Nikolaus Schpak-Dolt Zur Semantik von transitiven Verben der Fortbewegung

Nikolaus Schpak-Dolt Zur Semantik von transitiven Verben der Fortbewegung Typische Verben der Fortbewegung regieren eine lokal zu deutende Präpositio...
Author: Dagmar Messner
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Nikolaus Schpak-Dolt Zur Semantik von transitiven Verben der Fortbewegung

Typische Verben der Fortbewegung regieren eine lokal zu deutende Präpositionalphrase. Einige Bewegungsverben regieren jedoch ein direktes Objekt, und der Wegverlauf wird vom Verb selbst spezifiziert. In dieser Arbeit werden solche Verben semantisch analysiert. Die Grundidee ist, daß diese Verben den lokalen Präpositionen semantisch nahestehen und daß sie deshalb mit denselben Mitteln analysiert werden können wie diese.

0. Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zur semantischen Analyse der Bewegungsverben.1 Untersucht wird eine bisher weniger beachtete Gruppe von ca. 30 Verben im Französischen, die sich durch zwei Besonderheiten auszeichnen. Ihr syntaktisches Charakteristikum besteht darin, daß sie im Unterschied zu den „normalen" Bewegungsverben transitiv sind (Bsp. contourner, depasser, traverser). Einige Verben können sowohl Präpositionalgruppen als auch Nominalgruppen regieren (Bsp. descendre, gravir, passer, penetrer). In solchen Fällen interessiert uns nur die transitive Variante. Vom semantischen Standpunkt aus ist eine gewisse Nähe zu den lokalen Präpositionen erkennbar. Während sich der Wegverlauf in Les planetes gravitent autour du soleil aus der Präposition ergibt, ist es in Paul contourne le bätiment das Verb selbst, das die Lage des Weges relativ zum Bezugsobjekt anzeigt.2 Wenn Verben wie contourner die gleiche Art von Information enthalten, wie sie in lokalen Präpositionen steckt, muß man diese Verben auch mit den gleichen 1 Die Literatur zum Thema „Bewegungsverben" ist umfangreich. Vgl. z. B. die Arbeiten von Schlyter, Krassin, Wunderlich und anderen. Einen kommentierten Überblick gibt Krassin 1984: 30-94. Die hier vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung eines Arbeitspapiers, das geschrieben worden ist als Beitrag zu dem von Christoph Schwarze in Konstanz geleiteten Forschungsprojekt „Das Lexikon der Raumreferenz im Textverstehen". 2 Wirklich neu ist der hier vorgetragene Gedanke nicht, siehe z. B.' ßlumenthal 1987: 78, der die Verben habiter, traverser, longer kurz diskutiert. Vgl. ferner die russischen Beispiele in Talmy 1985: Abschnitt 2.8. Wenigstens kann man sagen, daß es sich lohnt, diesen Gedanken genauer auszuarbeiten. Gruber (1976: 9ff.) erörtert u.a. die hier einschlägigen englischen Verben pierce, cross, climb. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht die Inkorporierung einer lokalen Präposition durch diese Verben, nicht die Raumsemantik selbst. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10, 2 (1991), 191 -219 © Vandenhoeck & Ruprecht, 1992 ISSN 0721-9067

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Mitteln beschreiben können wie die Präpositionen. Ob ein Erkenntnisgewinn darin liegt, eine solche Parallele zwischen transitiven Verben und lokalen Präpositionen zu ziehen, kann nicht durch theoretische Spekulation entschieden werden, sondern nur dadurch, daß man eine größere Zahl von semantischen Analysen durchführt und sieht, ob sie gelingen oder nicht gelingen. Daß ein solches Unterfangen aussichtsreich ist, das soll diese Arbeit zeigen. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Wie spezifizieren die transitiven Fortbewegungsverben den Verlauf des Weges in bezug auf ein lokalisierendes Objekt? Wie vollständig ist mit der Angabe dieser Spezifikation die Verbbedeutung beschrieben? Es werden die Fakten vorgestellt, dann wird ein normierter Sprachgebrauch festgelegt, dann werden mit seiner Hilfe Bedeutungsregeln formuliert. Die Schlußfolgerung nehmen wir vorweg: Für einen großen Teil der Verben ist der Bedeutungskern mit der Lokalisierung des Wegverlaufs in guter Näherung dargestellt. Die Beispiele entstammen den gängigen Wörterbüchern. Ihre Herkunft wird in Klammern angeführt: Petit Robert (PR), Grand Robert (GR), Dictionnaire du fran9ais contemporain (DFC), Tresor de la langue fran9aise (TLF).

