Philosophische Fakultät Institut Institut für für Philosophie, Lehrstuhl für für Theoretische Philosophie, Holm Holm Bräuer Bräuer M.A. M.A

Philosophische Fakultät Institut fürfür Philosophie, Lehrstuhl fürfür Theoretische Philosophie, Holm Bräuer M.A. Philosophische Fakultät Institut Phil...
Author: Hilke Dressler
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Philosophische Fakultät Institut fürfür Philosophie, Lehrstuhl fürfür Theoretische Philosophie, Holm Bräuer M.A. Philosophische Fakultät Institut Philosophie, Lehrstuhl Theoretische Philosophie, Holm Bräuer M.A.

3. Erkenntnistheorie

Wissen

Wissen

praktisches Wissen (knowing how)

propositionales Wissen (knowing that)

Wissen, wie etwas ist (knowing how it is)

Fähigkeiten, Fertigkeiten

theoretisch, Erkenntnisse

Sinnesqualitäten, Eindrücke

Erkenntnistheorie

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

Philosophie des Geistes

217

1

Wissen

Praktisches Wissen (Wissen, wie) Albert weiß, wie man Posaune spielt. Hans und Maria wissen, wie man Fahrrad fährt. Helena weiß, wie man Rührei macht. • Praktisches Wissen besteht in einer praktischen Fertigkeit oder einem Können. • Es besitzt keinen „Inhalt“, d.h. es ist kein Wissen, dass sich etwas sound-so verhält. • Wer weiß, wie man Fahrrad fährt, kann dieses Wissen nicht sprachlich ausdrücken, sondern nur dadurch zeigen, dass er Fahrrad fährt. • Dieser Typ von Wissen ist nicht Thema der Erkenntnistheorie.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

218

Wissen Propositionales Wissen (Wissen, dass) Der Detektiv weiß, dass der Gärtner der Mörder ist. Maria wusste gestern nicht, dass heute schönes Wetter ist. Jetzt weiß sie es. Ich weiß, dass ich zwei Hände habe. Zuschreibungen des Wissens haben die folgende Form: S weiß, dass p. wobei „S“ für eine bestimmte Person (oder irgendeinem Subjekt des Wissens) steht und „p“ für einen propositionalen Gehalt (den Inhalt des Satzes „Der Mörder ist der Gärtner.“ oder „Ich habe zwei Hände.“ usw.) • Theoretisches Wissen ist immer ein Wissen, das einen Inhalt hat. Man weiß, dass sich etwas so-und-so verhält. • Der Gegenstand der Erkenntnistheorie ist das propositionale Wissen.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

219

2

Wissen Wissen, wie etwas ist Albert weiß, wie eine Kiwi schmeckt. Johanna weiß, wie es ist, wenn man einen Sonnenbrand hat. Gegen die Gleichsetzung des „Wissens, wie etwas ist“ mit dem propositionalen Wissen sprechen zwei Argumente. (1) Auf die Frage „Wie ist es denn, eine Kiwi zu essen?“ gibt es keine befriedigende Antwort, die es Albert erübrigen würde, eine Kiwi zu kosten, um das zu wissen. (2) Auch wenn man propositional von Kiwis alles weiß, weiß man dennoch nicht, wie eine Kiwi schmeckt, wenn man nie eine probiert hat. • Bei dieser Art von Wissen handelt es sich weder um praktisches noch um propositionales Wissen. • Das Wissen, wie etwas ist, ist Gegenstand der Philosophie des Geistes (Qualiadebatte).

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

220

Erkenntnistheorie

Skeptizismus Was ist Wissen? Was ist Wahrheit? Worin besteht Rechtfertigung?

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

221

3

Erkenntnistheorie

Skeptizismus

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

222

Skeptizismus

Philosophische Skepsis vs. Alltagsskepsis Philosophische Skeptiker bestreiten oder bezweifeln, dass wir Wissen über die Welt haben oder haben können, aber: • Sie haben Gründe für diesen Zweifel. • Sie argumentieren dafür und machen dabei gewisse Voraussetzungen (u.a. die, dass man nicht alles zugleich anzweifeln kann). • Sie erheben einen Allgemeinheitsanspruch, d.h. sie stellen nicht einen einzelnen Wissensanspruch (ob wir etwa herausfinden können, dass es außerirdisches, intelligentes Leben gibt) in Frage, sondern bestreiten die Möglichkeit des Wissens über die Welt ganz allgemein. Der philosophische Skeptiker stellt die Möglichkeit des Wissens über die Welt grundsätzlich in Frage. Er argumentiert für diesen Zweifel, begründet diesen und ist sich der Voraussetzungen, die er dabei eingeht, durchaus bewusst.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

223

4

Skeptizismus Irrtum und Zweifel Irren ist menschlich! Folgt aber daraus, dass ich mich manchmal irre, die Möglichkeit, dass ich mich immer irre, d.h. vielleicht gar kein Wissen über die Welt um mich habe? • Bei der Feststellung, dass wir uns manchmal irren, wird vorausgesetzt, dass man Irrtümer feststellen kann. Das aber setzt voraus, dass man sich nicht in jeder Hinsicht täuschen kann. • Die Feststellung eines Irrtums kann selber kein Irrtum sein, sonst wäre sie gerade nicht die Feststellung eines Irrtums. • Wenn ich feststelle, mich geirrt zu haben, dann habe ich einen besonderen Grund, der gegen meine frühere Überzeugung spricht. Gegen meine jetzige Überzeugung habe ich keinen spezifischen Grund. Ich habe keinen Grund, sie aufzugeben. Die Tatsache, dass wir uns hin und wieder irren, sollte uns nicht beunruhigen und erst recht nicht zum Skeptiker werden lassen!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

224

Skeptizismus

Sekundäre Qualitäten John Locke

Haben Gegenstände Farben?

Gegenstände weisen eine Oberflächenstruktur auf, die derart beschaffen ist, dass vorwiegend Licht einer bestimmten Wellenlänge reflektiert wird. Licht einer bestimmten Wellenlänge führt im Normalfall menschlicher Wahrnehmung zu gewissen Farbempfindungen (der Röte, des Gelben etc.). Von den Gegenständen selbst können wir also nur sagen, dass sie eine gewissen Oberflächenstruktur besitzen. Wenn wir von den Farben sprechen, dann geht es offenbar nur um die Wirkungen, die diese Struktur unter bestimmten Umständen (entsprechende Lichtverhältnisse) für den menschlichen Betrachter hat. Primäre Qualitäten: Eigenschaften, die den Gegenständen als solchen zukommen. Sekundäre Qualitäten: Eigenschaften, die von unseren kognitiven und Wahrnehmungsfähigkeiten abhängig sind. Skeptische Schlussfolgerung Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie an sich beschaffen ist!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

225

5

Skeptizismus

Das Traumargument

Rene Descartes

Prämisse 1: Wenn ich weiß, dass ich jetzt eine Vorlesung halte, dann weiß ich auch, dass ich jetzt nicht im Bett liege und bloß träume, dass ich eine Vorlesung halte. Prämisse 2: Ich weiß jetzt nicht, ob ich jetzt träume oder nicht. modus tollens Konklusion: Also weiß ich nicht, dass ich jetzt eine Vorlesung halte. Die erste Prämisse ist plausibel. Was zur skeptischen Konklusion führt, ist offenbar die zweite Prämisse. Diese muss der Skeptiker, der für dieses Argument argumentiert, begründen. Wie kann er das tun? Argument für die zweite Prämisse: Um zu wissen, ob ich jetzt träume, müsste ich ein Kriterium besitzen, das es mir erlaubt, Traum von Wachheit zu unterscheiden. Ich kann kein solches Kriterium besitzen, denn immer wenn ich meine, ein brauchbares Kriterium anzuwenden, könnte es sein, dass ich bloß träume, dass ich ein brauchbares Kriterium anwende! Also: Ich weiß jetzt nicht, ob ich träume oder wach bin!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

226

Skeptizismus Gibt es eine Außenwelt?

Rene Descartes

Halluzinationen: Wir alle wissen, dass Menschen unter bestimmten Umständen halluzinieren. Nach langer Arbeit an dieser Vorlesung sehe ich aus dem Fenster und erblicke einen rosa Elefanten auf der Strasse. In Wirklichkeit ist kein Elefant in der Nähe. Auf der Strasse ist gar nichts los. In Fällen wie dem der Halluzination besteht die Täuschung darin, dass ich meine, dass meiner Vorstellung ein Gegenstand in der Welt (der rosa Elefant) entspricht. Ich täusche mich aber nicht darin, dass ich meine, einen Elefanten zu sehen. Skeptische Fragen • Wie kann ich wissen, dass sich meine Vorstellungen auf etwas beziehen? • Ist es möglich, dass ich nur meine Vorstellungen besitze, denen „in Wirklichkeit“ nichts entspricht? • Kann ich wirklich wissen, dass es überhaupt eine Welt jenseits oder außerhalb meiner Vorstellungen – eine Außenwelt – gibt? SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

227

6

Skeptizismus

Gibt es eine Außenwelt?

