Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody

Nicky Singer „Norbert Nobody“ Schriftliche Hausarbeit zur Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Deutsch

Lektürearbeit in der 7. Klasse anhand von Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ unter Berücksichtigung bestimmter Leseverfahren (Lesetagebuch) und einer identitätsorientierten Auseinandersetzung mit dem Werk

Verfasser: StRef Matthias Schneider

©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody

Inhaltsverzeichnis Seite 1

1

Konzeption der vorliegenden Arbeit

2

Fachwissenschaftliche und didaktisch-methodische Vorüberlegungen

2.1

Identitätsorientierter Literaturunterricht

3

2.2

Personales Schreiben

5

2.3

Das Lesetagebuch als Form der Texterschließung 2.3.1 Vorüberlegungen

5

2.3.2 Freie vs. gesteuerte Form

7

2.3.3 Selbstständiges Lernen und Arbeiten

7

2.3.4 Identitätsorientierte Schwerpunktsetzung

8

2.4

Einbettung in den Fachlehrplan

9

3

Vorstellung der Unterrichtseinheit zur Lektürearbeit mit Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ in der 7. Klasse unter Berücksichtigung des Lesetagebuchs als Leseverfahren im Hinblick auf eine identitätsorientierte Auseinandersetzung

11

3.1

Sachanalyse zu Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“

11

3.2

Unterrichtsziele

12

3.3

Aufbau der Unterrichtssequenz im Hinblick auf den Einsatz des Lesetagebuchs in

3.4

Verbindung mit den Zielen eines identitätsorientierten Literaturunterrichts

14

3.3.1 Rahmenbedingungen

14

3.3.2 Einsatzmöglichkeiten des Lesetagebuchs

15

3.3.3 Handhabung und Bewertung

15

3.3.4 Bevorzugter Anwendungsbereich des Lesetagebuchs

16

3.3.5 Übersicht zur Unterrichtssequenz

17

Konkrete Unterrichtsbeispiele 3.4.1 Identitätsorientierung: Niker vs. Robert - Wer ist hier der Held?

18 18

3.4.1.1 Sachanalyse

18

3.4.1.2 Didaktische Vorüberlegungen

19

3.4.1.3 Einsatz des Lesetagebuchs

20

3.4.1.4 Auswertung eines Schülertextes

20

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody 3.4.2 Wertevermittlung und Fremdverstehen: Gewalt ist keine Lösung

21

3.4.2.1 Sachanalyse

21

3.4.2.2 Didaktisch-methodische Vorüberlegungen

22

3.4.2.3 Identitätsorientierter Ansatz

22

3.4.2.4 Kurze Auswertung

23

4

Literarisches Lernen

5

Einschätzung der Lesetagebucheinträge unter Berücksichtigung pädagogisch-

23

psychologischer Überlegungen

24

6

Lesetagebuch als Allzweckwaffe mit Erfolgsgarantie?

25

7

Literaturverzeichnis

28

Anhang

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1

Konzeption der vorliegenden Arbeit

„Kinder- und Jugendbücher erobern Bestsellerlisten, finden Leser in allen Altersgruppen, werden in Buchhandlungen immer breiter präsentiert, erscheinen in immer neuen Taschenbuchreihen, werden in Tages- und Wochenzeitungen rezensiert – und das in einer Zeit, in der manche schon einen Abgesang auf die Buchkultur anstimmen.“1 Kasper H. Spinner beschreibt mit diesen Worten im PRAXIS DEUTSCH Heft 162 im Juli 2000 treffend eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahren fortgesetzt und sogar noch verstärkt hat. Die Vielfalt der Kinder- und Jugendliteratuer ist nie größer gewesen als heute. Dies liegt auch an einer neuen Form der Darstellung. Als heraus stechendes Merkmal dieser neuen Art der Kinder- und Jugendliteratur sieht SPINNER die psychologische Vertiefung in Inhalt und Darstellungsform, bei der immer mehr das innere Geschehen und nicht die äußere Handlung im Mittelpunkt steht. Kinder- und Jugendbücher heute können somit einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur ästhetischen Bildung der Schülerinnen und Schüler leisten – ein Ansatz, dem sich die Deutschdidaktik nicht zuletzt aufgrund des erwähnten Booms dieser Art der Literatur stellen muss und mit dem sich diese Arbeit auseinandersetzen wird. Dabei spielt die Theorie des identitätsorientiertern Literaturunterrichts eine entscheidende Rolle, macht sie doch die Darstellung der menschlichen Innenwelt in der Literatur und die Auswirkungen auf die jugendlichen Leser zu ihrem Thema. Die Theorie und die Auswirkungen dieses Ansatzes auf den Literaturunterricht sollen hier kurz dargestellt werden, um anschließend mit dem personalen Schreiben eine methodische Umsetzung im Sinne des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts zu beleuchten. Das Lesetagebuch bietet dabei einen möglichen Rahmen und zugleich ein konkretes Leseverfahren im Umgang mit der neuen Form der Kinder- und Jugendliteratur. Diese Art der Texterschließung bildet einen weiteren Schwerpunkt dieser Arbeit, da im Weiteren auf den theoretischen Hintergrund und die verschiedenen Möglichkeiten der praktischen Umsetzung des Lesetagebuchs eingegangen wird.

Den

Abschluss

dieser

fachwissenschaftlich

und

didaktisch-methodischen

Vorüberlegungen bildet ein Blick in den Fachlehrplan Deutsch, durch den ersichtlich wird, welch weites Spektrum an Lehrplanforderungen durch den identitätsorientierten Ansatz und das Lesetagebuch als Leseverfahren abgedeckt wird. Bei einem kurzen Diskurs im Hinblick auf den im nächsten Schuljahr erstmals verwendeten Lehrplan (G 8) für die 7. Jahrgangsstufe ergeben sich noch bemerkenswertere Übereinstimmungen. 1

SPINNER 2000, S. 16.

