Niemand und nichts ist vergessen?

Niemand und nichts ist vergessen? Rede von Dr. Martin Salm, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, zum Zeitzeugen...
Author: Frida Wagner
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Niemand und nichts ist vergessen? Rede von Dr. Martin Salm, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, zum Zeitzeugengespräch „Verrückt vor Hunger! Überlebende der Leningrader Blockade erinnern sich“ am 23. Januar 2014 um 19:00 Uhr in der Stiftung EVZ

Fast 900 Tage1 dauerte die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht: vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Wir begehen also in wenigen Tagen den 70. Jahrestag der Beendigung der Blockade, die geschätzt bis zu eine Million Menschen das Leben kostete. Ich begrüß es daher, dass in diesem Jahr der Deutsche Bundestag seine Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar den Opfern der Leningrader Blockade widmet. Der russische Schriftsteller Daniil Granin, der Leningrad als Soldat verteidigte und später zusammen mit Ales Adamowitsch das Blockadebuch herausgab, wird die Gedenkrede halten. Heute wollen wir hier in der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zwei Zeitzeuginnen zu Wort kommen lassen, die die Leningrader Blockade erlitten und überlebt haben. Ich freue mich ganz besonders, dass Sie, sehr geehrte Frau Kasarowa und sehr geehrte Frau Petrowa, heute hier bei uns sind und begrüße Sie herzlich. Frau Kasarowa nimmt in Sankt Petersburg an einem Projekt des Vereins „Dowerie“ (auf Deutsch „Vertrauen“) teil, das von der Stiftung EVZ im Programm „Treffpunkt Dialog“ gefördert wird. In dem Projekt organisiert „Dowerie“ Treffen für Blokadniki – so heißen die Überlebenden der Blockade in Russland – und für andere Opfer des Nationalsozialismus. Die älteren Menschen kommen mit jüngeren zusammen, und sie spielen sogar Theater. Frau Kasarowa wird durch Frau Jegorowa von „Dowerie“ begleitet. Frau Petrowa ist Teilnehmerin eines Projektes bei „Memorial“ in Sankt Petersburg, welches die Stiftung EVZ im Rahmen ihres Förderprogramms „Spenden für NS-Opfer“ unterstützt. Ziel des Projektes ist die Verbesserung der oftmals sehr schweren Lebenssituation von Überlebenden des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Dazu gehören das Verteilen von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen materiellen Hilfen. Außerdem bietet Memorial einen sozialen Treffpunkt an, in dem Überlebende regelmäßig zusammenkommen, um gemeinsam ihre Freizeit zu gestalten. Über eintausend Überlebende aus St. Petersburg nehmen die Angebote dieses Projektes regelmäßig wahr. Frau Petrowa wird durch Frau Schkolnik von „Memorial“ begleitet.

Genau waren es 872 Tage. Sapper, Manfred und Weichsel, Volker, Völkermord mit Ansage – Leerstelle der Erinnerung. In: Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod. Osteuropa, 61. Jahrgang Nr. 8-9, Berlin 2011, S. 5 1

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„Treffpunkt Dialog“ und „Spenden für NS-Opfer“ sind zwei Förderprogramme der Stiftung EVZ, in denen sich diese für die Opfer des Nationalsozialismus sozial engagiert. Die heutige Veranstaltung ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Würdigung der Überlebenden (also soziales Engagement) mit dem Wissen um die Vergangenheit (also der Geschichte) zusammenhängt. Da wir heute Abend vor allem über ein historisches Thema – die Leningrader Blockade – sprechen werden, gebe ich Ihnen jetzt eine kurze Einführung dazu. Die Belagerung Leningrads durch die 18. Armee der Deutschen Wehrmacht (sowie durch finnische Truppen im Norden) war weniger das Ergebnis militärischer Überlegungen als vielmehr ideologischer Vorgaben. Der Historiker Christian Hartmann schreibt: „Vielmehr hatte die deutsche Führung die Offensive der Heeresgruppe Nord im Verlauf des Septembers 1941 mutwillig angehalten, um eigene Kräfte zu schonen und die Drei-Millionen-Stadt langsam verhungern zu lassen.“2 Hartmann spricht in diesem Zusammenhang von Genozid. Um Genozid (also Völkermord) handelt es sich, wenn die Absicht vorliegt, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Genau das war bei der Leningrader Blockade der Fall. Auch Moskau und Stalingrad wollte die deutsche Führung durch Hunger vernichten, was aber die Rote Armee verhinderte. So blieb das Schicksal Leningrads einmalig. Nach Schätzungen starben eine Million Menschen in der Belagerung.3 „Damit kamen allein in dieser einen russischen Stadt doppelt so viele Menschen ums Leben, wie während des gesamten Zweiten Weltkriegs deutsche Zivilisten alliierten Luftangriffen zum Opfer fielen.“4 Vor dem Krieg lebten in Leningrad drei Millionen Menschen; dazu kamen Flüchtlinge aus den umliegenden Städten und Ortschaften. Die Menschen starben vor allem durch Hunger oder auch durch Bombardierungen und Artillerieangriffe. Diejenigen, die überlebten, waren vom Hunger gezeichnet – oft für ihr ganzes Leben. Bekannt geworden ist das Tagebuch der elfjährigen Tanja aus Leningrad. Die Eintragungen lauten: „Schenja starb am 28. Dezember 1941 morgens um 12.30 Uhr. Oma starb am 25. Januar 1942 um drei Uhr am Tage. Leka starb am 17. März 1942 um 5 Uhr morgens. Onkel Wasja starb am 13. April 1942 um 2 Uhr in der Nacht. Onkel Ljoscha starb am 10. Mai 1942 um vier Uhr am Tage. Mama starb am 13. Mai 1942 um 7.30 Uhr morgens. Die Sawitschews sind gestorben – alle sind gestorben. Es blieb allein Tanja.“5 Tanja wurde ohnmächtig entdeckt. Am 1. Juli 1944 starb sie in einem Krankenhaus außerhalb Leningrads.6