I am plagued by doubts. What if everything is an illusion and nothing exists? In that case, I definitely overpaid for my carpet.

Prämisse: Wenn ich etwas über irgendeinen Gegenstand der Außenwelt weiß, dann weiß ich auch, dass es eine Außenwelt gibt. Prämisse: Ich kann nicht wissen, dass es eine Außenwelt gibt. modus tollens

Konklusion: Ich kann über keinen Gegenstand der Außenwelt etwas wissen. • Wie das Traum-Argument endet auch das Außenwelt-Argument mit der Konklusion, dass ich kein empirisches Wissen über die Welt haben kann. • Das Außenwelt-Argument bestreitet eine der Voraussetzungen, welche beim Traum-Argument gemacht werden muss; dass es nämlich eine Außenwelt gibt. • Das Traum-Argument kann auch unter der Prämisse geführt werden, dass es eine Außenwelt gibt. Es handelt sich um zwei verschiedene Argumente. SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

228

Skeptizismus Hilary Putnam

Gehirne im Tank

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Jemandem ist von einem übelwollenden Neurowissenschaftler das Gehirn entnommen worden. Um es am Leben zu erhalten, hat dieser es in eine Nährlösung gegeben. Die Nervenenden sind mit einem leistungsfähigen Computer verbunden worden, der dem Gehirn den Eindruck erzeugt, dass alles wie immer und ganz normal sei. Das Gehirn hat also den Eindruck, dass es von den vertrauten Gegenständen umgeben ist, während in Wirklichkeit dieser Eindruck nur von elektronischen Impulsen ausgeht, die der Computer dem Gehirn sendet. Es gibt kein Erlebnis, das der Computer dem Gehirn nicht „vorspielen“ kann. Prämisse: Wenn ich irgendetwas über die Welt weiß, dann weiß ich auch, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Prämisse: Ich kann nicht wissen, ob ich ein Gehirn im Tank bin. modus tollens

Konklusion: Ich kann nichts über die Welt wissen.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

229

7

Skeptizismus

Unsere epistemische Situation Epistemische Situation: kognitive und sinnliche Fähigkeiten im Verhältnis zu unserer Umgebung Die skeptischen Fragen sind Ausdruck des Versuchs herauszufinden, ob wir uns überhaupt in einer epistemischen Situation befinden, die Wissen möglich macht. Der Skeptiker zeigt uns, dass durchaus die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen ist, dass uns einige oder die meisten Aspekte unserer epistemischen Umgebung intransparent sind: • Ein Träumer hat, während er träumt, nicht die Möglichkeit festzustellen, ob er träumt oder wach ist. • Wir haben keine (direkte) Möglichkeit festzustellen, ob unseren Vorstellungen tatsächlich Gegenstände entsprechen oder nicht, d.h. wir können die Existenz der Außenwelt nur annehmen, nicht beweisen. • Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass die Welt um uns herum so beschaffen ist, wie wir sie wahrnehmen, denn viele der Eigenschaften, die wir erkennen können, sind keine Eigenschaften der Dinge, sondern Eigenschaften, die von unserer sinnlichen und kognitiven Ausstattung abhängig sind.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

230

Erkenntnistheorie

Was ist Wissen?

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

231

8

Was ist Wissen?

Gestern wusste ich nicht, wie heute das Wetter sein wird. Heute weiß ich es. • Wir sind in der Lage, Fälle des Wissens von Fällen des Nicht-Wissens zu unterscheiden. • Wir können den Begriff des Wissens korrekt verwenden. • Wozu also diese Frage? • Was ist das eigentlich für eine Frage?

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

232

Was ist Wissen? Die Frage nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen (Begriffsanalyse) x ist ein Junggeselle, gdw. x

(1) unverheiratet ist (2) männlich ist und (3) die meisten Abende allein verbringt.

eine Bedingung ist nicht notwendig

Notwendige Bedingungen sind solche, die für den fraglichen Begriff immer erfüllt sind. Die dritte Bedingung ist nicht notwendig, da es Junggesellen gibt, die die meisten Abende nicht allein verbringen (Partylöwen, die Single sind). x ist ein Junggeselle, gdw. x

(1) unverheiratet ist und (2) männlich ist.

Bedingungen sind zusammen noch nicht hinreichend

Eine Menge von Bedingungen ist hinreichend, wenn die angegebenen Merkmale immer und nur Fälle des fraglichen Begriffs sind. Die beiden angeführten Bedingungen sind zusammen nicht hinreichend, da es unverheiratete, männliche Wesen gibt, die keine Junggesellen sind (Knaben). x ist ein Junggeselle, gdw. x

SS 2008

(1) unverheiratet ist (2) männlich ist und (3) im heiratsfähigem Alter ist.

Einführung in die Theoretische Philosophie

Bedingungen sind notwendig und hinreichend?

233

9

Die traditionelle Konzeption

Die für viele Jahrhunderte unbestrittene Definition des Wissens stammt aus der Antike, nämlich von Platon, und lautet:

Wissen = wahre, gerechtfertigte Meinung

S weiß, dass p, gdw.

SS 2008

(1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) S ist gerechtfertigt, p zu glauben.

Einführung in die Theoretische Philosophie

234

Die traditionelle Konzeption Überzeugungen Eine erste notwendige Überzeugung:

Bedingung

für

Wissen

besteht

im

Haben

einer

Wenn S weiß, dass p, dann hat S die Überzeugung, dass p. Dass Wissen Überzeugungen voraussetzt, wird plausibel, wenn man versucht sich vorzustellen, dass dem nicht so ist. Hans weiß, dass Dresden südlich von Berlin liegt, aber er glaubt es nicht. Eine solche Beschreibung ist verwirrend und zwar deshalb, weil beides offenbar nicht miteinander vereinbar ist. Also: Das Haben einer Überzeugung entsprechenden Inhalts ist eine notwendige Bedingung für Wissen!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

235

10

Die traditionelle Konzeption

Wahrheit Überzeugungen sind nicht hinreichend für Wissen, denn Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Falsche Überzeugungen sind keine Fälle von Wissen. Das Vorliegen einer Überzeugung impliziert nicht, dass die Überzeugung wahr ist. Wenn S weiß, dass p, dann ist es wahr, dass p. Dass Wissen Wahrheit voraussetzt, wird wieder klar, wenn wir versuchen, dies in Abrede zu stellen: Hans weiß, dass Berlin südlich von Dresden liegt. Auch diese Beschreibung ist verwirrend und zwar ebenfalls deshalb, weil beides – Falschheit und Wissen – nicht miteinander vereinbar ist. Wenn etwas falsch ist, dann liegt kein Wissen vor. Also: Auch die Wahrheit des Gewussten ist eine notwendige Bedingung für Wissen!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

236

Die traditionelle Konzeption

Rechtfertigung Wahre Überzeugungen sind keine hinreichende Bedingung von Wissen, d.h. dass wir Fälle von wahren Überzeugungen finden können, die kein Wissen darstellen. Betrachten wir folgendes Beispiel: Hans bekommt ein Säckchen mit Murmeln vorgesetzt. Er soll nun raten, wie viele Murmeln sich in dem Säckchen befinden. Er denkt eine Weile nach und sagt dann „16“. Dann wird das Säckchen geöffnet und es stellt sich heraus, dass es tatsächlich 16 Murmeln sind. Hans hatte also eine wahre Überzeugung der Anzahl der Murmeln im Säckchen. Wusste Hans, wie viele Murmeln im Säckchen sind? Wer (zufällig) richtig liegt, weiß wie viele Murmeln sich im Säckchen befinden. Wissen setzt voraus, dass man mit seiner Überzeugung nicht leicht hätte falsch liegen können; dass man nicht zufällig recht hat. Zufällig wahre Vermutungen stellen kein Wissen dar. Überzeugungen und Wahrheit sind nicht hinreichend, um Wissen zu definieren. Was muss noch hinzukommen?