1. Beobachtungen Betrachten wir: (1) (2) (3) (4)

Traverser une ville. (PR) La voiture devalait la pente a tombeau ouvert. (PR) A cette allure, nous aurons depasse Poitiers avant la nuit. (DFC) Lesjeunes animaux suivent leur mere. (DFC)

Die in (l)-(4) beschriebenen Situationen lassen sich durch Abb. l bis 4 sehematisch darstellen. . -

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Abb. 1: A traverse B

Abb. 2: A devale B Unauthenticated Download Date | 7/26/17 11:39 PM

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Abb. 3: A depasse B

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Abb. 4: A suit B

Was ist der gemeinsame Nenner? Die Ausdrücke sind nach dem Schema NPl V-NP2 aufgebaut. Dabei gilt: NPX (die Subjekts-NP) bezeichnet einen bewegten Gegenstand (den wir im folgenden kurz A nennen). NP2 (die Objekts-NP) bezeichnet einen lokalisierenden Gegenstand (im folgenden: B). Was wird lokalisiert? Nicht einfach A, sondern der von A zurückgelegte Weg. V (das transitive Verb) drückt die Tatsache der Fortbewegung von A aus. Außerdem charakterisiert das Verb eine Nachbarschaftsregion3 von B, durch die der von A zurückgelegte Weg geht. Die hier betrachtete Gruppe umfaßt folgende Verben:4 (i)

arpenter, enjamber,franchir, parcourir, passer, penetrer, sauter, sillonner, surmonter, survoler, traverser

(ii)

degringoler, descendre, devaler, escalader, gravir, grimper, monier5

(iii)

contourner, croiser, depasser, distancer, doubler, gratter, longer, raser, tourner

(iv)

accompagner, cotoyer, devancer, escorter, poursuivre, preceder, suivre, talonner

Alle diese Verben charakterisieren Wegaspekte, genauer: die Lage der Route bzw. eines Teilstücks der Route des bewegten Gegenstandes bezüglich des lo-

3 „Nachbarschaftsregion" ist der Ausdruck, den Wunderlich (1981/82: § 6) gebraucht als Oberbegriff für „An-, Bei-, Vor-, In-Region" usw. Über Terminologie soll man nicht streiten. Da es aber wenig einleuchtend ist, das Innere eines Körpers zu seinen Nachbarschaften zu rechnen, ziehen wir im folgenden den Ausdruck „gegenstandsbezogene Regionen" vor. 4 Einige von diesen Verben findet man bei Krassin 1984: 241 ff. im Mikrofeld „Präteritive Fortbewegung" vereinigt: arpenter, cotoyer, enjambertfranchir, longer, parcourir, passer, raser, traverser. Die im folgenden vorgeschlagenen Bedeutungsregeln für diese Verben kann man z.T. als exaktere Fassung von Krassins Analysen ansehen. 5 Zu den Verben dieser Gruppe vgl. auch Krassin 1984: 257 ff. Unauthenticated Download Date | 7/26/17 11:39 PM

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kalisierenden Objekts. Die Verben sind in vier Untergruppen angeordnet. Das jeweils gemeinsame Merkmal läßt sich ganz grob wie folgt angeben: (i') (ii') (iii;) (iv')

A bewegt sich durch B, über B hinweg oder in B. A bewegt sich an B hinauf oder hinab. A bewegt sich an B seitlich vorbei oder entlang, A und B bewegen sich in Abhängigkeit voneinander: A folgt B, bewegt sich mit B oder geht B voraus.

Einzelne Verben drücken zusätzlich aus: - die Form des Weges: contourner, longer, tourner, traverser; - die Bewegungsart von A: arpenter, escalader, gravir, survoler; - daß auch B bewegt ist: accompagner, devancer, poursuivre, suiyre.

2. Definitionen6 Bevor wir uns den Verben im einzelnen zuwenden, müssen wir noch einige Begriffe definieren. Die folgenden Festlegungen lehnen sich in den Abschnitten „Ort" und „Gegenstandsbezogene Regionen" an Wunderlich (u, a. Wunderlich 1981/82 und WunderUch/Herweg 1986) an und im Abschnitt „Weg und Bewegung" an Schpak-Dolt 1988. Wir gehen aus von drei Mengen: /, der Menge der Individuen oder „Dinge"; P, der Menge der Zeitpunkte, und L, der Menge der Raumpunkte.

2.1. Zeit ^ sei eine Ordnungsrelation auf P (für ^ lies: „vor oder gleich"). Ferner ist p -< p' gdw.: p ^ ~ p1 und p '. (