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit umfasst die Umsetzung der im 1. Teil beschriebenen theoretischen Ansätze. Als Grundlage dient hierfür die Besprechung des Jugendbuchs „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ von Nicky Singer in der Klasse 7A des Frankenwald-Gymnasiums Kronach. Der Sachanalyse und den Unterrichtszielen im Sinne des identitätsorientierten Literaturunterrichts folgen Angaben zum konkreten Einsatz des Lesetagebuchs und ein kurzer Überblick zum Aufbau der gesamten Unterrichtssequenz, ehe an zwei Unterrichtsbeispielen der Einsatz des Lesetagebuchs erläutert wird. Dass hierbei inhaltliche

Schwerpunktesetzungen

wie

Identitätsorientierung,

Fremdverstehen

und

Wertehaltung zur Sprache kommen, soll die harmonische Verbindung und wechselseitige Bedingtheit von Lesetagebuch und identitätsorientiertem Literaturunterricht zusätzlich unterstreichen. Die vorgenommene Umsetzung im Unterricht ermöglicht es schließlich, einen Blick in Schülerarbeiten• zu werfen, deren Lesetagebucheinträge die gelungene Synthese von Lesetagebuch und identitätsorientiertem Ansatz belegen. Aus den hier angesprochenen Beispielen ergibt sich zwangsläufig eine kurze Einschätzung unter Berücksichtigung pädagogisch-psychologischer Überlegungen. Als Zusammenfassung und sozusagen als Fazit der hier vorliegenden Arbeit wird die Frage aufgeworfen, ob das Lesetagebuch als „Allzweckwaffe“ mit hoher Erfolgsgarantie im Umgang mit der neuen Art der Kinder- und Jugendliteratur gesehen werden kann, inwieweit also das Lesetagebuch die neue und Erfolg versprechende Art der Textrezeption im Deutschunterricht der Unter- und Mittelstufe schlechthin sein kann.



Die Verfasser der im Rahmen dieser Arbeit zitierten und im Anhang befindlichen Lesetagebucheinträge stimmten einer Veröffentlichung unter geändertem Namen zu.

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2

Fachwissenschaftlich und didaktisch-methodische Vorüberlegungen

2.1

Identitätsorientierter Literaturunterricht

SPINNER kann als Hauptvertreter des identitätsorientierten Deutschunterrichts gesehen werden. Hintergrund seines 1980 herausgegebenen Bandes „Identität und Deutschunterricht“ ist die Tendenz der Deutschdidaktik ab etwa Mitte der 70er Jahre, den Schüler als Person und dessen Identitätsfindung als zentralen Leitbegriff der Deutschdidaktik immer stärker ins Blickfeld zu nehmen, was schließlich zu einer schülerorientierten Phase der Deutschdidaktik geführt hat. Die stärkere Betonung des Identitätsaspekts in der Deutschdidaktik ist als Reaktion auf die Erkenntnisse der Wissenschaft und hier besonders der Soziologie zu verstehen, die sich intensiv mit Problemen der Identitätsfindung auseinandergesetzt hat. Grundlegend ist es hier, zunächst den Begriff „Identität“ zu klären. „Unter ‚Identität’ wird [...] meist das Ziel verstanden, auf das hin das Individuum sich im Austausch mit Interaktionspartnern in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen entwickelt bzw. entwickeln soll. Dabei wird zwischen mehreren Dimensionen von Identität unterschieden: Auf der einen Seite steht die auf gesellschaftliche Normen bezogene 'soziale Identität', auf der anderen der als Steuerung der Antriebspotentiale des Subjekts (Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle) interpretierte Aufbau von kognitiven und sozialen Kompetenzen in der 'persönlichen Identität'. Die Entwicklung einer 'IchIdentität' ist in diesem Rahmen dann als Prozeß der Vermittlung zwischen 'sozialer' und 'persönlicher' Identität zu interpretieren". 2

Gerade für Heranwachsende ist es nach dieser Definition also das Ziel, ihre eigene ‚IchIdentität’ aus der Spannung und Balance zwischen ‚sozialer’ und ‚persönlicher’ Identität zu entwickeln. Die Deutschdidaktik unter SPINNER bedient sich darüber hinaus noch diverser Identitätskonzepte, bei denen vor allem bei KRAPPMANN die Grenzen zwischen Soziologie und den Aufgaben des Deutschunterrichts mehr und mehr verschmelzen, so dass der Begriff der Identitätsentwicklung immer stärker in den Fokus des Deutschunterrichts gerückt ist. KRAPPMANN betont folglich beim Prozess der Identitätsentwicklung die Bedeutung der Sprache: „Ich-Identität erreicht das Individuum in dem Ausmaß, als es, die Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen kann."3

Aus diesen Überlegungen zum Konzept der Ich-Entwicklung und der dabei angesprochenen Bedeutung der Sprache bildet sich in der Deutschdidaktik eine identitätsorientierte literaturdidaktische 2 3