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

237

11

Die traditionelle Konzeption

Rechtfertigung Wenn S weiß, dass p, dann ist S‘s Überzeugung, dass p, gerechtfertigt. „Sokrates: ... die richtigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass sie doch nicht viel wert sind, bis man sie bindet durch Aufweisen ihrer Begründung. ... Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnisse und dann auch bleibend. Und deshalb nun ist Erkenntnis höher zu schätzen als die richtige Vorstellung, und es unterscheidet sich eben durch das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Vorstellung.“ [Platon: Menon 97e-98a]

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

238

Die traditionelle Konzeption Rechtfertigung Wenn S weiß, dass p, dann ist S‘s Überzeugung, dass p, gerechtfertigt. Was auch immer im Einzelnen unter „Rechtfertigung“ zu verstehen ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Dennoch: Die traditionelle Konzeption des Wissens als wahrer, gerechtfertigter Meinung lässt sich an vielen Beispielen belegen: • Maria weiß nur dann, dass die Bibliothek sonntags geöffnet ist, wenn sie Gründe hat, das anzunehmen. • Eine Frau weiß, dass sie schwanger ist nicht schon, wenn sie es ahnt (und es zufällig stimmt), sondern erst dann, wenn sie eindeutige Evidenzen dafür hat. • Ein Mathematiker weiß erst dann, dass ein gewisser Satz wahr ist, wenn er ihn beweisen kann und nicht schon, wenn er das nur vermutet oder glaubt. • Hans weiß nicht, wie viele Murmeln im Säckchen sind, wenn er es nur rät. Er weiß es erst dann, wenn er seine Vermutung stützen und begründen kann; wenn er entsprechende Anhaltspunkte hat.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Edmund Gettiers Problem

Schmidt und Müller bewerben sich auf dieselbe Stelle. Schmidt hat aus glaubhafter Quelle erfahren, dass sich die Firma für Müller entscheiden wird. Außerdem hat er zufällig gesehen, dass Müller zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Diese Daten rechtfertigen seine Annahme:

Müller wird die Stelle bekommen. & Müller hat zehn Münzen in seiner Hosentasche.

Derjenige, der die Stelle bekommen wird, hat zehn Münzen in der Hosentasche. Nun ereignen sich für Schmidt zwei unerwartete Zufälle. Auch er hat genau zehn Münzen in seiner Hosentasche und er bekommt trotz gegenteiliger Vorinformation selbst die Stelle.

• Schmidt hat eine wahre Überzeugung. • Seine Überzeugung ist gerechtfertigt. • Schmidt hat eine wahre und gerechtfertigte Meinung. Wusste Schmidt wirklich, was er glaubte? SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

240

Edmund Gettiers Problem

Zusatzbedingungen? Gibt es eine Lösung für das Gettierproblem durch die Angabe zusätzlicher Bedingungen? Schmidts Rechtfertigung beruhte auf der falschen Prämisse, dass Müller die Stelle bekommt. Vielleicht sollten wir einfach falsche Überzeugungen als Rechtfertigungsgründe ausschließen? S weiß, dass p, gdw.

(1), (2), (3) und (4) die rechtfertigenden Überzeugungen wahr sind.

Angenommen Schmidt erfährt aus seiner Quelle (nämlich von Schulz, einem Mitglied des Auswahlkomitees), dass er die Stelle bekommt und er bemerkt auch die zehn Münzen in seiner Tasche. Dann sind seine rechtfertigenden Überzeugungen beide wahr. Zufälligerweise ist es aber so, dass Schulz etwas verwechselt hat. In der Sitzung des Komitees wurde beschlossen, dass Müller angenommen und Schmidt abgelehnt wird. Schulz war unaufmerksam und hat das durcheinandergebracht. Zu einem späteren Zeitpunkt wird von übergeordneter Stelle angeordnet doch Schmidt und nicht Müller zu nehmen.

• Würden wir Schmidts Überzeugung nach der Sitzung und vor der Weisung durch die übergeordnete Stelle als Wissen bezeichnen?

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

241

13

Edmund Gettiers Problem

Zusatzbedingungen? Der eben konstruierte Fall beruht darauf, dass die rechtfertigenden Gründe zwar wahr, aber nur zufällig wahr sind. Dies weist darauf hin, dass die vierte Bedingung noch zu schwach war. Ein nichtzufälliger wahrer Grund für eine Überzeugung liegt offensichtlich dann vor, wenn dieser selbst gerechtfertigt ist: S weiß, dass p, gdw.

(1), (2), (3) und (4) die Rechtfertiger wahr und gerechtfertigt sind.

Das führt leider in einen infiniten Regress, denn das Definiens (insbesondere die vierte Bedingung) hat dieselbe Struktur wie das Definiendum. Wir könnten nun fragen, wie es um die rechtfertigenden Überzeugungen der rechtfertigenden Überzeugungen steht usw. Das Problem verschiebt sich statt gelöst zu werden!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

242

Internalismus vs. Externalismus internalistische Konzepte

externalistische Konzepte

S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) S ist gerechtfertigt, p zu glauben. (4) ???

S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) ???

Externalistische Konzepte hingegen halten Rechtfertigung nicht für eine notwendige Bedingung des Wissens. Sie suchen diese durch eine andere zu ersetzen. Sie versuchen also die Voraussetzung des „nicht zufällig Wahr-seins“ anders zu bestimmen. Wir sehen uns jetzt die folgenden drei Varianten externalistischer Wissenskonzepte an: ¾ kausale Konzeptionen ¾ reliabilistische Konzeptionen ¾ kontextualistische Konzeptionen

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die kausale Konzeption

Eine besonders nahe liegende Form einer externalistischen Konzeption ist die kausale Konzeption. Auch diese wird in verschiedenen Modifikationen vertreten. Schauen wir uns zunächst die stärkste unter ihnen an: S weiß, dass p, gdw.

Alvin I. Goldman

(1), (2) und (3) S´s Überzeugung durch die Tatsache, dass p, verursacht wurde.

Diese Variante eignet sich besonders für Wahrnehmungswissen: Nehmen wir wieder Schmidt. Im ersten Fall hatte er die wahre Überzeugung, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Diese jedoch wurde nicht von seinen Evidenzen verursacht, sondern beruhte auf einem logischen Schluss, den Schmidt aus seinen Evidenzen zog. Die dritte Bedingung der kausalen Konzeption ist demnach nicht erfüllt gewesen.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die kausale Konzeption Zukunft: Man kann Wissen über zukünftige Tatsachen haben (z.B. weiß ich, dass das Wasser im Teekessel kochen wird, wenn ich diesen auf eine heiße Herdplatte stelle). Zukünftige Tatsachen können aber keine Ursachen für gegenwärtige Überzeugungen sein. Devianz: Die Verursachung der Überzeugung muss von der „richtigen Art“ sein. Nehmen wir an, dass Luise an Masern erkrankt ist und dass die Masern zu einer zusätzlichen allergischen Reaktion geführt haben, welche Ursache für die kleinen roten Flecken ist, welche dann in Luise die Überzeugung verursachen, dass sie Masern hat. In diesem Fall ist zwar die Tatsache, dass Luise Masern hat, die Ursache für Luises Überzeugung, dass sie Masern hat, doch auch hier würden wir nicht von Wissen sprechen, denn die allergische Reaktion und ihre Masernerkrankung sind zwei unterschiedliche Phänomene.

Abschwächung der kausalen Konzeption S weiß, dass p, gdw. (1), (2) und (3) S´s Überzeugung mit der Tatsache, dass p, in angemessener Weise kausal verbunden ist.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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15

Die kausale Konzeption

Angemessenheit: Was genau besagt die Bedingung, dass es sich um eine angemessen kausale Verbindung handelt? (selbst-erfüllende Prophezeiung; Wissen über die Zukunft; deviante Kausalketten usw.) Negative Tatsachen: Ich weiß, dass es in der Sahara keine Eisberge gibt. Gibt es nun auch „negative Tatsachen“, die Ursache für meine Überzeugung sein können, dass es keine Eisberge in der Sahara gibt? Mathematisches Wissen: Ich weiß, dass 7+5=12 ist. Welche Tatsachen könnten Ursache für dieses Wissen sein? Modales Wissen: Welche Tatsache könnte Ursache meines Wissens sein, dass der Wahlverlierer die Wahl akzeptiert hätte, wenn er sie gewonnen hätte? Es gibt keine solche Tatsache, denn er hat die Wahl ja verloren!

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die reliabilistische Konzeption Frank P. Ramsey 1903-1930

S weiß, dass p, gdw. (1), (2) und (3) S ist auf eine verlässliche Art und Weise zu seiner Überzeugung p gelangt.

