchen, von einem Gesundheit gefährdenden Arbeitsplatz weg zu kommen, ergo: versetzt zu werden oder sogar zu kündigen, mit dem Ziel, „irgendwie Nischen [zu] finden oder Orte [zu] finden, wo sie mit ihren Werten oder ihrer Idee oder so was oder mit ihrem Können einen Beitrag leisten oder zumindest nicht krank werden oder –, also irgendwie so was.“ Aussteigen will vorbereitet sein. Eine Form der Vorbereitung ist es, sich in der Freizeit weiter- und fortzubilden, mithin eine „weitere Qualifikation“ zu erwerben, die „sie auch unabhängiger [vom vorhandenen Arbeitsplatz] macht“. Mental heißt dagegen, die Bedeutung der Arbeit und mit ihr auch den Arbeitseinsatz zu reduzieren, „Dienst nach Vorschrift“ zu machen oder eine „innere Kündigung“ zu vollziehen. Oder sogar (unbewusst) in eine Krankheit zu „fliehen“. Diese ermöglicht dann zwar eine Auszeit aufgrund von Arbeitsunfähigkeit, hat aber eine gravierende Ich-Einschränkung zur Folge, die Vitalität und Lebensfreude kostet. Selbstfürsorgepraktiken des aktiven und passiven Widerstandes und der Veränderung liegen oft nahe beieinander. Denn Widerstand kann zu Veränderungen führen, auch wenn er primär defensiv angelegt ist. Veränderung geht über Widerstand hinaus, indem sich Arbeitnehmer/innen etwa bewusst und nachdrücklich dafür engagieren, dass der Arbeitgeber die Gesundheit gefährdenden Bedingungen ihrer Arbeit beseitigt. Dazu zählt auch, dass man „in den Betriebsrat geht“. Ein solcher Entschluss hat zwei Seiten: zum einen eröffnen sich Möglichkeiten, an den Arbeitsbedingungen tatsächlich etwas zu verbessern, zum anderen ist es in der Wahrnehmung der Supervisorin generell eine „produktive und gesunde Strategie“, sich aus einer „Lähmung“ zu befreien, das „Gefühl“ zu bekommen, „wieder handlungsfähig“ zu sein. Denn passiv zu verharren, trägt nicht zur Entlastung bei. Bemerkenswerterweise zählt die Supervisorin auch Praktiken wie Mobbing zu den Selbstfürsorgepraktiken, wenn auch zu den destruktiven: „es gibt auch zerstörerische [Praktiken], also wo Leute anfangen, andere Leute zu hetzen, um besser dazustehen. Ja, wo so eine Kultur entsteht, dass die Leute probieren, unbedingt auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein […] wo irgendwie es auch eine Lust gibt, also einfach für sich zu sorgen und nicht mehr, dass der Betrieb funktioniert. Und das, glaube ich, tut weder den Leuten im Prinzip gut […] dem Betrieb natürlich auch nicht.“ So gesehen ist Selbstfürsorge dann destruktiv, wenn sie auf Kosten anderer Arbeitnehmer/innen oder der gesamten Organisation geht, also nur im eigenen Interesse erfolgt, mithin a-sozial ist. 9