Perspektive

heraus,

BOUEKE/ SCHÜLEIN 1985, S. 284 f. KRAPPMANN 1975, S.208

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bei

der

gerade

der

handlungs-

und

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody produktionsorientierte Unterricht den Schülern• die Möglichkeit geben soll, unter Hilfestellung des Lehrers „sich ihrer selbst bewusst und gewiss zu werden und eine selbstverantwortete Lebensorientierung zu finden“.4 SPINNER arbeitet von diesem Standpunkt aus die besondere Bedeutung identitätsorientierter Schreibarrangements heraus. Entscheidend ist es hierbei, dass der Schritt zur Selbstbewusstheit erfolgt, wenn im sprechdenkenden Reflexionsakt das eigene Ich thematisch wird, das ‚Ich’ also ‚sich seiner selbst’ bewusst wird. Diese Thematisierung kann sich z. B. auf das eigene Rollenverhalten, also die soziale Identität, beziehen, aber auch auf eigene Bedürfnisse, Wünsche und Enttäuschungen oder auf Werteinstellungen. Die besondere Leistung des Schreibens besteht eben in einer „gesteigerten Selbstvergewisserung" durch die „Umsetzung des Sprechdenkens in geschriebene Sprache", da „die im Sprechdenken oft diffus und in geringerer Bewusstheit ablaufenden Identitätsprozesse beim Schreiben bewusster, greifbarer und beherrschbarer werden können."5 Das Konzept des identitätsorientierten Literaturunterrichts kombiniert Elemente der beiden Bereiche Literaturunterricht (Umgang mit Texten) bzw. Aufsatzunterricht (Sprechen und Schreiben). Durch Schreibarrangements sollen Schüler die Möglichkeit erhalten, „der Bedeutung, die ein Text für sie selbst hat, Ausdruck zu geben."6 Das Ausdrücken eigener Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste im Schreiben, Malen oder szenischen Spiel findet seine wichtige Bedeutung in der so ermöglichten Begegnung der Schüler mit sich selbst und mit anderen. In Kinder- und Jugendbüchern begegnen die jungen Leser in der Regel Hauptfiguren in ihrem Lebensalter, sie finden dabei unter Umständen ihre eigenen Probleme und Wünsche wieder und können sich so sowohl lesend als auch (im handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht) schreibend / spielend mit sich selbst beschäftigen. Kinder- und Jugendliteratur ist gerade deshalb – unter Berücksichtigung des hier dargestellten theoretischen Hintergrunds - besonders geeignet

für einen Unterricht, dem die

Identitätsentwicklung der Heranwachsenden wichtig ist. Im

Rahmen

dieses

identitätsorientierten

Literaturunterrichts

sind

weitere

Schwerpunktsetzungen möglich: Identitätsentwicklung, moralische Bildung, Fremdverstehen



Der Einfachheit halber wird im Plural der Begriff Schüler verwendet, der sowohl Schüler als auch Schülerinnen einschließt. 4 SPINNER 1993, S.1 5 SPINNER 1980, S. 74 6 SPINNER 1993, S. 1

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody und literarisches Lernen sind vier Leitbegriffe, die im Hinblick auf die konkrete Umsetzung im Unterricht (vgl. 3.) noch näher erläutert werden. Zunächst gilt es mit dem personalen Schreiben eine mögliche Variante der handlungs- und produktionsorientierten

Auseinandersetzung

mit

Kinder-

und

Jugendliteratur

kurz

darzustellen, deren Anwendung im Lesetagebuch von besonderer Bedeutung ist.

2.2

Personales Schreiben

In Abgrenzung zum freien Schreiben, zum kreativen Schreiben und zum Schreiben als Prozess werden unter dem Begriff des personalen Schreibens die neuen Trends der Schreibdidaktik der 80er Jahre verstanden, wie sie von BOUEKE/SCHÜLEIN (1985) beschrieben werden. In dieser Form des Aufsatzunterrichts wird die „Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität"7 betont. Hierunter kann, wie SPINNER weiter ausführt, das erlebnisorientierte Schreiben nach SENNLAUB ebenso gefasst werden wie experimentelles oder assoziatives Schreiben und das Verfassen von Gedichten und Tagebüchern. Schreiben wird hier verstanden als eine „Suchbewegung auf dem Weg zur eigenen Identität", was „auch beim kreativen Schreiben eine wichtige, aber nicht die einzige Zielsetzung"8 ist. Als eine besondere Form des personalen Schreiben soll nun im Weiteren auf das Lesetagebuch und dessen Einsatzmöglichkeiten und Vorzüge im Literaturunterricht eingegangen werden.

2.3

Das Lesetagebuch als Form der Texterschließung

2.3.1 Vorüberlegungen Schreibarrangements, die Schülern die Gelegenheit geben, ihre Vorstellungen, Meinungen und Bedürfnisse im Hinblick auf die Lektüre schriftlich zu äußern, indem sie zum Beispiel die Identitätsentwicklung des „Helden“ erfassen, schreibend dokumentieren und im Bezug auf die eigene Person kritisch reflektieren – dies kann das Lesetagebuch als Leseverfahren im Sinne einer identitätsorientierten Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur bieten. In Lesetagebüchern können Schüler vor, während und nach dem Lesen der Lektüre entweder ganz frei oder nach bestimmten Vorgaben alles aufschreiben, was sie sich von dem Gelesenen merken wollen, was sie beim Lesen angenehm oder unangenehm berührt hat oder welche Meinung beziehungsweise Gedanken sie zum Gelesenen oder zu dargestellten Personen haben. 7 8

SPINNER 1993, S.18 SPINNER 1993, S. 18

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Tagebücher umfassen im ursprünglichen Gebrauch Aufzeichnungen, die aus persönlichen Gedanken hervorgehen und aus eigenem Antrieb als schriftliche Eintragungen festgehalten werden. Aus diesen privaten Bereichen der Freiwilligkeit und der Intimität ergeben sich zwangsläufig Probleme für einen derart öffentlichen Raum, wie ihn die Schule beziehungsweise der Klassenraum darstellen. Das Lesetagebuch bietet gerade unter einer identitätsorientierten