Hartmann, Christian, Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941-1945, München 2011, S. 73 3 Die Schätzungen reichen von 629.000 bis zu zwei Millionen Toten. Voronina, Tat’jana, Heroische Tote. Die Blockade, die Zahl der Opfer und die Erinnerung. In: Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod. Osteuropa, 61. Jahrgang Nr. 8-9, Berlin 2011, S. 155 4 Sapper und Weichsel, Völkermord, S. 5 5 Zitate abgedruckt in: Mikson, Il’ja, Žila, byla. Leningrad 1991 6 Ebenda S. 219 2

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Der Hunger, dieses quälende, langsame Sterben, brachte in den Menschen die Extreme zum Vorschein – die besten und die schlechtesten. „Einer, der dabei war, schrieb: ‚Auf Schritt und Tritt – Niedertracht und Edelmut, Selbstaufopferung und extremer Egoismus, Diebstahl und Ehrlichkeit.‘“7 Lebensmittel waren nur noch auf Karten erhältlich, die an den Arbeitsstellen ausgegeben wurden. Die Rationen waren erschreckend klein: Am 20. November 1941 bekamen Arbeiter pro Tag 250 g Brot, die anderen bekamen nur 125 Gramm. Das Brot war feucht und daher schwer, versetzt mit Kleie und Ölkuchen. Der Verlust der Lebensmittelkarten – oft auch durch Diebstahl – konnte den Tod einer ganzen Familie bedeuten. Unter diesen Verhältnissen kam es auch zu Kannibalismus. Aus Verzweiflung oder aus Geschäftemacherei. Zum Hunger kam die Kälte des extremen Winters. Heizung, Wasserversorgung und Kanalisation funktionierten nicht mehr. Im Winter, wenn der Ladogasee zugefroren war, konnten nachts LKWs über das Eis des Sees Lebensmittel in die Stadt bringen und Leute aus der Stadt evakuieren. Der Literaturwissenschaftler und Historiker Dmitri Lichatschow schrieb 1957 in seinen Erinnerungen: „Die Straße über das Eis wurde ‚Straße des Todes‘ genannt (und nicht ‚Straße des Lebens‘, wie sie unsere Schriftsteller später schönfärberisch bezeichneten). Die Deutschen beschossen die Straße, sie war voller Schneewehen, und die LKWs brachen häufig ein.“8 Heute hört man für diese Route fast nur noch die Bezeichnung „Straße des Lebens“ – vielleicht, weil sie damals in dunkelster Zeit Hoffnung verhieß. Inmitten dieses Überlebenskampfes gab es noch eine weitere Bedrohung – die Repressionen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Viele sowjetische Schriftsteller haben die Zeit des Krieges als eine Atempause oder Phase der Liberalisierung der sowjetischen Innenpolitik beschrieben. Doch auch während der Blockade ging der Terror durch den sowjetischen Geheimdienst weiter: Vom Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 bis zum Oktober 1942 wurden in Leningrad 31.740 Personen verhaftet, unter ihnen zahlreiche Wissenschaftler. 5.360 Menschen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch viele der zu Haftstrafen Verurteilten starben in der Gefangenschaft. Prominentestes Beispiel dafür ist der Leningrader Schriftsteller Daniil Charms, der am 2. Februar 1942 in einem Leningrader Gefängnis verhungerte.9 Dmitri Lichatschow schrieb dazu: „Wir wurden zweifach belagert, von innen und von außen.“10