Zudem vermutet die Supervisorin, dass solche sozial unverträglichen Praktiken letztlich auch selbstdestruktiv sind. Insofern gilt es, bei der Evaluation von Selbstfürsorgepraktiken nicht nur die Kosten für das soziale System der Arbeitnehmer/innen zu berücksichtigen, sondern auch die Kosten für sie selbst. So können sich Arbeitnehmer/innen zu entlasten suchen, indem sie ihre Arbeitszeit „abbummel[n]“, ohne an die möglichen Folgen zu denken, die dies für sie selbst haben kann: „Aber den Menschen geht es im Prinzip nicht gut dabei, weil sie gerne engagiert arbeiten und also auch gerne im Sinne gemeinsamer Ziele von einer Organisation arbeiten.“ Die A-Sozialität destruktiver Selbstfürsorgepraktiken kann auf eine geschickte Vorteilsnahme reduziert sein, wie sie von der Supervisorin als bewundernswerte Fähigkeit beschrieben wird, die Arbeit an andere zu delegieren: „also ganz unauffällig für seine eigenen Interessen sorgen und dabei gut aussehen (Supervisorin und Interviewer lachen). Also der [bestimmte Arbeitnehmer] hat eine gute Art (lacht), dass zum Beispiel andere gerne Arbeiten für ihn übernehmen, und er aber als derjenige dasteht, der immer ruhig und zufrieden [ist], wie der das alles hinkriegt (lacht). Ich finde, das ist ein gelungenes Beispiel für Selbstfürsorge. Wenn man eine von denjenigen ist (lacht), denen er dann (…) sozusagen [die Arbeit] zugetragen hat, ist das nicht witzig, also im Prinzip (lacht) finde ich das –.“ Die Selbstdestruktion hat einen geschlechtsspezifischen Aspekt: In der Wahrnehmung der Supervisorin neigen Männer dazu, sich selbst zu schädigen, indem sie „Alkohol“ als „Entspannungsform“ wählen. Selbstschädigend ist es letztlich auch, dass sie Selbstfürsorge „mit Geld verwechseln. Also Selbstfürsorge in dem Sinn, dass sie dann finden –, also mit Macht und Geld. Und das hat oft gesundheitliche Konsequenzen. […] ‚Ja, und ich strenge mich für Geld und Macht an, so. Und das genieße ich dann auch und Statussymbole und Einfluss und eine Reputation.’“ Wenn man hohe Belastungen auf sich nehmen muss, um diese sichtbaren Zeichen des Erfolges zu erwerben, können sie aber gar nicht mehr genossen werden. Frauen sind dagegen verführbar, sich zu „verausgaben“, wenn es dazu dient, „dieses Gesamtsystem-, das gut aufrecht zu erhalten. Das ist so, das macht Spaß, das ist aber auch anstrengend, und die Frage, ‚was brauche ich denn jetzt gerade’, sich die Frage zu stellen und das zu überlegen, das ist richtig schwer.“ Eine konstruktive Selbstfürsorge verlangt einen Verzicht auf soziale Anerkennung, wenn sie Arbeitnehmer/innen in die Überlastung treibt: „Also den Kick, den das gibt, wenn man gefragt wird und irgendwie da noch und da noch und da noch, das ist natürlich klasse. Und irgendwann ist aber so wie Drogen, das ist irgendwann zu viel und man es zuviel hat, dann macht es einmal klick [und man wird krank].“ Denn soziale Anerkennung kann es gerade für einen Arbeitseinsatz geben, der die Gesundheit riskiert, was es schwer macht, davon zu lassen:

„Oder mit dem einen habe ich [in der Supervision] daran gearbeitet, dass er es aushält, dass die anderen noch da sitzen. Und wenn er das machen könnte und was er mit den Anfeindungen macht, dass er sagt ‚und trotzdem’, und wenn es erst mal einen Tag in der Woche ist oder so (lacht). Weil, das hat ja zum teil groteske Ausmaße, also da kommen Leute um sieben und gehen abends um zehn wieder.“

Wenn alle Arbeitnehmer miteinander konkurrieren, indem sie einander ihre Belastbarkeit demonstrieren, wird derjenige, der sich dieser Konkurrenz entzieht, angefeindet, vielleicht aus Neid, weil er sich etwas erlaubt, was sie sich verbieten. Diese Anfeindungen heißt es zu ertragen und damit gleichzeitig den Verlust von Zugehörigkeit. Generell macht dieses Beispiel deutlich, dass Arbeitnehmer/innen, die für ihre Gesunderhaltung sorgen, unter Beobachtung stehen und beileibe nicht ohne soziales Risiko tun und lassen können, was sie wollen.