Schwerpunktsetzung

einen

Konflikt

zwischen

Intimität

und

Öffentlichkeit, den man sowohl in der Planung als auch in der Durchführung des Lesetagebucheinsatzes stets behutsam berücksichtigen muss. Immerhin können sich in zweifacher Hinsicht Schwierigkeiten ergeben: Zum einen kann es für manche Schüler ein Problem sein, diesen eigentlich geschützten Bereich, in dem auch Platz für Geheimes, Gewagtes, Probeweises, Unfertiges ist, offen zu legen und dem Lehrer und seiner Beurteilung preiszugeben. Zum anderen besteht die Gefahr einer Verfremdung dessen, was man eigentlich schreiben will, aber im Hinblick auf mögliche Leser dann doch nicht schreibt. Entscheidend ist es demnach, dass beim individuellen Verfassen eines Lesetagebuchs durch den Schüler nicht nur äußere Kriterien erfüllt sein müssen, wie zum Beispiel die Datierung der Einträge oder die regelmäßige und chronologische Art der Aufzeichnungen, sondern auch die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit den Schreibern bewusst gemacht werden muss. Für Lehrer und Schüler muss vor dem Schreiben klar sein, was hinterher mit dem Geschriebenen geschieht. Da Tagebücher wie Lesetagebücher Ausdruck des subjektiven Schreibens sind, muss darüber hinaus akzeptiert werden, dass sie die Äußerungsmöglichkeiten der jeweiligen Subjektivität widerspiegeln. Das heißt, dass sie sprachlich elaboriert oder restringiert, stilistisch ausgefeilt oder umgangssprachlich, orthographisch korrekt oder fehlerhaft sein können. Eine Begeleitung während des Schreibprozesses ist demnach sehr viel empfehlenswerter als eine Überarbeitung und Berichtigung durch die Lehrkraft. INGRID HINTZ formuliert das Verhältnis von Voraussetzungen und zu erwartenden Ergebnissen folgendermaßen: „Je freier Inhalt und Form der Tagebücher gehandhabt werden, desto näher kommen sie den bestimmten Merkmalen eines Tagebuchs; je eingeengter die Handhabung ist, je mehr Vorgaben und Auflagen für die Erstellung gemacht werden, desto mehr entfernt sich das Lesetagebuch davon und bleibt hinter seinen lesedidaktischen Möglichkeiten zurück.“9 Auch wenn HINTZ somit für eine freie Form des Lesetagebuchs plädiert, führt sie selbst verschiedene Varianten bei der Verwendung des Lesetagebuchs im Rahmen einer Lektürebesprechung an, die unter dem nun folgenden Punkt kurz angedeutet werden sollen. 9

HINTZ 2005, S. 92

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2.3.2 Freie vs. gesteuerte Form In der Deutschdidaktik gilt INGRID HINTZ als die stärkste Fürsprecherin des Lesetagebuchs. Dies belegt nicht zuletzt der von ihr verfasste Band 12 der Reihe Deutschdidaktik aktuell mit dem Titel Lesetagebuch. Hier wie in zahlreichen Artikeln der Verfasserin werden die verschiedenen Formen des Lesetagebucheinsatzes beschrieben. All diesen Formen ist dabei gemeinsam, dass die Lehrkraft am Beginn der Lektürebesprechung die Schüler an das Lesetagebuch heranzuführen hat und mit ihnen sowohl den Sinn als auch die Erstellungsbedingungen eines Lesetagebuchs bespricht. Die erarbeiteten Aspekte lassen sich schließlich in lesebegleitende Möglichkeiten der Tagebuchführung oder in Aufgaben, die die Schüler vor und nach dem Lesen des Buches bearbeiten können, unterteilen. Auf diese verschiedenen Anregungen wird später im Rahmen der konkreten Unterrichtssequenz (vgl. 3.3) noch eingegangen. Bei der Frage, ob man den Schülern bei den diversen Aufgaben beziehungsweise Möglichkeiten der Tagebuchführung freie Hand lässt oder ihnen im Sinne einer geregelten Aufsatzdidaktik immer feste Aufgabenformen vorgibt, ist es aufgrund der bereits angestellten Vorüberlegungen

angebracht,

einen

sinnvollen

Wechsel

zwischen

offenen

individualisierenden Lern- und Arbeitssituationen und gemeinsamen Unterrichtsphasen, in denen ein Austausch über das jeweilige Buch sowie über die praktizierte Arbeitsmethode erfolgt, vorzusehen. HINTZ betont, dass in jedem Fall ein Organisationsrahmen notwendig ist, „der gewährleistet, dass die intendierten selbstständigen Lernprozesse auch tatsächlich stattfinden können.“10 Wichtig ist es ihrer Meinung nach, „das individuelle Lesetempo der Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen und ihnen Möglichkeiten der vertieften produktiven, kreativen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen anzubieten, um Verstehensund Auseinadersetzungsprozesse zu vertiefen und emotionales Berührtsein, Identifikation und Perspektivübernahme, aber auch Distanzierung sichtbar und mitteilbar machen zu können.“11 Es versteht sich geradezu von selbst, dass diese Voraussetzungen gerade im Hinblick auf eine identitätsorientierte Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur von großer Bedeutung sind.

