Sicherheit Zeitschrift für Arbeit und Soziales

Seiten 321– 360 / www.sozialesicherheit.de / 62. Jahrgang / ISSN 0490-1630 / D 6364 Sicherheit 10 2013 Zeitschrift für Arbeit und Soziales Regelsä...
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Seiten 321– 360 / www.sozialesicherheit.de / 62. Jahrgang / ISSN 0490-1630 / D 6364

Sicherheit

10 2013

Zeitschrift für Arbeit und Soziales

Regelsätze und »verdeckt Arme«: Zirkelschluss senkt Höhe des Regelbedarfs

Sozialgerichtsgesetz: Wichtige Änderungen für Praxis der Gerichte

Selbstverwaltung: Die Suche nach dem richtigen Reformweg

Gewerkschaften: Wie Selbstverwaltung zur Revitalisierung genutzt werden kann Für Sie beigelegt:

Bessere Gesundheitsversorgung durch aktive GKV-Selbstverwalter

Inhalt

Position

Selbstverwaltung

324

Annelie Buntenbach

325

Gesundheit

Trotz aller Kritik: Die soziale Selbstverwaltung kann vieles leisten und bewirken. Das zeigen hier drei Beispiele, bei denen Selbstverwalter von Krankenkassen für eine bessere Versorgung der Versicherten gesorgt haben: beim Krankengeld, bei Hörgeräten und bei der betrieblichen Gesundheitsversorgung. Außerdem geht es im Titelthema um die anstehende Reform der Selbstverwaltung: Was meinen Parteipolitiker? Was sagt die Bundesregierung? Wie können Gewerkschaften die Selbstverwaltungen zu ihrer eigenen Revitalisierung nutzen?

Kurswechsel in der Sozialpolitik notwendig

Angelika Beier Initiative der IG Metall-Selbstverwalter:

Für ein versorgungsorientiertes Krankengeldfallmanagement 330

Günter Güner

334

Bert Römer

339

Hans Nakielski

Selbstverwalter setzen höhere Hörgeräte-Festpreise durch

IKK classic: Versichertenvertreter sorgen für betriebliches Gesundheitsmanagement in Handwerksbetrieben

Die Suche nach dem richtigen Reformweg Tagung im BMAS zu Perspektiven der Selbstverwaltung

341

Hans Nakielski Kleine Anfrage zur Reform der Selbstverwaltung:

Bundesregierung lässt die meisten Fragen offen 343

Jendrik Scholz Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Revitalisierung nutzen:

Beteiligung der Gewerkschaften an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen Soziales

Recht

348

Rudolf Martens

354

Ulrich Wenner

356

Ulrich Wenner BVerfG zum Hartz-IV-Anspruch von »unechten« Stiefkindern:

»Verdeckt Arme« und die Festlegung der Regelsatz-Höhe

Mehrere Neuregelungen für das sozialgerichtliche Verfahren

Einstandspflicht des Partners einer Bedarfsgemeinschaft für die Kinder des anderen?

Nachruf/ Impressum

358

Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mussten die Regelsätze 2011 neu festgesetzt werden. Doch auch die neuen Sätze sind strittig – und werden erneut vom Verfassungsgericht geprüft. Problematisch erscheint u. a. die Abgrenzung der Bezugsgruppe, nach deren Ausgabemöglichkeiten die neuen Sätze bestimmt werden. Zu dieser Gruppe gehören auch die »verdeckt Armen«. Hier wird beleuchtet, wie durch ihre Einbeziehung die Höhe des Regelsatzes nach unten gezogen wird.

Das Gesetz zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen (BUK-NOG) ist zwei Tage vor der Bundestagswahl doch noch verabschiedet worden. Es enthält auch wichtige Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes. Sie betreffen vor allem die ehrenamtlichen Richter bei den Sozialgerichten.

Zum Tod von Klaus Hofemann/ Impressum

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Position

Neue Bundesregierung: Kurswechsel in der Sozialpolitik notwendig Das Ergebnis der Bundestagswahl erzwingt schwierige Koalitionsverhandlungen. Noch sind die Konturen der neuen Bundesregierung nicht klar erkennbar, doch mit der Abwahl der FDP sollte vor allem eines aus der Politik verschwinden: der neoliberale Geist. Die Union – vor genau zehn Jahren mit ihrem Leipziger Programm auf dem Weg zu einer marktradikalen Partei – hat diesen Spuk offenbar erst einmal in die Schublade verbannt. Dennoch waren die vergangenen vier Jahre unter Schwarz-Gelb nicht frei von neoliberalen Kräften. Die »marktkonforme Demokratie« à la Merkel ist dafür nur ein Stichwort. Ganz praktisch zeigte sich diese Ausrichtung vor allem in der Europapolitik. Doch auch sozialpolitisch gab es handfeste Ergebnisse: So sollte die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) radikal in ein unsolidarisches Kopfpauschalen-System umgewandelt werden. Der Protest war enorm: Der DGB schmiedete in kürzester Zeit das Bündnis »Köpfe gegen Kopfpauschale« – und so konnte zumindest ein Systemwechsel vermieden werden. Herausgekommen sind aber dennoch kleine Kopfpauschalen, euphemistisch »einkommensunabhängige Zusatzbeiträge« genannt. Der Arbeitgeberbeitrag wurde eingefroren, so dass künftige Mehrbelastungen allein die Versicherten der GKV treffen. Mit einer Beitragserhöhung um satte 0,6 Prozentpunkte versuchte Schwarz-Gelb, dieses Szenario zu kaschieren. Die Kanzlerin hatte Glück, denn die positive konjunkturelle Entwicklung hat eine flächendeckende Ausbreitung der kleinen Kopfpauschalen bis heute verhindert. Ähnlich in der Renten- und Pflegepolitik: Statt die Pflegeversicherung anständig auszustatten und den Pflegebedürftigkeitsbegriff zu modernisieren – geschweige denn umzusetzen –, wurde der »Pflege-Bahr« eingeführt. Sachlich sinnfrei hat Schwarz-Gelb damit eine weitere neoliberale Wegmarke hinterlassen – nach der ernüchternden Erfahrung mit der Riesterrente eigentlich kaum zu fassen. In der Rente ein ähnliches Bild: Viele Worte, doch kein Ergebnis. Das einzige, was Union und FDP zustande gebracht haben, war, den Rentenbeitrag deutlich zu senken und der Rentenversicherung an die Reserven zu gehen. Das Manöver ist zwar gesetzlich vorgegeben, war jedoch auch in der Union höchst umstritten. Letztlich siegte aber die Koalitionsdisziplin einer Regierung, die nun Geschichte ist. Sozialpolitisch waren die letzten vier Jahre verlorene Jahre. Deshalb braucht es einen Kurswechsel. Im Wahlkampf hat die Union – bekanntlich erfolgreich – auf die Botschaft »keine Experimente« gesetzt. Stillstand darf es in keinem Fall bedeuten, denn die Aufgaben – auch und vor allem in der Sozialpolitik – liegen auf dem Tisch: Pflegenotstand, Altersarmut und absehbare Finanzierungslücken in der GKV. Diese Herausforderungen erfordern klares und schnelles Handeln. Herzstück ist die neue Ordnung der Arbeit. Doch ebenso müssen wir die sozialen Sicherungssysteme zukunfts- und armutsfest machen. 324

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So erwarten wir unabhängig von einer systemischen Weiterentwicklung der GKV, dass die neue Bundesregierung die Kopfpauschale wieder abschafft. Statt dieser unsozialen und einseitigen Belastung der Versicherten fordern wir, dass der Arbeitgeberbeitrag nicht länger eingefroren bleibt, sondern die paritätische Finanzierung wiederhergestellt wird. Der DGB hat dafür ein Stufenmodell für die kommende Legislaturperiode vorgeschlagen, mit dem der allgemeine Beitragssatz sogar gesenkt werden kann, während sich das Beitragsaufkommen erhöht (s. SoSi plus 7/2013). Anders in der Pflegeversicherung: Die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird zu einer Beitragserhöhung führen müssen. Diese Mehrbelastungen haben jedoch einen beachtlichen Gegenwert, und sie können in engen Grenzen gehalten werden. Auch dafür hat der DGB im letzten Jahr ein konsistentes Konzept vorlegt. In der Alterssicherung entscheidet die nächste Wahlperiode über die Entwicklung der gesetzlichen Rente – und zwar weit über die nächsten vier Jahre hinaus. Wir wissen schon heute, dass der Rentenversicherungsbeitrag aus demografischen Gründen in einigen Jahren ansteigen muss – allerdings ohne dass die Rentenleistungen verbessert werden, wenn der Kurs nicht geändert wird. Im Gegenteil: Bekanntlich ist gesetzlich festgelegt, dass das Rentenniveau sinken soll, wodurch in Zukunft den Versicherten immer größere Belastungen und immer größere Sicherungslücken drohen. In diesem Herbst muss darüber entschieden werden, ob der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung erneut gesenkt wird. Noch schreibt § 158 SGB VI dies vor, und die gute wirtschaftliche Lage würde eine Beitragssenkung erlauben. Dann aber würde die Nachhaltigkeitsrücklage mit den Jahren leerlaufen. Noch dramatischer wird die Lage, wenn die verbesserte Anerkennung von Kindererziehungszeiten (»Mütterrenten«) auch noch – völlig systemfremd – aus der Rentenkasse bezahlt werden sollte. Dann wären ab 2016 Beitragserhöhungen fällig und die Spielräume für die notwendige Stabilisierung der Rente wären dahin. Anders nach dem DGB-Rentenmodell: Danach sollen die heutigen Rücklagen zu einer Demografie-Reserve ausgebaut werden (s. SozSich 8–9/2012). Das Prinzip: keine Beitragssatzsenkungen, sondern minimale jährliche Anhebungen, um solidarisch vorzusorgen. So können zumindest das Rentenniveau stabilisiert und die Erwerbsminderungsrente armutsfest gemacht werden. Diese erste sozialpolitische Entscheidung zum Ende des Jahres wird den Geist der neuen Bundesregierung zeigen.

Annelie Buntenbach ist Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des DGB.

Gesundheit

Selbstverwaltung

Bessere Gesundheitsversorgung durch aktive Selbstverwalter der gesetzlichen Krankenversicherung Schon viele Jahre wird über die Zukunft und notwendige strukturelle Veränderungen in der sozialen Selbstverwaltung diskutiert – auch in dieser Zeitschrift1, deren Leser/ innen zu einem erheblichen Teil in der Selbstverwaltung bei Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Rentenversicherungsträgern oder der Bundesagentur für Arbeit aktiv sind. Es gibt aus verschiedenen Richtungen Kritik an der traditionellen Institution der sozialen Selbstverwaltung und ihren Wahlen sowie an mangelnden Gestaltungskompetenzen der Verwaltungsräte oder ungenügender Professionalität der Selbstverwalter/innen. Bei aller Kritik wird aber oft übersehen, was die Selbstverwalter konkret leisten und bewirken. Schließlich arbeiten sie – leider – meist eher im Verborgenen und ihre Aktivitäten und Beschlüsse stehen nicht gerade im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Oft ist den betroffenen Versicherten deshalb gar nicht bekannt, wem sie eigentlich bestimmte Verbesserungen bei Angeboten und Leistungen ihres Versicherungsträgers zu verdanken haben. Im Folgenden werden drei Beispiele aufgezeigt, bei denen (gewerkschaftlich organisierte) Selbstverwalter/innen von Krankenkassen für eine bessere Versorgung ihrer Versicherten gesorgt haben: beim Krankengeld (s. unten), bei

Hörgeräten (s. S. 330 ff.) und bei der betrieblichen Gesundheitsversorgung (s. S. 334 ff.). Außerdem fasst das Titelthema dieser Ausgabe Aussagen der wissenschaftlichen Tagung »Ein Jahrhundert Sozialwahlen« zusammen, die am 1. Oktober vom Bundeswahlbeauftragten für die Sozialwahlen veranstaltet wurde. Dort nahmen unter anderem die Vertreter aller im letzten Bundestag vertretenen Parteien Stellung dazu, wo sie Modernisierungsbedarf bei der sozialen Selbstverwaltung und den Sozialwahlen sehen (s. S. 339 ff.). Zum Abschluss dieses Titelthemas wird in einem analytischen Beitrag untersucht, ob und wie durch die Beteiligung der Gewerkschaften an der Selbstverwaltung eine gewerkschaftliche Revitalisierung erreicht werden kann (s. S. 343 ff ). 1

vgl. zuletzt etwa Andreas Hartje/Nora Knötig/Thomas Wüstrich: Wie mehr Versichertennähe erreicht werden kann, in: SozSich 2/2013; Dieter Leopold: Bundeswahlbeauftragter will viele Neuerungen: Von »Friedenswahlen« zu »echten« Sozialwahlen, in: SozSich 10/2012; Ingo Nürnberger/ Marco Frank: Starke Selbstverwaltung gibt es nur mit starken Sozialpartnern, in: SozSich 10/2012; Günter Güner: Selbstverwaltung verteidigen und weiterentwickeln, in: SozSich 6/2012; Ingo Nürnberger/Marco Frank: Vorschläge zur Weiterentwicklung der Sozialwahlen und Stärkung der sozialen Selbstverwaltung, in: SozSich 4/2012

Initiative der IG Metall-Selbstverwalter:

Für ein versorgungsorientiertes Krankengeldfallmanagement Von Angelika Beier

9,2 Mrd. Euro gaben die Krankenkassen allein im letzten Jahr für das Krankengeld aus. Die Ausgaben für diese Kassenleistung für beschäftigte Versicherte, die länger als sechs Wochen arbeitsunfähig sind, sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Um dem Anstieg entgegenzuwirken, haben fast alle Kassen – zum Teil unter Beteiligung externer Unternehmen – ein »Krankengeldmanagement« eingeführt. Dabei wird allerdings teilweise mit zweifelhaften Methoden versucht, die Bezieher von Krankengeld zu verunsichern und aus dem Leistungsbezug zu drängen. Die in der IG Metall organisierten Selbstverwalter/innen bei den Krankenkassen haben deshalb 2011 unter dem Motto »Krankengeld mein gutes Recht« eine Initiative für ein Versorgungsmanagement und für die korrekte Gewährung und Berechnung des Krankengeldes gestartet – mit einigem Erfolg.

1. Beschwerden über das Krankengeldmanagement Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für das Krankengeld sind seit 2006 – auch wegen des steigenden Anteils älterer Arbeitnehmer/innen und der Zunahme meist langwieriger psychischer Erkrankungen – erheblich gestiegen (s. Abbildung 1 auf der folgenden Seite). Hohe, zum Teil sogar zweistellige Steigerungsraten bei den Krankengeldausgaben (s. Tabelle 1, folgende Seite)

haben dazu geführt, dass viele Kassen ihr Krankengeldfallmanagement intensiviert haben. Es zielt vorrangig darauf ab, die Dauer des Krankengeldbezugs zu verkürzen, um die Ausgaben zu senken bzw. die Steigerungsraten zu begrenzen. Dies geschieht nicht selten mit zweifelhaften, zum Teil unlauteren Mitteln. Aus Betrieben wurden vermehrt Beschwerden an die IG Metall herangetragen: • Telefonanrufe seitens der Kasse bereits nach kurzer Krankheitsdauer, die als Druck von den Krankengeldbeziehern empfunden wurden;

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Selbstverwaltung

Gesundheit

Abbildung 1: Ausgaben für Krankengeld

Darstellung GKV-Spitzenverband; Quelle: Amtliche Statistik KJ 1

• die rechtswidrige Aufforderung, Rente zu beantragen oder gar das Arbeitsverhältnis zu beenden (s. dazu auch unten 3.2); • die Einstellung der Krankengeldzahlung ohne Verwaltungsakt. Dass es sich hierbei nicht um wenige Einzelfälle handelt, bestätigen Anfragen bei Verbraucherzentralen und Sozialverbänden. Aus einzelnen Kassen liegen zudem Statistiken vor, wonach ein beträchtlicher Anteil der eingehenden Widersprüche das Krankengeld betrifft. Der Jahresbericht 2013 der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) nennt das Krankengeld als eines der zentralen Beratungsschwerpunkte. Zwischen April 2012 und März 2013 wurden die 21 UPD-Beratungsstellen in 4.761 Fällen wegen 1 2

3 4

vgl. Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD): Monitor Patientenberatung 2013, Berlin, 1. Juli 2013, S. 3 f. Geht es um die Dauer des Krankengeldanspruchs, kann die Krankenkasse das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit durch den MDK nicht »einfach so« oder aus ökonomischen Gründen prüfen lassen, sondern nur, wenn »Zweifel« an der Arbeitsunfähigkeit bestehen oder der Behandlungserfolg durch gezielte Maßnahmen gesichert werden soll (§ 275 Abs. 1 SGB V). Auch wenn unklar ist, ob es sich bei einer längeren Erkrankung um »dieselbe« Krankheit handelt oder Voraussetzungen, Art und Umfang von Leistungen geklärt werden sollen, darf die Kasse den MDK prüfen lassen. vgl. Pressemeldung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) v. 19. 8. 2013 vgl. Stefan Sauer: Kritik an Prüfungen der Kassen, in: Kölner Stadt-Anzeiger v. 20. 8. 2013

Problemen beim Krankengeld kontaktiert. Häufige Problemlagen seien Fehlinformationen sowie unberechtigte Ablehnungen der Leistung.1 Die Statistiken der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDKen) verdeutlichen, dass die Überprüfung von Krankschreibungen und Krankengeldbezug bei den Kassen einen Schwerpunkt einnehmen.2 In den letzten Jahren (2010 bis 2012) wurden von den MDKen jeweils zwischen 1,5 und 1,6 Millionen Krankschreibungen pro Jahr überprüft. In 16 bis 17 Prozent aller Fälle, d. h. bei 230.000 bis 275.000 Erkrankten, kamen die MDK-Mediziner zu dem Ergebnis, dass die Arbeitnehmer eigentlich wieder arbeitsfähig und die Krankengeld-Zahlungen einzustellen seien.3 Problematisch an der Prüfpraxis des MDK sei, dass Entscheidungen zur Arbeitsunfähigkeit häufig allein nach Aktenlage, also ohne Inaugenscheinnahme der Patienten getroffen werden, kritisierte die Präsidentin des Sozialverbandes VdK Ulrike Mascher. Gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen sei das fatal.4

2. Die Initiative der IG Metall: Praxis verbessern und Selbstverwaltung stärken Der IG Metall Vorstand koordiniert die Arbeit der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter in der gesetzlichen Krankenversicherung, bezieht Position zu zentralen ge-

Tabelle 1: Steigerungsraten bei den Krankengeldausgaben nach Kassenarten* 2007

2008

2009

2010

2011

GKV (insg.)

5,1

8,4

10,5

8,0

9,4

7,6

AOK

2,5

6,3

7,6

5,5

12,0

8,9

BKK

7,0

8,5

10,7

9,7

8,6

4,7

IKK

1,5

11,3

9,7

11,0

8,8

8,5

7,2 (Arb.)

8,2

12,2

8,4

8,6

8,3

6,2 (Ang.)

8,2

Ersatzkassen

* Veränderungsrate je Versicherten (2007, 2008 je Mitglied) einschl. Rentner in Prozent

326

2012

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Quelle: GKV-Statistik BMG KV 45

Gesundheit

sundheitspolitischen Themen und erstellt Arbeitshilfen für die praktische Umsetzung. Aktuell stehen drei Handlungsfelder im Vordergrund: Versorgungsorientierung, Versichertennähe und Transparenz.5 Auf ihrer jährlichen Tagung im Herbst 2011 haben die Selbstverwalter/innen der IG Metall darüber beraten, welche Probleme aufgrund von Dringlichkeit und Bedeutung für die Versicherten als so genanntes »Thema des Jahres« systematisch in den Kassen bearbeitet werden sollten. Angesichts aktueller Missstände entschieden sie sich für das Thema »Krankengeldfallmanagement«. Mit der Initiative, das Krankengeldfallmanagement der Kassen auf den Prüfstand zu stellen, verbindet die IG Metall die zuvor genannten Handlungsfelder: Ein auf Versorgung orientiertes statt vorrangig auf Kostensenkung ausgerichtetes Handeln der Kasse kommt den Versicherten zu Gute. Eine begleitende Plakataktion informiert im Betrieb über die Aktion der Selbstverwaltung und schafft Transparenz (s. Abbildung 2). Sichtbare Erfolge stärken die Selbstverwaltung und erhöhen ihr Ansehen. Nicht zuletzt können Gewerkschaften durch konkretes Handeln ihrer Selbstverwalter deutlich machen, dass sie nicht nur im Betrieb, sondern auch in der Krankenkasse für Arbeitnehmerinteressen aktiv sind. Abbildung 2: Ein Plakat aus der Plakataktion der IG Metall zum Krankengeld

Mittels persönlichem Anschreiben und einer Arbeitshilfe hat die IG Metall die Selbstverwalter/innen gebeten, dem Thema Krankengeldfallmanagement besondere Aufmerksamkeit zu widmen und die Praxis ihrer Kasse zu hinterfragen. In einer Schulung wurden Fachkenntnisse vermittelt sowie erste Erfahrungen ausgetauscht. Eine Arbeitshilfe6 formuliert Anforderungen der IG Metall an ein versorgungsorientiertes Krankengeldfallmanagement, stellt den rechtlichen Rahmen dar und zeigt den Handlungsbedarf hinsichtlich konkreter Fragestellungen auf. Insbesondere geht es in dieser Arbeitshilfe um die Verfahren zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit, um den Grundsatz »Rehabilitation vor Rente«, um einen Ausbau des Versorgungsmanage-

Selbstverwaltung

ments und nicht zuletzt um die Krankengeldberechnung. Ein Fragenkatalog an das Verwaltungshandeln der Kasse soll den Gremienmitgliedern der Kassen helfen, die jeweilige Praxis auf den Prüfstand zu stellen. Aus Sicht der IG Metall muss als Leitlinie gelten, Kranken ihre rechtmäßigen Ansprüche auf ein korrekt berechnetes Krankengeld zu sichern, dem Genesungsprozess die notwendige Zeit zu geben und bei Bedarf die erforderliche Unterstützung zu leisten. Ein versicherten- und versorgungsorientiertes Krankengeldfallmanagement setzt auf nachhaltige Maßnahmen zur Krankheitsvermeidung wie frühzeitige Vorsorge, betriebliche Prävention, Unterstützung bei der Akutversorgung und bedarfsgerechte Rehabilitation zur Verbesserung des Gesundheitszustandes. In diesem Verständnis ist Krankengeldfallmanagement nicht auf kurzfristiges Kostensenken ausgerichtet, sondern Teil eines umfassenden Versorgungsmanagements. Die Bezeichnung »Arbeitsunfähigkeits-Fallmanagement« wäre in diesem Sinne eher geeignet. Da der Begriff Krankengeldoder Krankengeldfallmanagement sich jedoch etabliert hat, findet er im Folgenden weiterhin Verwendung.

3. Erfahrungen: Erfolge sind möglich und nötig Aktiven Verwaltungsräten, die ein kooperatives Verhältnis zum Kassenvorstand haben, fiel es nicht schwer, das Krankengeldfallmanagement zum Thema zu machen und die jeweilige Praxis kritisch zu hinterfragen. Bei der Bewertung der seitens der Kasse dargestellten Abläufe und Verfahrensweisen wurde es schon schwieriger. Selbstverständlich geht jede Kasse davon aus, dass ihr Handeln rechtmäßig und im Interesse der Versicherten ist. Als Beweis werden oftmals gute »Kundenzufriedenheitswerte« präsentiert. In einer solchen Situation ist es erforderlich, das Thema weiter im Blick zu behalten und einzelne Aspekte durch Nachfragen zu vertiefen. Dabei leistet der Fragenkatalog aus der Arbeitshilfe eine gute Unterstützung. Ein Kassenvorstand, der die Selbstverwaltung respektiert, beantwortet die gestellten Fragen (z. B. »in wie vielen Fällen und mit welcher Begründung wurde eine gutachterliche Stellungnahme des MDK eingeholt?« oder »in wie vielen Fällen endete der Krankengeldanspruch durch Berentung wegen Erwerbsminderung?«) nach bestem Wissen und fasst sie nicht als Misstrauen auf. Als hilfreich für die Thematisierung der Praxis des Krankengeldfallmanagements erwies sich die andauernde kritische Berichterstattung in den Medien.7 Die Selbstver5

6

7

vgl. dazu auch Angelika Beier/Günter Güner: Selbstverwaltung braucht Versichertennähe, Versorgungsorientierung und Transparenz, in: SozSich 11/2011, S. 372–376 IG Metall Vorstand, Funktionsbereich Sozialpolitik (Hrsg.): Krankengeldmanagement als Teil des Versorgungsmanagements. Arbeitshilfe für gewerkschaftliche Selbstverwalter/innen in der GKV, Frankfurt a. M., Juni 2012 z. B. »Kassen drücken sich ums Krankengeld« (ZDF-Sendung »frontal 21« v. 2. 4. 2013); »Sparwut: Krankenkassen verhören Versicherte« (NDR-Magazin »Panorama 3« v. 27. 11. 2012); »Kassen horchen Versicherte aus« (Financial Times Deutschland v. 10.10.2012); »Krankenkassen sammeln sensible Daten« (stern v. 9. 10. 2012); »Kasse zahlt Detektiv statt Krankengeld« (Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 15.8. 2012)

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Gesundheit

waltung konnte somit medial dargestellte Fälle konkret aufgreifen, Missstände aufspüren und abstellen. Aus einer Reihe von Kassen liegen inzwischen Erfahrungen vor. Wie erwartet waren die Reaktionen der Kassenvorstände sehr unterschiedlich, ebenso die Qualität der Antworten der Verwaltung auf die Fragen zum Krankengeldfallmanagement, zum Grundsatz »Rehabilitation vor Rente«, zum Versorgungsmanagement und zur Krankengeldberechnung. Die im Folgenden dargestellten Erfahrungen können keine Repräsentativität beanspruchen, es handelt sich eher um ein grob gezeichnetes Bild der Realität.