• Schmidt ging im ersten Fall von der falschen Information aus, dass Müller die Stelle bekommt. Falschinformationen stellen keine verlässliche Weise des Erwerbs für eine Überzeugung dar. • Im modifizierten Fall schloss Schmidt aus zufällig wahren Informationen auf seine Überzeugung. Auch dies ist kein verlässlicher Fall des Meinungserwerbs. • Ein anderer Fall: Wenn mir eine Wahrsagerin prophezeien würde, dass ich den Hauptgewinn bei einer Tombola ziehe und dies tatsächlich geschieht, dann kann man nicht sagen, ich wusste, dass ich gewinnen werde, weil Wahrsagerei kein verlässlicher Prozess des Überzeugungserwerbs ist. • usw.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die reliabilistische Konzeption Präzisierte Bedingung der Verlässlichkeit (3) P(w/m) ist hoch. Nehmen wir an, P(w/m) stehe für die bedingte Wahrscheinlichkeit P, dass eine Person durch die (korrekte) Verwendung einer bestimmten Methode des Meinungserwerbs m eine wahre Meinung w erwirbt. Die dritte Bedingung lässt sich dann präziser so formulieren, dass man verlangt, eine wahre Überzeugung sei Wissen nur dann, wenn diese Überzeugung durch eine verlässliche Methode des Meinungserwerbs zustande gekommen ist. • Eine verlässliche Methode des Meinungserwerbs zeichnet sich dadurch aus, dass die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Methode zu einer wahren Überzeugung zu kommen, im Allgemeinen hoch ist. • Verlässlichkeit ist graduell und die Grenze zwischen verlässlichen Methoden und unverlässlichen Methoden ist vage. Es wird immer Fälle geben, bei denen nicht klar ist, ob man sie verlässlich nennen sollte oder nicht.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die reliabilistische Konzeption Die Verlässlichkeit einer Methode des Meinungserwerbs ist relativ zu einem gegebenen Zweck: Wahrnehmung ohne technische Hilfsmittel: ist eine verlässliche Methode, wenn man an Informationen über mittelgroße Gegenstände in der näheren Umgebung interessiert ist (z.B. ob jetzt ein ein Stück Kreide vor mir liegt). Sie ist keine verlässliche Methode, wenn wir etwas zur Mikrostruktur eines Metalls oder über die Oberfläche eines entfernten Planeten wissen möchten. Wahrnehmung unter Zuhilfenahme komplizierter Instrumente: ist eine verlässliche Methode, wenn der Meinungserwerb durch Gebrauch des entsprechenden Instruments (Mikroskop, Teleskop) zustande gekommen ist. Der Gebrauch eines Teleskops oder eines Mikroskops ist unverlässlich, wenn wir etwas von den mittelgroßen Gegenständen in unserer Umgebung wissen wollen (das Stück Kreide z.B.) oder wenn das Instrument selbst unzuverlässig arbeitet. SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die reliabilistische Konzeption

Methoden des Wissenserwerbs Wahrnehmung: reliabel in Bezug auf Wissen von mittelgroßen Gegenständen. Wahrsagerei: nicht reliabel. Schlussfolgern aus wahren Prämissen: reliabel Schlussfolgern aus falschen Prämissen: nicht reliabel Raten/Münze werfen: nicht reliabel Expertenwissen: reliabel in Bezug auf das entsprechende Fachgebiet Alltagserfahrung: reliabel in Bezug auf die entsprechenden Alltagsthemen Träumen: nicht reliabel Zeugenbefragung: Reliabilität abhängig von verschiedenen Umständen (Glaubwürdigkeit etc.) SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die reliabilistische Konzeption Unbestimmtheit der Methode Anna sieht ein Flugzeug in weiter Ferne vorbei fliegen. Weiß sie, dass ein Flugzeug vorbei fliegt? Visuelle Wahrnehmung allein ist dafür nicht zuverlässig genug, da das fragliche Objekt zu weit entfernt ist. In diesem Fall aber bestanden besondere Umstände: die Sicht war außergewöhnlich klar; Anna hatte gerade Augentropfen genommen, die die Fernsicht verstärken; Anna war besonders aufmerksam usw. Alles in allem hat dies zu einem zuverlässigen Wissenserwerb geführt.

Wie sollen wir die hier angewandte Methode korrekt beschreiben? Maximal: Bei der Spezifikation der Methode werden alle besonderen Umstände mit einbezogen. Das führt im Extremfall zu detaillierten Beschreibungen von Einzelfällen. Einzelfälle aber haben keine probabilistischen Eigenschaften. Minimal: Bei der Spezifikation der verwendeten Methode werden nur die allgemeinsten Merkmale einbezogen, z.B. dass es sich in einem gegebenen Fall um visuelle Wahrnehmung ohne Hilfsmittel handelt. Das führt allerdings zu einem unbrauchbaren Verhältnis zwischen Reliabilität und Wissen.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die kontextualistische Konzeption Die Standards des Wissens hängen vom Kontext ab! Bert ist Laien-Meteorologe. Am Freitag Nachmittag schließt er aus der Art der Wolken, dem Westwind und noch einigem Anderen mehr darauf, dass es am Samstag regnen wird. Und Bert hat Recht: Am Samstag fällt der erwartete Regen. Als Laien-Meteorologe hat Bert eine reliable Methode entwickelt. Er weiß am Freitag, dass es am Samstag regnen wird. Erna ist professionelle Meteorologin. Auch sie stellt dieselben Überlegungen wie Bert an. Sie hat aber noch nicht die aktuellen Wetterdaten durchgesehen und antwortet am Freitag Nachmittag auf die Frage, ob sie schon wüsste, ob es am Samstag regnen wird, korrekt, dass sie das noch nicht sagen kann, da sie die entsprechenden Informationen noch nicht hat.

Dasselbe Verfahren liefert in Bezug auf Berts und Ernas Kontext unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Feststellung darüber, ob Bert und Erna am Freitag wissen, dass es am Samstag regnen wird. Die Standards einer professionellen Wettervorhersage sind anspruchsvoller als die einer Laien-vorhersage.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die kontextualistische Konzeption Die kontextualistische Konzeption des Wissens liefert den folgenden Definitionsvorschlag: S weiß, dass p, gdw.

(1), (2) und (3) S die im gegebenen Kontext einschlägigen Standards erfüllt.

Wodurch wird bestimmt, was die einschlägigen Standards sind? Konventionen: Es gibt keine von uns unabhängige Tatsache, die den Standard für Wissen festlegt. Vielmehr legen wir ihn konventionell fest. Es gibt zum einen Konventionen, die die professionellen Meteorologen untereinander teilen, zum anderen Konventionen, die die meteorologischen Laien im Alltag miteinander teilen.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die kontextualistische Konzeption Was legt den Kontext fest? Erna sitzt am Freitag über ihren meteorologischen Daten und schaut aus dem Fenster. Sie kommt aufgrund ihrer Beobachtungen wie Bert zu der (wahren) Überzeugung, dass es am Samstag regnen wird. Diese Überzeugung stellt Wissen dar, wenn wir Erna als LaienMeteorologin betrachten; sie stellt kein Wissen dar, wenn wir Erna als professionelle Meteorologin betrachten. In welchem Kontext befindet sie sich?

Was der entsprechende Kontext ist, hängt ebenfalls nicht von objektiven Merkmalen der Welt ab, sondern ist betrachterrelativ bzw. perspektivengebunden. Wissen ist relativ zu einem Zuschreiber, d.h. derjenigen Person, die beurteilen muss, in welchem Kontext sich jemand befindet, wenn er eine Überzeugung erwirbt.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Die Relativität des Wissensbegriffs Die Grundfrage für alle Konzeptionen der reduktiven Definition des Wissensbegriffs lautete: Unter welchen Bedingungen gilt eine wahre Überzeugung als Wissen? Verlässlichkeit: Die Beurteilung der Verlässlichkeit des Meinungserwerbs hängt davon ab, wie detailliert wir die verwendeten Methoden beschreiben. Standards: Die Zuschreibung von Wissen ist zudem abhängig von den zugrundegelegten Standards. Welchen Standard wir wählen, hängt davon ab, in welchem Kontext wir den Wissenserwerb betrachten. Kontext: Die Wahl des Kontexts ist nicht objektiv, sondern perspektivengebunden. Vielleicht sollten wir den Versuch einer reduktiven Definition des Wissensbegriffs ganz aufgeben? Zumindest ist das Wissen oder Nicht-Wissen einer Person keine Tatsache, die unabhängig vom Kontext und insbesondere von der Perspektive des Betrachters ist.

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Erkenntnistheorie

Was ist Wahrheit?