10 11

HINTZ 2000, S. 39 HINTZ 2000, S. 39

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2.3.3 Selbstständiges Lernen und Arbeiten Nur am Rande soll hier auf die verschiedenen Lernbereiche hingewiesen werden, die nach Meinung von HINTZ durch das Führen eines Lesetagebuchs bei der Besprechung einer Klassenlektüre und damit durch die Verbindung von Lese- und Schreibprozessen abgedeckt und gefördert werden. Zum einen sind das die „Methoden des vertieften Umgangs mit Büchern,“ die erlernt und angewendet werden, „zum anderen wird die allgemeine Methodenkompetenz der Schülerinnen und Schüler gestärkt und dadurch das selbstständige und eigenverantwortliche Lernen gefördert.“12 Unter diesem Aspekt rückt die Frage nach dem ,Wie des Lesens’ gleichrangig neben die Frage nach dem ,Was des Lesens’. „Das Schreiben eines Lesetagebuchs ist also nicht Selbstzweck, sondern wird den Schülerinnen und Schülern als Methode angeboten, in der viele Arbeits- und Lerntechniken gebündelt sind. Durch ihre Anwendung wird sowohl die inhaltlich-fachliche als auch die methodisch-strategische und die affektiv-fachüberschreitende Methodenkompetenz der Schülerinnen und Schüler erweitert.“13 Dadurch wird der Blick auf für den Deutschunterricht essentielle Inhalte und Arbeitstechniken wie u.a. Exzerpieren und Gliedern von Geschriebenem (methodisch-strategisch), die Förderung der Fähigkeiten der Textverarbeitung, des Textverstehens und der Gestaltung von Schreibprozessen (inhaltlich-fachlich) und schließlich auf den Spaß am Thema und an der Methode (affektiv-fachübergreifend) gerichtet. Diese Bandbreite an verschiedensten Intentionen bei der Anwendung des Lesetagebuchs beweist die Vielseitigkeit und die große Bedeutung dieser Art der Texterschließung. All diese Bereiche sind sicherlich essentiell für den Deutschunterricht und können mit gezielten Aufgabenformen durch das Lesetagebuch abgedeckt werden. Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit werden diese Lernbereiche aber eher am Rande angesprochen. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr eine identitätsorientierte Auseinandersetzung mit Schreibarrangements, die einen sprechdenkenden Reflexionsakt des Schülers im Hinblick auf die Lektüre und die eigene Person bewirken soll.

2.3.4 Identitätsorientierte Schwerpunktsetzung HINTZ spricht mit Schlagwörtern wie „Individuelle Begegnung“, „Interaktion zwischen Leser

und

Text“ und

„selbstständige

Textauseinandersetzung“

Zielsetzungen

des

Lesetagebucheinsatzes an, die allesamt eine Schülerorientierung bei der Besprechung einer Lektüre im Deutschunterricht fordern. Jedoch lassen meiner Ansicht nach alle theoretischen 12 13

HINTZ 2000, S. 36 HINTZ 2000, S. 35

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Erklärungen zum Lesetagebuch eine eindeutige Verbindung zwischen Lesetagebucheinsatz und identitätsorientiertem Literaturunterricht vermissen. Das Lesetagebuch kann eben ausgehend von einer Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler bilden, indem ihnen anhand dieses Mediums die Möglichkeit gegeben wird, schreibend und reflektierend den Schritt zur Selbstbewusstheit zu tun, nachdem man Entwicklungen innerhalb der Lektüre genau verfolgt und unter Umständen auf das eigene Ich bezogen hat. Unter dieser Herangehensweise kann das Lesetagebuch als Medium und Form der Erschließung einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler darstellen. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Schwerpunktsetzung, die die anderen Lernbereiche nicht in Frage stellt, sondern diese vielmehr ebenfalls umzusetzen versucht. Ehe diese Schwerpunktsetzung anhand einer Unterrichtseinheit konkretisiert wird, wird der Blick auf den im Januar 2005 gültigen Fachlehrplan Deutsch der 7. Jahrgangsstufe (G 9) gerichtet, der belegen soll, dass sich die eben angesprochenen Intentionen auch hier finden lassen. Anschließend folgt eine kurze Einordnung unter Berücksichtigung des neuen Lehrplans (G 8).

2.4 Einbettung in den Fachlehrplan In erster Linie wird durch die Besprechung einer Lektüre im Unterricht der 7. Jahrgangsstufe die Forderung des Fachlehrplans Deutsch erfüllt, eine von insgesamt „zwei Ganzschriften angemessenen Umfangs zu lesen und im Unterricht zu behandeln.“14 Die Lektüre ist dabei aus dem Bereich der „klassischen und modernen Jugendbücher“15 zu wählen, bei der neben dem Thema, dem Problemgehalt und den Konflikten innerhalb der Lektüre auch Bereiche wie der Aufbau, die Handlungsführung und die Personengestaltung im Mittelpunkt stehen. Hierbei wird besonders betont, durch die Besprechung der Lektüre „Bezüge zur Lebenswelt der Schüler“16 aufzuzeigen, so dass die „Auseinandersetzung mit altersgemäßer Literatur verschiedener Zeiten und Kulturkreise“ dazu anregt, „emotionale Bezüge und Werthaltungen zu entwickeln und zu artikulieren.“17 Daneben sind bei einer Besprechung einer Lektüre auch Berührungspunkte zu weiteren Bereichen des Deutschunterrichts möglich, die sich im Sinne des Lesetagebuchs natürlich auf den schriftlichen Sprachgebrauch beziehen, da dieses Raum für ein weites Spektrum an Schreibarrangements lässt. Dem kreativen Ansatz des personalen Schreibens am nähesten 14