10

Supervisorin F6 Die Supervisorin beklagt, dass viele Arbeitnehmer/innen nur die Risiken der Flexibilisierung sehen und nicht die Chancen. Sie selbst sieht „Risiken und Chancen“: „Und diese Flexibilisierung, die auf dem Arbeitsmarkt ist, finde ich, müssten die Menschen selber auch aufnehmen, ohne daran zu scheitern, das ist die hohe Leistung.“ Die Nutzung von Chancen hängt ihrer Wahrnehmung nach auch von den „Persönlichkeiten“, mithin von förderlichen oder hinderlichen Persönlichkeitsmerkmalen ab. Zu denen zählt sie an oberster Stelle eine illusionslose Beurteilung des Verhältnisses von Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen:

„Also viele rechnen ja eigentlich –, haben irgendwie doch noch das Gefühl, Arbeitgeber wollen doch was Gutes mit mir, oder das kann doch gar nicht wahr sein […] dass strategisch was gegen [mich] läuft.“

Diese Illusion führt dazu, dass Arbeitnehmer/innen drohende Überlastung „nicht früh genug wahr(nehmen)“ oder sogar „denken, sie könnten jetzt die Organisation retten oder sie müssten Wunders was noch alles –, noch mehr arbeiten und noch mehr arbeiten, und dann könnte das doch so bleiben [wie es ist].“ Allerdings fällt es oft schwer, gute Vorsätze, für sich zu sorgen, auch konsequent durchzuhalten: So berichtet sie von einem Arbeitnehmer, der gerade, als er sich durchgerungen hat, eine dringend erforderliche Kur zu beantragen, von seinem Arbeitgeber die Gratifikation einer Beförderung erhält und dadurch erneut unter psychischen Druck gerät:

„jetzt überlegt er, ‚kann ich mir jetzt ja eigentlich nicht leisten. Also jetzt habe ich so eine Bestätigung bekommen, jetzt kann ich mir das nicht leisten’. Ja, nur die Frage ist, ‚wie geht das weiter’? Also er beutet sich ständig aus und ist jetzt schon weit über das Limit gegangen, und der Arbeitgeber, ja, fördert das ja eigentlich. Und ich habe ihm jetzt den Tipp gegeben noch mal, wenn er gerade jetzt auch höher gestiegen ist, ist es doch die Möglichkeit, mit dem Arbeitgeber das ganz offen anzusprechen so in dem Sinne, dass ‚Sie möchten ja sozusagen auch meine volle Arbeitskraft, und ich möchte gerne fit hier auch fit und gesund sein und die volle Arbeitskraft einbringen, und dafür ist es aber notwendig, dass ich jetzt das und das mache.’“

Alle Versuche, auf ihre Arbeitsbedingungen aktiv Einfluss zu nehmen, entheben die Arbeitnehmer/innen aber nicht der Aufgabe, „ihr Profil zum Beispiel auch neu [zu] entwickeln“, ohne den Anspruch auf „sinnvolle Arbeit“ aufzugeben: „Es muss erkennbar sein, dass es eine wichtige Arbeit ist oder dass es ein wichtiger Platz in einem Ablauf oder so“. Selbstfürsorge heißt in diesem Sinne nicht, dafür zu sorgen, dass man sich selbst nicht verändern muss, sondern, dass man auf reflektierte Weise flexibel bleibt: „zu gucken, wie weit gebe ich mich da [in eine belastende Arbeitssituation] rein und ab wann schütze ich mich, ab wann wird es sozusagen destruktiv, was da läuft“. Folglich heißt es, „sensibel sein auch für Anfänge von Erschöpfung“. Zudem betont die Supervisorin als eine notwendige Fähigkeit den konstruktiven Umgang mit Enttäuschungen, mithin, sich nicht so leicht entmutigen zu lassen:

„Man rechnet damit, dass –, man ist flexibel, das heißt, ich versuche es, ich versuche, das Beste rauszuholen für mich, wenn es nicht gelingt, bin ich aber nicht sofort geschei-, scheitere ich nicht sofort, sondern, okay, dann habe ich vielleicht die falsche Strategie überlegt, dann überlege ich mir eine neue Strategie. Das ist diese Flexibilisierung, die, glaube ich, notwendig ist in der neuen Zeit.“

Zu den Schutzfaktoren, die dazu beitragen, dass „jemand nicht untergeht in der Arbeitswelt“, zählt sie: 11