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Eigenschaften der Wahrheit Objektivität: Die Wahrheit einer Proposition hängt nicht davon ab, ob sie irgendjemand für wahr hält oder nicht. Es besteht eine Differenz zwischen „Wahr-Sein“ und „Für-WahrHalten“. Zeitlosigkeit: Eine Proposition, im Unterschied zum Für-Wahr-Halten (Überzeugung), Erkenntnis oder Wissen, kann nicht ihren Wahrheitswert mit der Zeit verändern. Wahrheit hat keine Geschichte, Glauben und Wissen hingegen schon. Wahrheit ist sprachunabhängig und sprachübergreifend: Wenn der Wahrheitsbegriff nicht in allen Sprachen derselbe wäre, dann ließen sich die Sätze der verschiedenen Sprachen nicht ineinander übersetzen. Transzendenz (Realismus): Wahrheit ist unabhängig von Erkennbarkeit. Es ist prinzipiell möglich, dass es Wahrheiten gibt, die wir nicht erkennen können. Zu wissen, was Wahrheit ist (eine Definition der Wahrheit zu kennen), hat nur mittelbar etwas damit zu tun, dass ich weiß, wie ich herausfinden kann, was wahr ist (d.h. ein Kriterium der Wahrheit zu kennen). Immanenz (Anti-Realismus): Wahrheit und Erkenntnis sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn ich weiß, was Wahrheit ist (wenn ich die Definition der Wahrheit kenne bzw. den Begriff der Wahrheit anwenden kann), dann weiß ich notwendig auch, wie ich herausfinden kann, was wahr ist (d.h. dann kenne ich zugleich ein Kriterium der Wahrheit).

SS 2008

Einführung in die Theoretische Philosophie

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Wahrheitsträger Was kann überhaupt wahr oder falsch sein? Sätze (abstrakte sprachliche Formen) Äußerungen (konkrete sprachliche Handlungen) Urteile (konkrete psychische Ereignisse) Überzeugungen (konkrete psychische Zustände) Propositionen (abstrakte semantische Objekte) Der Vorteil für einen sprachlichen Wahrheitsträger liegt darin, dass Sätze und Äußerungen recht gut „greifbar“ sind. Andererseits besteht der Nachteil, dass Sätze und Äußerungen sprachrelativ sind, während Wahrheit sprachübergreifend zu verstehen ist. Der Vorteil von psychischen Wahrheitsträgern liegt darin, dass sie nicht sprachrelativ sind. Andererseits sind psychische Zustände oder Ereignisse an bestimmte, konkrete Personen gebunden, während Wahrheit eine objektive Eigenschaft ist, die den Inhalten von Überzeugungen und Urteilen zukommt, nicht den psychischen Zuständen oder Ereignissen selbst. Der Vorteil von Propositionen (den Inhalten von Sätzen, Äußerungen, Urteilen und Überzeugungen) besteht darin, dass sie weder sprachrelativ noch subjektiv sind. Leider haben wir keinen offensichtlichen Zugang zu Propositionen – sie sind schwer „greifbar“. SS 2008

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Die Korrespondenztheorie

Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist ungefähr so alt wie die Philosophie selbst. Ihre Grundidee findet sich schon bei Aristoteles explizit formuliert: Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang steht. Eine Proposition ist wahr, gdw. es eine Tatsache gibt, mit der sie übereinstimmt. Was heißt „Übereinstimmung mit einer Tatsache“? Lässt sich diese Redeweise noch weiter präzisieren?

Bildtheorie (Wittgenstein)

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semantische Theorie (Tarski)

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Korrespondenztheorie Wittgensteins Bild-Theorie Semantische Bedingung: Die Teilelemente eines Satzes stehen für entsprechende Elemente der Tatsachen. Bedingung der Strukturgleichheit: Die Teilelemente eines Satzes sind untereinander genauso angeordnet wie die Teilelemente der Tatsache. (Der Satz ist ein „Bild“ der Tatsache.) „Die Katze sitzt auf der Matte.“ die Katze sitzt auf der Matte

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Korrespondenztheorie Wittgensteins Bild-Theorie Universalienproblem: Es ist umstritten, dass es neben Einzelgegenständen wie Katzen und Matten auch Universalien wie Eigenschaften oder Relationen (wie der des Auf-etwas-Sitzens) gibt.

Das Problem fehlender korrespondierender Tatsachen: Negative, wahre Sätze: „Bello sitzt nicht auf der Matte.“ Existenzsätze: „Es gibt eine Katze, die auf der Matte sitzt.“ Kontrafaktische Sätze: „Bello könnte auf der Matte sitzen.“ Probabilistische Sätze: „Höchstwahrscheinlich sitzt die Katze auf der Matte.“ Mathematische Sätze: „2+2=4.“ SS 2008

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Korrespondenztheorie Wittgensteins Bild-Theorie Das Slingshot-Argument

Alonzo Church (1903-1995)

Korrespondenztheorie: Sätze korrespondieren mit Tatsachen. Semantische Bedingung: Die Teilausdrücke eines Satzes stehen für etwas in der Welt. Extensionalitätsbedingung: Wenn man einen Teilausdruck eines Satzes durch einen anderen ersetzt, der für dasselbe steht, dann korrespondiert der Satz, der sich daraus ergibt, mit derselben Tatsache wie der ursprüngliche Satz. Scott ist der Autor von Waverly. Substitution Scott ist der, der 29 Waverly-Novellen geschrieben hat. Synonymie Die Anzahl von Scotts Waverly-Novellen ist 29. Substitution Die Anzahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist 29. Synonymie

Jeder dieser Sätze bringt dieselbe Tatsache zum Ausdruck

Utah hat 29 Verwaltungsbezirke.

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Tarskis semantische Theorie der Wahrheit Alfred Tarski (1901-1983) Tarski ist ein polnisch-amerikanischer Logiker, der ab 1942 in Berkeley lehrte. Er gilt als der Begründer der formalen Semantik („Modelltheorie“). Seine Arbeiten zum Problem der Definition der Wahrheit waren bahnbrechend und hatten einen großen Einfluss auf die Philosophie. Wichtigste Werke: „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“ (1936) „The Semantic Conception of Truth and the Foundations of Semantics“ (1944)

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Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie

Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang steht. Ein Satz ist dann wahr, wenn es sich so verhält, wie der Satz sagt. „x“ ist wahr in L, gdw. p

Tarski ist der Auffassung, dass eine Theorie der Wahrheit so beschaffen sein muss, dass sich aus dieser Sätze der obigen Form ableiten lassen müsse (TSätze). • „Grass is green“ ist wahr im Englischen, gdw. Gras grün ist. • „Neapel liegt südlich von Rom“ ist wahr im Deutschen, gdw. Neapel südlich von Rom liegt. • usw. ...

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Tarskis semantische Theorie der Wahrheit Paradoxien in natürlichen Sprachen Ist Wahrheit für eine natürliche Sprache überhaupt definierbar? (W)

Der Satz W ist nicht wahr.

Wenn W wahr ist, dann verhält es sich so, wie W sagt, d.h. W ist nicht wahr. Demzufolge ist W genau dann wahr, wenn W nicht wahr ist, was zu einem Widerspruch in unserer Wahrheitsdefinition führt. Natürliche Sprachen wie das Deutsche oder Englische enthalten die Möglichkeit solcher Widersprüche. Jede haltbare Erklärung des Wahrheitsbegriffs muss also erklären können, wie solche Paradoxien aufgelöst werden können. Tarski zieht die Konsequenz, dass der Wahrheitsbegriff für eine natürliche Sprache nicht definiert werden kann, sondern nur für sog. formale Sprachen, d.h. Sprachen, in denen jeder Ausdruck explizit und eindeutig definiert ist! In formalen Sprachen kann die Entstehung des Widerspruchs verhindert werden, wenn man das Wahrheitsprädikat so einschränkt, dass es nicht auf die eigene Sprache angewendet werden darf. Dies lässt sich technisch so lösen, dass man zwischen Objekt- und Metasprache unterscheidet und das Prädikat „ist wahr“ in der Objektsprache verbietet. SS 2008

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Tarskis semantische Theorie der Wahrheit Objekt- und Metasprache (1)

„Grass is green“ ist wahr im Englischen gdw. Gras grün ist. Objektsprache

Metasprache

Es gilt eine wichtige Unterscheidung zu treffen. Tarski nennt die Sprache, zu der der Satz gehört, über dessen Wahrheit wir reden, die Objektsprache (in unserem Beispiel ist das das Englische); und er nennt die Sprache, in der wir die Wahrheitsdefinition geben, die Metasprache bzw. Theoriesprache (in unserem Beispiel ist das das Deutsche). Dies impliziert nicht, dass (1) ein Satz ist, der zwei Sprachen enthält! Obwohl die in Anführungszeichen gesetzte Zeichenfolge ein englischer Satz ist, ist die Zeichenfolge, die sich durch Hinzufügung der Anführungszeichen am Anfang und am Ende ergibt, ein Ausdruck der deutschen Sprache, der einen englischen Satz benennt.