FACHLEHRPLAN DEUTSCH 1990, S. 319 ebd. S. 318 16 ebd. S. 318 17 ebd. S. 317 15

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody kommt wohl die Forderung des Fachlehrplans nach „neuen Leseerfahrungen sowie geeigneten Themen und Schreibanlässen,“ die „die Schüler zu betont gestalterischen, den eigenen Einfällen freieren Raum gebenden Darstellungen anregen“18 sollen. Darüber hinaus können inhaltliche Zusammenfassungen einzelner Lektüreabschnitte oder –kapitel die ersten Vorarbeiten zur Textzusammenfassung liefern, wobei der kreative Anteil dem praktischen Erlernen der Grundmuster einer Textzusammenfassung etwas weichen muss. Anders gestaltet sich der Aspekt der Kreativität bei der Forderung des Fachlehrplans nach dem „wirkungsvollen Erzählen erlebter, erfundener oder vorgegebener Geschichten,“19 wobei sich die Angaben zu den Inhalten wie eine Stoffsammlung für mögliche Schreibarrangements im Lesetagebuch lesen lassen: „Texte umschreiben, u.a. durch Einfügen von Episoden, durch Weiterschreiben, Verändern bzw. Verfremden von Schluss und "Moral", durch Wechsel von Perspektive, Zeit, Ort und Raum.“20 Es versteht sich geradezu von selbst, dass das Lesetagebuch in Verbindung mit einem identitätsorientierten Literaturunterricht als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur ästhetischen Bildung der Schüler auch einen wichtigen Bereich des Bildungs- und Erziehungsauftrags des bayerischen Gymnasiums abdeckt. Ab dem Schuljahr 2005 / 2006 wird in der 7. Jahrgangsstufe erstmals der neue Lehrplan nach G 8 berücksichtigt. Auch wenn die hier vorgestellte Unterrichtseinheit dem alten Lehrplan und dessen Forderungen folgt, so ist es aufgrund der Frage nach der Aktualität ein Muss, auch den neuen Lehrplan ins Blickfeld zu rücken. Dabei wird deutlich, dass der identitätsorientierte Ansatz seinen Niederschlag im Fachlehrplan Deutsch gefunden hat und dies auch in der Verbindung mit gestalterischen Elementen. Die Schüler sollen demnach „Literatur als Spiegel eigener und fremder Identität, auch im gestalterischen Arbeiten und durch Leseerfahrungen“21 erkennen. Das gestaltende Arbeiten wird präzisiert durch methodische Vorschläge wie „Texte ergänzen, umschreiben, neu erfassen; in Anlehnung an literarische Formen schreiben; illustrieren.“22 Zudem wird bei der Werkauswahl (in der 7. Jahrgangsstufe muss nach dem neuen Lehrplan nur noch eine Ganzschrift angemessenen Umfangs gelesen werden) darauf hingewiesen, das Angebot an aktueller Jugendliteratur zu beachten. Außerdem sollen die Schüler „im Rahmen der ästhetischen Bildung ihre Ausdrucksfähigkeit entfalten; sie lernen, künstlerische Gestaltungsformen zu verstehen und zu schätzen sowie sich produktiv damit 18

ebd. S. 315 ebd. S. 315 20 ebd. S. 315 21 FACHLEHRPLAN DEUTSCH (G 8) 7. JAHRGANGSSTUFE, S. 3 22 ebd. S. 3 19

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody auseinander zu setzen.“23 Unter den pädagogischen Ansätzen beinhaltet der Jahrgangsstufenlehrplan für die 7. Klassen den Schwerpunkt „Finden der eigenen Rolle“ und die Förderung von „Selbstbewusstsein.“24 Allein durch den Gebrauch der Wörter „Identität“ und „Rolle“ wird deutlich, dass Lesetagebuch und identitätsorientierter Literaturunterricht wichtige Hilfestellungen zur Erfüllung dieser neuen Lehrplanforderungen geben können, so dass die hier vorgestellte Unterrichtseinheit zu Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ zwar im Rahmen des alten Lehrplans abgehalten worden ist, aber für zukünftige Einsätze im Sinne des Lehrplans nach G8 geradezu prädestiniert ist.

23 24

ebd. S. 1 LEHRPLAN (G 8) 7. JAHRGANGSSTUFE, S. 1

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody 3 Vorstellung der Unterrichtseinheit zur Lektürearbeit mit Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ in der 7. Klasse unter Berücksichtigung des Lesetagebuchs als Leseverfahren im Hinblick auf eine identitätsorientierte Auseinandersetzung Die nun folgenden Erläuterungen gründen allesamt auf die Lektürebesprechung von Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ im Rahmen des Deutschunterrichts der Klasse 7A am Frankenwald-Gymnasium Kronach, wie er zwischen dem 12.01.2005 und dem 01.02.2005 stattgefunden hat. Dabei ist es nicht Ziel dieser Arbeit, die gesamte Unterrichtseinheit in all ihren Einzelheiten darzustellen, sondern vielmehr den Blick auf den konkreten Einsatz des Lesetagebuchs in der Verbindung mit einer identitätsorientierten Auseinandersetzung mit der Lektüre zu richten. Da sowohl das Lesetagebuch als auch der identitätsorientierte Ansatz nur einen Teil der Lektürebesprechung ausgemacht haben, werden an dieser Stelle auch nur einzelne Unterrichtsbeispiele vorgestellt, an denen sich die Auswirkungen dieser beiden Ansätze dokumentieren lassen. Um dennoch einen kurzen Überblick über Lektürebesprechung im Ganzen zu gewinnen, sind eine Sachanalyse zur Lektüre, die Unterrichtsziele der Einheit sowie eine kurze Verlaufsübersicht vorgeschaltet.

3.1

Sachanalyse zu Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das

Versprechen“ Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ bietet für die Besprechung im Deutschunterricht

zahlreiche

interessante

Aspekte.

Man

kann

das

Buch

als

Entwicklungsroman lesen, als sozialpsychologische Schülergeschichte (Mobbing und Außenseitertum in der Schule), als Generationen übergreifende (Liebes-)Geschichte oder als modernes Märchen bzw. Abenteuerroman. In erster Linie gilt es, sich mit dem 12jährigen Robert Nobel, dem Protagonisten und IchErzähler, auseinanderzusetzen. Er wird zu Beginn von seinen Mitschülern unter dem Namen „Norbert Nobody“ schikaniert. Doch ein Klassenprojekt mit einem Seniorenheim verändert sein Leben völlig. Er lernt mit Edith Sorrel eine alte Dame kennen, die ihn dazu bringt, sich endlich etwas zuzutrauen. Sie schickt ihn auf die Suche nach Spuren aus ihrer Vergangenheit. So soll er zum Beispiel ein leer stehendes Haus erkunden und ihr einen Federmantel wie aus dem Märchen vom Feuervogel nähen. Robert fühlt sich zunächst überfordert, überwindet aber schließlich alle seine Ängste und Widerstände.