„eine gute Partnerschaft […] oder, ja, also eine gute Bindung in soziale Systeme“ und – damit einhergehend – eine bewusste Rhythmisierung des Alltagslebens: „Inseln schaffen am Tag, in der Woche, im Monat, Sachen blocken, also Zeiten blocken und wirklich was anderes tun […] also zum Beispiel den Tag unterbrechen, indem man jetzt rausgeht, sich bewegt, also noch mal was ganz anderes macht. Also nicht jetzt Essen gehen mit den Kollegen, sondern rausgehen, bewegen, sich bewegen. Oder in der Woche eben einen Abend blocken. Um, was weiß ich, mal Kultur oder Kino oder so. Oder einen Vormittag später anfangen, also das ist auch so eine Strategie, die ich jetzt ein paar Mal miterlebt habe, später anfangen und morgens erst mal ganz in Ruhe beginnen, nicht schon um acht Uhr oder um sieben Uhr auf der Arbeit sein, sondern um zehn, weil die Flexibilisierung ermöglicht ja –.“

Supervisorin F14 Wie die meisten anderen so betont auch diese Supervisorin die Notwendigkeit, die Ursachen der Belastungen richtig zu erfassen und sich nicht als persönliche Probleme zuzuschreiben, was strukturelle Probleme sind: so stärkt es ihre „Abwehrkräfte“, wenn Arbeitnehmer/innen wissen, „es liegt nicht an mir“. Allerdings „schützt“ dieses Wissen „natürlich nur begrenzt, es schützt nur begrenzt, aber es hat so ein bisschen was, na ja, die Karawane zieht auch schon mal weiter“. Dabei ist vor allem realistisch zu sehen und mit der daraus folgenden Enttäuschung umzugehen, dass ein „Rückzug der oberen Führungskräfte“ stattfindet, was zu einer Diffusion der Verantwortung führt: „Früher hatte ich noch einen Vorgesetzten, mit dem konnte ich noch reden, heute heißt es, es ist keiner da, sieh zu, wie du klar kommst.“ Dadurch „fehlt häufig, also dieses Gefühl, einen Rückhalt auch zu haben, dass im Zweifelsfalle auch jemand mal vor mir steht und nicht nur hinter mir und dann weit weg ist.“ Damit zu rechnen heißt, nicht blind zu vertrauen, sondern vorsichtig zu werden, zum Beispiel in Zielvereinbarungsgesprächen. Denn in diesen Gesprächen „(muss) mit dem Gegenüber [dem Vorgesetzten] auch über die Realisierbarkeit [von Zielen] gesprochen werden“. Und da machen die Arbeitnehmer/innen oft die desillusionierende Erfahrung, „plötzlich ist da ein merkwürdiger Leerzustand, die kriegen keine Antworten“. Unter diesen Bedingungen kommt es darauf an, „das Gegenüber [den Vorgesetzten] zu zwingen, Verantwortung zu übernehmen“. Insgesamt zeigt sich die Supervisorin aber eher skeptisch. Es geht „nicht nur“ um die Frage, „wie hält man so was aus, sondern wie lange“. So steigt die „Wechselwilligkeit, da könnte man sagen wie die Bremer Stadtmusikanten ‚Was Besseres als das gibt es überall’ (lacht).“ Verwunderlich ist aber, dass das oftmals dann doch nicht geschieht: „man kommt nicht weg“. Die Supervisorin vermutet, dass es – je nach persönlicher Geschichte – schwer fällt, auf die ersehnte und verdiente Anerkennung zu verzichten und sich einzugestehen, dass es „kein Mittel (gibt), es [das Arbeitsleid] wirklich abzustellen, es zu verhindern“. Aus dieser „Hilflosigkeit und Ohnmacht“ resultiert „Aggression, die nach der Seite geht“, also vorrangig die Kollegen/innen trifft, „weil die oben kann man nicht treffen und die unten nicht verändern. Die unten sind die Klienten, die oben sind die, die die Anforderungen stellen.“ So fühlen sich Arbeitnehmer/ innen genötigt, Arbeitsbedingungen mit aufrecht zu erhalten, obwohl sie nicht zu verantworten sind: 12



„Einfaches Beispiel, eine Nachtwache in einer stationären Jugendhilfe, die mit schwerst geschädigten, verhaltensauffälligen Kindern arbeitet, mit einer Person zu besetzen, ist im Grund genommen heller Wahnsinn, zwei werden nicht bezahlt.“