3.1 Krankengeldfallmanagement Viele Kassen setzen eine spezielle Software für ihr Krankengeldfallmanagement ein. Diese ermöglicht ein maschinelles Ausfiltern von Arbeitsunfähigkeitsfällen, bei denen Interventionsbedarf gesehen wird. Hier wäre nachzufragen, welche Auffälligkeitskriterien unterlegt sind und wer diese definiert. Es ist anzunehmen, dass die Kriterien sich an der vom GKV-Spitzenverband als Richtlinie beschlossenen »Begutachtungsanleitung Arbeitsunfähigkeit (AU)« orientieren. Diese Richtlinie legt eine Steuerung durch Auswahl von »Risikofällen« nahe, die als »potenzielle Langzeit-AU« definiert werden. Auch das Merkmale-Raster zur Identifizierung dieser »Risikofälle«, das zum großen Teil den Missbrauchsverdacht abprüft (»Zweifel« an der AU), lässt einen Fokus auf Kostenersparnis beim Krankengeld erkennen. Wiedervorlagen bzw. Überprüfungen erfolgen gleichfalls oftmals systematisch nach einem bestimmten Zeitablauf – und nicht nach dem individuellen Krankheitsverlauf. Nur wenige Kassen geben an, dass jeder Fall entsprechend der individuellen Krankheits- und Lebenssituation beraten und begleitet wird und dabei auch die jeweiligen Arbeitsplatzbedingungen Berücksichtigung finden. Ebenso wie die Fallauswahl orientieren sich Zielsetzung und Controlling an den Krankengeldausgaben. Einige Kassen streben sogar einen Zielwert an, der die vom GKVSchätzerkreis erwartete Veränderungsrate unterschreitet. Erfolgsindikatoren sind die Einhaltung der Haushaltsansätze bzw. die auf den Standort heruntergebrochenen Kennziffern. Problematisch sind in diesem Kontext Zielvereinbarungen, die von jeder Organisationseinheit das Erreichen eines entsprechenden Zielwertes erwarten. Was bedeutet es für das Handeln der Kassenmitarbeiter/innen, wenn diese Zielwerte nicht erreichbar sind? Welche Mechanismen greifen in diesem Fall, welche Wirkung haben sie, insbesondere für die Versicherten? Selbstverwalter/ innen sind gefordert, diese Problematik bei Haushaltsberatungen und Zielvereinbarungen zu beachten und sachgerecht zu lösen. Bei den üblicherweise im Herbst aufzustellenden Haushaltsplänen der Kassen sollten sich die Versichertenvertreter/innen einklinken und proaktiv auf die Haushaltsziele einwirken. Ein weiterer kritischer und sensibler Komplex ist die Datenerhebung. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat erneut umfangreiche Selbstauskunftsbögen der Kassen gerügt, die u. a. Fragen zur Lebenssituation des Versicher328

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ten enthalten. Diesbezügliche Fragen sind im Rahmen des Krankengeldfallmanagements datenschutzrechtlich nicht zulässig. Beim Bekanntwerden solcher Fragen hat die Selbstverwaltung in einigen Kassen das pauschale Einholen umfassender Daten sofort unterbunden. Es bleibt eine Gratwanderung: Ohne Informationen zum Krankengeschehen und im Einzelfall auch zur Lebenssituation können Krankenkassen die Versicherten nicht adäquat beraten und ein bedarfsgerechtes Versorgungsmanagement leisten. Form und Umfang der Datenerhebung sind zu klären. Aktuell beraten dazu auf Bundesebene der GKV-Spitzenverband, Vertreter der Kassen und der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung. Unterschiedliche Auffassungen zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesbeauftragten für Datenschutz zur Frage der datenschutzrechtlichen Bedenklichkeit der »Begutachtungsanleitung Arbeitsunfähigkeit« erfordern weiteren Abstimmungsbedarf. Bemerkenswert ist, dass die Kassen nach eigenen Angaben offenbar nicht über spezielle Daten zum Krankengeldfallmanagement verfügen. Dies betrifft z. B. Fragen nach Anzahl der MDK-Gutachten mit bzw. ohne persönliche Begutachtung, zur Zahl der Fälle, bei denen die MDKBegutachtung zum Wegfall des Krankengeldanspruchs führte oder zur Häufigkeit der Fälle, in denen unabhängig von einer Überprüfung der AU während des Krankengeldbezugs Stellungnahmen des MDK eingeholt wurden, um den Behandlungserfolg zu sichern oder den Bedarf weiterer Maßnahmen zu klären. Es fehlen somit organisatorische Voraussetzungen, um das Verwaltungsverfahren zu überprüfen und gegebenenfalls nachzusteuern.

3.2 Grundsatz Rehabilitation vor Rente Aus der gewerkschaftlichen Rechtsberatung sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen erkrankte Versicherte von ihrer Kasse aufgefordert wurden, einen Rentenantrag wegen Erwerbsminderung zu stellen. Diese Praxis ist rechtswidrig. Die Kasse kann Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, unter bestimmten Voraussetzungen jedoch auffordern, einen Antrag auf medizinische Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen (§ 51 SGB V). Nach dem Rentenrecht gilt dieser Antrag als Rentenantrag, wenn Rehabilitations- und Teilhabeleistungen keinen Erfolg erwarten lassen oder erfolglos verlaufen sind (§ 116 SGB VI). Die befragten Kassen geben erwartungsgemäß an, sich an die gesetzlichen Vorgaben zu halten. Über das tatsächliche Geschehen besteht allerdings Unkenntnis. Die Kassen führen keine Statistik und können keine Aussagen dazu treffen, wie häufig Versicherte zur Antragstellung nach § 51 SGB V verpflichtet werden, wie viele Reha-Maßnahmen daraufhin vom Rentenversicherungsträger durchgeführt wurden, wie viele mit welcher Begründung abgelehnt wurden und wie häufig der Krankengeldanspruch aufgrund von Berentung wegen Erwerbsminderung endete. Auch existieren keine systematischen Verfahren, in anderen Fällen als bei gutachterlich festgestellter erheblicher Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit einen

Gesundheit

Rehabilitationsbedarf zu erkennen. Die Selbstverwaltung sollte darüber beraten, welche Daten künftig erfasst werden sollten und anregen, dass Maßnahmen getroffen werden, die den Grundsatz »Reha vor Rente« wirksam umsetzen.

3.3 Versorgungsmanagement Beim Krankengeldfallmanagement liegt der Fokus auf Kostenersparnis, nicht auf Optimierung der Versorgung. Auf die Fragen nach einem strukturierten Versorgungsmanagement lauten die überwiegenden Antworten: Fehlanzeige. Ein kostenbezogener Ansatz greift jedoch zu kurz. Anlass der Krankengeldkosten ist die Krankheit. Wer die Ausgaben nachhaltig senken will, muss das Krankengeldfallmanagement in ein Versorgungsmanagement integrieren. Ein Verweis auf den MDK, auf dessen Gutachten und Empfehlungen reicht nicht aus. Teilweise erwecken die Ausführungen der Kassen zudem den Eindruck, als handele der MDK autonom, seine Stellungnahmen seien nicht beeinflussbar und die Kasse folge lediglich dessen Empfehlungen. Dem ist zu erwidern, dass die Kasse Auftraggeberin ist und der MDK entsprechend der kassenseitigen fallbezogenen Fragestellung tätig wird. Es hängt somit von der Komplexität und Zielgerichtetheit der Fragestellung ab, ob eine Beantwortung nach Aktenlage oder nach persönlicher Begutachtung erfolgt, ob alternative Therapien vorgeschlagen oder wie umfassend z. B. Krankheitsursachen in den Blick genommen werden. Versicherte haben seit 2007 einen gesetzlich definierten »Anspruch auf ein Versorgungsmanagement insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche« (§ 11 Abs. 4 SGB V). Der Anspruch richtete sich zunächst gegen die Leistungserbringer. Betroffene Leistungserbringer hatten für eine sachgerechte Anschlussversorgung zu sorgen, die Krankenkassen sollten sie bei dieser Aufgabe unterstützen. Mit Inkrafttreten des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes im Jahr 2012 wurde das Versorgungsmanagement konkretisiert: Die fachärztliche Anschlussbehandlung wurde ausdrücklich einbezogen (§ 11 Abs. 4 SGB V) und das Entlassmanagement wurde in den Anspruch auf Krankenhausbehandlung integriert (§ 39 Abs. 1 SGB V). Damit sind nunmehr die Krankenkassen verpflichtet, das Erbringen der Leistung sicherzustellen. Die Einzelheiten sind in Verträgen nach § 112 SGB V zu regeln. Die Bundesregierung begründete die gesetzliche Änderung mit der Feststellung, dass der Anspruch auf ein Versorgungsmanagement nicht im gewünschten Umfang umgesetzt und genutzt wurde. Die mangelnde Umsetzung besteht offenbar fort. Auch darf die Verpflichtung zum Versorgungsmanagement nicht auf die Sicherung einer Anschlussversorgung nach einer Krankenhausbehandlung reduziert werden. Die Selbstverwaltung sollte darauf drängen, dass in den Kassen ein strukturiertes Versorgungsmanagement etabliert wird.

3.4 Krankengeldberechnung Zu den Fragen der Rechtmäßigkeit und Korrektheit des Verwaltungshandelns bei der Krankengeldberechnung8 ver-

Selbstverwaltung

weisen einige Kassen auf das Vier-Augen-Prinzip, auf die EDV-Unterstützung sowie auf Prüfungen der Innenrevision in Form von Stichproben. Auch die Prüfungen durch Prüfund Aufsichtsbehörden werden als Beleg für die ordnungsgemäße Krankengeldberechnung angegeben. Wie der Fall einer Kasse zeigt, bieten diese Maßnahmen keine ausreichende Gewähr für eine fehlerfreie Berechnung. In diesem Fall hatte die Aufsicht festgestellt, dass unregelmäßige Mehrarbeit und Einmalzahlungen bei der Berechnung nicht vorschriftsgemäß berücksichtigt wurden. Eine daraufhin veranlasste systematische Überprüfung ergab sehr hohe Fehlerquoten. Prüfergebnisse, die als Stichprobenprüfungen oder mit Beschränkung auf bestimmte Tatbestände durchgeführt werden, ergeben nur eine Scheinsicherheit. Es müsste im Eigeninteresse der Kasse liegen, durch eine von der IG Metall angeregte systematische Vollprüfung (z. B. alle Fälle eines Quartals) Rechtssicherheit herzustellen. Der Prüfbericht sollte mindestens beantworten, ob Beginn und Ende, Bezugsdauer und Höhe der Krankengeldzahlung korrekt berechnet wurden, ob die Berechnung für die Anspruchsberechtigten nachvollziehbar ist und ob eine Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt. Zusätzlich sollten die Selbstverwaltungen Beschwerden, Widersprüche und Klagen, die das Krankengeld betreffen, sorgsam beobachten und analysieren, da sie Hinweise auf fehlerhaftes Verwaltungshandeln und somit auf notwendige Qualitätskontrollen geben. Auffällig ist, dass bisher keine der beteiligten Kassen einen nachvollziehbaren Bescheid über das Krankengeld vorweisen konnte. Auf Nachfrage wurde erklärt, dies würde den Versicherten im mündlichen Gespräch erläutert, zum Teil würde anschließend ein Gesprächsprotokoll erstellt. Ein solches Vorgehen ist nicht zufriedenstellend. Die Selbstverwaltung sollte darauf drängen, dass Leistungsbescheide verständlich und nachvollziehbar sind. Eine Überprüfung ist schließlich nur möglich, wenn die Berechnungsgrundlage dargestellt ist.

4. Am Ball bleiben und Beispiele guter Praxis schaffen Aus den bisherigen Antworten und Reaktionen der Kassen lässt sich schlussfolgern, dass ein konsequenter Ansatz fehlt, sich bei Arbeitsunfähigkeit um eine bedarfsgerechte Versorgung zu kümmern und somit nachhaltig auf die Ursachen von Arbeitsunfähigkeit einzuwirken. Die Kostenfrage dominiert. Versorgungsmanagement ist eher ein Nebenprodukt, wenn Maßnahmen eingeleitet werden, von denen man eine Verkürzung der Dauer des Krankengeldbezugs erwartet. Die mit dem Versorgungsstrukturgesetz verstärkte Verpflichtung der Kassen zum umfassenden Versorgungsmanagement wird kaum wahrgenommen. Es 8

Das Krankengeld beträgt 70 Prozent des regelmäßigen Bruttoarbeitsentgelts, maximal aber 90 Prozent des Nettoarbeitsentgelts. Einmalzahlungen wie Weihnachtsgeld müssen dabei berücksichtigt werden. Bei monatlich schwankenden Einkommen gilt der Durchschnitt der letzten drei Monatseinkommen.

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ist somit nicht gewährleistet, dass den Versicherten bei Arbeitsunfähigkeit die bestmögliche Unterstützung zukommt, um gesundheitliche Beeinträchtigungen zu vermeiden, zu beseitigen oder zu lindern. Die Auseinandersetzungen um das Krankengeldfallmanagement haben Wirkung gezeigt. In einigen Kassen fand die Initiative letztlich positiven Anklang und die Selbstverwaltung konnte Anstöße für Verbesserungen geben, z. B. für einen anderen Umgang mit dem Mittelansatz bei der Haushaltsplanung, für eine Intensivierung des Versorgungsmanagements, für einen nachvollziehbaren Krankengeldbescheid und für eine regelhafte Qualitätssicherung. Diese positiven Ansätze gilt es aufzugreifen und zu verbreiten. Die Initiative aus den Kreisen der Selbstverwalter/innen der IG Metall, ein konkretes Thema aufzugreifen und mittels praktischer Arbeitshilfen in den Kassen ergebnisorientiert anzugehen, hat sich als erfolgreich erwiesen. Zunächst als »Jahresthema« gedacht, hat sich allerdings herausgestellt, dass die Verankerung und Bearbeitung ei-

nes Schwerpunktthemas mehr Zeit erfordert. Die Selbstverwalter/innen haben sich daher darauf verständigt, das Thema »Krankengeldfallmanagement« weiter zu verfolgen und am Ball zu bleiben. Ganz offensichtlich haben die Aktivitäten dazu beigetragen, die IG Metall in der Kassenlandschaft als Interessenvertreterin der Versicherten zu profilieren. Verwaltungsräte treten als Akteure und Anwälte der Versicherten auf und besetzen Themen, die sie für bedeutend halten. Weniger gut gelungen ist es, die Initiative in Betrieben und Verwaltungen bekannt zu machen. Hier bleibt die Aufforderung aktuell: »Tue Gutes und rede darüber«.

Die Autorin: Angelika Beier arbeitet beim Vorstand der IG Metall im Funktionsbereich Sozialpolitik und ist als ehrenamtliche Selbstverwalterin im Verwaltungsrat der AOK Hessen sowie im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes.

Selbstverwalter setzen höhere Hörgeräte-Festpreise durch Der lange und schwierige Weg zu einer besseren Versorgung Hörgeschädigter Von Günter Güner

»Über 360 Euro mehr für Hörgeräte.« Die Hörgeräte-Akustiker stellen die Festbetragserhöhung zum 1. November für gesetzlich Krankenversicherte – in eigenem Interesse – ganz groß heraus. Wem die Hörgeschädigten (und mit ihnen die Akustiker) aber letztlich – nach einem langen und schwierigen Weg – die Erhöhung zu verdanken haben, davon steht nichts in den bunten Werbeprospekten: Treiber auf dem Weg zu einem neuen Festbetrag waren die Selbstverwalter/innen beim GKV-Spitzenverband. Wie sie auf diesem schwierigen Feld Verbesserungen erreichen konnten und welcher grundsätzliche Reformbedarf bei der Hilfsmittelversorgung besteht, wird im Folgenden beschrieben.

Auch bei Hörgeräten: Teure Unter-, Fehl- und Überversorgung Die Versorgungslage von Menschen mit einem Hörhandikap weist erhebliche Defizite auf. 12 bis 14 Mio. Deutsche sind schwerhörig. Aber nur 2,5 bis 3,5 Mio. von ihnen tragen Hörgeräte.1 Die Folgen dieser Unterversorgung sind häufigeres Auftreten von Verletzungen, Depression oder fälschlich diagnostizierte Demenz. Mit steigendem Alter nimmt die Zahl der Hörgeschädigten zu. Ab dem 60. Lebensjahr liegt der Betroffenenanteil bei über 30 %, er

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vgl. Analyse des Hörgerätemarktes und der Versorgungslage Hörgeschädigter. Arbeitspapier des GKV-Spitzenverbandes v. 3.2. 2012 vgl. Günter Neubauer/Andreas Gmeiner: Volkswirtschaftliche Bedeutung von Hörschäden und Möglichkeiten zur Reduktion deren Folgekosten. Exekutiv Summary. Zusammenstellung der wichtigsten Ergebnisse, Institut für Gesundheitsökonomik, München, 12. August 2011

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nimmt mit zunehmendem Alter stetig zu. Nur etwa ein Drittel der Hörschäden wird aber behandelt.2 Schwerhörigkeit ist eine Behinderung, die wegen ihrer Unsichtbarkeit häufig unterschätzt wird. Das Hörvermögen schwindet in der Regel schleichend und wird meist lange verdrängt. Viele Menschen, die davon betroffen sind, nehmen lieber deutliche Einbußen an Kommunikationsfähigkeit und Lebensqualität in Kauf, als die eigene Schwerhörigkeit anzunehmen und Hörgeräte zu tragen. Wer eine Hörhilfe haben möchte, hat vielfach Probleme, sich ausreichend über Preise und Produkte zu informieren. Eine Werbung mit Preisen im Schaufenster oder in den Medien erfolgt gewöhnlich nicht. Der Hörgeschädigte erhält in der Regel erst nach Auswahl und individueller Anpassung des Hörgeräts Aufschluss über den Endpreis. Während der individuellen Anpassung des Hörgeräts findet zumeist kein Wechsel des Hörgeräteakustikergeschäfts statt. Eine Zweitmeinung ist nicht vorgesehen. Für ein und dasselbe Gerät

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Festbetrag für Hörhilfen Wenn gesetzlich Versicherte aus medizinischen Gründen eine Hörhilfe benötigen, wird diese von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Die Kassen übernehmen dafür einen so genannten Festbetrag. Dieser bestimmt die maximale Höhe, bis zu der die Kasse in der Regel eine Hörhilfe finanziert. Anders als bei Festzuschüssen (z. B. für Zahnersatz) sind die Festbeträge auf die jeweilige Produktgruppe angepasst und angeblich »als Durchschnittspreis kalkuliert. Sie werden durch umfassende Marktforschung ermittelt und spiegeln den aktuellen Stand im jeweiligen Versorgungsfeld wider«.3 Der Festbetrag soll – anders als der Festzuschuss beim Zahnersatz – eigentlich alles abdecken so dass eine Aufzahlung aus medizinischen Gründen nicht notwendig ist. Seit 2005 lag dieser Festbetrag für das erste Hörgerät (erste Ohr) bei 421,28 Euro (inkl. MwSt.). Für das zweite Hörgerät (zweite Ohr) gab es einen Abschlag von 20 % bzw. 84,26 Euro. Die Vertragspartner (Hörgeräteakustiker) sollen sicherstellen, »dass die Versorgung der Versicherten ohne Aufzahlungen, also ohne einen Eigenbetrag, der über die gesetzliche Zahlung hinausgeht, möglich ist«4, heißt es beim GKV-Spitzenverband. Versicherte sollten deshalb beim Hörgeräteakustiker nach einem aufzahlungsfreien Produkt fragen. Tatsächlich werden aufzahlungsfreie Produkte jedoch kaum angeboten. Selbst nach Angaben der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker ist die Aufzahlung der Versicherten längst die Regel. Verschiedene Untersuchungen sprechen davon, dass der Anteil der aufzahlungsfreien Versorgung bei unter 20 % liegt. Mit bis zu 2.000 Euro Aufzahlung pro Gerät griffen die Leistungsanbieter ohne Scham in die Taschen der Patienten.

sind – auf insgesamt zu hohem Niveau – zum Teil noch erhebliche Preisdifferenzen festzustellen. Hinzu kommt die gewinngetriebene aufzahlungsorientierte Manipulationsanfälligkeit der Versorgung. Wer Hörhilfen braucht, steht häufig alleine da. Es bestehen bei den Krankenkassen kaum fachkundige Beratungsstrukturen, weil der bisherige Festbetrag einen bequemen Rückzug bot. Auch die Beratungsstrukturen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) sind unzureichend.5 Ist ein Hörgeschädigter mit Hörhilfen versorgt, so ist das noch keine Garantie für gutes Hören. Ein nicht unerheblicher Anteil der Hörgeräteträger nutzt das Hörgerät nicht oder zu selten.6 Akzeptanzprobleme und unzureichende technische Einstellungen sind die wesentlichen Gründe, die hierfür benannt werden.

versorgt. Das Ausgabenvolumen dafür lag im letzten Jahr bei rund einer halben Mrd. Euro.7 Die Marktsituation ist der Kern des Problems. Nach den Feststellungen des Bundeskartellamtes ist der Konzentrationsgrad des Hörhilfenmarktes auf Herstellerseite sehr hoch.8 Drei Hersteller (Siemens, Phonak, Oticon) haben einen Marktanteil von zusammen über 80 %. Sie bilden nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf ein »wettbewerbsloses Oligopol«9. Der Vertrieb von Hörgeräten ist sowohl auf der Ebene der Hörgerätehersteller als auch auf der Ebene der Hörgeräteakustiker durch mangelnden Preiswettbewerb gekennzeichnet. Das Bundeskartellamt stellte fest: »Hörgerätehersteller und die Hörgeräteakustiker in Deutschland haben eine größtenteils gemeinsame Interessenlage, die nicht in einem gegeneinander gerichteten Wettbewerbsdruck liegt, sondern in dem Bestreben, gegenüber dem Endkunden sowohl für den Hersteller als auch für den Hörgeräteakustiker die größtmögliche Gewinnmarge zu erzielen«.10 Bei den Hörgeräteakustikern dürften »Margen von mindestens 300 –400 % die Regel sein«11, so das Bundeskartellamt. Selbst das sonst so zurückhaltende Bundessozialgericht spricht in seinem Hörgeräte-Urteil vom Dezember 2009 (mehr dazu s. unten) von »Hinweisen auf wettbewerbswidrige Praktiken von Herstellern, (die) weiterhin den Verdacht (nähren), dass das Preisniveau durch überzogene Gewinnspannen bei Handel und Herstellern beeinflusst ist«12. Durch gegenseitige Nutzungsgewährungen für Patente wurde Wettbewerbern der Marktzutritt erschwert. Obwohl es eine Vielzahl von unterschiedlichen Hörgerätemodellen gibt, weisen die Hörgeräte nahezu deckungsgleiche Produkteigenschaften auf. Das Bundeskartellamt geht daher von einem einheitlichen sachlichen Markt für Hörgeräte aus, unabhängig davon, welchem Preissegment sie angehören. Technisch haben sich digitale Hörgeräte durchgesetzt.13 Neuentwicklungen sind derzeit eher selten. Hörgeräte werden im Regelfall auf ein oder zwei Chip-Plattformen installiert. Die Produkt- und damit die Preisdifferenzierung werden im Wesentlichen durch Freischaltung oder Nichtfreischaltung der installierten Funktionen erreicht. Der größte Teil der Hörgeräteakustikbetriebe, die letztlich den Abgabepreis bestimmen, ist in der Bundesinnung 3

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Oligopolistische Anbieterstruktur In der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung werden pro Jahr mehr als 500.000 Menschen mit Hörhilfen

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So der stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes der BARMER GEK, Rolf Ulrich Schlenker, am 18.9.2013 vor der Presse in Berlin bei der Vorstellung des BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreports 2013 Pressemitteilung des GKV-Spitzenverbandes v. 23.7.2013 Der MDK soll vor der Bewilligung eines Hilfsmittels den Versicherten beraten, er hat also einen Beratungsauftrag (§ 275 Abs. 3 Nr. 1 SGB V). vgl. Robert Koch Institut/Statistisches Bundesamt: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 29, Hörstörungen und Tinnitus, Januar 2006, S. 23 so Rolf-Ulrich Schlenker (BARMER GEK) am 18.9.2013 vor der Presse vgl. Beschluss der 3. Beschlussabteilung des Bundeskartellamtes vom 14. 10.2009 (Az.: B 3 – 69/08) OLG Düsseldorf v. 28. 11. 2008, VI-Kart 8/07 (V) Beschluss der 3. Beschlussabteilung des Bundeskartellamtes vom 14. 10. 2009 (Az.: B 3 – 69/08) ebenda Bundessozialgericht vom 17. 12. 2009 (Az.: B 3 KR 20/08 R) vgl. Wettbewerbliche Vertrags- und Steuerungsmöglichkeiten für eine qualitätsgesicherte zuzahlungsfreie Versorgung, Arbeitspapier des AOKBundesvorstands v. 16. 9. 2011

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der Hörgeräteakustiker (BIHA) organisiert. Zwei Drittel des Umsatzes wird über mittelständische Betriebe oder Einzelbetriebe erzielt. Im Durchschnitt verkauft aber jeder Hörgeräteakustiker weniger als eine Hörhilfe am Tag.