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Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Die Konvention T (T)

„x“ ist wahr in LO, gdw. p

Falls eine Wahrheitsdefinition adäquat ist, dann liefert diese für alle Sätze von LO, die wir für x einsetzen dürfen, einen T-Satz, der mittels eines metasprachlichen Satzes p angibt, wann x wahr ist. Das Verhältnis von x und p ist nicht beliebig: (T-1)

„Gras ist grün“ ist wahr im Deutschen, gdw. Schnee weiß ist.

???

(T-1) ist zwar wahr, weil beide Seiten des Konditionals wahr sind, aber nicht adäquat.

(Korrektheitsbedingung) Eine Wahrheitsdefinition für eine Sprache LO impliziert alle korrekten Sätze des Schemas (T) „x“ ist wahr in LO, gdw. p (Adäquatheitsbedingung) so dass x ein Satz der Objektsprache LO und p eine Übersetzung von x in die Theoriesprache (Metasprache) ist. SS 2008

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Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Wie sieht denn nun eine Wahrheitsdefinition aus? (T-2)

„Gras ist grün“ ist wahr im Deutschen, gdw. Gras grün ist.

Dieser T-Satz stellt zwar eine adäquate Definition der Wahrheit für den deutschen Satz „Gras ist grün“ dar, das ist aber noch nicht das, was wir eigentlich haben wollen: eine allgemeine Definition des Wahrheitsbegriffs für alle Sätze der betreffenden Sprache. Listenförmige Definitionen (T-3) (T-4) (T-5)

„Schnee ist weiß“ ist wahr, gdw. Schnee weiß ist. „Im Winter ist es kalt“ ist wahr, gdw. es im Winter kalt ist. „Der Mount Everest ist die höchste Erhebung auf der Erde.“ ist wahr, gdw. der Mount Everest die höchste Erhebung auf der Erde ist.

... SS 2008

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Korrespondenztheorie Tarskis semantische Theorie Wie sieht denn nun eine Wahrheitsdefinition aus? Rekursive Definitionen atomare Sätze: • Falls S ein Satz der Form „F(a)“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. das Individuum, welches a denotiert, Element der Klasse von Individuen ist, welche F denotieren. komplexe Sätze: • Falls S ein Satz der Form „G und H“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. G wahr ist und H wahr ist. • Falls S ein Satz der Form „G oder H“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. G wahr ist oder H wahr ist. • Falls S ein Satz der Form „Für alle x, Fx“ in L ist, dann ist S in L wahr, gdw. F(i) für alle Belegungen i für die Variable x wahr ist. • ... Abschluss: • Nichts sonst ist wahr in L.

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Die Redundanztheorie

Berechtigt uns der Satz „Gras ist grün“ ist wahr

Gras ist grün.

jederzeit von „‘Gras ist grün‘ ist wahr.“ auf „Gras ist grün.“ zu schließen?

F.P. Ramsey

W.V.O. Quine

Berechtigt uns das T-Schema dazu, jeden Satz der Form p ist wahr durch einen Satz der Form p zu ersetzen? Und heißt das nicht, dass wir jederzeit, statt zu sagen, ein Satz sei wahr, das Wörtchen wahr streichen und den Satz einfach behaupten können? ¾ Die Redundanztheorie der Wahrheit behauptet, dass das Wort „wahr“ bzw. der Begriff der Wahrheit überflüssig, weil redundant ist. Das ist eine erstaunliche These, die leider nicht unproblematisch ist.

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Die Redundanztheorie Verallgemeinerungen: Alles, was der Papst sagt, ist wahr. Wie soll man hier den den Wahrheitsbegriff eliminieren? Erstens wird nicht genau gesagt, was der Papst sagt; zweitens kommt man durch Streichung von „ist wahr“ nicht einmal zu einem vollständigen Satz, mit dem man etwas unter Weglassung des Wahrheitsprädikats behaupten könnte. Negationen:

Es ist nicht wahr, dass Gras rot ist.

Wenn man diesen Satz ohne Verwendung von „ist wahr“ behaupten wollte, müsste man das so ausdrücken: Gras ist nicht rot. Wie aber erklärt man dann die Funktion von „nicht“? Die Hinzufügung des Wörtchens „nicht“ macht aus einer wahren Behauptung eine falsche und aus einer falschen eine wahre. Falls das so ist, dann ist der Begriff der Wahrheit unabdingbar, um gewisse grundlegende logische Ausdrücke (nicht, oder, und ...) zu erklären. SS 2008

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Epistemische Wahrheitstheorien

(1) Rationale Akzeptierbarkeit

Charles Sanders Peirce (1839-1914)

Der Antirealist behauptet gegen die realistische Auffassung der Wahrheit, dass Wahrheit untrennbar mir Erkenntnis verbunden ist. Diese Grundidee hat vielfältige Ausformulierungen gefunden. Eine lautet, dass eine Proposition genau dann wahr ist, wenn sie unter idealen Bedingungen rational akzeptierbar ist: Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen oder optimalen Bedingungen von einer vollständig rationalen Person akzeptiert werden würde. Wahr ist demzufolge das, was vollständig vernünftige Menschen nach ausreichender Nachforschung für wahr halten. Wahrheit übersteigt die Perspektive rationaler Personen grundsätzlich nicht, sie ist m.a.W. eine immanente Eigenschaft unserer sprachlichen Praxis.

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Epistemische Wahrheitstheorien

Idealisierungen: Da wir keine vollständig rationalen Personen sind und die Bedingungen auch niemals ideal sind, ist es fraglich, ob wir je herausfinden können, was eine vollständig rationale Person unter idealen Bedingungen akzeptieren würde. Da wir dies aber herausfinden müssten, um den epistemisch verstandenen Wahrheitsbegriff überhaupt anwenden zu können, ist auch mehr als fraglich, ob wir den Wahrheitsbegriff überhaupt anwenden können. Nun können wir ihn aber anwenden. Akzeptanz: Was ist mit „Akzeptanz“ gemeint? Man kann etwas aus unterschiedlichen Gründen akzeptieren. Der relevante Begriff von Akzeptanz muss in diesem Zusammenhang lauten: Etwas (eine Proposition, einen Satz usw.) als wahr akzeptieren. Damit wird aber die gegebene Definition zirkulär. Wir müssten Wahrheit schon voraussetzen. Rationalität: Es ist ebenfalls nur schwer zu sehen, wie man den Begriff der Rationalität explizieren könnte, ohne dabei den Begriff der Wahrheit zu verwenden.

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Epistemische Wahrheitstheorien (2) Konsenstheorie Jürgen Habermas Karl Otto Apel

Eine besondere Variante der epistemischen Wahrheitskonzeptionen stellt die sog. Konsenstheorie dar. Ihr zufolge ist wahr das, worauf sich alle einigen können: Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen und optimalen Bedingungen für alle Mitglieder einer Sprechergemeinschaft rational akzeptierbar ist. Die Probleme mit den Idealisierungen sowie der Bestimmung von Akzeptanz und Rationalität stellen sich hier erneut. Zusätzlich fragt sich, warum Wahrheit eine soziale Angelegenheit sein soll. Bestätigt Konsens nicht bestenfalls manchmal (und bestimmt nicht immer) eine Wahrheit, anstatt sie allererst zu begründen? SS 2008

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Epistemische Wahrheitstheorien (3) Kohärenztheorien B. Blanshard O. Neurath D. Davidson

Wenn wir uns fragen, ob ein Satz oder eine Überzeugung wahr ist, haben wir dann nicht immer nur andere Sätze oder Überzeugungen, auf die wir uns dabei stützen können? Ist dann Wahrheit nicht vielleicht ein Merkmal, dass ein Satz oder eine Überzeugung nur in einem ganzen System von Sätzen oder Überzeugungen haben kann? Eine Überzeugung ist wahr, gdw. sie ein Element in einem kohärenten System von Überzeugungen ist. Wir müssen klären, was unter Kohärenz zu verstehen ist. (1) Die Überzeugungen müssen logisch konsistent und dürfen nicht widersprüchlich sein. (2) Die Überzeugungen müssen untereinander in einem Schlussfolgerungs-, Rechtfertigungs- und Erklärungszusammenhang stehen.