Sensibilität wird unter solchen Bedingungen eher als Schwächung erlebt: „Also ich sag mal, ‚wer dumm und ignorant ist, hält das leichter aus’.“ Oder sachlicher formuliert: „Das Ausmaß der eigenen Kränkbarkeit macht, glaube ich, eine erhebliche Auswirkung auf die Frage der gesundheitlichen Belastung.“ Die „Dinge nicht so persönlich zu nehmen“, ist freilich leichter gesagt als getan, eben weil die eigene Kränkbarkeit nur reduziert werden kann, wenn man unsensibel wird. Hinzu kommt, dass man bei belasteten Arbeitnehmer/innen „richtig merken (kann), wie die energetisch den Bach runter gehen“ und dann „sinkt auch die Reflexionsfähigkeit“.

Supervisorin F8 Die Supervisorin begreift Selbstfürsorge als Bewältigung verschiedener fundamentaler Probleme des Arbeitslebens:

„Wie bekomme ich das, was im Arbeitsalltag von mir abverlangt wird, so geschafft, dass ich auch noch für das Leben außerhalb der eigenen Organisation Kraft und Lust und Energie habe? […] Wo setze ich Grenzen? […] Wie gehe ich mit Zeit um, wie kann ich meine Kompetenzen so einsetzen, dass eine Berufszufriedenheit entsteht?“

Ihrer Auffassung nach bedarf es dazu generell einer Flexibilität, die davor schützt, in ineffektive Routinen zu verfallen, aber auch nicht übertrieben wird, sondern dazu dient, das zentrale Kriterium einer ausbalancierten Lebensführung zu verwirklichen:

„Also die Frage ist immer, wie starr oder flexibel geht man mit den Anforderungen, die auf einen zukommen, um. Und die Selbstfürsorge, da gehört für mich auch zu, dass man eine gewisse Flexibilität sowohl in dem, was einem auf der Arbeit abverlangt wird, aber auch in den anderen Bereichen, die das Leben noch ausmachen, also Kultur, Familie, Freunde, Sport und so etwas, dass das flexibel handhabbar ist, aber insgesamt ausgewogen ist.“

Als optimalen Zustand beschreibt sie ein „Gleichgewicht“ zwischen dem, was „man der Organisation oder dem Arbeitsplatz geben muss“ und einem Leben als Person, die sich nicht auf eine „Identifizierung mit [ihrem] Arbeitsverhältnis“ reduzieren lässt, sondern „darüber hinaus“ geht. Sie weiß, dass dies für Arbeitnehmer/innen, die selbstbestimmt arbeiten, leichter „austarierbar“ ist, als für fremdbestimmte Arbeitnehmer/innen: „Wenn ich also sehr fremdbestimmt in dem bin, was ich in meiner Arbeit tun muss, dann fällt das mit der Selbstfürsorge auch schwerer, da muss ich da sehr viel mehr Kraft reinsetzen.“ Aber auch denen bieten sich Möglichkeiten. Generell kritisiert sie, dass oftmals vorschnell eine mangelnde Fürsorge des Arbeitgebers eingeklagt und dadurch von der Unwilligkeit abgelenkt wird, selbst aktiv zu werden:

„dass viele eben an dem Punkt auch noch Lernprozesse machen müssen, weil sehr oft immer bei Konflikten sehr schnell –, oder in problematischen Situationen sehr schnell der Ruf nach der Für13

sorgepflicht des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten kommt. Und wenn man dann da ein bisschen hinterguckt, dann ist das sehr oft nicht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten, die da nicht funktioniert, sondern es ist die Erwartungshaltung. Dass der- oder diejenige ein bisschen retten möge, weil das noch nicht voll verinnerlicht ist, dass ich auch in einem großen Rahmen selbst für mich da sorgen kann.“ So wird ihrer Auffassung nach auch der Personalrat oft zu früh eingeschaltet, um nicht selbst die Verantwortung für das eigene Wohlergehen am Arbeitsplatz zu übernehmen: „ich delegiere da also eine, ja, Sorgeleistung an jemand Dritten“. Sie betont, dass die Übernahme dieser Verantwortung auf der einen Seite des Mutes bedarf, sich dem bestehenden Gruppendruck zu verweigern:

„Und da kommt das dann eben vor, dass da eben Mails dann kommen und man sieht bei einem Mail am nächsten Tag, der hat die um 0:40 Uhr geschrieben, und fragt sich, hat der nichts Besseres zu tun. Und sich dann nicht anstecken lassen, sondern seinen eigenen Rhythmus in der Arbeit zu finden.“

Auf der anderen Seite bedarf es aber auch der sozialen Unterstützung, um etwas bewirken zu können.