BSG: Anspruch von Hörgeschädigten auf unmittelbaren Behinderungsausgleich Der 3. Senat des Bundesozialgerichtes (BSG) hat in einer viel beachteten Entscheidung vom 17. Dezember 2009 festgestellt, dass die Versorgung mit Hörgeräten dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dient.14 Es bestimmte: »Zum Ausgleich von Hörbehinderungen haben die Krankenkassen für die Versorgung mit solchen Hörgeräten aufzukommen, die nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlauben.« Damit hat die Hörhilfenversorgung ein umfassendes Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu ermöglichen. Eine aufzahlungsfreie, von den Krankenkassen zu gewährleistende Versorgung muss – so das BSG – dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts bei den Hilfsmitteln entsprechen.15 Das war mit dem bisherigen Festbetrag nicht (mehr) der Fall. Das BSG und viele Sozialgerichte hatten deshalb die Krankenkassen zur Übernahme der vollen Kosten für Hörgeräte verurteilt. Im Fall des Klägers vor dem BSG, der einen Hörverlust von nahezu 100 % hatte, musste die betroffene Kasse deshalb über 3.000 Euro über den Festbetrag hinaus zahlen. Festbeträge dürften nur dann die Leistungspflicht der Krankenkasse begrenzen, wenn durch sie eine wirtschaftliche und qualitätsgesicherte mit einer auf dem medizinischen Stand befindlichen Versorgung gewährleistet ist, so das BSG. Festbeträge haben eine wichtige Funktion. Sie sind eine besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V). Leistungsanbieter sollen so bewegt werden, den Preis – so wie es bei Arzneimitteln erfolgreiche Praxis ist – auf den Festbetrag zu senken und einen Preiswettbewerb auslösen. Bei Hörhilfen erfüllte der Festbetrag diese Funktion jedoch nur unzureichend. Der GKV-Spitzenverband hat die Festbeträge festzulegen. Obwohl eine jährliche Überprüfungspflicht besteht16 waren die derzeitigen Festbeträge für Hörhilfen seit 2005 unverändert.17

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BSG v. 17. 12. 2009 (Az.: B 3 KR 20/08 R); vgl. »Hörbehinderte haben Anspruch auf optimale Versorgung«, in: SoSi plus 1/2010, S. 9 vgl. auch § 2 Abs. 1 SGB V vgl. § 36 in Verbindung mit § 35 Abs. 5 Satz 3 SGB V Fast alle jetzigen Festbeträge für Hörhilfen wurden von den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenversicherung am 1. Dezember 2004 beschlossen. Sie traten am 1. Januar 2005 in Kraft. Am 1. Januar 2007 gab es lediglich geringfügige Änderungen, z. B. bei den Festbeträgen für Ohrpassstücke. Ab dem 1. März 2012 wurde allerdings ein neuer Festbetrag für ein Hörgerät festgesetzt, das für »an Taubheit grenzende Versicherte« vorgesehen ist (s. unten). Bei der Innungskrankenkasse BIG direkt gesund werden die sechs Arbeitgebermandate von der BIHA-Liste gestellt.

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Die lange Odyssee zum neuen Festbetrag Ausgehend von dem Hörgeräte-Urteil des BSG vom Dezember 2009 wurde in Verwaltungsräten der Krankenkassen, in Aufsichtsräten bzw. ehrenamtlichen Vorständen der Verbände der Krankenkassen, in Ausschüssen des GKVSpitzenverbandes sowie im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes heftig über die Folgen für die Versorgung von Hörgeschädigten diskutiert. Die Auseinandersetzung der ehrenamtlichen Selbstverwalter begann mit der Interpretation des BSG-Urteils. Bei ihren Bestrebungen nach der Sicherstellung einer aufzahlungsfreien Versorgung begegneten den Selbstverwaltern, die sich dafür einsetzten, zahlreiche Gegenargumente und Behauptungen. Es wurde etwa eingewandt, dass das BSG-Urteil nur bestimmte Einzelfälle beträfe und die Leistungspflicht der Krankenkassen weiter auf den Festbetrag begrenzt sei. Die Gegenargumente reichten bis zu dem Schreckensszenario, dass eine Verdoppelung des Festbetrags bei Hörhilfen zu Zusatzbeiträgen bei den Kassen führen werde. Die Standpunkte in den Verwaltungsräten der Krankenkassen und im GKV-Spitzenverband waren uneinheitlich, weil unterschiedliche Interessenlagen aufeinander prallten. Auf der Arbeitgeberseite wurde vielfach die Meinung vertreten, unter der Bedingung des eingefrorenen Beitragssatzes der Arbeitgeber könne man der Forderung der Versichertenseite nach einer aufzahlungsfreien Versorgung folgen. Mehrkosten, die Zusatzbeiträge auslösen, würden ja nur auf der Versichertenseite anfallen. Es kann auch vermutet werden, dass die BIHA als Teil der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ihren Einfluss auf der Arbeitgeberseite geltend gemacht hat. Außerdem ist die BIHA auch in der Selbstverwaltung bei einer Kasse Listenträger auf der Arbeitgeberseite18; ein Konstruktionsmangel der Selbstverwaltung. Allerdings sprachen sich viele Arbeitgeber auch für eine wirtschaftlichere Versorgung aus und plädierten für Preiskorrekturen durch mehr Wettbewerb. Auf der Versichertenseite überwog die Sichtweise, an Festbeträgen festzuhalten, weil sie als Maßstab für Wirtschaftlichkeit gelten. Die Festbeträge sollten aber deutlich erhöht werden, um eine aufzahlungsfreie Versorgung sicherzustellen. Aufzahlungen der Versicherten beschädigten das Sachleistungsprinzip der GKV, seien ein Einfallstor für die Absenkung des Leistungskatalogs und mit dem Solidaritätsprinzip der GKV nicht vereinbar. Auf der Versichertenseite war aber auch die Sorge zu erkennen, dass bei einer vermuteten Verdoppelung der Ausgaben für Hörgeräte die Kassen, die aktuell gerade mal mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zurechtkommen, in eine schwierige Lage kommen könnten. Immerhin gab es erste Hinweise, dass ein neuer Festbetrag eine Belastung in der Größenordnung von über 400 Mio. Euro für die gesamte GKV zur Folge haben könnte. Von den Vorständen und hauptamtlichen Vertretern der Kassen gab es eine nahezu einhellige Front der Ablehnung, den Festbeitrag für Hörgeräte anzupassen. Dabei hatten die Kassenvertreter vor allem die Unwirtschaftlichkeit der

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Versorgung im Fokus und fürchteten, dass höhere Festbeträge vor allem Mitnahmeeffekte bei den Leistungsanbietern bewirken würden. Diese Argumente waren leider nur auf Abwehr eines höheren Festbetrages ausgerichtet, nicht auf die Lösung des Problems. Ein ganzheitliches Konzept für eine wirtschaftliche, qualitätsgesicherte, aber auch aufzahlungsfreie Versorgung war bei diesen Diskussionen nicht erkennbar. Für den Vorstand des GKV-Spitzenverbands war die Lage diffizil. Einerseits drängten die Kassen darauf, den Festbeitrag nicht oder nur wenig anzuheben, anderseits erwartete der Verwaltungsrat – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – eine schnelle Umsetzung des BSG-Urteils. Nach geltender Rechtslage obliegt dem Vorstand des GKVSpitzenverbandes die Neufestsetzung von Festbeträgen. Er entschied er sich, angesichts der Erwartungen der Kassen und der unterschiedlichen Interessenlagen im Verwaltungsrat die Neufestsetzung des Festbeitrags für Hörhilfen im Verwaltungsrat zu thematisieren. Die Debatten zogen sich über viele Monate und mehrere Sitzungen hin. Im Juni 2012 empfahl der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes schließlich dem Vorstand, zeitnah einen neuen Festbetrag auch für mittel und hochgradig Schwerhörige zu beschließen. Ab dem 1. März 2012 hatte der Vorstand schon für Schwerstschwerhörige (erwachsene Versicherte mit an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit) einen neuen Festbetrag festgelegt. Sie erhalten seitdem 786,86 Euro (ohne MwSt.) für das erste Hörgerät (erste Ohr), für das zweite Hörgerät (zweite Ohr) gilt ein Abschlag von 157,37 Euro (20 %). Wichtige Voraussetzung für die rechtsichere Festlegung eines Festbetrags war die wohl überfällige Bereinigung des Hilfsmittelverzeichnisses. Weiter sprach sich der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes dafür aus, an Festbeträgen nach § 36 SGB V festzuhalten, um die wirtschaftliche Versorgung sicherzustellen. Der Verwaltungsrat forderte auch, dass Verhandlungsspielräume der Kassen für Selektivverträge durch den neuen Festbetrag nicht eingeschränkt werden. Darüber hinaus wurde der Vorstand gebeten, dem Schätzerkreis, der im Oktober 2012 die Zuweisungen an die Krankenkassen für das Jahr 2013 festlegt, die vermuteten höheren Ausgaben mitzuteilen, damit diese Mehrausgaben bei den Zuweisungen für das Jahr 2013 berücksichtigt werden können. Der Vorstand des GKV-Spitzenverbandes hat dann schließlich erst rund ein Jahr nach der Empfehlung des Verwaltungsrats – am 10. Juli 2013 – einen neuen Festbetrag für Hörgeräte für mittel und hochgradig Schwerhörige festgelegt. Dass es so lange gedauert hat, wurde mit formal notwendigen Prozessen begründet. U. a. waren die Bereinigung des Hilfsmittelverzeichnisses (die ja Grundlage für eine rechtsichere Festlegung des Festbeitrages ist) und die Anhörungsverfahren langwieriger als vermutet. Der neue Festbetrag für mittel und hochgradig Schwerhörige liegt bei 733,59 Euro netto bzw. 784.94 Euro inkl. MwSt. für das erste Hörgerät. Für das zweite Gerät (zweite Ohr) gilt wieder ein Abschlag von 20 % (146,72 Euro netto). Der Aufwand für die Nachsorge ist – anders als bisher – nicht mehr im Festbetrag enthalten, sondern wird ge-

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sondert vergütet. Damit eine nach dem Stand der Technik sachgerechte Versorgung erfolgen kann, müssen die Hörgeräte grundsätzlich folgende Merkmale aufweisen: • Digitaltechnik, • Mehrkanaligkeit (mindestens vier Kanäle), • Rückkoppelungs- und Störschallunterdrückung, • mindestens drei Hörprogramme, • Verstärkungsleistung < 75 dB Der neue Festbetrag gilt ab dem 1. November 2013. Es hat also fast vier Jahre gedauert, bis nach dem BSG-Hörgeräteurteil endlich ein wesentlich höherer Festbetrag Gültigkeit erlangt. Jedem Beteiligten ist klar: Die Neufestsetzung des Festbetrags ist nur ein Teil der Lösung. Es gilt zu verhindern, dass der neue Festbetrag zu Mitnahmeeffekten bei Leistungsanbietern führt. Mehr Qualität in der Versorgung von Hörgeschädigten und das umfassende Sachleistungsprinzip müssen erst noch durchgesetzt werden.

Brauchen wir ein Hilfsmittelgesetz? Festbeträge sollen Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpfen und einen Preiswettbewerb auslösen. Diese Funktion erfüllen sie bei Hilfsmitteln nur zum Teil. Die Strukturen der Versorgung mit Hilfsmitteln – insbesondere mit Hörhilfen – sind weder qualitätsgesichert noch wirtschaftlich. Von den Rationalisierungsgewinnen der Hersteller müssen auch die Versicherten profitieren. Mehr Wettbewerb in diesem Markt tut Not. Die Leistungsanbieterstrukturen sind überholt und nicht wirtschaftlich. Über eine Intensivierung des Wettbewerbs sollte ein struktureller Wandel bei den Leistungsanbietern ausgelöst werden. Wir brauchen also ein ganzheitliches Handlungs- und Lösungskonzept, um Fehlentwicklungen zu vermeiden. Schon fordern Gesundheitshandwerker für altersbedingte Hilfsmittel Festzuschüsse statt Festbeträge.19 Damit soll auf Dauer der Griff in die Taschen der Versicherten abgesichert werden. Wegen der Mehrbelastung durch den neuen Festbetrag besteht die Gefahr, dass die Forderung nach Festzuschüssen statt Festbeträgen in der Politik Freunde gewinnt. Damit würden Zuzahlungen der Versicherten zur Pflicht. Ein Hilfsmittelgesetz könnte ein Ansatzpunkt sein, der aktuell festzustellenden Aufweichung des Sachleistungsprinzips zu begegnen. Wer für die Kosten von Hilfsmitteln bezahlen muss, ist immer wieder Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen. Zu viele Träger versuchen ihre Kostentragungspflicht weiterzureichen. Überdies differenziert das BSG den Anspruch auf Hilfsmittel mit den Begriffen »mittelbarer« und »unmittelbarer« Behinderungsausgleich, will also (nur) Grundbedürfnisse ausgleichen und engt damit den teilhabeorientierten Behinderungsbegriff ein. Ein Hilfsmittelgesetz könnte mehr Klarheit über die Anspruchsgrundlagen und Kostenträger schaffen.

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vgl. Dienst für Gesellschaftspolitik (dfg) v. 21. 3. 2013, S. 13

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Im Arzneimittelbereich gibt es zum Schutz der Patienten verschiedene Hürden, die zur Patientensicherheit beitragen – wie Sicherheit, Wirksamkeit, Qualität und KostenNutzen-Betrachtung. Solche Hürden fehlen für Hilfsmittel nahezu vollständig. Es gäbe gute Gründe, diese richtigen, die Patienten schützenden Hürden – soweit fachlich möglich – auch auf Hilfsmittel zu übertragen.

Neujustierung der Vertragspolitik Es bedarf aber auch einer Neuausjustierung der Vertragspolitik zwischen Kassen und Leistungsanbietern. Ob Ausschreibungen angesichts des Kartells der Leitungsanbieter eine Lösung sind, muss sich erst noch erweisen. Derzeit zeigt die Vertragspraxis, dass vorwiegend der Preis, nicht aber die Qualität der Versorgung im Blick ist. Soweit Selektivverträge als Lösung präferiert werden, sollten sie auf die qualitätsgesicherte Versorgung und die Sicherstellung aufzahlungsfreier Versorgung gerichtet sein. Notwendig sind definierte Mindestanforderungen an solche Verträge. Es wundert schon, dass in solchen Verträgen keine Festlegungen getroffen werden, dass die überwiegende Mehrheit der Versicherten zuzahlungsfrei versorgt werden muss. Soweit Versorgungswünsche über das Maß des Notwendigen hinausgehen (z. B. Telefonie über Hörgeräte oder Fernbedienung für Hörgeräte), schreibt das Sozialgesetzbuch schon heute zu Recht eine Eigenbeteiligung vor. Aber eben nur für Sonderwünsche, nicht für eine Versorgung, die das Gleichziehen im Hören mit einem Gesunden ermöglicht. Es wundert auch, dass es in den existierenden Verträgen als ausreichend angesehen wird, wenn nur ein Produkt (ein Hörgerät) aufzahlungsfrei angeboten wird. Damit wird geradezu dazu eingeladen, dieses eine Gerät als »Kassengurke« zu diskriminieren. Es wundert weiter, dass keine Verträge gemacht werden, die die Überprüfung des

Endpreises bei den Kassen ansiedelt. Im Übrigen sollten die Kassen jetzt durch Beobachtungen des Versorgungsgeschehens ihr Argument, dass höhere Festbeträge nur an die Leistunganbieter durchgereicht werden würden, überprüfen. Wäre dies der Fall, sollte nichts unversucht bleiben, dass »wettbewerbslose Oligopol« der Leistungsanbieter erneut zu einem Fall für das Kartellamt zu machen. Es stellt sich auch die Frage, warum bei so hochpreisigen Hilfsmitteln wie Hörgeräten kein Zweitmeinungsverfahren vertraglich implantiert wird. Dies könnte Druck auslösen, um Manipulationen bei der Anpassung zu minimieren. Und letztlich sollte auch über Ansätze nachgedacht werden, wie Akzeptanzprobleme beim Tragen von Hörgeräten minimiert werden können. Der Umgang mit den Hörgeräten bedarf eines auditiven Kommunikationstrainings. Versorgungsorientierung der Selbstverwaltung bedeutet: Den Verhandlern bei den Kassen sollten Leitplanken in der Vertragspolitik vorgegeben werden. Selbstverwalter/ innen sind auch aufgefordert, auf die Beratungsstrukturen bei ihrer Krankenkasse zu schauen. Die Beratung der Kasse muss am Beginn des Versorgungsprozesses qualifiziert erfolgen und darf sich nicht an dessen Ende auf die Diskussion um die Kostenübernahme beschränken. Die Kassen sollten Hörgeschädigte mit dem Ziel begleiten, dass sie wieder gut hören können. Darüber hinaus sollte in den Widerspruchsausschüssen der Kassen, in denen die Hilfsmittel häufig Streitgegenstand sind, konsequent auf gute Versorgung, den Erhalt des Sachleistungsprinzips und somit auf die korrekte Umsetzung des BSG-Urteils bestanden werden.

Der Autor: Günter Güner ist alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg und Mitglied des Verwaltungsrates des GKV-Spitzenverbandes.

IKK classic: Versichertenvertreter sorgen für betriebliches Gesundheitsmanagement in Handwerksbetrieben Von Bert Römer

Bei den Innungskrankenkassen (IKKen) sind traditionell viele Handwerker versichert. In Handwerksbetrieben sind die Mitarbeiter im Arbeitsalltag zumeist höheren körperlichen Belastungen ausgesetzt als in vielen anderen Branchen. Noch mehr als anderswo gilt es hier, für die Gesundheit der Beschäftigten zu sorgen – auch durch geeignete Maßnahmen direkt in den Betrieben. Die Versichertenvertreter der IKK classic1, der größten deutschen Innungskrankenkasse, haben deshalb ein Bonusprogramm zum betrieblichen Gesundheitsmanagement initiiert. Wie es dazu kam und wie das Programm funktioniert, wird im Folgenden erläutert.

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Die IKK classic war ursprünglich am 1. Januar 2010 aus der Fusion der IKK Baden-Württemberg und Hessen mit der IKK Hamburg sowie der IKK Sachsen und IKK Thüringen entstanden. Am 1. August 2011 wurde die Vereinigte IKK in die IKK classic aufgenommen. Die Vereinigte IKK war erst 2010 durch eine Fusion der IKK Nordrhein mit der Signal Iduna IKK entstanden. Die IKK classic hat derzeit rund 2,6 Mio. Mitglieder und 3,6 Mio. Versicherte sowie 460.000 Firmenkunden.

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Der demografische Wandel macht sich im Handwerk deutlich bemerkbar. Arbeitsplätze bleiben unbesetzt, weil die Zahl der Schulabsolventen deutlich sinkt. In manchem Kleinbetrieb altern Belegschaft und Eigentümer gemeinsam. Damit kommen neue Herausforderungen auf die Handwerksbetriebe zu. Sie müssen sich darauf einstellen,

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für ihre zunehmend älteren Beschäftigten sowie die stärker umworbenen Nachwuchskräfte attraktive Arbeitsbedingungen zu entwickeln und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.

Hoher Krankenstand im Handwerk Handwerker sind im Arbeitsalltag höheren körperlichen Belastungen ausgesetzt als viele Beschäftigte aus anderen Berufen. Daraus resultiert auch ein höherer Krankenstand.2 So lag der Krankenstand bei den Beschäftigten im Handwerk in den letzten Jahren stets über dem Krankenstand aller Beschäftigten der IKK classic, wie Abbildung 1 zeigt. Danach waren z. B. im letzten Jahr Handwerks-Beschäftigte unter den Versicherten der Kasse an 5,1 % ihrer jährlichen Versicherungszeit erkrankt. Unter allen beschäftigten IKK-Versicherten lag der Krankenstand dagegen nur bei 4,9 %. Abbildung 1: Krankenstand von Beschäftigten im Handwerk und allen beschäftigten Versicherten der IKK classic

Im Durchschnitt blieben berufstätige Handwerker im letzten Jahr 18,8 Tage krankheitsbedingt der Arbeit fern – und damit fast einen Tag mehr als alle beschäftigten Versicherten der IKK classic. Insgesamt verteilen sich die Krankheitstage auf 21 Krankheitsartengruppen entsprechend dem ICD-Code (International Classification of Diseases). Der Hauptanteil der Krankheitstage im gesamten Handwerk geht nach der aktuellen Analyse der IKK classic zur Gesundheitssituation weiterhin auf das Konto der Muskel-Skelett-Erkrankungen (29,2 %) und der Verletzungen (17,5 %), gefolgt von Erkrankungen des Atmungssystems (11,6 %). Die Abbildung 2 zeigt dies. Ein Vergleich der Gewerbegruppen (im Handwerk) macht deutlich: Die Bau-/Ausbaubranche weist mit 5,9 % im Jahr 2012 den höchsten Krankenstand auf. Der Anteil der Muskel-Skelett-Erkrankungen liegt im Bauhandwerk mit 34,3 % deutlich über dem Durchschnittswert des gesamten Handwerks (29,5 %), dies gilt auch für den Anteil der Verletzungen (s. Abb. 2). Die Fehltage mit psychischen Ursachen nehmen auch im Handwerk seit Jahren zu. Immerhin 6,1 % der Fehltage gingen 2012 darauf zurück. Der Anteil an Langzeiterkrankungen von mindestens sechs Wochen lag im gesamten Handwerk im letzten Jahr bei 50 %. Unter allen berufstätigen Versicherten der IKK classic lag dieser Anteil dagegen nur bei 46,8 %.3 Diese Fakten und Zahlen machen deutlich: Gerade die Mitarbeiter aus dem Handwerk benötigen nicht nur Arbeitsplätze, die alle Anforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz erfüllen, sondern auch Aufgaben, die den Fähigkeiten der alternden Belegschaften Rechnung tragen. Eine Aufgabe, die vor allem kleinere Betriebe nicht 2

Quelle: IKK classic, IKK-Krankenstandsanalyse 2012

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Der Krankenstand bezeichnet den Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage an allen Tagen (inklusive Sonn- und Feiertagen), für die Versicherungsschutz bestand. Im Jahr 2012 war durchschnittlich jeder ganzjährig bei der IKK classic versicherte Berufstätige 18,0 Tage krankgeschrieben. Das entspricht 4,9 Prozent der jährlichen Versicherungszeit. IKK classic: IKK-Krankenstandsanalyse 2012, Ludwigsburg 2013

Abbildung 2: Krankheitstage nach Krankheitsarten und Gewerbegruppen der berufstätigen IKK-Versicherten im Jahr 2012 (in Prozent)

Quelle: IKK classic: IKK-Krankenstandsanalyse 2012

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alleine stemmen können. Hier ist gesamtgesellschaftliches Engagement gefragt – auch durch die Unterstützung und Begleitung von Krankenkassen, die insbesondere bei der Einführung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements eine entscheidende Rolle spielen können und sollten. Ein betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) bietet den Beschäftigten und Unternehmen vielfältige Vorteile. Es werden: • Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter im Sinne guter Arbeit erhalten • Engagement und Motivation gefördert • Arbeitszufriedenheit verbessert • Produktivität gesteigert • Qualität der Produkte und Dienstleistungen erhöht • Arbeitsausfälle vermieden • Kosten gesenkt • Qualität und Attraktivität der Beschäftigung erhöht • Image und Bekanntheit des Unternehmens verbessert • Wettbewerbsfähigkeit erhöht

senden Angeboten zu unterstützen, wird somit von der IKK classic auch tatsächlich umgesetzt. Abbildung 3: Betreute Betriebe beim BGM nach Zahl der Mitarbeiter/innen 51–100 11–50

101–250

10 % 10 % 52 %

7%

> 250

21 % 1–10

Quelle: IKK classic

Der Verwaltungsrat als treibende Kraft beim BGM-Bonusprogramm Als dem Handwerk eng verbundene Krankenkasse unterstützt die IKK classic solche Betriebe mit ihrem Know-how besonders und übernimmt hier eine Vorreiter-Rolle. Schon bei der früheren IKK Nordrhein existierte ein BGM-Programm. Als diese Kasse 2010 mit der Signal Iduna IKK zur Vereinigten IKK fusionierte und sich die Vereinigte IKK schließlich 2011 mit der IKK classic zusammenschloss, galt dieses BGM-Programm nicht mehr. Denn alle Satzungsleistungen einer Kasse müssen nach einer Fusion neu ausgehandelt werden. Die Versichertenseite des Verwaltungsrats der IKK classic kämpfte aber während des Fusionsprozesses mehrheitlich für die flächendeckende Einführung eines Programms zum betrieblichen Gesundheitsmanagement. Dieser Prozess zog sich über mehrere Monate hin. Insbesondere finanzielle Bedenken wurden gegen die Einführung eines BGM-Programms geäußert. Bei einer Sonderklausur des Verwaltungsrats wurde schließlich ein Durchbruch erzielt. Es erfolgte die Zustimmung zu einem innovativen Konzept zur flächendeckenden Einführung eines Bonusprogramms zum betrieblichen Gesundheitsmanagement. Damit setzte der Verwaltungsrat der IKK classic ein Zeichen und rückte insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen ins Zentrum der betrieblichen Prävention. Rund 2.700 Betriebe erhielten in diesem Jahr bereits in persönlichen Gesprächen, Informationsveranstaltungen, Seminaren, Vorträgen oder Mailing-Aktionen erste Informationen zur Gesundheit im Betrieb. Bis zum September wurden knapp 1.100 Betriebe mit konkreten Angeboten zum BGM versorgt. Die Betriebsgrößen liegen dabei vorrangig bei den Klein- und Kleinstbetrieben mit bis zu 50 Mitarbeitern4 (s. Abbildung 3). Die politische Maßgabe, gerade klein- und mittelständische Unternehmen mit pas4

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IKK classic: eigene Auswertungen, Ludwigsburg September 2013

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Ablauf eines Projektes zum betrieblichen Gesundheitsmanagement Die Experten der IKK classic begleiten vor Ort die Umsetzung in den Unternehmen – genau ausgerichtet am jeweiligen Bedarf und der aktuellen Situation des Betriebes. Dabei werden vier Projektphasen unterschieden (s. Abbildung 4): In einem ersten Gespräch mit dem IKKGesundheitsmanager erfahren die Verantwortlichen, welchen Nutzen ihr Betrieb aus dem BGM ziehen kann. Gemeinsam werden Ziele vereinbart und das weitere Vorgehen der Zusammenarbeit besprochen. Abbildung 4: Die vier Projektphasen

Nach dem Auftaktgespräch mit dem Arbeitgeber erfolgt eine Analyse der aktuellen Gesundheitssituation mit den zur Auswahl stehenden verschiedenen Instrumenten, wie zum Beispiel der Arbeitssituationsanalyse (s. Kasten »Analyse der Gesundheitssituation im Betrieb«). Anschließend werden die vereinbarten Zielstellungen konkretisiert.