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Durch sein Engagement wächst er über sich hinaus und gewinnt endlich das Selbstwertgefühl, das ihm so lange gefehlt hat. Er entwickelt sich vom Mobbing-Opfer zum selbstbewussten „Macher“ und beginnt somit sein persönliches Potenzial auszuschöpfen. Durch die authentische Beschreibung dieses Werdegangs wird Robert für den jungen Leser zu einer Identifikationsfigur. Denn Robert muss sich diese Entwicklung hart erarbeiten. Erst als er seine Aufgaben couragiert in Angriff nimmt, kommt die Wende. Ohne Engagement für sich und andere (hier besonders für Edith Sorrel) bliebe Robert nur Opfer. Insofern kann seine Geschichte Mut machen, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und engagiert ein selbstbestimmtes Leben zu wagen. Dieser Mut zum „Fliegen“ macht Robert zum Vorbild nicht nur für Schwache und Außenseiter, sondern für alle. Gleichwohl fällt es den Schülern nicht immer leicht, sich mit Robert zu identifizieren. Denn am Anfang ist Robert zu sehr Opfer und Außenseiter und gegen Ende hin ein zu sehr Besessener (fanatisches Nähen des Federmantels zur vermeintlichen Rettung Edith Sorrels vor dem Tod). Auch ist seine Entwicklung zeitweise von schweren Rückschlägen geprägt, was u.a. auch zu einer folgenschweren Schlägerei mit seinem Widersacher Niker führt. Doch er sieht seine Verfehlung später ein und schließt am Ende sogar Freundschaft mit Niker. Zunächst ist er aber in der Lage, mit der Fertigstellung des Federmantels den letzten Wunsch von Edith Sorrel zu erfüllen, die schließlich friedlich einschläft und stirbt. Sie hat durch Robert ihre lähmenden Schuldgefühle überwunden und wieder zu sich gefunden. Und umgekehrt hat sie ihm zu einer neuen, weil gewachsenen Identität verholfen. In diesem Sinne hat Robert „fliegen“ gelernt, und auch die anderen Personen spüren Roberts neues Selbstwertgefühl.

3.2

Unterrichtsziele

Auch an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die hier angesprochenen Unterrichtsziele bei der Besprechung von Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ sich vor allem auf das Thema dieser Arbeit, also auf den identitätsorientierten Ansatz im Hinblick auf den Einsatz des Lesetagebuchs beschränken. Darüber hinaus kommen natürlich auch Lernziele wie Erkennen des Handlungsverlaufes und der Handlungsentwicklung eines immerhin

246

Seiten

umfassenden

Buches

zum

Zug.

Außerdem

stellen

Personencharakterisierungen, Personenkonstellationen und Erzähltechnik (Ich-Erzähler Robert) wichtige Lerninhalte dar. Hieraus ergeben sich bereits Berührungspunkte zum identitätsorientierten Ansatz, denn durch die klar verständliche Sprache des teils ironischen Ich-Erzählers Robert ist es für die Schüler ein Leichtes, einen Blick in die Innenwelt des ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Helden und damit in die jeweiligen Stadien seiner persönlichen Entwicklung zu erhalten. Diese Nähe und Ehrlichkeit der Hauptperson ermöglichen den Schülern eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Helden. Gerade deshalb lassen sich anhand dieser Figur die Zielsetzungen eines identitätsorientierten Unterrichts erreichen und durch das Lesetagebuch handlungs- und produktionsorientiert vertiefen. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Identitätsfindung kaum als operationalisierbares Lernziel aufgefasst werden kann. Ebenso wenig ist Identitätsgewinn im Rahmen von Lernzielkontrollen überprüfbar. Dennoch ergeben sich auf der Basis der zuvor dargestellten Bezüge zu Handlungs- und Identitätstheorien Grundlagen zur Planung von Unterrichtszielen. Vor

dem

Hintergrund

eines

handlungs-,

produktions-

und

identitätsorientierten

literaturdidaktischen Grundansatzes ist es demnach Ziel der Stunden gewesen, dass die Schüler -

eine Möglichkeit des selbständigen und kreativen Umganges mit Literatur erproben und dabei sich selbst in ihrem kreativ-schöpferischen Potenzial erfahren

-

Einsichten in den Produktionsprozess von Literatur und Sensibilität für deren Ausdrucksformen gewinnen

-

ein verstärktes Selbstwertgefühl erlangen durch die Erfahrung, dass Schreiben Teilhabe an Sprache bedeutet und Kraft verleiht, Bilder in Worte zu fassen

-

Sprache als ein Medium kennen lernen, in dem sich eigene Erfahrung wie in einem Fixpunkt zentrieren, verdinglichen und widerspiegeln können

-

personales Schreiben als Medium der Selbstreflexion und Selbstbewusstwerdung entdecken

-

in dem von der Entwicklungs- und Sozialpsychologie aufgedeckten natürlichen Übergangsprozess von der Rollen- zur Ich-Identität Unterstützung erhalten

-

innerhalb der Diskussion über die Einzelarbeiten lernen, subjektive Informationen, Probleme, Freuden und Fähigkeiten von Mitschülern aufzunehmen, zu beurteilen, darauf einzugehen, dabei Bestätigung oder Korrektur erfahren und damit schon an sich wesentliche Lernerfahrungen machen

-

durch Präsentation und gemeinsame Besprechung ihrer Schreibprodukte Mut zur Öffnung finden

-

die Erfahrung machen, dass die Beschäftigung mit Literatur Spaß machen kann und die Möglichkeit eröffnet, sich und andere besser kennenzulernen und zu verstehen

-

zumindest im Ansatz eine Atmosphäre 'literarischer Geselligkeit' erleben

©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody -

einen Baustein auf dem langen Weg zur Selbstständigkeit bzw. zur Bewusstwerdung und Weiterentwicklung eigener Interessen durch Schaffung von Freiräumen erlangen können

-

entdecken, dass Unterricht sehr wohl etwas mit ihnen als Individuum zu tun haben kann.