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Epistemische Wahrheitstheorien Probleme für die Kohärenztheorie Alternativsysteme 1: Zu jedem kohärenten System von Überzeugungen gibt es mindestens ein anderes, ebenfalls kohärentes System von Überzeugungen derart, dass beide Systeme sich gegenseitig logisch ausschließen. Alternativsysteme 2: Man kann kohärente Märchen erzählen. Man kann überhaupt irgendein beliebiges kohärentes System von Überzeugungen konstruieren, das nichts mit unserer Wirklichkeit gemein haben muss. Holismus: Eine Überzeugung allein kann gemäß der Kohärenztheorie weder wahr noch falsch sein; sie muss immer in Bezug auf ein System von Überzeugungen auf ihre Wahrheit/Falschheit beurteilt werden. Das ist eine starke, kontraintuitive These. Definitionszirkel: Wie kann man erklären, was mit logischer Konsistenz, Schlussfolgerung oder Erklärung gemeint ist, ohne dabei schon den Begriff der Wahrheit in Anspruch zu nehmen? Das ist zirkulär.

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Epistemische Wahrheitstheorien

(1) Theorie der rationalen Akzeptierbarkeit Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen oder optimalen Bedingungen von einer vollständig rationalen Person akzeptiert werden würde.

(2) Konsenstheorie Eine Proposition ist wahr, gdw. sie unter idealen und optimalen Bedingungen für alle Mitglieder einer Sprechergemeinschaft rational akzeptierbar ist.

(3) Kohärenztheorie Eine Überzeugung ist wahr, gdw. sie ein Element in einem kohärenten System von Überzeugungen ist.

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Erkenntnistheorie

Worin besteht Rechtfertigung?

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Worin besteht Rechtfertigung? Die Rechtfertigungsrelation Überzeugung und Wahrheit sind semantische Eigenschaften des Wissen. Rechtfertigung ist im ausgezeichneten Sinne epistemisch. Die (epistemische) Rechtfertigung ist ein Mittel, um wahre Überzeugungen zu erzielen: Die epistemische Rechtfertigung ist (definiert als) ein gutes (geeignetes) Mittel zur Erzielung wahrer Überzeugungen

Die fallibilistische Auffassung von Rechtfertigung Gute oder geeignete Mittel müssen nicht erfolgsgarantierend sein. Es genügt, wenn sie den Erfolg wahrscheinlich machen. Die Definition der Rechtfertigung schließt daher deren Fehlbarkeit und Anfechtbarkeit nicht aus! Gerechtfertigte, aber trotzdem falsche Überzeugungen sind möglich! SS 2008

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Worin besteht Rechtfertigung? Eigenschaften der Rechtfertigungsrelation Zeitrelativität: Jede Rechtfertigung für eine Überzeugung kann durch den Erwerb zusätzlicher Informationen zu einem späteren Zeitpunkt aufgehoben werden. Personenrelativität: Zwei Personen können zwar eine Überzeugung teilen, es ist aber nicht (noch nicht einmal meistens) so, dass beider Überzeugung gleichermaßen gerechtfertigt ist! Rechtfertigung ist evaluativ: Gerechtfertigt ist jemand, wenn er gute Gründe für seine Überzeugungen besitzt. Rechtfertigung ist graduell: Jemand kann für seine Meinung schwache oder starke Gründe haben, er kann diese durch zusätzliche Belege verstärken oder abschwächen. SS 2008

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Die Definition der Rechtfertigung

Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p, gdw. (1) S Gründe für seine Meinung, dass p, hat; (2) diese Gründe seine Meinung stützen; und (3) diese Gründe adäquat (gut) sind. William P. Alston

(1) Die Rechtfertigung einer Überzeugung setzt voraus, dass es „Rechtfertiger“ für diese Überzeugung, d. h. Gründe für sie gibt. (2) Die Gründe müssen S´s Gründe für die zu rechtfertigende Überzeugung sein. Überzeugungen und Gründe dürfen in keinem beliebigen Verhältnis zueinander stehen, d.h. die Gründe müssen die Überzeugung tatsächlich stützen. (3) Gründe können eine Überzeugung nur dann rechtfertigen, wenn es nicht bloß irgendwelche Gründe für die Meinung, sondern nur wenn es gute Gründe sind.

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Probleme der Stützungsbeziehung Irene glaubt, dass es draußen regnet. Sie hört den Regen auf das Vordach ihrer Veranda tropfen. Sie hätte damit einen exzellenten (adäquaten) Grund für ihre Meinung. Allerdings ist Irene unaufmerksam. Sie ist abgelenkt. Sie glaubt, dass es regnet, weil sie es in der lokalen Wettervorhersage gehört hat. Die Wettervorhersage aber ist in ihren Breiten normalerweise sehr unzuverlässig und kommt daher nicht als adäquater Grund für ihre Meinung infrage. Ist Irenes Meinung gerechtfertigt?

Wettervorhersage

Regen auf Vordach

Es regnet! Irene hat eine Überzeugung und einen adäquaten Grund für diese: ihre Wahrnehmung der Regentropfen auf dem Verandadach. Der Grund stützt ihre Meinung. Irene hat jedoch ihre Überzeugung nicht, weil sie diesen guten Grund hat, sondern weil sie die Wettervorhersage gehört hat, die ein schlechter Grund für ihre Überzeugung ist. Damit eine Meinung gerechtfertigt ist, muss man für diese Meinung nicht nur gute und stützende Gründe haben. Man muss selbst Grund zu der Annahme haben, dass diese Gründe die Meinung stützen. Man muss beides (richtig) miteinander in Verbindung bringen! SS 2008

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Probleme der Stützungsbeziehung

Die Bedingungen sind nicht hinreichend. Was ist zu tun? Müssen wir die zweite Bedingung weiter einschränken, um Fälle wie den von Irene auszuschließen?

Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) S gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Stützungsbeziehung besteht. Diese Definition ist entweder zirkulär („gerechtfertigt“ im Definiens) oder führt in einen infiniten Regress von sich aufstufenden Rechtfertigungen (wann ist S gerechtfertigt, zu glauben, dass p? usw.).

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Probleme der Stützungsbeziehung Die kausale Analyse der Stützungsbeziehung A.I.Goldman

W.P. Alston

Wir bemerken, dass Ernies Auto nicht vor dem Haus steht; dass das Licht in seiner Wohnung aus ist usw.. Wir schließen sofort daraus, dass Ernie nicht zuhause ist, ohne überhaupt daran zu denken, welche Überzeugungen wir haben und ob die eine die andere stützt. Dennoch können wir in unserer Auffassung gerechtfertigt sein.

Das Haben gerechtfertigter Überzeugungen setzt keine Metaüberzeugungen sowie deren Beziehungen untereinander voraus. Da aber dennoch eine „Verbindung“ zwischen Rechtfertiger und Gerechtfertigtem bestehen muss, liegt folgende alternative Erklärung nahe: S ist zum Zeitpunkt t gerechtfertigt zu glauben, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) die Gründe für die Überzeugung die Überzeugung, dass p, in angemessener Weise verursachen.

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Probleme der Stützungsbeziehung Externalismus Die Rechtfertigung muss einer Person selbst nicht kognitiv zugänglich sein. Eine Überzeugung kann gerechtfertigt sein, ohne dass die Person die Überzeugung rechtfertigen bzw. begründen kann. Epistemische Rechte ohne epistemische Pflichten sind möglich.

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Internalismus Rechtfertigung setzt kognitive Zugänglichkeit voraus. Eine Überzeugung ist nur dann gerechtfertigt, wenn man sie tatsächlich rechtfertigen bzw. begründen kann. Keine epistemischen Rechte ohne epistemische Pflichten.

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Welche Gründe sind adäquat? Ein Kommissar ist mit der Untersuchung eines Mordfalls beschäftigt. Er glaubt, dass der Koch den Grafen umgebracht hat. Die Begründung dieser Annahme liegt für ihn darin, dass es nur drei weitere mögliche Täter gibt, nämlich den Fahrer, den Butler und den Gärtner, dass alle drei, anders als der Koch, handfeste Alibis haben und dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Graf tatsächlich umgebracht worden ist und nicht Selbstmord beging oder eines natürlichen Todes starb. • Sind diese Gründe gute Gründe für die Überzeugung, dass der Koch den Grafen umgebracht hat? • Ist die Annahme, dass es nur drei weitere mögliche Täter gibt, gerechtfertigt? • Ist die Annahme, dass die Alibis der anderen wasserdicht sind, selbst wasserdicht? • Sind die Annahmen, dass der Koch kein gutes Alibi hat und der Graf tatsächlich umgebracht worden ist, gut begründet?