Gesundheit

Analyse der Gesundheitssituation im Betrieb Gesundheitsbericht: Die Auswertung der Arbeitsunfähigkeitsdaten ist der erste wichtige Schritt zur Beschreibung des Krankheitsgeschehens. Der Gesundheitsbericht gibt im Regelfall eine erste Orientierung, woran und wie häufig Beschäftigte erkranken. Mitarbeiterbefragung: Mit einem standardisierten Fragebogen werden kurz und prägnant wichtige Parameter zum Thema Arbeit und Gesundheit ermittelt. Als Ergebnis erhält der Betrieb eine Beschreibung des Ist-Zustandes aus Sicht der Beschäftigten und damit wichtige Anknüpfungspunkte für gesundheitsfördernde Maßnahmen. Arbeitsplatzanalyse: Der IKK-Gesundheitsmanager nimmt einzelne Arbeitsplätze anhand ausgewählter Kriterien unter die Lupe und bespricht mit dem Mitarbeiter gesundheitsrelevante Faktoren. Neben körperlichen und ergonomischen Aspekten werden die Themenfelder Kommunikation, Arbeitsorganisation und Ernährung am Arbeitsplatz analysiert und in einem Überblick zur Situation zusammengeführt. Arbeitssituationsanalyse (ASIA): Unter Einbeziehung der Beschäftigten wird die Arbeitssituation besprochen. Die Teilnehmer bringen gleichzeitig konstruktive Vorschläge zur Optimierung der Arbeitsbedingungen ein. Gesundheitszirkel: Im Rahmen einer Gesprächsrunde wird die betiebliche Belastungssituation ermittelt, um erste Schritte des Optimierungsprozesses in Gang zu setzen. Der Gesundheitszirkel macht die Betroffenen zu Beteiligten und Mitgestaltern. Auf diese Weise lassen sich die Kommunikation im Betrieb verbessern und der Veränderungsprozess zügig herbeiführen.

Im Gespräch wertet der Arbeitgeber schließlich gemeinsam mit dem IKK-Gesundheitsmanager und der Arbeitnehmervertretung die Ergebnisse der durchgeführten Analyse aus. Ziel ist es, den konkreten Handlungsbedarf zu ermitteln und geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation zu vereinbaren. Mögliche Handlungsfelder sind: • arbeitsbedingte körperliche Belastungen • Ernährung am Arbeitsplatz • psychische Belastungen und Stressmanagement • Suchtprävention Arbeitgeber, Arbeitnehmervertretung, Mitarbeiter und IKKGesundheitsmanager arbeiten dann gemeinsam an der Optimierung von Arbeitsprozessen und betrieblicher Kommunikation, beispielsweise mithilfe spezieller Trainings. Die Mitarbeiter nehmen im jeweiligen Handlungsfeld an den Trainings teil. Sie prüfen dort gezielt ihr persönliches Gesundheitsverhalten und optimieren es unter Begleitung der Experten. Für Führungskräfte werden zusätzlich spezielle Seminare angeboten. In vielen Betrieben können schon Kleinigkeiten – wie spezielle Hebe- und Tragevor-

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richtungen oder die Einführung altersgemischter Teams – große Veränderungen im Arbeitsalltag bewirken. Nach Abschluss der durchgeführten Maßnahmen wertet der IKK-Gesundheitsmanager gemeinsam mit dem Betrieb die Ergebnisse des durchgeführten Projektes aus. Es wird überprüft, ob die vereinbarten Ziele erreicht wurden. Möglicherweise sind weitere Maßnahmen notwendig. Die Gesundheitsmanager der IKK classic stehen dem Betrieb auch nach dem Projektende beratend zur Seite und unterstützen ihn bei der nachhaltigen Umsetzung.

Gesundheitsmanagement lohnt sich – mit dem IKK Bonus für Betriebe Wurden die gemeinsam vereinbarten Maßnahmen erfolgreich abgeschlossen, erhalten Betriebe zur Belohnung einen Bonus von 50 Euro für jeden IKK-versichterten Mitarbeiter, der am BGM teilgenommen hat. Der Bonus pro Betrieb ist aber auf maximal 2.500 Euro begrenzt. Die IKKversicherten Mitarbeiter erhalten ebenfalls 50 Euro, wenn sie an den Trainings im vereinbarten Handlungsfeld teilgenommen haben. Auch Versicherte anderer Kassen können an den gesundheitsfördernden Maßnahmen teilnehmen. Aus rechtlichen Gründen erhalten sie aber keinen Bonus von der IKK classic.5 Ein Bonus ist für die Kasse gut angelegtes Geld: Denn von den sinkenden Krankenständen und der gestiegenen Motivation in den betroffenen Unternehmen profitiert neben den Arbeitnehmern und -gebern auch die Solidargemeinschaft durch sinkende Behandlungskosten und reduzierte Arbeitsunfähigkeiten. Über die Honorierung durch ein solches Bonusprogramm hinaus sind Unternehmer gut beraten, wenn sie die Gesunderhaltung der Mitarbeiter als dauerhaftes Anliegen sehen. Solche Maßnahmen können durch Alterszeit-Regelungen sowie eine permanente Weiterbildung auch älterer Mitarbeiter flankiert werden. Dem Arbeitgeber kommt im Kleinbetrieb eine Schlüsselrolle zu: Sein Führungsverhalten prägt maßgeblich das Betriebsklima. Auch die zweite Führungsebene, der Meister, beeinflusst die Teamatmosphäre sowie die Kommunikation untereinander. Eine wertschätzende Mitarbeiterführung hält zum einen die Beschäftigten gesund und engagiert, zum anderen ist sie ein nicht zu unterschätzender Vorteil bei der Suche nach den raren Nachwuchskräften. Auch bei jungen Mitarbeitern machen sich – häufig bereits beim Berufseinstieg – gesundheitliche Beschwerden bemerkbar. Daher müssen auch die Auszubildenden in die Gesundheitsförderung einbezogen werden. Was das BGM bewirken kann, verdeutlichen zwei Praxisbeispiele:

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Mehr zu den Einzelheiten des BGM der IKK classic findet sich unter www. ikk-classic.de/bgm.

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Gesundheit

Praxisbeispiel 1: Kabeltechnik Struwe – körperliche Belastungen gesenkt Die Kabeltechnik Struwe GmbH aus dem Raum Stuttgart ist auf Kabelverlegung und -montage sowie auf die Wartung und Unterhaltung von Straßenbeleuchtungen und Signalanlagen spezialisiert. Sie hat 18 Beschäftigte. Die Arbeit im Graben erfordert gebücktes Stehen auf engstem Raum sowie das Tragen und Ziehen von schweren Kabeln bei jedem Wetter. Dies führt zu einer hohen Belastung von Rücken, Knien und Haut. Hinzu kommt ein Altersdurchschnitt der Belegschaft von rund 45 Jahren. Die Geschäftsführung befürchtete künftige Einbußen bei der Arbeitseffizienz durch zunehmende Rückenerkrankungen und wollte vorbeugend aktiv werden. Nach einem ausführlichen Erstgespräch wurde in der Firma eine Arbeitsplatzanalyse unter Beteiligung der Mitarbeiter durchgeführt. Deren Ergebnisse bestätigten das Handlungsfeld »körperliche Belastungen«. Der gemeinsam entwickelte Maßnahmenplan umfasste u. a. drei Trainings für Mitarbeiter, für die alle Teilnehmer von der Geschäftsleitung freigestellt wurden. Dabei wurden schonende Arbeitstechniken erläutert sowie Ausgleichs- und Kräftigungsübungen gezeigt. Besonders im Fokus standen dabei der Rücken und seine Funktion sowie rückenschonende Bewegungsabläufe. Die Monteure haben die gezeigten Tipps schnell verinnerlicht und ermahnen sich seitdem gegenseitig, schwere Lasten so zu heben wie in der Schulung gezeigt. Parallel tauschte die Geschäftsführung die Arbeitskleidung aus und berücksichtigte dabei stärker die vorhandenen individuellen Wünsche und Bedürfnisse hinsichtlich Kälteschutz und Flexibilität. Im gemeinsamen Abschlussgespräch wurden die durchgeführten Maßnahmen bewertet: Insgesamt wurde das Projekt von den Mitarbeitern sehr positiv aufgenommen. Aus ihrer Sicht hat sich die Kommunikation im Unternehmen deutlich verbessert. Das Team trifft sich weiterhin, um Probleme, Ideen und Verbesserungsvorschläge zu besprechen und umzusetzen. Die von der IKK-Gesundheitsmanagerin gezeigten Übungen sind fester Bestandteil des Tagesablaufs geworden und werden durch regelmäßige Auffrisch-Einheiten auch künftig aktiv gehalten. Zusätzlich ist geplant, einmal jährlich einen Gesundheitstag für alle Mitarbeiter durchzuführen. Für die Zukunft sind weitere Maßnahmen zur Gesundheitsförderung wie beispielsweise ein Sehtest und Maßnahmen gegen psycho-soziale Belastungen und zur Stressbewältigung geplant.

Praxisbeispiel 2: Dach- und Wandbau Kentzler – Arbeitsabläufe optimiert Der bereits in der fünften Generation betriebene Dortmunder Handwerksbetrieb Kentzler GmbH & Co. KG Dach und Wand ist Spezialist für alles, was mit Fassaden und Dächern zu tun hat: vom kleinen Vordach bis zur riesigen Dachfläche von mehreren 10.000 Quadratmetern. Aufgrund des Kostendrucks in der Branche müssen die 40 Mitarbeiter sehr flexibel auf ihre Kunden reagieren. Das 338

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führt immer häufiger zu einer hohen Anspannung am Arbeitsplatz. Im BGM-Konzept der IKK classic sah die Unternehmensleitung eine Chance, Probleme und Belastungen der Mitarbeiter zu verringern. Die Arbeitsplatzanalyse offenbarte: Viele Mitarbeiter fühlten sich müde, matt und erschöpft. Ziel aller Beteiligten war es deshalb, die Arbeitsorganisation und Kommunikation – und damit auch das Betriebsklima – zu optimieren. Bei einem Führungskräfteworkshop stellte die IKKGesundheitsmanagerin der Geschäftsführung, den Vorarbeitern sowie den Bau- und Werkstattleitern die Analyseergebnisse und geplanten Maßnahmen vor. Denn betriebliches Gesundheitsmanagement ist eine Führungsaufgabe: Ein mitarbeiterorientierter und gesundheitsgerechter Führungsstil hat direkten Einfluss auf die Gesundheit und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Arbeitsplatzanalyse laufen aktuell Stressmanagement-Trainings, die in regelmäßigen Abständen wiederholt werden sollen. Hier erweitern die Mitarbeiter ihr Wissen über das Entstehen von Beschwerden, erlernen ausgleichende Übungen und stärken ihre individuellen Ressourcen. Die Trainings finden während der Arbeitszeit statt. So werden die Ausgleichsübungen direkt in den Tagesablauf eingebaut. Zusätzlich wurde ein Arbeitskreis Gesundheit installiert. Hier treffen sich einmal im Quartal Mitarbeiter aus allen Abteilungen, besprechen Probleme und finden gemeinsam mit den Führungskräften Lösungen, um Belastungssituationen zu verändern. Wo hakt es zum Beispiel bei Arbeitsmitteln und der Organisation und wie kann die Schnittstelle zwischen Baustelle und Büro optimiert werden? Kommunikation und Krankenstand haben sich nach Einschätzung der Mitarbeiter dadurch bereits deutlich verbessert. Ziel ist es, auch in Zukunft organisatorische Stressauslöser zu reduzieren oder abzuschalten. Das Projekt wurde von den Mitarbeitern gut aufgenommen. Doch betriebliches Gesundheitsmanagement beschränkt sich nicht auf einzelne Aktionen, sondern ist langfristig angelegt, um nachhaltig zu wirken. Als weitere Erkenntnis aus der Mitarbeiterbefragung folgt deshalb im nächsten Jahr, das Handlungsfeld »arbeitsbedingte körperliche Belastungen« anzugehen. Das gebückte Arbeiten auf schrägen Dachflächen sowie das Tragen und Ziehen von schweren Lasten auf den Baustellen belastet die Wirbelsäule ebenso wie die Gelenke. Viele Mitarbeiter klagen deshalb auch über Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich. Zudem plant die Firma Kentzler, jährlich einen Gesundheitstag für alle Mitarbeiter durchzuführen. Parallel erhält sie jährlich im Gesundheitsbericht der IKK classic eine Analyse der Krankenstände. Außerdem wird die Mitarbeiterbefragung in regelmäßigen Abständen wiederholt. Die strukturierten Vorgaben des IKK-Systems ermöglichen es Kentzler, selbstständig weiter am BGM zu arbeiten.

Der Autor: Bert Römer ist Gewerkschaftssekretär beim Vorstand der IG Metall und Verwaltungsratsmitglied der IKK classic sowie des GKV-Spitzenverbandes.

Selbstverwaltung

Die Suche nach dem richtigen Reformweg Tagung im Bundesarbeitsministerium zu Perspektiven der Selbstverwaltung Von Hans Nakielski

Schon viele Jahre wird über Reformen und eine Modernisierung der sozialen Selbstverwaltung diskutiert. »Im Grunde sind sich alle politischen Lager einig, dass der Gesetzgeber rechtzeitig vor der nächsten Sozialwahl handeln muss«, sagte der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Gerald Weiß, am 1. Oktober zu Beginn des von ihm veranstalteten wissenschaftlichen Symposiums »Ein Jahrhundert Sozialwahlen – 60 Jahre soziale Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland«. Etwa 150 Selbstverwalter, Wissenschaftler und Politiker diskutierten auf dieser Tagung im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Berlin über die Perspektiven der sozialen Selbstverwaltung.

»Wir wollen durch eine Vergewisserung zurück den Blick nach vorne schärfen«. So Gerald Weiß zum Ziel der Tagung. 1913 – also vor 100 Jahren – hatte es die ersten Wahlen der Selbstverwaltung bei den Krankenkassen nach der damals neuen Reichsversicherungsordnung (RVO) gegeben. »Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung und Wahlen zu dieser sind jedoch noch wesentlich älter und waren bereits in der Bismarck’schen Arbeiterversicherung enthalten«, berichtete Prof. Wolfgang Ayaß von der Universität Kassel in seinem geschichtlichen Rückblick. Er machte u. a. deutlich, dass das Frauenwahlrecht bei den Krankenkassen lange vor dem politischen Wahlrecht der Frauen existierte und dass es immer schon »Wahlen ohne Wahlhandlungen« (so genannte Friedenswahlen) bei den Sozialversicherungsträgern gegeben hat. »Diese Friedenswahlen haben eine lange Tradition. Sie sind keine Erfindung bundesrepublikanischer Sozialpartnerschaft«, so Ayaß. Nach 1913 fanden die nächsten (zweiten) Wahlen zur Selbstverwaltung bei den Krankenkassen erst 1921 statt. 1924 gab es schließlich die ersten regulären Selbstverwalter-Wahlen nach der RVO in den übrigen Sozialversicherungszweigen. Dann wurde in der Weimarer Republik bei allen Sozialversicherungsträgern noch einmal im Jahr 1928 gewählt. Eigentlich hätten die Selbstverwalter danach 1932 erneut gewählt werden müssen. Doch diese Sozialwahlen wurden wiederholt verschoben. »Die Nationalsozialisten beseitigten dann 1934 die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung und damit auch die Wahlen zu dieser. Bei den Versicherungsträgern wurde das so genannte Führerprinzip eingeführt«, berichtete Ayaß auf der Tagung in Berlin.1 Erst 1953 – also vor 60 Jahren – endete dann die von den Nazis verordnete Zwangspause der demokratischen Mitbestimmung der Betroffenen bei der Sozialversicherung. Am 16. und 17. Mai 1953 fanden die ersten Sozialwahlen der Nachkriegszeit statt. Die letzten Sozialwahlen – es waren die elften in der Geschichte der Bundesrepublik – gab es im Juni 2011.2

Soziale Selbstverwaltung in Europa auf dem Rückzug »Deutschland war nicht nur bei der Einführung der Sozialversicherung, sondern auch bei der Einführung der sozialen Selbstverwaltung ›Pionier‹«. Das sagte Tanja Klenk von der Universität Potsdam auf der Berliner Tagung. Nach und nach führten nach Deutschland schließlich auch andere europäische Länder Strukturen der sozialen Selbstverwaltung ein: zunächst Österreich, danach Tschechien, Ungarn, Belgien, Frankreich, Luxemburg und schließlich auch die Niederlande. Die Selbstverwaltung ist (bzw. war3) in diesen Ländern aber wegen der unterschiedlichen Organisationsformen der Sozialversicherungen und ihrer Gremien4 nicht immer mit dem deutschen Modell vergleichbar.5 So erfolgt etwa in Belgien die Besetzung der Selbstverwaltungsgremien nur auf regionaler Ebene durch (Friedens-)Wahlen. Auf der nationalen Ebene findet eine Entsendung durch repräsentativ anerkannte Verbände statt. Der (Sozialversicherungs-)Präsident wird von der Regierung eingesetzt, wie Klenk berichtete. In der staatszentrierten Sozialversicherung Frankreichs erfolgt die Entsendung der Sozialversicherungs-Organe nur durch repräsentative Verbände. Die Sozialwahlen – und damit das Kernelement der sozialen Selbstverwaltung – wurden hier 1996 abgeschafft. Die Geschäftsführung (der »Directeur«) der Sozialversicherung wird durch die Regierung eingesetzt. Die Rolle der Sozialpartner wird immer unbedeutender. Sie haben nur noch eine beratende Funktion. Der Staat entscheidet immer mehr allein. Abgeschafft haben die Sozialwahlen – und damit die Selbstverwaltung – auch die Niederlande. Dies war eine 1 2 3 4 5

Einen ausführlichen Artikel von Prof. Wolfgang Ayaß zur Frühgeschichte der Sozialwahlen bringt die Soziale Sicherheit demnächst. vgl. u. a. Marco Frank: Die Ergebnisse der Sozialwahlen 2011, in: SozSich 6–7/2011, S. 224–229 In vier dieser Länder wurde die soziale Selbstverwaltung inzwischen wieder abgeschafft (s. unten). Unterschieden wird zwischen staatsnahen, verbandlichen (pluralistischen oder korporatistischen) und Sozialunternehmens-Selbstverwaltungen. vgl. Tanja Klenk/Philine Weyrauch/Alexander Haarmann/Frank Nullmeier: Abkehr vom Korporatismus? Der Wandel der Sozialversicherungen im europäischen Vergleich, Frankfurt a. M. 2012

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Folge des niederländischen Weges, der Markt und Wettbewerb bei der Sozialversicherung in den Vordergrund stellt und eine privatrechtlich organisierte Krankenversicherung für jeden eingeführt hat.6 Auch in Tschechien und Ungarn gibt es laut Tanja Klenk mittlerweile keine soziale Selbstverwaltung mehr. Insbesondere die »Ökonomisierung der Sozialpolitik« und die damit verbundene Einführung von Wettbewerb und Privatisierung hätten sich als große Herausforderungen für den Fortbestand der sozialen Selbstverwaltung in Europa bewiesen, berichtete die Wissenschaftlerin der Universität Potsdam. Der Fortbestand der sozialen Selbstverwaltung sei eher in Ländern mit »korporatistischem Erbe« und »staatlichen Organisationshilfen« zu beobachten. Aber auch diese Elemente würden nicht vor einer Krise der sozialen Selbstverwaltung schützen. Die Diskussion zur Behebung dieser Krise und Modernisierung der sozialen Selbstverwaltung sei in Deutschland viel weiter fortgeschritten als in anderen Ländern Europas, stellte Tanja Klenk fest. Deutschland könne hier also ein »Innovationsmotor« sein.

Warnung vor Privatisierung Prof. Felix Welti (Universität Kassel) wies auf der Tagung insbesondere auf Gefahren für das System der sozialen Selbstverwaltung hin, die mit einem verstärkten Wettbewerb oder sogar einer Privatisierung der gesetzlichen Krankenkassen verbunden sind. Für eine Privatisierung sprachen sich erst kürzlich die Professoren Thorsten Kingreen und Jürgen Kühling von der Universität Regensburg in einem Rechtsgutachten für die AOK Baden-Württemberg zur »monistischen Einwohnerversicherung« aus: Um einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen zwischen der privaten Krankenversicherung (PKV) und der GKV zu ermöglichen, müsse eine private Rechtsform für alle Versicherungsanbieter – also auch die gesetzlichen Kassen – gewählt werden. Die Organisation in so genannten Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sei besonders empfehlenswert, denn dadurch könne »einerseits an eine in der PKV weit verbreitete Rechtsform angeknüpft werden und anderer6

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vgl. Christina Walser: Bürgerversicherung mit einer Kopfpauschale. Nach der Gesundheitsreform in den Niederlanden: Eine neue Krankenversicherung für jeden, in: SozSich 3/2006, S. 87–92; Stefan Greß/Maral Manouguian/Jürgen Wasem: Deutsche und niederländische Krankenversicherungsreform im Vergleich, in: SozSich 12/2006, S. 412–417 »AOK Baden-Württemberg und renommierte Wissenschaftler plädieren für einen gemeinsamen Krankenversicherungsmarkt«, Pressemitteilung der AOK-Baden-Württemberg v. 31. 7. 2013 vgl. Katharina Baumeister/Andreas Hartje/Nora Knötig/Thomas Wüstrich: GKV-Selbstverwaltung am Scheideweg. Handlungsfelder identifizieren, Hemmnisse abbauen, Handlungskompetenzen stärken, in: SozSich 8–9/2012, S. 293–299; Andreas Hartje/Nora Knötig/Thomas Wüstrich: Selbstverwaltung bei den Krankenkassen: Wie mehr Versichertennähe erreicht werden kann, in: SozSich 2/2013, S. 45–52 vgl. Dieter Leopold: Bundeswahlbeauftragter will viele Neuerungen bei der Selbstverwaltung: Von »Friedenswahlen« zu »echten« Sozialwahlen, in: SozSich 10/2012, S. 348–351 Die Bundesregierung prüft diese Vorschläge derzeit (immer) noch. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der SPD hervor; vgl. Hans Nakielski: Bundesregierung lässt die meisten Fragen offen, S. 341 f. in diesem Heft.

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seits auch der traditionelle Selbstverwaltungspfad der GKV beibehalten werden«.7 Welti warnte: Die Selbstverwaltung verliert ihre Legitimation, wenn bei der sozialen Sicherheit der Wettbewerb zum Maßstab wird. Wettbewerb und Privatisierung seien hier nicht das Beste. Er zog Parallelen zu anderen öffentlichen Sektoren: »Die Netze für Wasser, Energie und Verkehr sollen in öffentlicher Hand sein.« Auch sie seien aber teilweise privatisiert worden und würden jetzt auf Wunsch der Bevölkerung teuer zurückgekauft, so der Kasseler Rechtswissenschaftler. »Das Netz der sozialen Sicherheit ist die Sozialversicherung. Wenn Selbstverwaltung und Politik seine Knoten pflegen und es als Netz der Bürgerinnen und Bürger ausgestalten, werden wir uns den teuren Rückkauf sparen können.« Thomas Wüstrich, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität der Bundeswehr München, stellte in seinem Vortrag auf dem Symposium heraus: Sowohl der Markt als auch Staat seinen nur begrenzt geeignet, in den hochgradig arbeitsteilig organisierten sozialen Sicherungssystemen eine an den Bedürfnissen der Versicherten orientierte ökonomische Steuerung zu gewährleisten. Hier sei deshalb die Steuerung durch die Selbstverwaltung eine gute Alternative. Allerdings müssten die Handlungskompetenzen der Selbstverwalter gestärkt werden.8

Selbstverwaltung stärken – aber wie? Wie die Selbstverwaltung gestärkt und modernisiert werden kann, stand auch im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion mit den Abgeordneten der (zuletzt) im Bundestag vertretenen Parteien. Dabei ging es insbesondere auch um die Vorschläge, die der Bundeswahlbeauftragte Gerald Weiß und sein Stellvertreter Klaus Kirschner in ihrem über 300 Seiten starken Schlussbericht zur letzten Sozialwahl zur Erneuerung und Revitalisierung der sozialen Selbstverwaltung und ihrer Wahlen gemacht haben.9 Danach sollen u. a. die bisherigen Friedenswahlen abgeschafft werden. An Stelle des bisherigen Wahlverfahrens soll ein dreistufiges »Kaskadenmodell« eingeführt werden. Außerdem soll die Möglichkeit von Online-Wahlen geschaffen und eine Frauenquote bei der Besetzung der Selbstverwaltungsgremien eingeführt werden. Damit Interessenkonflikte vermieden werden, sollen Leistungsanbieter und Personen mit regelmäßigen Geschäftsbeziehungen zum Sozialversicherungsträger keine Ämter in der Selbstverwaltung mehr innehaben dürfen. Die Freistellungsregelungen für Selbstverwalter sollen verbessert und die gesetzliche Pflicht zur Weiterbildung eingeführt werden. Außerdem sollen die Kassen-Selbstverwalter künftig wieder die (allgemeinen) Beitragssätze und die Selbstverwalter der Rentenversicherungsträger eigenständig das RehaBudget festsetzen.10 Für den Obmann der Grünen im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales, Markus Kurth, sind die Vorschläge der Bundeswahlleiter »durchaus wegweisend«. Ähnlich sah es auf der Berliner Tagung auch Karl Schiewerling, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der

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CDU/CSU Bundestagsfraktion: »Ich hoffe sehr, dass wir auf der Grundlage des Berichts der Bundeswahlleiter zu einer Lösung kommen.« Gleichzeitig erklärte er aber auch: »Die Vorschläge von Weiß und Kirschner sind in der CDUFraktion nicht unumstritten.« Umstritten ist – insbesondere unter gewerkschaftlichen Selbstverwaltern – die von den Wahlbeauftragten geplante Abschaffung der Friedenswahlen.11 Bei der Podiumsdiskussion sprachen sich jedoch vier der fünf vertretenen Politiker dafür aus. Einzig die Abgeordnete der Linken, Sabine Zimmermann, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales, plädierte »für den Erhalt der Friedenswahlen«. Sie hätten sich bewährt und dazu geführt, dass nicht zahlreiche kleinste »Gruppierungen« in den Selbstverwaltungen seien. Dagegen meinte der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Johannes Vogel: »Bei Wahlen muss eine echte Auswahl bestehen.« Ähnlich sieht es der Grüne Markus Kurth. Man müsse das Alltagsverständnis von einer Wahl ernst nehmen. »Wahlen bedeuten: Wahlvorgang mit Wahlurne!« Auch für den stellvertretenden rechtspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Edgar Franke gehören Urwahlen in der Selbstverwaltung zur »conditio sine qua non«, um die Akzeptanz zu erhöhen. Nur bei den Unfallversicherungsträgern könne an den Friedenswahlen festgehalten werden, meinte Franke. Die Frage aus dem Publikum, ob die obligatorischen Urwahlen dann auch für die Arbeitgeberseite gelten sollten, wurde von den angesprochenen Politikern bejaht. Auch die Bundeswahlbeauftragten sehen in ihrem Vorschlag die verpflichtende Urwahl auf der Arbeitgeberseite vor, wie Klaus Kirschner auf der Tagung deutlich machte.