„ich suche mir Verbündete, die mit mir daran arbeiten, dass das abgestellt wird. […] sich nicht bis zur Erschöpfung versuchen an Sachen, die man alleine gar nicht bewegen kann.“

Von Vorgesetzten, aber auch von Kollegen/innen wird zu wenig darauf geachtet, dass man sich nicht überfordert. So ist Burnout von Arbeitnehmer/innen ihrer Auffassung nach immer auch das Ergebnis einer mangelnden Bereitschaft, sich in deren Angelegenheiten einzumischen: „Dass man [ihnen] also sagt, ‚jetzt ist hier mal Schluss’“, kommt nur selten vor. Vor allem werden „Loyalitätsprobleme gegenüber Arbeitskollegen“ vermieden, die entstehen, wenn man sie „anscheißt“, weil sie ihre Überlastung und die oft daraus resultierenden Sicherheitsrisiken nicht öffentlich machen. Statt offensiv und konfliktbereit mit solchen Situationen umzugehen, überwiegt „passiver Widerstand“ – „nicht weiter mitmachen wollen […] und auflaufen lassen, und, ja, business as usual und so.“ Wenn „Selbstfürsorge […] ein Stück weit sich in Verweigerung ausdrückte“, dann meist dann, wenn „die Einzelnen daran gezweifelt haben, dass das, was sie jetzt in ihrem konkreten Arbeiten tun, sinnvoll ist“. Passiver Widerstand vermag die Sinnentleerung aber nicht zu überwinden, sondern er vertieft sie, und ist deshalb ihrer Auffassung nach auch nicht lange durchzuhalten, da die Arbeitnehmer/innen ein Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit haben, das früher oder später auf Befriedigung drängt:

„Aber dann kommt meistens so ein Satz wie ‚Aber eigentlich kann ich das nicht, weil ich habe meinen Kopf nicht nur zum Haare schneiden, sondern ich habe auch noch irgendeine andere Motivation.’“

Und dann heißt es, „entweder darum zu kämpfen, dass man da [unter verbesserten Arbeitsbedingungen in der Organisation] bleiben kann, oder sich eine Alternative zu schaffen, also sprich, sich neben der Arbeit eben diesen ganzen Stress einer Suche nach einem neuen Arbeitsplatz und Wechsel, Bewerbung und so weiter, das doppelgleisig zu fahren, was dann aber wieder auf einer anderen Ebene diese entspannende, lebensfrohe Aktivität, die Zeit dafür erheblich reduziert.“

14

Nüchtern betrachtet Fassen wir zusammen: Sehen sich Arbeitgeber immer weniger an eine Fürsorgepflicht im Hinblick auf die Schaffung oder Erhaltung gesunder Arbeitsplätze gebunden, geraten Arbeitnehmer/innen unter Druck, selbst ihre arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken zu kalkulieren und eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, welches Risiko sie eingehen wollen. In ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse tun sie gut daran, ihre Arbeitgeber nicht völlig aus dieser Pflicht zu entlassen. Die Selbstfürsorgepraktiken, die sie reflektiert oder habituell einsetzen, um sich vor arbeitsplatzbedingten Überlastungen zu schützen, wenn sie das überhaupt wollen, sind vielfältig. Den Erfolg ihrer Praktiken haben Arbeitnehmer/innen nur bedingt unter Kontrolle, da sie Teil einer sozialen Matrix wechselseitiger Einflussnahmen sind. Schließlich darf Selbstfürsorge nicht idealisiert werden, weil die Praktiken, die Arbeitnehmer/innen einsetzen, nicht zwangsläufig Solidarität befördern.

15