Hartmann, Unternehmen, S. 75 Lichatschow, Dmitri, Wie wir am Leben blieben. In: Blockade. Leningrad 1041-1944, hrsg. von Antja Leetz, Reinbek 1992, S. 31 9 Ganzenmüller, Jörg, Mobilisierungsdiktatur im Krieg. Stalinistische Herrschaft im belagerten Leningrad, in: Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod. Osteuropa, 61. Jahrgang Nr. 8-9, Berlin 2011, S. 132f 10 Likhachev, Dmitri, Reflections on the Russian Soul. A Memoir, Budapest 2000, S. 255, zitiert nach Reid, Anna, Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1041-1944, Berlin 2011, S. 483 7 8

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Zu den eindrücklichsten Zeugnissen des Überlebenswillens der Leningrader gehören Kunst und Kultur, die oft unter äußersten Anstrengungen ausgeübt wurden. Die Dichterin Olga Bergholz ließ sich von den Angriffen der Deutschen nicht abhalten, täglich im Rundfunk zu sprechen und den Belagerten Mut zu machen. Legendär wurde die Siebente Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, die am 9. August 1942 in Leningrad aufgeführt und über Rundfunk in der Stadt, aber auch – als Zeichen der Selbstbehauptung - zu den außerhalb lagernden deutschen Truppen übertragen wurde. Auch in Großbritannien und den USA wurde die Leningrader Sinfonie während des Krieges oft gespielt. Das Time Magazine machte am 27. Juli 1942 sogar mit einem Artikel über die Sinfonie auf; auf dem Titelbild war Schostakowitsch mit Feuerwehrhelm zu sehen. Das Bild stammte von 1941, als Schostakowitsch auf dem Dach der Philharmonie zum Löschen von Bomben eingesetzt war. Nach dem Krieg wurde im offiziellen sowjetischen Gedenken an die Blockade der Heldenmut der Leningrader betont. Die Grausamkeit der deutschen Hungerpolitik und die menschlichen Abgründe, die sich in der Blockade auftaten, wurden verschwiegen, ja sogar die Opferzahlen kleingerechnet. Erst in der Perestrojka (also der Zeit der Liberalisierung ab 1986) wurden Fragen nach ungenügender Vorbereitung auf die Verteidigung der Stadt im Sommer 1941, nach unterbliebenen und teilweise chaotischen Evakuierungen der Zivilbevölkerung und nach ungenügender Lebensmittelbevorratung gestellt. Eines der drei Themen – Verteidigung, Evakuierung und Lebensmittelbevorratung –im Sommer 1941 anzusprechen, galt als Panikmache und wurde auch nach dem Krieg mit Tabu belegt. 1949 wurde das Blockademuseum, das noch während des Krieges eröffnet worden war, geschlossen und die Hälfte der Exponate vernichtet – erst 40 Jahre später wurde es wiedereröffnet. Das Buch mit den Rundfunkansprachen von Olga Bergholz, das 1946 unter dem Titel „Hier spricht Leningrad“ veröffentlicht worden war, wurde 1950 verboten. Der Piskarowskoje-Friedhof, auf dem schätzungsweise 470.000 Blockadeopfer in Massengräbern beigesetzt worden waren, wurde erst 1960 als Gedenkstätte eingeweiht.11 „Niemand und nichts ist vergessen“ – diese Zeile von Olga Bergholz steht auf dem Gedenkstein des Piskarowskoje-Friedhofs. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt. Aber um diesem Wunsch, ja dieser Beschwörung Rechnung zu tragen, wollen wir Ihnen heute Abend zuhören, liebe Frau Kasarowa und liebe Frau Petrowa. Was haben Sie in der Blockade erlebt? Wie leben Sie heute? Ich danke Ihnen sehr, dass Sie zu uns gekommen sind und heute zu uns sprechen werden. Ich danke auch Frau Scheer, die diese Veranstaltung sehr engagiert vorbereitet hat und uns durch das Gespräch führen wird. Der Abend wird begleitet durch das KammermusikScherbakowa, Irina, Niemand ist vergessen? Die schwierige Erinnerung an die Blockade, in: 27. Januar 2014. Wie sind meiner Feinde so viel? Hrsg. v. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Berlin 2013, S. 32-35 11

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ensemble Memorial aus Sankt Petersburg, das derzeit mit Konzerten in Berlin Spenden für die Überlebenden von Nationalsozialismus und Stalinismus in Sankt Petersburg sammelt. Auch dies ein Beispiel für generationenübergreifendes Engagement. Initiiert hat diese Konzerte Herr Schnittke, der Ende der 80er Jahre Memorial in Sankt Petersburg mitgründete und selber als Kind die Leningrader Blockade überlebte – seien auch Sie herzlich willkommen! Ich begrüße sehr herzlich die Bratschistin Jelisaweta Starzewa und den Pianisten Fjodor Abasa und freue mich auf den weiteren Abend.

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