Eine Kontroverse entspann sich zur Frage, ob die Selbstverwalter der gesetzlichen Kassen künftig wieder die volle Autonomie bei der Festlegung ihrer Beiträge bekommen sollten. Derzeit können sie nur über die Erhebung der problematischen Zusatzbeiträge bestimmen. Für Edgar Franke (SPD) ist die Beitragsautonomie der Selbstverwaltung »ein ganz wichtiger Punkt«. Auch Markus Kurth (Grüne) und Karl Schierwerling (CDU) wollen den Kassenvertretern die Beitragsautonomie zurückgeben. Durch den Wettbewerb seien die Kassen gezwungen, mit ihren Mitteln verantwortungsbewusst umzugehen, so Schierwerling. Dagegen meinte die AOK-Selbstverwalterin Angelika Beier: »Ich möchte mit anderen Kassen nicht im Wettbewerb um den Preis, sondern um die Qualität stehen.« Es sei früher auch kein Vergnügen gewesen, in der Kasse mit den Arbeitgebern über die Höhe des Beitrags zu verhandeln. Außerdem müssten Kassen mit einer schlechten Mitgliedsstruktur dann wieder höhere Beiträge nehmen als andere Kassen. Es gab auf der Tagung viele Klagen darüber, dass die Selbstverwalter und ihre Aktivitäten so wenig Beachtung in der Politik und bei den Medien finden. »Selbstverwaltung und Sozialwahlen sind keine Glamour-Themen«, stellte dazu Karl Schiewerling (CDU) fest. »Die Selbstverwaltung spielt in der Politik eine untergeordnete Rolle.« Dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird, glaubt wohl niemand. So war man auf der Tagung in Berlin auch skeptisch, ob diesmal im anstehenden Koalitionsvertrag der neuen Regierung etwas zur Reform der Selbstverwaltung stehen werde. Dabei sollte doch »in dieser Legislaturperiode endlich eine Reform kommen«, wie der stellvertretende Bundeswahlbeauftragte Klaus Kirschner am Ende der Tagung beschwor.

Der Autor: Hans Nakielski ist verantwortlicher Redakteur der Sozialen Sicherheit.

11 vgl. auch Ingo Nürnberger/Marco Frank: Zum Bericht des Bundeswahlbeauftragten: Starke Selbstverwaltung gibt es nur mit starken Sozialpartnern, in: SozSich 10/2012, S. 351 f.

Kleine Anfrage zur Reform der Selbstverwaltung:

Bundesregierung lässt die meisten Fragen offen Von Hans Nakielski

Die SPD-Fraktion im Bundestag hatte der noch amtierenden Bundesregierung Ende August diesen Jahres 39 Fragen zu Reformperspektiven der sozialen Selbstverwaltung und der Sozialversicherungswahlen gestellt (BT-Drs 17/14500). Am 20. September hat die Bundesregierung darauf geantwortet – allerdings kaum konkret (BT-Drs. 17/14779). Die Bundesregierung lässt das Parlament über eine mögliche Reform der Selbstverwaltung im Unklaren. In weiten Passagen bezieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Modernisierungsvorschläge der Bundeswahlbeauftragen in ihrem Ende September 2012 vorgelegten Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2011 (s. auch S. 340). Die Bundesregierung prüfe »diese vielfältigen und weitreichenden Vorschläge« zurzeit noch auf die »Umsetz-

barkeit jedes einzelnen Vorschlags«, heißt es dazu in ihrer Antwort. Dabei ist jetzt bereits ein Jahr vergangen, seit diese Vorschläge vorliegen. Ziel der Prüfung der Bundesregierung sei es, »nach Abschluss der Überlegungen und breiter Diskussion mit allen Beteiligten, eine von Sozialpartnern und Selbstverwaltern

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mitgetragene und auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens fußende Reform des bisherigen Sozialwahlrechts anzustreben«, heißt es in der Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD. Eng damit verknüpft sei die Frage, welche begleitenden Maßnahmen möglicherweise zusätzlich erforderlich wären, um die soziale Selbstverwaltung zukunftsfest auszugestalten. »Auch dies prüft die Bundesregierung derzeit intensiv und ergebnisoffen.« Nur ganz wenige Andeutungen macht die Bundesregierung zu ihren eigenen Reformvorstellungen. Auf keinen Fall dürften bei der Selbstverwaltung Strukturen geschaffen werden, »die einen höheren personellen und finanziellen Aufwand und ein Mehr an Bürokratie bedeuten«. Eine Vergrößerung bestehender Trägerstrukturen soll es nicht geben. Abgelehnt werden von der Bundesregierung auch Vorschläge, den Kreis der bisher zu den Sozialversicherungswahlen vorschlagberechtigten Verbände und Vereinigungen auf alle Vereinigungen mit sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung zu erweitern. Darin sieht sie »kein geeignetes Mittel zur Stärkung des Selbstverwaltungsprinzips«. Ein effizientes und langfristiges Arbeiten der Sozialversicherungsträger sei auch in Zukunft »eng mit einer ausschließlichen Beteiligung der die Sozialversicherung finanziell stützenden Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen verknüpft«. Eine Verschiebung der Parität in den Selbstverwaltungsorganen soll es nicht geben. Dies wurde vereinzelnd vorgeschlagen, weil die Arbeitgeber mittlerweile wesentlich weniger in die Sozialkassen einzahlen als die Arbeitgeber. »Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung […] zu einer Verschiebung des Anteils der Versichertenvertreterinnen und -vertreter zu Ungunsten der Arbeitgeberseite hin zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Versichertenseite.« Die Bundesregierung ist nicht der Meinung, dass es einigen Verbänden und Vereinigungen (Mini-Listen) in der Selbstverwaltung nach der heutigen Rechtslage an der notwendigen sozialpolitischen Relevanz und organisatorischen Leistungsfähigkeit mangelt. Eine Begrenzung der Vorschlagslisten nach sozialpolitischer Relevanz und Kompetenz sollte es daher aus Sicht der Regierung nicht geben. Eine Modernisierung der Sozialwahlen solle nicht dazu führen, »die Zugangshürden für die Partizipation an die Selbstverwaltung zu erhöhen. Vielmehr sollte es Ziel der Überlegungen sein, hier für mehr Erleichterungen zu sorgen«, schreibt die Bundesregierung. Dagegen sieht die Bundesregierung auch ein Problem darin, wenn bei den Sozialversicherungswahlen Organisationen den Namen eines Sozialversicherungsträgers in ihre Bezeichnung aufnehmen. Dies sei zwar »kein rechtliches Problem«. Eine »Diskussion über die Regelungen zur Namensgebung der kandidierenden Listen« solle aber geführt werden. Auch Vorschläge zur Verringerung der Gefahren von Interessenkonflikten (z. B. durch die Wahlmöglichkeit von Leistungserbringern in Gremien der Selbstverwaltung) werden von der Bundesregierung begrüßt. Wer – wie Familienversicherte in der GKV – keine Beiträge in die Versicherungskasse einzahlt, soll auch künftig 342

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kein Wahlrecht bei den Sozialwahlen haben. »Die Bundesregierung sieht weder eine verfassungsrechtliche noch eine sozialpolitische Notwendigkeit, die Wahlberechtigung auf nicht beitragszahlende Versicherte auszuweiten«. Der Anregung, auch Versichertenälteste und Vertrauenspersonen während der Sozialversicherungswahlen gleichfalls in einem Wahlverfahren zu bestimmen, steht die Bundesregierung eher skeptisch gegenüber. Denn dies würde »einerseits einen nicht unbeachtlichen Mehraufwand darstellen« und andererseits könnten den Versichertenältesten dadurch möglicherweise »Aufgaben und Verantwortung« zugebilligt werden, die mit denen der Selbstverwalter vergleichbar seien. »Sozialräte hält die Bundesregierung für kein geeignetes Mittel, die Präsenz und Kompetenz auf lokaler und regionaler Ebene zu verbessern«.

Mehr Frauen, Behinderte und Migranten in die Selbstverwaltungen Die Bundesregierung findet, dass der »bisherige Anteil der in den Selbstverwaltungsgremien vertretenen Frauen von durchschnittlich teilweise unter 20 Prozent kein Abbild der bei den einzelnen Trägern versicherten Frauen« darstellt. Deshalb bedürfe es »unterstützender Maßnahmen, um den Anteil der Frauen möglichst noch bei den kommenden Sozialwahlen deutlich zu erhöhen«. Welche Maßnahmen das sein sollen (Quotenregelung?), wird allerdings nicht gesagt. Ziel der Reformbemühungen müsse es sein, »gerade für Frauen, jüngere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Migrationshintergrund – als in Teilen bisher wenig stark vertretene Personengruppen – wirksamere und attraktivere Möglichkeiten zu eröffnen, sich ehrenamtlich in allen Gremien der Selbstverwaltung zu engagieren.« Die Einführung eines Onlinewahlverfahrens bei den Sozialwahlen würde aus Sicht der Bundesregierung zwar »einen großen und sehr bedeutenden Schritt zur Modernisierung des gesamten Wahlverfahrens darstellen.« Es könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber noch nicht abgeschätzt werden, »ob es bei den Sozialwahlen 2017 bereits in Teilen oder flächendeckend möglich sein wird, Wahlen über das Internet anzubieten.« Einige Andeutungen macht die Bundesregierung auch zur Zukunft der gesetzlichen Krankenkassen. Es bestehe nicht die Absicht, »den Status von gesetzlichen Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu verändern«. Auch soll der § 197 Abs. 1 Nr. 1b SGB V nicht konkretisiert werden, wonach die Verwaltungsräte über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung der Krankenkassen entscheiden. Die Bestimmung erlaube »dem Verwaltungsrat einer Krankenkasse in eigener innerorganisatorischer Verantwortung zu entscheiden, welche Fragen für ihn von grundsätzlicher Bedeutung sind. Die Notwendigkeit für eine weitere Konkretisierung wird derzeit nicht gesehen«, schreibt die Bundesregierung.

Selbstverwaltung

Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Revitalisierung nutzen:

Beteiligung der Gewerkschaften an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen Von Jendrik Scholz

Die (Forschungs-)Debatten über die Krisen und die Erneuerung der Gewerkschaftspraxis konzentrierten sich in der Vergangenheit auf die beiden gewerkschaftlichen Kerngeschäftsfelder: die Betriebs- und die Tarifpolitik. Nunmehr rückt zunehmend auch die Frage in den Fokus, welchen Beitrag die sozialpolitische Praxis der Gewerkschaften zu ihrer Revitalisierung leisten kann. Hier werden krisenhafte institutionelle Machtressourcen wie die gewerkschaftlichen Beteiligungen an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen auf ihre gewerkschaftlichen Erneuerungspotenziale hin untersucht. Am Ende stehen – zur Weiterführung der Debatte – sechs Thesen in Frageform.

Erosion der institutionellen Machtressourcen Die sozialpolitische Praxis der Gewerkschaften entfaltet sich überwiegend über institutionelle Machtressourcen – u. a. in Gremien der Selbstverwaltung von Sozialversicherungen und in anderen korporatistischen Arrangements. Im Folgenden wird die institutionelle Beteiligung der Gewerkschaften an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen im Sinne des »Jenaer Machtressourcenansatzes« (s. unten) auf den Prüfstand gestellt und in die laufende Revitalisierungsdebatte eingeordnet. Die gewerkschaftliche Beteiligung an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen ist neben der für Deutschland typischen Dualität betrieblicher Interessenvertretung (Betriebs- und Personalräte) und überbetrieblicher Tarifpolitik (Flächentarifverträge) eine weitere »Arena«1 (Walter Müller-Jentsch), in der gewerkschaftliche Machtressourcen Wirkungen entfalten.2 Der Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologe Prof. Klaus Dörre (Universität Jena) unterscheidet im »Jenaer Machtressourcenansatz« zwischen • »struktureller Macht«, die »aus der Stellung der Lohnabhängigengruppen im ökonomischen System erwächst«, • »Organisationsmacht«, die »aus dem Zusammenschluss zu kollektiven politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen entsteht«3 und auf »handlungsfähige Gewerkschaften« angewiesen sei, • sowie »institutioneller Macht«4, die »Resultat« sei »von Aushandlungen und Konflikten, die auch über strukturelle und organisatorische Machtressourcen ausgetragen werden«5. Die gewerkschaftliche Beteiligung an den Selbstverwaltungen der deutschen Sozialversicherungen ist in diesem Sinne »institutionelle Macht«, die »von den Gewerkschaften auch noch in Zeiten rückläufiger Organisationsmacht genutzt werden«6 könne. Dies setze aber voraus, dass die Gewerkschaften »trotz nachlassender Bindefähigkeit bei Arbeitern und Angestellten seitens der Kapitalverbände und Regierungen weiterhin als authentische Repräsentanten von Arbeitsinteressen akzeptiert werden«t7.

Für die Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen – und damit auch für die gewerkschaftliche Beteiligung an ihnen – wird ein sinkender Einfluss konstatiert.8 Ihr wird von Ingo Nürnberger und Marco Frank zu Recht auch eine »Introvertiertheit«9 gegenüber der Öffentlichkeit attestiert. Die Wahlen zur Selbstverwaltung würden »daran kranken, dass es weder echte Konkurrenz und Auswahl noch eine repräsentative Beteiligung der Betroffenen gibt«10, bemängeln der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn und der ehemalige Abgeordnete Johannes Vogel (FDP) in ihrem im Juni 2011 vorgelegten »Positionspapier Sozialwahlen«. Die Arbeit der Gewerkschaften in der Selbstverwaltung sei geprägt durch eine »Legitimationsschwäche durch die Art der Durchführung der Sozialwahlen«, »Rekrutierungsund Qualifikationsdefizite der Selbstverwalter«, eine »unzulängliche Nutzung der Handlungsmöglichkeiten« und eine »geringe Informiertheit über die Versichertenbedarfe«11. So das Ergebnis einer Studie von Bernhard Braun (Universität Bremen) und seinen Mitautoren.

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Walther Müller-Jentsch: Auf dem Prüfstand – Das deutsche Modell der industriellen Beziehungen, in: Industrielle Beziehungen – Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management 1/1995, S. 13 (Fußnote 4) vgl. Wolfgang Schroeder/Benjamin Erik Burau: Soziale Selbstverwaltung – eine demokratische Beteiligungsinstitution unter Druck. Vorschläge zur Revitalisierung der Selbstverwaltung in der GKV, in: SozSich 8/2008, S. 251 Klaus Dörre: Überbetriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen, in: Fritz Böhle/G. Günter Voß/Günther Wachtler (Hrsg.): Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010, S. 876 ebenda ebenda ebenda ebenda vgl. Dieter Leopold: Bundeswahlbeauftragter will viele Neuerungen bei der Selbstverwaltung: Von »Friedenswahlen« zu »echten« Sozialwahlen, in: SozSich 10/2012, S. 349 Ingo Nürnberger/Marco Frank: Zum Bericht des Sozialwahlbeauftragten: Starke Selbstverwaltung gibt es nur mit starken Sozialpartnern, in: SozSich 10/2012, S. 352 Jens Spahn/Johannes Vogel: Positionspapier Sozialwahlen, 20. 6. 2011 Bernhard Braun/Martin Buitkamp/Daniel Lüdecke: Selbstverwaltung als Mechanismus zur Durchsetzung von Versicherteninteressen, in: Bernhard Braun/Stefan Greß/Heinz Rothgang/Jürgen Wasem (Hrsg.): Einfluss nehmen oder aussteigen – Theorie und Praxis von Kassenwechsel und Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Berlin 2008, S. 180–186

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Eine Studie der Universität der Bundeswehr in München kommt zu dem Ergebnis, dass bei der gewerkschaftlichen Beteiligung an der Sozialversicherung »weder von einer zweckorientierten noch von einer rationalen Form der Handlungsorganisation gesprochen werden«12 könne. Es mangele den gewerkschaftlichen Selbstverwaltern an »operationalen Zielvorstellungen«, so dass sie »sich selbst überlassen« bleiben würden.13 Ausdruck der »mangelnden Legitimität, unzureichenden Akzeptanz sowie geringen Effektivität«14 der gewerkschaftlichen Beteiligung an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen ist auch die geringe durchschnittliche Wahlbeteiligung, die im Jahr 2011 mit 30,15 % noch einmal leicht gesunken ist gegenüber 30,8 % im Jahr 2005.15 Die Hans-Böckler-Stiftung bilanziert ein »sinkendes Interesse an der Selbstverwaltung« und spricht von einer »Sozialwahl ohne Wähler«.16 Die Zahl der gewerkschaftlichen Selbstverwalter ist laut Udo und Silke Kruse von rund 35.000 im Jahr 1990 auf nur noch 2.100 zurückgegangen.17 Der Politikwissenschaftler und frühere Leiter des Funktionsbereichs Sozialpolitik bei der IG Metall und spätere Hochschullehrer an der Uni Kassel, Wolfgang Schroeder18, nennt diese Entwicklung »brain drain«19. Die gewerkschaftlichen Vertreter im Bundesverband der Ortskrankenkassen fordern, dass »einem weiteren Prestige- und Legitimitätsverlust entgegengewirkt werden«20 müsse. Der IG Metaller Günter Güner, alternierender Verwaltungsratsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, weist auf die begrenzten politischen Handlungsmöglichkeiten der gewerkschaftlichen Selbstverwalter hin: »Die entscheidenden Rahmenbedingungen in der Gesundheits-

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Katharina Baumeister/Andreas Hartje/Nora Knötig/Thomas Wüstrich: GKV-Selbstverwaltung am Scheideweg. Handlungsfelder identifizieren, Hemmnisse abbauen, Handlungskompetenzen stärken – Unausgeschöpfte Handlungspotenziale fordern Listenträger und Selbstverwalter heraus, in: SozSich 8–9/2012, S. 298 ebenda Wolfgang Schroeder/Benjamin Erik Burau, a. a. O., S. 252 vgl. Dieter Leopold, a. a. O., S. 348 Hans-Böckler-Stiftung: Noch viel Potenzial – Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen, in: Böckler Impuls 2/2008, S. 6 vgl. Udo Kruse/Silke Kruse: Sozialwahl 2011 – Selbstverwaltung zwischen Staat und privatem Wirtschaftsunternehmen, in: Wege zur Sozialversicherung (WzS) 8/2010, S. 237 Schroeder ist derzeit Staatssekretär im Arbeitsministerium des Landes Brandenburg. Wolfgang Schroeder: Zur Reform der sozialen Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung – Kasseler Konzept, Düsseldorf 2006, S. 97 (Fußnote 123) Versichertenvertreter des AOK-Bundesverbandes: Zukunft der Selbstverwaltung in der GKV, 1.1. 2009, S. 36 Günter Güner: Auch bei Friedenswahlen der Sozialwahl 2011 – Selbstverwalter sind demokratisch legitimiert, in: SozSich 2/2011, S. 44 vgl. Harry Fuchs: Der Verwaltungsrat in der GKV – Seine Aufgaben, Rechte, Handlungsgrundlagen und -instrumente, in: SozSich 11/2011, S. 365–372 Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen: Schlussbericht für die Sozialversicherungswahlen zu den Sozialwahlen 2011, Berlin, September 2012, S. 131 f. ebenda ebenda ebenda vgl. Marco Frank: Die Ergebnisse der Sozialwahlen 2011, in: SozSich 6–7/2011, S. 224–229 vgl. Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen, a. a. O., S. 132 Klaus Dörre, a. a. O., S. 897

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politik werden durch den Gesetzgeber und nicht durch die Selbstverwaltung bestimmt.«21 Trotzdem hat die Selbstverwaltung erhebliche Rechte: Harry Fuchs nennt am Beispiel der gesetzlichen Krankenund Pflegeversicherung u. a. das Budgetrecht und das Recht, die Geschäftsführung zu bestimmen.22 Der derzeitige Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Gerald Weiß, sieht ein »Legitimitätsdefizit«23 in der rechtlich zulässigen Praxis von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die Sitze in den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen ohne tatsächliche Wahlhandlungen (»Friedenswahlen«) unter ihren Mitgliedern zu vergeben. Das Legitimitäts- und Demokratiedefizit liegt dem Bundeswahlbeauftragten zufolge darin, dass »die aufgestellten Personen von niemandem außerhalb der aufstellenden Organisationen gewählt oder berufen«24 würden. Es sei »schlecht begründbar, dass Organisationen lediglich aus sich selbst heraus die Entscheidungsträger in den Selbstverwaltungsorganen bestimmen«25, weil »die gesetzlichen Sozialversicherungsträger Angelegenheit der gesamten Gesellschaft«26 seien. Klassische Beteiligungsformen durch Versichertenälteste in Betrieben oder Verwaltungen stoßen angesichts überbetrieblicher und bundesweit geöffneter, über Callcenter und im Internet auf dem Krankenversicherungsmarkt um Mitglieder werbender Krankenkassen an ihre Grenzen. Auch die derartige Beteiligungsformen ursprünglich tragenden traditionellen Sozialmilieus existieren inzwischen nicht mehr in nennenswertem Umfang. Mit den Vermarktlichungstrends in den Sozialversicherungen steigen parallel die fachlichen und politischen Anforderungen an gewerkschaftliche Selbstverwalter hinsichtlich ihrer politischen Dialog- und Kommunikationskultur. Wie schwach die Verankerung der gewerkschaftlichen Selbstverwalter in der arbeitenden Bevölkerung tatsächlich ist, zeigen die Ergebnisse bei den Sozialwahlen im Jahr 2011, wenn es zu wirklichen (Aus-)Wahlhandlungen kam.27 Beispielsweise errangen die DGB-Gewerkschaften bei der Techniker Krankenkasse nur zwei von 15 Sitzen in ihrem Verwaltungsrat. Bei der BARMER GEK entfielen auf die DGB-Gewerkschaften vier Sitze von insgesamt 30 zu vergebenden. Bei der DAK gewannen sie nur drei Plätze von 30. Bei der KKH-Allianz erzielten die DGB-Gewerkschaften drei Sitze von insgesamt 15. Der Vorstoß des Bundeswahlbeauftragten zur Abschaffung der »Friedenswahlen«28 würde die Gewerkschaften, die von dieser Möglichkeit besonders bei den Orts-, Innungs- und Betriebskrankenkassen profitieren, stark schwächen. Die Initiative des Wahlbeauftragten zielt also auf eine weitere Reduzierung der institutionellen Macht der Gewerkschaften im Sinne des Jenaer Machtressourcenansatzes – vor dem Hintergrund der bereits stark vorangeschrittenen Erosion ihrer strukturellen und institutionellen Macht wie ihrer Organisationsmacht. Laut Klaus Dörre fördert die »Schwäche der Gewerkschaften« bei den »Wirtschafts- und Politikeliten die Neigung«, »institutionelle Arbeitermacht an die schwindende Organisationsmacht anzupassen«29: »Die Krise gewerkschaftlicher Repräsentation findet im Institutionensystem

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eine Fortsetzung.«30 Hans-Jürgen Urban (derzeit Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der IG Metall) erkennt einen »anerkennungspolitischen Ausschluss der Gewerkschaften aus den korporatistischen Funktionseliten«31. Detlef Wetzel (derzeit zweiter Vorsitzender der IG Metall) und seine Mitautoren sind zudem skeptisch hinsichtlich der »Wirkungsmächtigkeit« der gewerkschaftlichen Beteiligung an der Sozialversicherung: »Die Spielräume der Einflußnahme in den Sozialversicherungen werden immer geringer. Die kombinierten Effekte einer brüchig werdenden Basis der Sozialpartnerschaft und der abnehmenden sozialstaatlichen Integrationskraft werden in absehbarer Zeit dazu führen, dass die Machtressource der institutionellen Verankerung der Gewerkschaften weitgehend ausgehöhlt sein wird.«32 Die Soziologen Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey warnen die Gewerkschaften vor Illusionen in die »Beständigkeit« institutioneller Machtressourcen: »Institutionelle Macht ist den sozialen Kompromissbildungen zwischen Unternehmen, Staat und Gewerkschaften eingeschrieben. Sie verkörpert einen stabilen und strukturierenden Fixpunkt gewerkschaftlichen Handelns. Einmal erlangt, ist sie von beständigem Charakter und wird nicht von flüchtigen politischen Konjunkturen ausgehebelt. Durch ihre Beständigkeit kann sie aber dazu verführen, sich bei sinkender Primärmacht auf die etablierten institutionellen Praktiken zu verlassen – und so nur noch einen Schein der Stabilität zu wahren, während ihre Grundfeste längst zerbröseln. Kurzum: Institutionelle Macht kann langfristig nicht ohne Unterbau von struktureller und Organisationsmacht funktionieren.«33

Intermediaritätsansatz Knut Lambertin, Referatsleiter beim DGB, leitet die gewerkschaftlichen Beteiligungen an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen historisch zutreffend aus den (industriellen) Sozialpartnerbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit her.34 Klaus Dörre definiert eine in diesem Feld tätige Gewerkschaft als »intermediäre Gewerkschaft«, mithin als »integralen Bestandteil des Systems«, »das auf einer Dreiteilung von Aushandlungen beruht«35. Arbeitsinteressen würden dort nicht mehr »ausschließlich von den Gewerkschaften, sondern zusätzlich von den Arbeitsverwaltungen/Sozialversicherungen und den betrieblichen Interessenvertretungen repräsentiert«36. In der Deutung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers Prof. Walther Müller-Jentsch ist die Rolle, die die Gewerkschaften mit ihrer Beteiligung an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen spielen, die eines Mediums (Intermediarität) zwischen ihren Mitgliedern, Staat und Kapital: »Entscheidend beigetragen hatte dazu die Entwicklung des Systems sektoraler Tarifverträge, wodurch die Gewerkschaften nicht nur Schutz- und Verteilungsfunktionen für ihre Mitglieder, sondern auch Kartell-, Ordnungs- und Befriedungsfunktionen für die Unternehmer übernahmen.«37 In dem Modell der Intermediarität würden Gewerkschaften sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen über die »Institutionen des Sozialstaats

und korporatistische Verbundsysteme« beeinflussen und mitgestalten38, urteilt Josef Esser. Die Gewerkschaften würden in diesem Modell »ihren klassenbasierten Doppelcharakter zugunsten einer eher pragmatischen Mittlerrolle zwischen Kapital- und Systeminteressen auf der einen sowie Arbeiter- und Mitgliederinteressen auf der anderen Seite aufgeben«39, indem sie u. a. »in einem Wechselspiel von Machtbeschränkung und Selbstdisziplinierung in staatliche Politik eingebunden und damit zu einer Ordnungsmacht«40 würden, bilanziert Klaus Dörre. Der Intermediaritätsansatz erklärt zwar institutionelle Machtkonfigurationen zwischen Staat, Arbeit und Kapital (beispielsweise in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen). Er ist aber wegen der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seit Ende der 1970er Jahre (die gekennzeichnet sind durch die Mitgliederverluste der Gewerkschaften, die Erosion ihrer Flächentarifverträge, die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors und die Zurückdrängung bzw. den Niedergang ihres institutionellen Einflusses) nicht geeignet, zur gewerkschaftlichen Erneuerung und Revitalisierung beizutragen. In der Tradition des Intermediaritätsansatzes ausschließlich auf institutionellen Machtkonfigurationen einer untergegangenen Epoche41 zu beharren, trägt nicht zur Entwicklung zukunftsfähiger Konzepte bei.