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Welche Gründe sind adäquat? Das Rechtfertigungstrilemma Allgemein kann man sich die Situation folgendermaßen klar machen: Eine gerechtfertigte Überzeugung setzt voraus, dass es für diese Überzeugung einen adäquaten Grund G1 gibt: Überzeugung

Grund1

Ob dieser Grund auch adäquat ist, hängt davon ab, ob er sich selbst wieder rechtfertigen lässt: Grund1

Grund2

Entscheidend ist, dass Ü ⇒ G1 nur dann gilt, wenn G1 ⇒ G2 Überzeugung

Grund1

Grund2

Welche Implikationen hat das? SS 2008

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Welche Gründe sind adäquat? Das Rechtfertigungstrilemma Infiniter Regress: Ü

G1

G2

G3

...

Ein infiniter Regress von Gründen ist inakzeptabel, weil Menschen endliche Wesen sind und keine unendliche Anzahl von Überzeugungen haben können. Dogmatischer Abbruch: Ü

G1

G2

G3

Ein letzter Grund (ein Regress-Stopper) kann nur wieder eine Überzeugung sein und es ist dogmatisch, an einer bestimmten Stelle mit dem Begründen aufzuhören. Circulus Vitiosus: Ü

G1

G2

G3

Ü

Der Begründungszirkel führt zu einer sich selbst begründenden Meinung und macht das Rechtfertigen überflüssig. SS 2008

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Welche Gründe sind adäquat? Positionen zur Rechtfertigung Fundamentalismus Es gibt ausgezeichnete Typen von Überzeugungen (Regress-Stopper), die keiner weiteren Begründung bedürfen. („Dogmen sind nicht immer schlecht.“)

Kohärentismus Ein Rechtfertigungszirkel kann vermieden werden, wenn wir unsere Überzeugungen und ihre Gründe vor dem Hintergrund eines ganzen Systems von Überzeugungen – vor dem Hintergrund einer Theorie – betrachten. („Ein Rechtfertigungszirkel ist nicht immer schlecht.“)

Kontextualismus Es gibt keinen wirklichen infiniten Regress des Rechtfertigens. In der Praxis hängt es vom Kontext und unseren Konventionen ab, welche Gründe wir für adäquat halten. („Es gibt zwar theoretisch einen infiniten Regress, aber nicht faktisch.“)

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Fundamentalismus Argumente für den Fundamentalismus Gewissheitsargument: Wissen und Rechtfertigung erfordern Unfehlbarkeit. Unfehlbarkeit ist nur möglich, wenn es basale Meinungen gibt. • Für Wissen ist keine starke Infallibilität erforderlich; Rechtfertigung erfordert nur Wahrscheinlichkeit der Wahrheit Regressargument: Da es Rechtfertigung wirklich gibt und diese weder durch einen Zirkel, noch durch einen infiniten Regress möglich wäre, muss es basale Meinungen geben. • Es könnte sein, dass wir im Alltag die Rechtfertigung an irgendeiner Stelle tatsächlich abbrechen und nicht weiterfragen. D.h. müssen wir zu keinen ausgezeichneten basalen Meinungen gelangen. Isolationsargument: Wir besitzen empirisches Wissen. Nur wenn es unmittelbar durch die Erfahrung gerechtfertigte, basale Meinungen gibt, kann man dieses überhaupt erlangen. • Meinungen über empirische Tatsachen sind zwar basal, aber nicht unrevidierbar oder infallibel. SS 2008

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Fundamentalismus Intuitionistischer Fundamentalismus: Die Basis der Rechtfertigung bilden selbstevidente Meinungen, die unmittelbar einleuchtend und nicht sinnvoll anzweifelbar sind. • Die Wissenschaftsgeschichte liefert jede Menge Beispielmaterial dafür, dass auch scheinbar selbstevidente Meinungen widerlegt worden sind. (Beispiel: Bewegung der Sonne um die Erde)

Doxastischer Fundamentalismus: Die Basis Meinungen über die eigenen mentalen Zustände.

der

Rechtfertigung

bilden

• Lernen wir nicht zuerst, über die Welt zu urteilen, und dann erst über unser Erleben der Welt? Überzeugungen über die eigenen mentalen Zustände allein können keine Überzeugungen über etwas anderes (die Welt) rechtfertigen. Es entsteht ein „AußenweltProblem“.

Empiristischer Fundamentalimus: Die Rechtfertigung hat ihr Fundament im „Gegebenen“, d.h. den unmittelbaren Erfahrungen, die wir machen. • Das „Gegebene“ ist keine Überzeugung, sondern eine Art unmittelbares Erlebnis. Ein Erlebnis als solches kann nichts rechtfertigen, denn nur die Überzeugungen, die ich mir aufgrund dieses Erlebnisses bilde, können Gründe für Meinungen sein.

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Kohärentismus

Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können. (Otto Neurath, 1932/33)

Die wichtigste Alternative zum Fundamentalismus besteht darin, Rechtfertigungsbeziehungen zwischen allen Überzeugungen eines Überzeugungssystems anzunehmen und die Möglichkeit eines Fundaments der Rechtfertigung zurückzuweisen. Eigenschaften der Kohärenz • logische Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) • inferentielle Beziehungen (Prämissen – Konklusionen) • explanatorische Beziehungen (Annahme – Begründung) SS 2008

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Kohärentismus Der Relativismuseinwand Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleiniges Kriterium der Wahrheit, muss beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, dass nirgends ein Widerspruch auftritt. (Moritz Schlick, 1934)

Der Isolationseinwand Die anderen können ... nicht etwa einwenden, dass dieses Verfahren den Beobachtungen widerstreite, denn nach der Kohärenzlehre kommt es auf irgendwelche ‚Beobachtungen‘ gar nicht an, sondern allein auf die Verträglichkeit der Aussagen. (Moritz Schlick, 1934)

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Kohärentismus Konsistenz und Komplexität Konsistenz ist eine zu starke Eigenschaft, da bereits durch eine einzige Inkonsistenz im Meinungssystem die Kohärenz des Gesamtsystems gestört werden kann. In der Regel sind die meisten realen und reichhaltigen Wissenssysteme oder Datenbanken irgendwo inkonsistent. Die Kohärenz eines umfangreichen Meinungssystems ist eine so komplexe Eigenschaft, dass wir sie in der Regel gar nicht erfassen, geschweige denn beweisen können. „negativer“ Kohärentismus: Zwar ist Kohärenz keine Quelle der Rechtfertigung; Inkohärenz aber ist ein Grund zur Revision oder Korrektur von ehemals gerechtfertigten Meinungen.

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Kontextualismus Keith DeRose

Ob ein Grund eine Überzeugung rechtfertigt und wie stark diese Rechtfertigung ist, hängt Kontextualisten zufolge vom Kontext ab und variiert mit dem Kontext. Was ein Grund ist und wie gut ein Grund ist, variiert mit dem Kontext. Wer von einem Kontext in einen anderen wechselt, kann plötzlich Rechtfertigung erwerben oder verlieren. Gründe sind nicht absolut gut oder schlecht. Wo die Kette der Begründungen aufhören kann, hängt im Wesentlichen vom Kontext ab.

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Kontextualismus Was ein Grund ist und wie gut ein Grund ist, variiert mit dem Kontext. • Kurt ist Hobby-Archäologe und findet einen alten Krug. Mehrere Anzeichen sprechen dafür, dass es sich um einen spätmittelalterlichen Krug handelt und Kurts Handbuch bestätigt diesen Eindruck. Kurt hat gute Gründe für die Annahme, dass es sich um einen spätmittelalterlichen Krug handelt. In seiner Situation gibt es keine besseren Gründe. • Maria ist professionelle Archäologin. Für sie sind Kurts Gründe allenfalls Indizien, aber um zu einer begründeten Meinung gelangen, muss sie einige raffinierte Methoden anwenden. Kurts Indizien zählen für sie nicht. Sie sind inadäquat. Ihre Standards der Begründung sind in dieser Situation viel höher.

Wer von einem Kontext in einen anderen wechselt, kann plötzlich Rechtfertigung erwerben oder verlieren. • Auch für Maria sind Kurts Indizien, wenn sie im Urlaub ist und den Krug findet, sehr gute Gründe für die Annahme, dass er spätmittelalterlich ist. Sobald sie wieder auf Arbeit ist, verliert sie diese Rechtfertigung.

Gründe sind nicht absolut gut oder schlecht. • Ein Argument gegen die Kugelform der Erde war, dass die Antipoden auf der jeweils anderen Seite des Globus mit dem Kopf nach unten hängen würden. Dies ist nur solange ein gutes Argument, wie es die von uns heute akzeptierte Gravitationstheorie und Astronomie nicht gibt. Die Güte eines Grundes bemisst sich daher auch nach den jeweils zur Verfügung stehenden Hintergrundwissen. SS 2008

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