Jenaer Machtressourcenansatz Wolfgang Schroeder unterbreitet »Vorschläge zur Revitalisierung der sozialen Selbstverwaltung aus Gewerkschafterperspektive«42 und fordert mehr Qualifizierung für die gewerkschaftlichen Selbstverwalter, eine Stärkung der Öffentlichkeitsarbeit und mehr Versichertennähe.43 Florian Blank vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen

30 ebenda 31 Hans-Jürgen Urban: Vorwort, in: Ulrich Brinkmann/Hae-Lin Choi/Richard Detje/Klaus Dörre/Hajo Holst/Serhat Karakayali/Catharina Schmalstieg: Strategic Unionism – Aus der Krise zur Erneuerung der Gewerkschaften? Umrisse eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008, S. 7 32 Detlef Wetzel/Jörg Weigand/Sören Niemann-Findeisen/Torsten Lankau: Organizing – Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall – Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 4 33 Ulrich Brinkmann/Oliver Nachtwey: Krise und strategische Neuorientierung der Gewerkschaften, in: »Aus Politik und Zeitgeschichte« (APuZ) 13–14/2010, S. 21–22 34 vgl. Knut Lambertin: Tauziehen um die soziale Selbstverwaltung – Historische, politische und ökonomische Hintergründe einer langen Debatte, in: SozSich 4/2012, S. 153 35 Klaus Dörre, a. a. O., S. 886 36 ebenda 37 Walther Müller-Jentsch, a. a. O., S. 14 38 Josef Esser: Funktion und Funktionswandel der Gewerkschaften in Deutschland, in: Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik – ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 77 f. 39 Klaus Dörre: Funktionswandel der Gewerkschaften – Von der intermediären zur fraktalen Organisation, in: Thomas Haipeter/Klaus Dörre (Hrsg.): Gewerkschaftliche Modernisierung, Wiesbaden 2011, S. 271 40 ebenda, S. 272 41 vgl. Joachim Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat – Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin 1995 42 Wolfgang Schröder, a. a. O., S. 95 43 vgl. ebenda, S. 95–100

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Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung untersucht mit derselben Zielrichtung Bedingungen für mehr Partizipation von »Nutzerinnen und Nutzern«44. Wolfgang Schroeder bleibt aber – ebenso wie Florian Blank – bei der Forderung nach einer »Revitalisierung der bestehenden Selbstverwaltungspolitik«45 auf halber Strecke stehen, statt weiterzugehen: Die gewerkschaftliche Beteiligung an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen ist kein Selbstzweck. Die Frage im Sinne des Jenaer Machtressourcenansatzes lautet daher nicht nur: Wie kann die Selbstverwaltung an sich revitalisiert werden? Sie lautet auch: Welchen Beitrag können die gewerkschaftlichen Beteiligungen an den Selbstverwaltungen – mithin institutionelle Machtressourcen – zur Revitalisierung der Gewerkschaften als Organisationen leisten? Oder anders ausgedrückt: Welchen Mehrwert für ihre sozialpolitische Interessenvertretung und ihre eigene Organisationsentwicklung erzielen die Gewerkschaften mit ihrer Beteiligung an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen? Hans-Jürgen Urban fordert deshalb einen Beitrag der gewerkschaftlichen Beteiligung an der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen zur Stützung der Gewerkschaften ein: »Institutionelle Macht […] resultiert aus der Stellung der Gewerkschaften innerhalb wohlfahrtsstaatlicher Basisinstitutionen […] wie den Sozialversicherungssystemen und hilft dabei, Gewerkschaftsmacht über kurzzeitige ökonomische oder politische Zyklen hinweg zu stabilisieren.«46 Wolfgang Schroeder deutet diesen zentralen und allen Machtressourcen- und Organizingansätzen innewohnenden Zusammenhang hingegen nur dezent an: »Eine symbolisch aufgewertete und inhaltlich qualifizierte Selbstverwaltungsarbeit könnte einen Beitrag leisten, die Qualitäts- und Leistungsaspekte der Gewerkschaftsarbeit zu verstärken«47 und »das öffentliche Image der Gewerkschaften insgesamt zu verbessern«48. Auch Andreas Hartje, Nora Knöting und Thomas Wüstrich von der Universität der Bundeswehr in München verharren bei der Forderung nach mehr »Versichertennähe« statt die organisationspolitischen Eigeninteressen der Gewerkschaften klar zu benennen. Aber sie merken an, dass »auf den originären Handlungsfeldern der Selbstverwaltung – Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung – Betriebsräte und

44 vgl. Florian Blank: Partizipation in der Sozialpolitik – Zur Rolle von Nutzerinnen und Nutzern, in: SozSich 2/2013, S. 60–65 45 Wolfgang Schroeder, a. a. O., S. 84 46 Hans-Jürgen Urban: Gewerkschaftsstrategien in der Krise: Zur kollektiven Handlungsfähigkeit im Gegenwartskapitalismus, in: Stefan Schmalz/Klaus Dörre (Hrsg.): Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven, Frankfurt a. M. 2013, S. 379 47 Wolfgang Schroeder, a. a. O., S. 97 48 ebenda 49 Andreas Hartje/Nora Knöting/Thomas Wüstrich: Selbstverwaltung bei den Krankenkassen – Wie mehr Versichertennähe erreicht werden kann, in: SozSich 2/2013, S. 45 50 Klaus Dörre/Hajo Holst/Oliver Nachtwey: Organising – A Strategic Option for Trade Union Renewal?, in: International Journal of Action Research, 5(1)/2009, S. 33 51 Klaus Dörre (2010), a. a. O., S. 899 52 Hans-Jürgen Urban (2013), a. a. O., S. 391 53 ebenda, S. 392 54 ebenda, S. 393

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Versichertenberater/innen zur Verbesserung des gewerkschaftlichen Profils beitragen können«49. Bisher generieren die institutionellen Machtressourcen wie die gewerkschaftlichen Beteiligungen an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen – von wenigen Ausnahmen und einigen Ansätzen abgesehen – gerade keine ausreichenden Mehrwerte für die gewerkschaftliche Erneuerung. Ausgestattet mit dem theoretischen Rüstzeug des Jenaer Machtressourcenansatzes können die Gewerkschaften demgegenüber eine strategische Wahl ihrer Optionen treffen, wenn es darum geht, Pfade gewerkschaftlicher Erneuerung einzuschlagen: »The employees’ organisations are seen as actors who have a strategic choice as to which power resources to tap. Though the specific national systems of industrial relations influence the unions’ strategic options, there are nevertheless various opportunities for trans-national learning process.«50 Vor dem Hintergrund der Erosion institutioneller Gewerkschaftsmacht in den Selbstverwaltungen der deutschen Sozialversicherungen sind in diesem Sinne diejenigen verbliebenen Machtressourcen – organisatorische wie institutionelle und Kombinationen unter ihnen und verknüpft mit Ansätzen von »Social Movement Unionism«51 – zu identifizieren und zu entwickeln, die zur Erneuerung beitragen können (»varieties of revitalization«52). Ein derartiger Prozess beinhaltet auch, mit der Nutzung unterschiedlicher Machtressourcen zu experimentieren und innerhalb der Gewerkschaften und ihrer Selbstverwaltungsfraktionen Prozesse des kollektiven Organisationslernens anzustoßen.

Sechs Thesen zur Erneuerung Hans-Jürgen Urban beklagt, dass »der Machtressourcenansatz in der Revitalisierungsforschung bisher weitegehend unabhängig vom Machtressourcenansatz in der Wohlfahrtsstaatsforschung entwickelt worden«53 sei. Die »Isolierung beider Ansätze verspielt analytische Synergien«, bilanziert er und fragt: »Besteht nicht die Gefahr, dass die voranschreitende Erosion von institutioneller und Organisationsmacht früher oder später auch die kommunikative Interventionskraft der Gewerkschaften schwächt?«54 Sechs Thesen sollen abschließend in Frageform dazu beitragen, die laufenden Strategiedebatten über die Zukunft der gewerkschaftlichen Beteiligungen an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen mit der Forderung nach gewerkschaftlicher Revitalisierung im Sinne des Jenaer Machtressourcenansatzes zu verbinden und weiterzuführen: 1. Wie können die Gewerkschaften Angebote, die Sozialversicherungen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung oder der Sozialberatung erbringen, mit besonderem Augenmerk auf Betriebe mit gewerkschaftlich organisierten Interessenvertretungen beziehen und mit Betriebserschließung und Mitgliederwerbung- und -bindung verknüpfen? 2. Wie können die Gewerkschaften über ihre Beteiligung an den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen

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sozialpolitische Informations- und Kommunikationskanäle auf der technischen Höhe der Zeit etablieren und nutzen, die auch Kontakt- und Dialogangebote enthalten sowie Beschwerden und Initiativen von unten aufnehmen? Wie können die Gewerkschaften Elemente von »Social Movement Unionism und Campaigning«55 – wie beispielsweise ihre Kampagne gegen die Einführung einer Kopfpauschale in der Kranken- und Pflegeversicherung – stärker mit der Arbeit ihrer gewerkschaftlichen Selbstverwalter in den Sozialversicherungen verknüpfen, indem gewerkschaftliche Selbstverwalter (auch) Bewegungsakteure werden (»Coalition Building«)? Wie können die Gewerkschaften die Gewinnung und Aufstellung von Selbstverwaltern in ihren eigenen Organisationen demokratischer, offener und transparenter gestalten, um dem gewachsenen Bedürfnis nach Transparenz und Partizipation in ihrer Mitgliedschaft gerecht zu werden? Wie können die Gewerkschaften mit der Öffnung ihrer Vorschlagslisten für Persönlichkeiten aus den Sozialverbänden, Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen (wie mit der Berücksichtigung von Vertretern der katholischen Arbeiterbewegung seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert) eine gesellschaftlich wirksame »Mosaik-Linke«56 begründen, die »sozialstaatliche Erneuerung mit gewerkschaftlicher Revitalisierung«57 verbindet? Wie können die Gewerkschaften die Nutzbarmachung ihrer institutionellen Machtressourcen in den Sozialversicherungen zur gewerkschaftlichen Revitalisierung »in Gestalt qualitativer Fallstudien«58 projekthaft in einigen ausgewählten Sozialversicherungen erproben, dies wissenschaftlich auswerten und aus den Ergebnissen – auf andere gesetzliche Sozialversicherungsträger übertragbare – Handlungsempfehlungen entwickeln?

Der Autor: Jendrik Scholz ist Diplom-Verwaltungswirt (FH) und Diplom-Sozialwissenschaftler. Er leitet die Abteilung Arbeits- und Sozialpolitik beim DGB-Bezirk BadenWürttemberg und ist Mitglied des Verwaltungsrats der IKK classic.

55 Klaus Dörre: Die strategische Wahl der Gewerkschaften – Erneuerung durch Organizing?, in: WSI-Mitteilungen 1/2008, S. 3 56 Hans-Jürgen Urban: Die Mosaik-Linke – Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2009, S. 71 57 vgl. Hans-Jürgen Urban: Sozialstaatliche Erneuerung und gewerkschaftliche Revitalisierung – zwei Seiten einer Medaille, in: Reinhard Bispinck/ Gerhard Bosch/Klaus Hofemann/Gerhard Naegele (Hrsg.): Sozialpolitik und Sozialstaat – Festschrift für Gerhard Bäcker, Wiesbaden 2012, S. 87– 101 58 Hans-Jürgen Urban (2013), a. a. O., S. 393

BA-Selbstverwaltung fordert:

Arbeitslosenversicherung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben entlasten 34,4 Mrd. Euro – und damit fast 10 % der Gesamtausgaben der Arbeitslosenversicherung – fließen in »gesamtgesellschaftliche Aufgaben«, die auch Nichtbeitragszahlern zu Gute kommen. Das wurde jetzt festgestellt, nachdem der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA) sich dafür eingesetzt hatte, diese Aufgaben exakt zu ermitteln. Zuvor hatten sich die Selbstverwalter der BA auf Abgrenzungs- und Quantifizierungskriterien verständigt. Zu den gesamtgesellschaftlichen Aufgaben der BA gehören derzeit z. B. Leistungen für Personen in Werkstätten für behinderte Menschen, berufliche RehaLeistungen bei der Ersteingliederung von Behinderten und Hartz-IV-Empfängern oder berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen. »Dies sind sinnvolle bildungspolitische und sozialstaatliche Aufgaben, die jedoch weit über den Zuständigkeitsbereich der Versichertengemeinschaft hinausgehen. Sie sollten daher aus dem Steuertopf finanziert werden«, so Wilhelm Adamy, Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim DGB-Bundesvorstand und Sprecher der Arbeitnehmergruppe im Verwaltungsrat der BA. Peter Clever von der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und derzeit stellvertretender Vorsitzender des BA-Verwaltungsrats sieht Arbeitnehmer und Arbeitgeber einig in der Beurteilung dieses Problems: »Die Arbeitslosenversicherung muss von der Finanzierungsverantwortung für gesamtgesellschaftliche Aufgaben befreit werden.« Durch die Finanzierung über den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung würden gerade Geringverdiener stärker belastet als Besserverdienende, so Clever. Denn Sozialversicherungsbeiträge müssen auch Geringverdiener leisten, die wegen des Steuerfreibetrags keine bzw. wenig Steuern zahlen. »Wir haben uns in Deutschland bewusst für eine soziale Selbstverwaltung entschieden, weil diejenigen, die die Beiträge zahlen, auch alle wichtigen Entscheidungen eigenverantwortlich treffen sollen. Dies erfordert finanzielle Handlungs- und Entscheidungsspielräume für die Selbstverwaltungsorgane«, so der oberste Arbeitgebervertreter bei der BA. Durch die fortwährenden Eingriffe des Bundes in den Haushalt der BA würden die finanziellen Ressourcen jedoch schleichend ausgetrocknet. »Die Haushaltsautonomie der selbstverwalteten Arbeitslosenversicherung wird auf diesem Weg faktisch ausgehebelt«, so Clever. Bei einem Verlust der Haushaltsautonomie könne man aber »die Selbstverwaltung vergessen«.

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»Verdeckt Arme« und die Festlegung der Regelsatz-Höhe Wie durch einen Zirkelschluss der Regelbedarf gesenkt wird Von Rudolf Martens

Nach dem wegweisenden Regelsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Februar 20101 musste die Bundesregierung die Regelbedarfe für die Bezieher von Grundsicherungsleistungen neu festsetzen. Doch auch die im Frühjahr 2011 konzipierten neuen Sätze für Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger sind strittig. Sie liegen erneut zur Prüfung beim BVerfG vor – wegen etlicher Berechnungskniffe, die z. B. aus Sicht des Sozialgerichts Berlin2 und auch vom DGB3 und Wohlfahrtsverbänden4 als verfassungswidrig angesehen werden. Es geht u. a. um die nicht ausreichende Transparenz des Verfahrens zur Ableitung der Regelbedarfe sowie vorgenommene Kürzungen (z. B. bei Ausgaben für Nahverkehr) bis hin zur vollständigen Nichtberücksichtigung (z. B. bei Ausgaben für auswärtige Verpflegung) von einzelnen Verbrauchspositionen.5 Problematisch erscheint auch die Abgrenzung der so genannten Referenzgruppen, also von denjenigen, nach deren Ausgabeverhalten die neuen Regelsätze bestimmt werden. Zu ihnen gehören auch die »verdeckt Armen«. Im Folgenden wird beleuchtet, wie durch die Einbeziehung dieser Gruppe die Höhe des Regelsatzes nach unten gezogen wird.

1. Die »verdeckt Armen« Als »verdeckt« oder »versteckt« arme Haushalte6 werden diejenigen bezeichnet, die zwar Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hätten, diese jedoch (aus Scham, Unkenntnis oder anderen Gründen) nicht in Anspruch nehmen. Die Einkommen dieser Haushalte unterschreiten also das Grundsicherungsniveau. Trotzdem werden sie in den Statistiken und bei Stichproben nicht als Haushalte mit Grundsicherungsleistungen erfasst. Bei der Ermittlung der neuen Regelsätze, die nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes von 2008 erfolgte, waren die verdeckt Armen – wegen der als unzureichend angesehenen Datenlage (mangelnde empirische Evidenz des Problems) – nicht aus der Referenzgruppe zur Bestimmung der Regelbedarfsstufen (untere 15 Prozent der Einkommenspyramide bei Alleinstehenden bzw. unter 20 Prozent bei Familien) herausgenommen worden. Dadurch entstanden aber Zirkelschlüsse bei der Regelbedarfsermittlung. Denn die Anspruchsberechtigten auf Grundsicherungsleistungen müssen – natürlich – ausgeklammert werden, wenn es da1

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BVerfG v. 9. 2. 2010, Az.: 1 BvL 1/09; vgl. auch Ulrich Wenner: Hartz-IV-Regelsätze auf dem Prüfstand: Was folgt aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts?, in: SozSich 2/2010, S. 69–72 SG Berlin v. 25. 4.2012, Az.: S 55 AS 9238/12 und S 55 AS 29349/11; vgl. auch SoSi plus 4/2012, S. 5 vgl. DGB-Bundesvorstand: Stellungnahme zu der Anfrage des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juli 2013, Berlin, 27.9.2013 vgl. u. a. Gutachterliche Stellungnahmen des Paritätischen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze (unter: www.der-paritaetische.de http://www.der-paritaetische.de > Stellungnahmen); Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes e.V. als Sachkundiger Dritter nach § 27 a BVerfGG in den Verfahren 1 BvL 10/12 und 1 BvL 12/12, Freiburg i. Br., 14. 8. 2013 vgl. dazu auch die Gutachten von Irene Becker und Prof. Johannes Münder, in: Soziale Sicherheit Extra, September 2011 »Versteckt arme Haushalte« (BVerfG) werden in der Literatur auch als »verdeckt arme Haushalte«, »Dunkelzifferhaushalte« oder auch »Zirkelschlusshaushalte« bezeichnet. BVerfG v. 9. 2. 2010, Az.: 1 BvL 1/09, Rn. 169

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rum geht, den Bedarf der unteren Einkommensbezieher zu ermitteln. Würden dabei auch Haushalte einbezogen, die wegen ihres niedrigen Einkommens und Vermögens Anspruch auf Hartz IV oder Sozialhilfe haben, so würde dies die Berechnung des Existenzminimums verfälschen. Denn der notwendige Regelbedarf der Ärmsten würde sich dann (auch) danach richten, was die Ärmsten (bzw. verdeckt Armen) ausgeben können. Ein klassischer Zirkelschluss. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in seinem Urteil zu den Regelleistungen des SGB II und SGB XII dem Gesetzgeber einen Auftrag mitgegeben. Der Gesetzgeber solle sicherstellen, dass »versteckt arme Haushalte« aus der Referenzgruppe zur Bestimmung der Regelsätze (Regelbedarfsstufen) künftig – d. h. ab der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 – nicht mehr herangezogen werden: »Der Gesetzgeber bleibt freilich entsprechend seiner Pflicht zur Fortentwicklung seines Bedarfsermittlungssystems verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unterkunft und Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.«7 Mit anderen Worten: Das BVerfG möchte bei der künftigen Bestimmung der Höhe der Regelsätze Zirkelschlüsse vermeiden, indem »versteckt arme Haushalte« aus der Referenzgruppe, aus der die Regelsätze abgeleitet werden sollen, ausgeschlossen werden. Dies ist gemeint mit »Fortentwicklung des Bedarfsermittlungssystems«. Entsprechend hat sich der Gesetzgeber verpflichtet, gemäß dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) bis zum 1. Juli 2013 einen Bericht zur Weiterentwicklung unter Mitwirkung des Statistischen Bundesamtes sowie von Sachverständigen vorzulegen. Nach § 10 Abs. 2 RBEG muss das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in dem Bericht auch Vorschläge für Weiterentwicklungen der Er-

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mittlung von Regelbedarfen unterbreiten »für die Abgrenzung der Referenzhaushalte nach § 3 Absatz 1 hinsichtlich der Bestimmung von Haushalten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die nicht als Referenzhaushalte zu berücksichtigen sind, weil deren eigene Mittel nicht zur Deckung des jeweils zu unterstellenden Bedarfs nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ausreichen«. Hierzu hat das Bundesarbeitsministerium zum 1. Juli 2013 ein 247-seitiges Gutachten vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erstellen lassen.8 Im Folgenden wird dieses Gutachten in Kurzform als »IABGutachten« zitiert.

2. Wesentliche Ergebnisse des IAB-Gutachtens zu »verdeckt Armen« Das IAB führt aus, es sei übergeordnetes Ziel, ein Verfahren zu entwickeln, bei dem Haushalte, deren eigene Mittel nicht zur Deckung des jeweils zu unterstellenden Bedarfs nach dem SGB II und SGB XII ausreichen und die diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen (»verdeckt Arme«), aus der Referenzgruppe zur Ermittlung des Regelbedarfs gemäß SGB II/SGB XII ausgeschlossen werden.9 Diesem Ziel hat sich das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit großem Aufwand und reichlichem Datenmaterial durchaus erfolgreich gewidmet. Als Datenbasis wurde die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 genutzt sowie zu Vergleichsberechnungen das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) 2008. Anhand der Datenbasis der EVS 2008 bzw. des SOEP 2008 wurden Simulationsrechnungen zu den Dunkelzifferhaushalten vorgenommen. Die EVS 2008 enthält Datensätze zu insgesamt knapp 60.000 Haushalten, die anhand eines »Mikrosimulationsmodells« überprüft werden können. Das Simulationsmodell arbeitet mit folgenden Rechenschritten: (1) Für jeden Haushalt in der EVS wird der nach der Grundsicherung zustehende Bedarf berechnet und (2) geprüft, ob Vermögen und Haushaltseinkommen die Höchstgrenzen für den Leistungsbezug überschreiten. Nach Prüfung der Vermögensverhältnisse kann entschieden werden, ob dem Haushalt gemäß der Simulation Leistungen der Grundsicherung zustehen oder nicht. Stehen dem Haushalt Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII zu und gibt der Haushalt keinen Bezug von Grundsicherungsleistungen an, wird er als »verdeckt arm« eingestuft. Allerdings weist das IAB-Gutachten auf mögliche Fehler des Mikrosimulationsmodells hin. So sei zu beachten, dass eine faktische Anspruchsprüfung durch ein Jobcenter oder einen kommunalen Träger nicht in jedem Fall zum gleichen Ergebnis führen würde wie die Anspruchsprüfung im Simulationsmodell. Aufgrund von Messfehlern in der Datenbasis sowie fehlenden Informationen – und den daraus folgenden notwendigen Setzungen im Modell – könne ein bedürftiger Haushalt fälschlich als nicht bedürftig simuliert werden und umgekehrt. Simulationsfehler in beide Richtungen könnten nicht verhindert werden.10

Selbstverständlich ergeben sich Simulationsfehler, bei denen Haushalte identifiziert werden, die nicht berechtigt SGB-II- bzw. SGB-XII-Leistungen beziehen, trotzdem aber aufgrund der EVS-Angaben tatsächlich diese Leistungen bezogen haben (»Beta-Fehler«). Dieser Fehler ist unvermeidlich und bewegt sich nach dem IAB-Gutachten in einer Größenordnung von 15 bis 19 Prozent. Das bewegt sich im Rahmen vergleichbarer Simulationsrechnungen zur Dunkelziffer und ist unvermeidlich.11 Vergleichsstudien, die sich allerdings mehrheitlich auf die Sozialhilfe vor 2005 beziehen, kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie die Mikrosimulationsstudien des IAB. Unterschiedliche methodische und quellenmäßige Herangehensweisen bestätigen dies auch aus internationalen Studien. Auch das Phänomen der Nicht-Inanspruchnahme von berechtigten Sozialleistungen ist in der wissenschaftlichen Literatur unstrittig.12

2.1 Dunkelziffer bei über 30 Prozent Gemäß dem Regelbedarfsermittlungsgesetz werden die Referenzgruppen – Einpersonen-Haushalte und Zweipersonen-Haushalte mit einem Kind unter 18 Jahren – in folgenden drei Schritten bestimmt: (1) Zur Bestimmung der Referenzhaushalte (§ 2 RBEG) werden die Verbrauchsausgaben von Einpersonenhaushalten und Paarhaushalten mit einem Kind herangezogen. (2) Von diesen Haushalten werden alle Haushalte ausgeschlossen, die im Erhebungszeitraum Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bezogen haben.13 (3) Die verbleibenden Haushalte werden nach ihrem in der EVS angegebenen Nettoeinkommen aufsteigend geschichtet. Von den Einpersonenhaushalten bilden die untersten 15 Prozent die Referenzgruppe zur Berechnung der Regelbedarfe, von den Paarhaushalten die untersten 20 Prozent (§ 4 RBEG).14 Wichtig bei der Simulationsstudie ist die rechnerische Behandlung von Einkommen und Vermögen. Aufgrund von Betrachtungsspielräumen sind jeweils zwei Varianten der Vermögens- und Einkommensanrechnung durchgerechnet worden – »einfache« und »strenge« Anrechnungen, ins8

9 10 11

12 13

14

Kerstin Bruckmeier/Johannes Pauser/Regina T. Riphahn/Ulrich Walwei/ Jürgen Wiemers: Mikroanalytische Untersuchung zur Abgrenzung und Struktur von Referenzgruppen für die Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, Endbericht, Nürnberg, 17. 6. 2013 (im Folgenden: IAB-Gutachten) vgl. IAB-Gutachten, S. 14 vgl. ebenda, S. 17 vgl. IAB-Gutachten, S. 19, 21 ff.; das IAB-Gutachten schließt aus, dass dies ein Maß für mögliche Missbrauchsfälle ist, da die Jobcenter sehr viel weitergehende Prüfmöglichkeiten haben als sich aus den Informationen ergibt, die die EVS liefern kann. Genau genommen muss auch bei den Jobcentern bzw. Sozialämtern eine fühlbare Unschärfe bei der Beurteilung unterstellt werden, ob eine Bedarfsgemeinschaft berechtigt ist, SGB-II- bzw. XII-Leistungen in Anspruch zu nehmen. Hierfür ist die Vielzahl von Sozialgerichtsprozessen ein beredtes Zeugnis. vgl. IAB-Gutachten, S. 20, Tabelle 3 und insbesondere S. 56–60 Folgende Haushalte mit Leistungsbezug werden nicht ausgeschlossen: Bei Bezug von Erwerbseinkommen, wenn sie einen Zuschlag nach § 24 des SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung bezogen haben, wenn sie Elterngeld bezogen haben oder einen Anspruch auf Eigenheimzulage hatten. vgl. IAB-Gutachten, S. 24 f.

Soziale Sicherheit 10 /2013

349

Soziales

gesamt damit vier Varianten.15 Im Folgenden werden nur die Ergebnisse bei »strenger Einkommensanrechnung« und bei »strenger Vermögensanrechnung« berücksichtigt, im IAB-Gutachten entspricht das der »Variante 4«.16 Bei dieser sind mögliche Unschärfen des Simulationsmodells minimiert. Allerdings können so Anteile verdeckt armer Haushalte tendenziell unterschätzt werden. Die Ergebnisse wären dann im Sinne von Mindestzahlen zu interpretieren. Die Quote der Nicht-Inanspruchnahme von Hartz-IV- oder Sozialhilfeleistungen beträgt für die »strengen« Anrechnungen von Einkommen und Vermögen immerhin 34 Prozent. Entsprechend kommen so für das Jahr 2008 zu den 5,96 Mio. Personen mit einem simulierten Bezug von SGB II oder SGB XII noch 3,08 Mio. Personen (Dunkelziffer) hinzu. In der Summe ergeben sich so 9,04 Mio. Personen mit Anspruch auf diese Leistungen. Im Jahr 2008 gab es aber nur 7,35 Mio. Personen, die nach den offiziellen Statistiken Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bezogen.17

15 16

17

18

19

vgl. IAB-Gutachten, S. 74–79 Bei der strengen Einkommensanrechnung werden zusätzlich einmalige Einkommen berücksichtigt. Bei einer strengen Vermögensanrechnung werden beide Freibeträge lediglich auf das dafür relevante Vermögen angerechnet: der Freibetrag zur privaten Altersvorsorge auf das Vermögen aus privater Rentenversicherung und der allgemeine Freibetrag auf das allgemeine Vermögen. vgl. BT-Drs. 17/14282 vom 26. 6. 2013, Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht über die Weiterentwicklung der für die Ermittlung von Regelbedarfen anzuwendenden Methodik, S. 14–15 Unter Grenzeinkommen versteht man hier das Einkommen, mit dem man die obere Grenze der Bezugsgruppe (15 %- oder 20 %-Quantil) erreicht, also gerade noch in die Bezugsgruppe fällt. vgl. Kapitel 1 bzw. BVerfG, Az.: 1 BvL 1/09 vom 9. 2. 2010, Rn. 169

2.2 Konsumausgaben und Grenzeinkommen der Referenzhaushalte In Tabelle 1 sind wesentliche Ergebnisse des IAB-Gutachtens zusammengefasst. Verglichen werden die Konsumausgaben und Grenzeinkommen18 der Referenzhaushalte im Ist-Zustand nach dem geltenden RBEG mit dem Zustand nach der Herausnahme der verdeckt armen Haushalte. Des Weiteren sind die Differenzen zwischen Grenzeinkommen und durchschnittlichem Konsum verzeichnet. Die Ergebnis-Tabelle 1 zeigt in eindeutiger Weise, dass die Herausnahme der verdeckt Armen aus den Berechnungen erkennbare Folgen für die Grenzeinkommen und die durchschnittlichen Konsumausgaben hat. Ohne Berücksichtigung der verdeckt Armen sind beide Positionen wesentlich höher. Dies muss auch Folgen für die Regelsatzhöhen haben. Leider hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aber keine Regelsatzberechnungen (Regelbedarfsstufen) für die Situation nach Herausnahme der verdeckt Armen vorgenommen. So sind leider keine direkten Vergleiche von Regelsatzhöhen zwischen dem Ist-Zustand und dem Zustand ohne verdeckt Arme möglich. Dies ist ein schwerwiegender Mangel des IAB-Gutachtens, dieser liegt aber in der Verantwortung des Bundesarbeitsministeriums. Nach den Mikrosimulationsrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bedurfte es nur einer Beauftragung seitens des Bundesarbeitsministeriums, um die Regelsatzhöhen (Regelbedarfsstufen) anhand der Referenzhaushalte ohne verdeckt Arme zu bestimmen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Zugleich liegt darin auch eine deutliche Missachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zu verdeckt Armen bei der Regelsatzbestimmung.19

Tabelle 1: Ergebnisse der Mikrosimulationsstudien nach der EVS 2008: Konsum und Grenzeinkommen der Referenzhaushalte im Ist-Zustand und nach Herausnahme verdeckt armer Haushalte ohne verdeckt Arme (Variante 4)

Ist-Zustand

Haushalte

Einpers.-Haushalte

Differenz nach Herausrechnen der verdeckt Armen

Quantil in %

durchschnittlicher Konsum (in Euro)

Grenzeinkommen (in Euro)

durchschnittlicher Konsum (in Euro)

Grenzeinkommen (in Euro)

durchschnittlicher Konsum (in Euro)

Grenzeinkommen (in Euro)

15 %

843

901

864

945

21

44

Paarhaushalte mit 1 Kind mit Kind unter 18 Jahren

20 %

1.779

2.327

1.861

2.466

82

139

Kind unter 6 Jahren

20 %

1.732

2.178

1.803

2.317

71

139

Kind 6 bis unter 14 Jahren

20 %

1.844

2.476

2.062

2.607

218

131

Kind 14 bis unter 18 Jahren

20 %

1.870

2.544

1.950

2.722

80

178

Quelle: IAB-Gutachten, S. 35 ff., Tab. 8 und 10

350

Soziale Sicherheit 10 /2013

Soziales

ergibt. Auch nach Herausnahme der verdeckt Armen ergäbe sich bei einer 15-Prozent-Referenzgruppe ein niedrigerer Regelsatz als bei einer 20-Prozent-Referenzgruppe mit verdeckt Armen.

Möglich sind aus den Berechnungen des IAB nur qualitative Aussagen zu Regelsatzhöhen im Vergleich zum IstZustand. Diese laufen darauf hinaus, dass die Regelbedarfsstufen für Kinder und für Erwachsene recht fühlbar ansteigen müssen, wenn die verdeckt Armen rechnerisch nicht mehr berücksichtigt werden. Einen gewissen Anhaltspunkt über die Herausnahme der verdeckt Armen ergibt sich, wenn man die Konsumhöhen in Relation mit den von der Bundesregierung ermittelten Regelsatzhöhen für das Jahr 2008 setzt – und dabei getrennt die Referenzgruppen der untersten 15 bzw. 20 Prozent der Haushalte (jeweils auch mit verdeckt Armen) betrachtet. In der Tabelle 2 sind die jeweiligen Werte für die Einpersonen-Haushalte angegeben. Die von der Bundesregierung nach der EVS festgelegten Regelsätze für 2008 lagen für die 15-Prozent-Referenzgruppe bei 361,81 Euro und für die 20-Prozent-Referenzgruppe bei 379,68 Euro. Unter der Annahme einer linearen Relation von durchschnittlicher Konsumhöhe und Regelsatzhöhe müsste der Regelsatz – bezogen auf die 15-Prozent-Referenzgruppe – etwa 12 Euro höher sein, wenn die verdeckt Armen rechnerisch nicht mehr berücksichtigt werden. Denn die Tabelle 2 zeigt, dass ein höherer durchschnittlicher Konsum von einem Euro zu einem höheren Regelsatz von etwa (17,87 : 32 =) 56 Cent führt. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, ist bei Einpersonen-Haushalten der durchschnittliche Konsum um 21 Euro höher, wenn aus der Bezugsgruppe die verdeckt Armen herausgezogen werden. Demnach ergibt sich durch die weitere Berechnung (21 Euro x 0,56 = 11,76 Euro) ein Regelsatz, der um rund 12 Euro höher sein müsste. Anzumerken ist noch der hohe Effekt, der sich bei einer Schrumpfung des Umfangs der ärmsten Referenzhaushalte von 20 auf 15 Prozent beim Durchschnittskonsum, Grenzeinkommen und damit auch bei der Regelsatzhöhe

Tabelle 2: Grenzeinkommen Bezugsgruppe (mit verdeckt Armen) und durchschnittlicher Konsum für Ein-Personen-Haushalte nach der EVS 2008 EVS 2008 Einpersonen-Haushalte

Bezugsgruppe untere … 15 %

20 %

Differenz in Euro

Grenzeinkommen

901

990

89

durchschnittlicher Konsum

843

875

32

361,81

379,68

17,87

Regelsatzhöhe

3. Die »alternativen Berechnungsreihenfolgen« des IAB Das IAB-Gutachten liefert Daten anhand einer »alternativen Berechnungsreihenfolge«. Darin wird im Falle der verdeckt Armen bei dem oben in Kapitel 2 geschilderten Rechenweg zur Bestimmung der Referenzgruppen ein Rechenschritt vertauscht. Was geringfügig klingt, hat aber große Folgen für die Referenzgruppen. Bei der gemäß RBEG vorgenommenen Berechnung werden bei der Abgrenzung der Referenzhaushalte diejenigen Haushalte ausgeschlossen, die im Erhebungszeitraum Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bezogen haben oder verdeckt arm waren. Erst danach werden die 15- bzw. 20-Prozent-Quantile gebildet. Bei der »alternativen Berechnungsreihenfolge« werden die verdeckt Armen

Tabelle 3: Konsum und Grenzeinkommen der Referenzhaushalte (mit und ohne verdeckt Arme) 2008: Vergleich der regulären Berechnung mit der inkonsistenten bzw. »alternativen Berechnungsreihenfolge«

Haushalte

Einpers.-Haushalte

Ist-Zustand

reguläre Berechnung ohne verdeckt Arme (Var. 4)

inkonsistente Berechnung ohne verdeckt Arme (Var. 4)

Quantil in %

durchschnittlicher Konsum in Euro

Grenzeinkommen in Euro

Quantil in %

durchschnittlicher Konsum in Euro

Grenzeinkommen in Euro

Quantil in %

durchschnittlicher Konsum in Euro

Grenzeinkommen in Euro

15 %

843

901

15 %

864

945

12,9

844

901

Paarhaushalte mit einem Kind mit Kind unter 18 Jahren

20 %

1.779

2.327

20 %

1.861

2.466

17,1

1.815

2.327

mit Kind unter 6 Jahren

20 %

1.732

2.178

20 %

1.803

2.317

17,3

1.768

2.178

mit Kind 6 bis unter 14 Jahren

20 %

1.844

2.476

20 %

2.062

2.607

16,8

1.888

2.476

mit Kind 14 bis unter 18 Jahren

20 %

1.870

2.544

20 %

1.950

2.722

17,2

1.898

2.544

Quelle: IAB-Gutachten, S. 30–39, Abb. 8, 9, 10 und 11

Soziale Sicherheit 10 /2013

351

Soziales

zunächst nicht herausgenommen. Im Gegensatz zum Verfahren nach dem RBEG werden nach Herausnahme der Haushalte, die im Erhebungszeitraum Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bezogen haben, sogleich die 15bzw. 20-Prozent-Quantile gebildet. Aus diesen 15- und 20-Prozent-Quantilsgruppen werden dann abschließend die verdeckt Armen herausgenommen. Das bedeutet aber, dass die ursprünglichen 15- und 20-Prozent-Quantilsgruppen auf jeden Fall kleiner werden. Die verdeckt Armen sind ja die Dunkelzifferhaushalte, die eigentlich einen Anspruch auf SGB-II- bzw. SGB-XIILeistungen haben, diesen aber nicht realisieren. Warum die faktischen und potentiellen SGB-II- bzw. SGB-XII-Bezieher rechnerisch ungleich behandelt werden sollen, wird nicht erläutert. Dies ist vielmehr eine rechentechnische Inkonsistenz, die gleichzustellen ist einem Methodenfehler. Aufgrund der Einkommensverteilung im unteren Einkommensbereich führt dieses fehlerhafte Rechenverfahren dazu, dass (a) die Referenzgruppe kleiner wird und (b) der durchschnittliche Konsum gegenüber dem regulären Rechenverfahren gemäß RBEG sinkt (s. Tabelle 3).

Erwachsenenbevölkerung ermittelt werden soll, wird man wohl auf folgende Weise vorgehen: (1a) Alle Kinder werden aus der Untersuchungsbevölkerung ausgeschlossen, (2a) sodann bildet man eine 25-Prozent-Referenzgruppe (3a) und bestimmt dann die durchschnittliche Größe der 25 Prozent-Referenzgruppe.

Für die abgeleiteten Regelsatzhöhen heißt das: Sie sind niedriger als im Falle des regulären Rechenverfahrens (ohne verdeckt Arme). Auch hier liefert das IAB-Gutachten keine Regelsatzhöhen, sondern nur durchschnittliche Konsumhöhen und Grenzeinkommen. Dies kann für die einzelnen Haushalte in Tabelle 3 nachvollzogen werden. Im IAB-Gutachten werden die Daten der »alternativen Berechnungsreihenfolge« mit gleicher methodisch/wissenschaftlicher Relevanz behandelt wie die RBEG-konformen Rechenergebnisse.20 Die Unsinnigkeit der »alternativen Berechnungsreihenfolge« mag folgendes Analog-Beispiel erläutern: Wenn die durchschnittliche Körpergröße der unteren 25 Prozent der

4. Wirtschaftliche Situation von Haushalten mit niedrigem Einkommen

20 Dazu wird sogar eine neue Phraseologie erfunden wie »mit Aufrücker« und »ohne Aufrücker«, wobei »mit Aufrücker« den regulären Rechenweg meint. »Ohne Aufrücker« klingt wie »ohne verdeckt Arme« und soll wohl so auf der sprachlichen Ebene ein seriöses Rechenverfahren andeuten. 21 Dieses Beispiel ergab sich aus einer Diskussion mit der Verteilungsforscherin Irene Becker. Der Rechenweg ist vereinfacht, eine genaue Entsprechung zum IAB-Gutachten wäre die Einführung von schwarzen und roten Kindern, wobei bei Rechenschritt (1b) die roten Kinder ausgeschlossen werden, nicht aber die schwarzen Kinder.

Folgender Rechenweg ist sofort als fehlerhaft zu durchschauen: (1b) Aus der Untersuchungsbevölkerung wird eine 25-Prozent-Referenzgruppe bestimmt, (2b) aus dieser 25-Prozent-Referenzgruppe werden die Kinder entfernt, (3b) um dann anschließend die Durchschnittgröße abzuleiten. Der so gebildete Durchschnitt ist kleiner als die im korrekten Verfahren (1a – 3a) gewonnene Durchschnittsgröße, des Weiteren wird die 25-Prozent-Referenzgruppe vermindert um den Anteil der Kinder.21

Das IAB-Gutachten liefert in Kapitel 5 Daten zur wirtschaftlichen Situation von Haushalten mit niedrigen Einkommen. Dies gibt einige Anhaltspunkte, um die Konsumhöhen zu vergleichen und damit auch etwas über die Regelsatzhöhen – allerdings nur qualitativ – sowie über die wirtschaftliche Stellung gegenüber Haushalten mit mittleren Einkommen auszusagen. In Tabelle 4 sind die Quantile 15 und 20 Prozent dargestellt sowie der Median und der Mittelwert. Bei einem Vergleich mit Tabelle 1 und 2 ist zu beachten, dass in Tabelle 4 alle Haushalte – also auch die der Grundsicherungsbezieher und verdeckt Armen – berücksichtigt sind. Der Vergleich der Konsumhöhen in Tabelle 4 mit Tabelle 1 zeigt in eindeutiger Weise, dass die Konsumhöhen der Haushalte, die für Regelsatzberechnungen herangezogen werden, deutlich unterhalb der Median-Haushalte liegen und sich noch deutlicher von Mittelwerthaushalten unterscheiden. Anders ausgedrückt: Die Regelsatzberechnun-

Tabelle 4: Durchschnittlicher Haushaltskonsum aller Haushalte, Quantile 15 und 20 Prozent, Median und Mittelwert* Haushalte

15 %

20 %

Median

Mittelwert

772

837

1.222

1.422

mit Kind unter 18 Jahren

1.658

1.806

2.463

2.745

mit Kind unter 6 Jahren

1.593

1.725

2.314

2.616

mit Kind 6 bis unter 14 Jahren

1.775

1.885

2.561

2.842

mit Kind 14 bis unter 18 Jahren

1.763

1.935

2.592

2.923

Einpersonen-Haushalte Paarhaushalte mit 1 Kind

* EVS-Stichprobe 80 %, die Berechnungen umfassen alle Haushalte, demnach einschließlich Existenzminimumbezieher und verdeckt Armen

352

Soziale Sicherheit 10 /2013

Quelle: IAB-Gutachten, S. 118, Tab. 47

Soziales

gen beziehen sich nicht auf Haushalte im mittleren Einkommensbereich. Dabei ist des Weiteren zu bedenken: Viele Haushalte im unteren Einkommensquintil haben höhere Konsumausgaben als verfügbare Einkommen, d. h. es wird entspart. In vielen Fällen liege der durchschnittliche private Konsum über dem durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen, so das IAB. Diese Differenz werde zu einem Großteil durch die Auflösung von Ersparnissen (Vermögen) finanziert.22

5. Fazit Das Gutachten des IAB hat eindrücklich gezeigt, dass anhand der EVS-Daten deutlich mehr Personen einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II und SGB XII haben als durch die offiziellen Statistiken ausgezählt werden. Werden diese verdeckt Armen bei der Bestimmung von Regelsatzhöhen aus den Referenzgruppen herausgenommen, ergeben sich daraus zwingend höhere Regelsätze. Die Regelbedarfsstufen ohne verdeckt Arme hat das Bundesarbeitsministerium allerdings nicht berechnen lassen. Die »alternativen Berechnungsmethoden« (»alternative Referenzgruppen«) des IAB sind methodisch fehlerhaft und widersprechen darin dem Sinn des Rechenverfahrens im RBEG. Dennoch nutzt die Bundesregierung die Befunde, um zu rechtfertigen, dass auch weiterhin verdeckt arme Haushalte nicht aus den Referenzgruppen herausgerechnet werden. Das Bundesarbeitsministerium möchte die Ergebnisse des IAB-Gutachtens letztlich nicht wahrhaben und betont die angeblichen Unsicherheiten des Mikrosimulationsverfahrens.23 Diese Gründe sind aber nur vorgeschoben. Dem Ministerium und der Bundesregierung kommt es auf etwas anderes an: Sie befürchten, dass es höhere Regelsätze geben muss, wenn die verdeckt armen Haushalte tatsächlich bei der Regelsatzbestimmung herausgerechnet werden: »Der Umfang der mit derartigen Verfahren ermittelten Haushalte, deren eigene Mittel nicht zur Deckung des nach dem SGB II und SGB XII zu unterstellenden Bedarfs ausreichen, aber keine Leistungen beziehen, ist beträchtlich. Würde diese Personengruppe, ungeachtet der erheblichen Unsicherheit bei der Ermittlung, nach geltendem Recht aus den Referenzgruppen herausgerechnet, käme es durch die an deren Stelle nachrückenden Haushalte mit höherem Einkommen tendenziell zu einer Verlagerung der Referenzgruppe in den mittleren Einkommensbereich und die Regelbedarfsermittlung würde nicht mehr alleine auf Basis niedriger Einkommen erfolgen, wie dies für die Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums sachgerecht ist.«24 22 vgl. IAB-Gutachten, S. 127 f., Tab. 50, S. 125; zitiert werden dort: HeinzHerbert Noll/Stefan Weick: Einkommensarmut und Konsumarmut – unterschiedliche Perspektiven und Diagnosen. Analysen zum Vergleich der Ungleichheit von Einkommen und Konsumausgaben, in: ISI (Informationsdienst soziale Indikatoren), Heft 37, Januar 2007, S. 1–6 23 vgl. BT-Drs. 17/14774 vom 19. 9. 2013, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, »Altersarmut nach Familientyp«, S. 4 24 BT-Drs. 17/14282, a. a. O., S. 5

Hierbei wird noch das Argument bemüht, die Referenzgruppen reichten dann bis in den mittleren Einkommensbereich hinein. Auch hier hat das IAB-Gutachten Daten geliefert, die zeigen, dass der durchschnittliche Haushaltskonsum der Referenzgruppen deutlich geringer ist als der von Haushalten mit mittleren Einkommen (s. oben Kapitel 4.). Ganz offensichtlich will das Bundesarbeitsministerium und damit die Bundesregierung höhere Regelsätze unter allen Umständen verhindern. Die Frage entsteht, ob sie damit bei dem anstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den neuen Regelsätzen durchkommt. Auf jeden Fall hat sie mit dem bisherigen Taktieren Zeit gewonnen, indem die Regelsätze bisher deutlich niedriger waren als es bei einer redlichen Berechnung erforderlich gewesen wäre.

Der Autor: Dr. Rudolf Martens leitet die Paritätische Forschungsstelle im Paritätischen Gesamtverband e. V. in Berlin.

Die neuen Regelsätze für 2014 Zum 1. Januar 2014 erhöhen sich die Regelbedarfsstufen um 2,27 %. Der Bundesrat hat am 11. Oktober einer entsprechenden Verordnung des Bundeskabinetts zugestimmt. Ein alleinstehender Erwachsener erhält im nächsten Jahr monatlich 391 Euro Grundsicherung. Derzeit sind es 382 Euro. Die Regelsätze für die im Haushalt lebenden Partner und Kinder (Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft) steigen anteilig. Regelbedarfsstufen im Jahr 2014 gegenüber 2013 Regelbedarfsstufe

Alleinstehend/ Alleinerziehend

391 € (9 € mehr)

1

Paare/ Bedarfsgemeinschaften

353 € (8 € mehr)

2

Erwachsene im Haushalt anderer

313 € (7 € mehr)

3

Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahren

296 € (7 € mehr)

4

Kinder von 6 bis unter 14 Jahren

261 € (6 € mehr)

5

Kinder von 0 bis 6 Jahre

229 € (5 € mehr)

6

Die Fortschreibung der Regelbedarfe wird aus einem Mischindex errechnet. Dieser setzt sich zu 70 % aus der regelsatzrelevanten Preisentwicklung und zu 30 % aus der Nettolohnentwicklung zusammen. Für 2014 liegt die Veränderung des Mischindexes für Juli 2012 bis Juni 2013 gegenüber dem Vorjahreszeitraum zugrunde.

Soziale Sicherheit 10 /2013

353

Recht

BUK-Neuorganisationsgesetz verabschiedet:

Mehrere Neuregelungen für das sozialgerichtliche Verfahren Von Ulrich Wenner

Das »Gerangel«1 um das »Gesetz zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze« (BUK-NOG) ist am 20. September im Bundesrat zu Ende gegangen. Mit der Zustimmung der Länderkammer ist zwei Tage vor Beendigung der 17. Legislaturperiode des Bundestages ein Gesetzesvorhaben abgeschlossen worden, das neben eher organisatorischen Fragen auch einige wichtige Regelungen für die Praxis des Sozialrechts enthält. Sie werden hier erläutert. Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) waren von Anfang an Bestandteil des Gesetzentwurfs der Bundesregierung. Grundlage der Neuregelung waren Überlegungen der Justizministerkonferenz der Bundesländer, die aber sehr viel weiter gingen, als das, was nunmehr geregelt worden ist. Vor allem die von den Justizministern angestrebte weitgehende Ausschaltung der ehrenamtlichen Richter aus der Entscheidungsfindung der Sozialgerichte2 ist nun nicht umgesetzt worden.

Neuregelungen für ehrenamtliche Richter Die bisherige Fassung des § 14 SGG unterscheidet zwischen ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Versicherten und der Arbeitnehmer. In den Kammern und Senaten der Sozialgerichtsbarkeit – Sozialgerichte (SG), Landessozialgerichte (LSG), Bundessozialgericht (BSG) – wirken in den Verfahren des Grundsicherungsrechts (SGB II) nur »Arbeitnehmer« mit, also keine Rentner. Letztere sind »Versicherte« und können als solche in allen Angelegenheiten der Sozialversicherung, aber eben nicht bei Verfahren zum SGB II mitwirken. Das ändert sich nun mit dem Inkrafttreten des BUKNOG.3 Die Differenzierung zwischen ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der »Versicherten« und der »Arbeitnehmer« wird aufgehoben.4 Künftig gibt es nur noch den Kreis der »Versicherten«. Vorschlagsberechtigt sind insoweit die Gewerkschaften (§ 14 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die ursprüngliche Idee, dass in Angelegenheiten der Grundsicherung nur Personen mitwirken sollen, die noch im Erwerbsleben stehen oder arbeitslos sind, wird damit aufgegeben. Der Grund ist pragmatisch: Die Differenzierung zwischen den Listen für »Arbeitnehmer« und für »Ver1

2

3 4 5 6

354

vgl. »Gerangel um Omnibusgesetz zu Unfallkassen«, in: SoSi plus 5/2013, S. 2; »Omnibusgesetz zu Unfallkassen noch nicht durch«, in: SoSi plus 7/2013, S. 3 vgl. Ulrich Wenner: Nach den Vorschlägen der Justizministerkonferenz zur Änderung des SGG: Abschaffung der Mitwirkung von ehrenamtlichen Richtern durch die Hintertür?, in: SozSich 10/2012, S. 356–358 Die SGG-Änderungen treten am Tag nach der Verkündung (im Bundesgesetzblatt) in Kraft. vgl. BT-Drs. 17/12297, S. 64 ebenda Darunter wird jede rechtlich anerkannte Möglichkeit verstanden, gegen eine Entscheidung oder einen nachteiligen Rechtszustand mit dem Ziel der Aufhebung oder Abänderung vorzugehen.

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sicherte«, die beide von den Gewerkschaften eingereicht werden und häufig dieselben Personen enthielten, hat in der Praxis der Gerichte zu Schwierigkeiten geführt. Eine Kammer des SG konnte nicht in derselben Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern zunächst Verfahren nach dem SGB II und im späteren Verlauf des Sitzungstages solche des SGB VI verhandeln. Die Neuregelung wird in § 208 SGG durch eine Übergangsregelung ergänzt: Die bisher aus der Vorschlagsliste für »Arbeitnehmer« ernannten ehrenamtlichen Richter können ihre Funktion bis zum Ablauf ihrer Amtsperiode unverändert weiter ausüben. Es ist immer schwerer geworden, ehrenamtliche Richter aus den Kreisen der Arbeitgeber für die Tätigkeit an den Sozialgerichten zu gewinnen. Deshalb sollen künftig auf Arbeitgeberseite auch Personen mitwirken, die nicht Arbeitgeber oder im technischen Sinne »leitende« Angestellte sind, aber »für den Arbeitgeber in Personalsachen tätig werden« (§ 16 Abs. 4 Nr. 4 SGG). Dass der Gesetzgeber dabei nicht an eine Sekretärin der Personalabteilung gedacht hat, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung. Danach sollen die Arbeitgebervereinigungen bei ihren Vorschlägen darauf achten, dass Personen berufen werden, die »aufgrund ihrer Lebens- und Berufserfahrung geeignet sind, die Sicht der Arbeitgeber in die Entscheidungsfindung einzubringen«5.

Beschränkungen bei Rechtsbehelfen Im Interesse der Beschleunigung und Verkürzung sozialgerichtlicher Verfahren werden künftig Rechtsbehelfe6 beschränkt. Gänzlich ausgeschlossen werden zunächst isolierte Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen – also etwa die Beschränkung der Aktenübersendung oder die Weigerung, ein bestimmtes Gutachten zu übermitteln. Die Neuregelung in § 56 a SGG entspricht insoweit § 44 a Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); für die sozialgerichtliche Praxis wird sich durch die Einführung des § 56 a wenig ändern, weil bislang schon vielfach § 44 a VwGO entsprechend angewandt worden ist. Durch die Neuregelung einiger Vorschriften des SGG wird klargestellt, dass gegen gerichtliche Beschlüsse, mit denen über die Ablehnung von Richtern und Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit entschieden wird, keine Beschwerde mehr gegeben ist. Das ergibt weitgehend

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schon aus § 172 Abs. 2 SGG, wird aber jetzt noch deutlicher abgesichert. Diese Regelungen zielen – ohne dass das so deutlich in der Gesetzesbegründung angesprochen werden kann – auf einen kleinen Kreis von Klägern, die jede gerichtliche Entscheidung angreifen. Das führt dann derzeit dazu, dass die Gerichtsakten ständig zwischen dem SG und dem LSG hin- und hergeschoben werden, weil immer wieder das LSG über eine Beschwerde zu entscheiden hat. Gerade solche Verfahren dauern dann bis zum endgültigen Abschluss unangemessen lang, was wiederum nahezu zwangsläufig ein Entschädigungsverfahren wegen unangemessen langer Verfahrensdauer zur Folge hat. Wichtig ist, dass der Gesetzgeber die Forderung nicht aufgenommen hat, eine Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) ganz auszuschließen. Durch die Neufassung der § 73 a und § 172 SGG wird geklärt, dass der Kläger gegen solche Entscheidungen des SG das LSG anrufen kann, mit denen das SG die Erfolgsaussichten der Klage im Sinne des § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) verneint. Ausgeschlossen ist die Beschwerde dagegen, wenn das SG die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH verneint (§ 172 Abs. 3 Nr. 2 a SGG). Der betroffene Personenkreis kann Verfahren gerade im Grundsicherungsrecht ohne PKH nicht effektiv führen – soweit kein gewerkschaftlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht. Deshalb könnte der vollständige Ausschluss einer Beschwerde gegen PKH-Entscheidungen zur Folge haben, dass bestimmte Fragen gar nicht in einem Klageverfahren vom LSG geklärt werden. Das PKH-Verfahren und das – insbesondere im Rechtskreis des SGB II wichtige – Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes werden hinsichtlich der Rechtsmittel verzahnt: Wo in der Hauptsache nach § 144 SGG keine Berufung möglich ist, findet auch gegen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz und zur PKH keine Beschwerde statt. Die Bundesregierung hat diese Neuregelung damit begründet, dass der Rechtsschutz in diesen Nebenverfahren künftig nicht weiter reichen soll als der Rechtschutz im Hauptsacheverfahren.7 Dabei muss aber immer § 144 Abs. 2 SGG im Blick bleiben: Auch wenn der Wert eines Prozesses die Grenze von 750 Euro nicht erreicht, so dass die Berufung an sich ausgeschlossen ist, kann dem Verfahren grundsätzliche Bedeutung zukommen. Dann ist nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 die Berufung zuzulassen. Das hat zur Konsequenz, dass zumindest in solchen Verfahren die Ablehnung der Bewilligung von PKH mit der Beschwerde angefochten werden kann.

Vereinfachung von Verfahren Viele sozialgerichtliche Verfahren enden durch einen gerichtlichen Vergleich. Dieser kann bisher nur in einer gerichtlichen Verhandlung abgeschlossen werden, was zur Folge hat, dass alle Beteiligten zum Gericht kommen müssen, auch wenn schon vorgeklärt ist, wie man sich einigen will. Künftig ermöglicht § 101 Abs. 1 Satz 2 SGG ein

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vgl. BT-Drs. 17/12297, S. 66

vereinfachtes Vorgehen: Das Gericht – also der Kammervorsitzende beim SG oder der Berichterstatter beim LSG – formuliert in einem Beschluss die einzelnen Regelungen des Vergleichs ähnlich wie das in einem gerichtlichen Protokoll geschehen würde. Diesen Vorschlag nehmen dann die Beteiligten mit einem Schriftsatz gegenüber dem Gericht an. Das Ergebnis ist dann ein gerichtlicher Vergleich, der – etwa als Grundlage einer Vollstreckung – einem gerichtlichen Urteil gleichsteht. Wenn die Beteiligten nicht zum Gericht kommen wollen, können sie künftig auch in Form einer Videokonferenz verhandeln. Nach § 110 a SGG, der zum 1. November 2013 in Kraft tritt und nicht Bestandteil des BUK-NOG ist, kann das Gericht den Beteiligten gestatten, sich während der mündlichen Verhandlung oder während eines Erörterungstermins an einem anderen Ort aufzuhalten, an den die Verhandlung zeitgleich in Bild und Ton übertragen wird. Ähnlich kann auch vorgegangen werden, wenn ein Zeuge oder ein Sachverständiger vernommen werden soll, der sich z. B. an seinem Wohnort oder in einem Büro aufhält und von dort aus vernommen und von den Beteiligten befragt werden soll. Die Vernehmung wird dann in Bild und Ton in den Gerichtssaal übertragen. Eine Aufzeichnung soll in allen Konstellationen der Videokonferenz ausgeschlossen sein (§ 110 a Abs. 3 Satz 1 SGG).

Der Autor: Prof. Dr. Ulrich Wenner ist Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht.

Neuregelungen für die Unfallversicherung Das BUK-NOG regelt insbesondere die Fusion der Unfallkasse des Bundes mit der Eisenbahnunfallkasse sowie der Unfallkasse Post und Telekom mit der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft. »Dies ist eine weitere wichtige Etappe bei der strukturellen Neuordnung«, so der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) Joachim Breuer. Er lobte auch die beschlossenen Änderungen zu den Betriebsprüfungen. Dabei geht es um die von den Arbeitgebern gemeldeten Daten, auf deren Grundlage die DGUV den jeweiligen Beitrag für ein Unternehmen berechnet. »Bei Unternehmen mit geringer Beitragshöhe soll hier zu einer Stichprobenprüfung übergegangen werden«, erklärte Breuer. Das entlaste sowohl die kleinen Betriebe als auch die Rentenversicherung, die die Prüfungen im Auftrag der DGUV durchführt. Schätzungen zufolge könnten 2.500 Prüfungen täglich entfallen. Besteht der Verdacht, dass ein Arbeitgeber Lohnsummen der falschen Gefahrklasse zugeordnet hat, darf die Unfallversicherung zukünftig auch wieder selbst im Unternehmen prüfen. Das BUK-NOG präzisiert zudem die im Arbeitsschutzgesetz enthaltene Pflicht des Arbeitgebers, für sein Unternehmen eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Diese bezieht sich nun auch auf die psychischen Belastungen bei der Arbeit.

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BVerfG zum Hartz-IV-Anspruch von »unechten« Stiefkindern:

Einstandspflicht des Partners einer Bedarfsgemeinschaft für die Kinder des anderen? Von Ulrich Wenner

Das gibt es häufiger bei Patchworkfamilien: Einem Mädchen, das mit seiner wenig verdienenden alleinerziehenden Mutter zusammenlebt, stehen Hartz-IV-Leistungen (Sozialgeld) zu. Dann zieht die Mutter – zusammen mit ihrer Tochter – zu einem neuen (verdienenden) Partner, mit dem sie nicht verheiratet ist. Darf nun das Sozialgeld ihrer Tochter gestrichen werden, weil das Einkommen des neuen Partners ihrer Mutter angerechnet wird – selbst wenn dieser gar nicht für die »unechte« Stieftochter1 zahlt und zahlen will und ihr auch gar keinen Unterhalt schuldet? Dazu hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 29. Mai 2013 entschieden (Az.: 1 BvR 1083/09) – allerdings eher unter Umgehung einer Sachentscheidung. In einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II werden alle Einkommen auf den Bedarf aller Angehörigen angerechnet. Die Einkommensanrechnung hängt nicht davon ab, ob zivilrechtliche Unterhaltspflichten bestehen und ob der eine tatsächlich für andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft wirtschaftlich einstehen will. Deshalb wird auch das Einkommen eines Partners für den Bedarf eines Kindes seiner Partnerin angerechnet, das nicht sein Kind ist und für das er auch nicht verantwortlich sein will. Das ergibt sich so aus § 9 Abs. 2 SGB II. Alle Versuche, das Gesetz anders zu verstehen, also etwa eine Anrechnung nur dann vorzunehmen, wenn der (neue) Partner der Mutter deren Kind auch tatsächlich unterstützt, haben sich nicht durchgesetzt. Das ist richtig, weil der Gesetzgeber seine Absicht unzweifelhaft deutlich gemacht hat: Wo Erwachsene als Paar mit Kindern in einem Haushalt zusammenleben, wird aus einem Topf gewirtschaftet und alles, was eingenommen wird, soll für den Bedarf aller zur Verfügung stehen. Wer das nicht will, muss nach der Konzeption des Gesetzgebers die Gemeinschaft verlassen, sei es als Partner, der nicht länger für nicht mit ihm verwandte »fremde« Kinder zahlen will, sei es als volljähriges Kind, das nicht länger von dem – ungeliebten – Freund der Mutter abhängig sein will. Seit vielen Jahr wird aber darüber gestritten, ob die Einkommensanrechnung auf den Bedarf von Partnerkindern (»unechten« Stiefkindern) verfassungskonform ist. Das Bundessozialgericht hat das in zwei Grundsatzurteilen 2008 und 2012 für minderjährige wie für volljährige Kinder bejaht.2 1 2

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Eine »echte« Stieftochter wäre sie nur, wenn ihre Mutter ihren neuen Partner heiraten würde. BSG vom 14. 3. 2012, Az.: B 14 AS 17/11 und B 14 AS 45/11 R; s. dazu auch »Auch für volljährige Kinder im Haushalt müssen Stiefväter aufkommen«, in: SoSi plus 4/2012, S. 12 vgl. etwa Ulrich Wenner: Verfassungsrechtich problematische Regelungen für eheähnliche Gemeinschaften und Stiefeltern, in: SozSich 5/2006, S. 146–152 Az.: B 14 AS/08 R; vgl. dazu Ulrich Wenner: Neue Hartz-IV-Urteile des BSG: Erfolg für Schüler: Kosten für Klassenfahrten sind voll zu erstatten. Negative Entscheidungen für Patchwork-Familien, Ein-Euro-Jobber und Asylbewerber, in: SozSich 11/2008, S. 291 ff.

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In der Sozialen Sicherheit sind mehrfach die Bedenken dagegen formuliert worden.3 Am 29. Mai 2013 hat jetzt das BVerfG zu der Thematik entschieden. Die Entscheidung, deren Begründung nur eine knappe Textseite umfasst, geht dahin, dass die Verfassungsbeschwerde gegen das Ausgangsurteil des BSG vom 13. November 20084 unzulässig ist. Das BSG hatte entschieden, dass zu Recht das Einkommen des neuen Lebenspartners der Mutter auch zur Deckung des Bedarfs der unechten Stieftochter berücksichtigt werden und ihr deshalb das Sozialgeld gestrichen werden dürfe. Dagegen war die Tochter als Beschwerdeführerin zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe gezogen. Ihre Anwälte – so die Verfassungsrichter – hätten aber nicht hinreichend schlüssig dargestellt, weshalb auch unter Berücksichtigung des Kindergeldes und der vom Partner der Mutter nach eigenen Angaben gewährten »freien Kost und Logis« das Existenzminimum des Kindes nicht gesichert sei.

Wohl noch kein Schlusswort aus Karlsruhe Damit könnte alles geklärt sein, wäre der Beschluss aus Karlsruhe nicht so ungewöhnlich. Der Eingang der Beschwerde war im Frühjahr 2009, die Entscheidung kam erst im Mai 2013. Für einen Text von dieser Schlichtheit, der auf kein zu § 9 Abs. 2 SGB II diskutiertes verfassungsrechtliches Problem eingeht, braucht kein Gericht vier Jahre. Nach Ablauf der Frist von einem Monat zur Begründung der Verfassungsbeschwerde steht abschließend fest, ob sie unter dem Gesichtspunkt hinreichender Darlegung zur Verfassungswidrigkeit zulässig ist oder nicht. Das Zuwarten von weiteren vier Jahren im höchstrichterlichen Aktenschrank in Karlsruhe lässt nur den Schluss zu, dass im BVerfG keine Einigkeit bestand, ob »man« zur Rechtslage der unechten Stiefkinder in Bedarfsgemeinschaften etwas sagen sollte – und vor allem, was man denn sagen wollte. Der konkrete Fall – insoweit haben die Verfassungsrichter Recht – gab nicht viel her, weil sowohl die Einkommensverhältnisse des verwitweten Partners der Mutter als auch

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die Schilderungen zur tatsächlichen Lebensgestaltung in der Gemeinschaft den Schluss ermöglichten, das klagende Kind verkomme nicht. In einer solchen Lage ist die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde als »unzulässig« ein geschickter Ausweg: Der Fall selbst wird dadurch endgültig erledigt, und zur Rechtslage muss sich das Gericht (noch) nicht abschließend äußern. Was folgt daraus für die Praxis? Da sich das BSG festgelegt hat und eine Gesetzesänderung nicht zu erwarten ist, kann nur ein neuer Anlauf nach Karlsruhe endgültige Klarheit bringen. Dieser Weg hat aber allenfalls dann überhaupt gewisse Erfolgsaussichten, wenn das Einkommen der klagenden Bedarfsgemeinschaft nur geringfügig über dem Bedarf im Sinne des SGB II liegt und außerdem plau-

sibel belegt werden kann, dass der Partner der Mutter – es könnte natürlich auch die Partnerin des Vaters sein – dem Kind (möglichst eines, das eher 15 als fünf Jahre alt ist!) wirklich nur das Essen zur Verfügung stellt und sich vor allem an Ausgaben für Kleidung und Teilhabe am sozialen Leben (Geschenke, Party-Outfit) definitiv nicht beteiligt. Wenn sich dann aus Sorge um das nicht ausreichend versorgte Kind schon das Jugendamt eingeschaltet hat – auf diesen Konfliktlösungsweg weist das BSG ausdrücklich hin –, müssten die höchsten Richter in Karlsruhe tatsächlich Farbe bekennen, ob in so einer Konstellation nicht zumindest Sozialgeld für das Kind gewährt werden oder ob die Mutter (mit dem Kind) zuvor den gemeinsamen Haushalt verlassen haben muss.

BSG zu Heizkosten im Grundsicherungsrecht:

Mieter sind nicht für eine schlechte Dämmung des Wohngebäudes verantwortlich Das Jobcenter darf einen Hilfeempfänger nicht allein wegen überhöhter Heizkosten zum Umzug auffordern und – falls es nicht zum Umzug kommt – die übernommenen Heizkosten drastisch kürzen. Es kommt nämlich auch darauf an, wie hoch die Unterkunftskosten insgesamt sind. Das ergibt sich aus einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Juni 2013 (Az.: B 14 AS 60/12 R). Die alleinstehende und auf Hartz-IV-Leistungen angewiesene Klägerin aus Herne (Westfalen) lebte in einer Wohnung mit 48 qm und einer (niedrigen) Kaltmiete von 204 Euro. Die Vorauszahlung für die Gasetagenheizung stiegen von monatlich 57 Euro im Jahr 2004 auf schließlich 127 Euro im Jahr 2010. Das beklagte Jobcenter kündigte der Klägerin 2009 an, künftig würden nur noch die »angemessenen« Heizkosten übernommen, die es mit 48,50 Euro ansetzte. Diesen Betrag legte das Jobcenter, nachdem die Klägerin nicht umgezogen war, der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Juni bis zum 30. November 2010 zu Grunde. Vor dem Bundessozialgericht hatte die Mieterin weitgehend Erfolg. Allerdings haben die Kasseler Bundesrichter die Sache an ihre Kollegen am Landessozialgericht (LSG) in Essen zurückverwiesen, um die tatsächliche Situation weiter aufzuklären. Grundsätzlich scheint das BSG – die schriftlichen Gründe liegen noch nicht vor – den Ansatz des LSG zu billigen, wonach für eine Wohnung vom Zuschnitt derjenigen der Klägerin nach dem bundesweiten Heizspiegel 2010 maximal 16,20 Euro je Quadratmeter und Jahr, also 1,35 je Quadratmeter im Monat angemessen waren. Klar ist damit: Die Heizkosten der bedürftigen Mieterin waren bei Weitem überhöht. Damit ist der Fall aber nicht entschieden, denn es kommt drauf an, ob die vom Jobcenter geforderten Kostensenkungsmaßnahmen der Klägerin »zumutbar« sind. Da sie die Wärmedämmung der von ihr gemieteten Wohnung nicht verbessern kann und wohl keine Anhaltspunkte für ein speziell unsinniges Heizverhalten vorliegen, meint »Kostensenkungsaufforderung« etwas ehrlicher: Aufforderung zum Wohnungswechsel. Eine solche Aufforderung ist aber – und darin liegt das eigentlich Neue des Urteils – nur gerechtfertigt, wenn

das Jobcenter nach einem Umzug tatsächlich weniger an Unterkunftskosten übernehmen müsste. Zu klären ist damit: Gibt es Wohnraum in Herne, der für die Klägerin nach Wohnfläche und Bruttokaltmiete sowie Heizkosten »angemessen« und zugleich billiger ist als die Warmmiete der aktuellen Wohnung. Das ist sehr fraglich, weil die Kaltmiete dieser Wohnung mit 4,25 je Quadratmeter eher niedrig ist. Im Ergebnis kann das aktuelle Urteil auf eine Erweiterung der bisher schon praktizierten Produkttheorie hinauslaufen: Das BSG prüft unter der Perspektive der Angemessenheit (§ 22 SGB II) nicht isoliert die Größe der Wohnfläche und den Mietpreis je Quadratmeter, sondern das Produkt beider Faktoren. Das erweitert den Spielraum der Mieter, die sich für eine kleinere Wohnung (in guter Lage und/oder mit besserer als nur einfacher Ausstattung) oder für eine eher große Wohnung mit schlechterem Standard entscheiden können. Jetzt wird – zumindest unter dem Blickwinkel der Umzugsaufforderung – diese Betrachtungsweise um die Heizkosten erweitert: Hilfeempfänger sollen wegen zu hoher Heizkosten nur umziehen müssen, wenn sie anderswo in ihrem bisherigen Wohnumfeld billiger wohnen könnten. Eine isolierte Betrachtung der Heizkosten hat das BSG verworfen. Sicherlich wird so der Druck auf die Vermieter vermindert, auch einfache Wohnungen besser zu isolieren, weil diese sonst (auch und sogar) von den Grundsicherungsempfängern verlassen werden würden. Das Grundsicherungsrecht hat jedoch keine energiepolitische Ausrichtung. Es geht um die Existenzsicherung für wirtschaftlich Schwache. So wenig wie die Hilfeempfänger sich als ernährungsbewusste Avantgarde betätigen können (»ich kaufe bewusst nur im Bioladen, deshalb reicht der Regelsatz nicht«), darf die Energiewende auf ihre Kosten umgesetzt werden, indem ihre Verpflanzung aus angestammten Kiezen um des höheren Ziels einer energetischen Sanierung (auch) von billigerem Wohnraum staatlich administriert wird. Ulrich Wenner

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Nachruf

Impressum

Zum Tod von Klaus Hofemann Der Wissenschaftler und Gewerkschafter Klaus Hofemann ist am 2. Oktober 2013 im Alter von nur 66 Jahren gestorben. Er war zuletzt Professor für Sozialpolitik an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln. Viele Jahre lang war er auch Autor dieser Zeitschrift. Als Schüler von Prof. Otto Blume hat er eine am Lebenslagekonzept orientierte Sozialpolitik und einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgt, der soziale Risiken und Gefährdungen in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhang analysiert und sozialstaatliche Lösungsperspektiven aufzuzeigen versucht. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern der »Kölner-Schule« (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck) hat er unter anderem das Standardwerk »Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland« verfasst. Ein Hand- und Lehrbuch, das auch aus gewerkschaftlicher Sicht wichtige sozialstaatliche Herausforderungen und Lösungsperspektiven thematisiert. Geforscht hat Klaus Hofemann ebenso zur sozialen Situation von Studenten wie zur Selektion am Arbeitsmarkt und zu den Risiken einer privatisierten ambulanten Versorgung. Klaus Hofemann hat sich nicht im wissenschaftlichen Elfenbeinturm eingerichtet, sondern empirische Erkenntnisse auch praktisch umzusetzen versucht, wie in den 1980er Jahren im Planungsstab des Bundeskanzleramtes und auch als Referatsleiter für Gesundheitspolitik beim DGB-Bundesvorstand. Nach seiner Rückkehr in die Wissenschaft blieb er den Gewerkschaften verbunden, auch als langjähriger Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu grundlegenden und aktuellen Fragen in der Sozialen Sicherheit. Sein Verständnis für wissenschaftliche Politikberatung zeigt sich exemplarisch an dem von ihm mitgetragenen Aufruf gegen die »Agenda 2010«. Darin wird der Agenda-Politik widersprochen und der eingeschlagene Weg als »falsch« bezeichnet, »weil der Politik eine falsche Krisendiagnose zu Grunde liegt«. Der DGB dankt Klaus Hofemann für sein wissenschaftliches und gewerkschaftliches Engagement; wir werden ihm stets verbunden bleiben.

Dr. Wilhelm Adamy, Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim DGB-Bundesvorstand

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Soziale Sicherheit Zeitschrift für Arbeit und Soziales ISSN 0490-1630 10/2013 – 62. Jahrgang Herausgeber Deutscher Gewerkschaftsbund Redaktion Hans Nakielski, Rolf Winkel (beide verantwortlich) Herbert Odenthal (Assistenz) Anschrift der Redaktion SozialText Media GbR Poller Hauptstraße 25–27, 51105 Köln Tel. 02 21 /6 30 87 33, Fax 02 21/8 00 82 98 E-Mail: [email protected] Internet www.sozialesicherheit.de Verleger Bund-Verlag GmbH Geschäftsführer Rainer Jöde Geschäftsbereich Zeitschriften Bettina Frowein (Leitung) Anschrift des Verlages Bund-Verlag GmbH Heddernheimer Landstraße 144 60439 Frankfurt/Main (ladungsfähige Anschrift) Tel. 0 69 / 79 50 10-0, Fax 0 69/79 50 10-18 Leser- und Aboservice Bund-Verlag GmbH, 60424 Frankfurt/Main Tel. 0 69 / 79 50 10-96, Fax 0 69 / 79 50 10-12 E-Mail: [email protected] Anzeigen Peter Beuther (verantwortlich), Christine Mühl Tel. 0 69 / 79 50 10-6 02, Fax 0 69/79 50 10-12 [email protected] Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 13, gültig ab 1.1.2013 Erscheinungsweise/Preise Soziale Sicherheit inkl. der Beilage SoSiplus erscheint 11 x jährlich. Jahresbezugspreis: 117,– € Einzelheft: 12,– € Ausland: 122,40 € zzgl. Versandkosten Vorzugspreis für Studierende: 63,– € Alle Preise inkl. 7 % Mehrwertsteuer. Abbestellungen mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresende. Die zur Abwicklung von Abonnements erforderlichen Daten werden nach den Bestimmungen des BDSG verwaltet. Titelfoto © [M] Walensky/Techniker-Krankenkasse/ Jonas Bergsten (CC) Druckvorstufe typeXpress, Sabine Brand, Köln Druck Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers, der Redaktion oder des Verlages wieder. Urheber- und Verlagsrechte Alle in dieser Fachzeitschrift veröffentlichten Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung – auch auszugsweise – bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages.

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