3.3

Aufbau der Unterrichtssequenz im Hinblick auf den Einsatz des Lesetagebuchs in Verbindung mit den Zielen eines identitätsorientierten Literaturunterrichts

Die Unterrichtsziele geben den Rahmen der Unterrichtssequenz vor: Die Lektürebesprechung läuft im Hinblick auf eine identitätsorientierte Auseinandersetzung mit dem Lesetagebuch in einem Lernklima ab, das sowohl von Intimität als auch von Öffentlichkeit geprägt ist. Schüler erhalten die Möglichkeit zu einer sehr privaten und individualisierten Auseinandersetzung mit der Lektüre, werden aber gleichzeitig ermuntert, ihre Ergebnisse innerhalb des Klassenverbandes zu präsentieren, zu thematisieren und geforderte Aufgabenstellungen der Lehrkraft zu berücksichtigen. All dies erfordert seitens der Lehrkraft eine rücksichtsvolle und einfühlsame Vorgehensweise, die vorher abgesteckte Rahmenbedingungen voraussetzt.

3.3.1 Rahmenbedingungen Um den Schülern den Eindruck zu vermitteln, dass sich eine solch persönliche Auseinandersetzung mit Lektüre durchaus vom restlichen Unterrichtsgeschehen abhebt, ist es empfehlenswert, für das Lesetagebuch ein eigenes Heft anschaffen zu lassen. Gute Erfahrungen wurden hier mit einem DIN-A-5-Heft gemacht, da es allein durch sein äußeres Erscheinungsbild kleiner und somit intimer wirkt. Dieses Heft ist nun allein für die Lektürebesprechung gedacht. Jede Eintragung beginnt mit dem aktuellen Datum und der genauen Uhrzeit und beinhaltet außerdem die jeweiligen Seiten- oder Kapitelzahlen des Buches, zu denen man etwas schreiben möchte. Um eine gewisse Kontinuität zu erreichen, ist das Lesetagebuch nicht nur für die persönlichen Eintragungen der Schüler gedacht, sondern auch für die Übernahme der Tafelbilder und somit für die im Unterricht erarbeiteten Ergebnisse. Zudem ergänzen Illustrationen und Skizzen sowie eingeklebte Bilder und Zusatzmaterialien das Geschriebene. Wichtigste Aufgabe der Lehrkraft ist es, die Schüler am Beginn der Lektürebesprechung zum Lesetagebuch

hinzuführen

und

mit

ihnen

sowohl

den

Sinn

als

auch

die

Erstellungsbedingungen eines Lesetagebuchs zu besprechen und zu erarbeiten. Den Schülern ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody soll von Anfang an bewusst sein, dass sie aufgefordert beziehungsweise eingeladen sind, sich an bestimmten Stellen des Buches einzumischen, sich eine eigene Meinung über das Buch zu bilden, über das Gelesene nachzudenken und sich somit an den Inhalt und die Personen des Buches zu erinnern. Die erarbeiteten Aspekte wurden den Schülern bei der am Frankenwald-Gymnasium durchgeführten Unterrichtseinheit als Zusammenstellung auf einem Blatt zum Einkleben in das Lesetagebuch zur Verfügung gestellt und galten ihnen somit während der Lektürebesprechung als Orientierungspunkt und Katalog an Vorschlägen für die kreative Auseinandersetzung mit dem Buch.

3.3.2 Einsatzmöglichkeiten des Lesetagebuchs Der hier vorgestellte Katalog an Einsatzmöglichkeiten orientiert sich vor allem an den von INGRID HINTZ vorgelegten und im Praxis Deutsch Heft 164 veröffentlichten Vorschlägen: In einem Lesetagbuch können die Schüler -

notieren, was sie wann gelesen haben

-

zu jedem Kapitel etwas schreiben oder zeichnen, dieses kurz zusammenfassen oder nacherzählen

-

aufschreiben, was sie beim Lesen gedacht oder gefühlt haben

-

Textstellen aufschreiben, die sie besonders lesenwert, lustig, traurig oder spannend finden

-

an geeigneten Stellen im Buch den Text verändern oder weiterschreiben

-

Aussagen über eine Person aus dem Buch sammeln

-

Personen des Buches zeichnen oder Steckbriefe für sie entwerfen

-

an eine Person des Buches einen Brief schreiben

-

aus Sicht der Person des Buches einen Tagebucheintrag oder einen Brief entwerfen

-

an einzelnen Textstellen eine Bildergeschichte oder einen Comic gestalten

-

eine wichtige Stelle fotokopieren und kommentieren.

Wichtig ist es hier, den bereits unter 2.3.2 angesprochenen Wechsel zwischen freier und gesteuerter Form des Lesetagebuchs zu berücksichtigen. Die Schüler können den eben genannten Katalog als Einladung verstehen, die vorgegebenen Möglichkeiten selbst auszuprobieren und sich dabei der Lektüre individuell zu nähern. Auf der anderen Seite gib es Aufgabenstellungen, die die Lehrkraft vorgibt und die somit wie eine Art Hausaufgabe von den Schülern zu bearbeiten sind. Im Zusammenspiel dieser beiden Möglichkeiten der Beschäftigung mit der Lektüre ergibt sich der angestrebte Wechsel zwischen offenen individualisierenden Lern- und Arbeitssituationen und gemeinsamen Unterrichtsphasen. ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody

3.3.3 Handhabung und Bewertung Im Bereich des bereits angesprochenen Zwiespalts zwischen Intimität und Öffentlichkeit beim Einsatz des Lesetagebuchs, der durch einen identitätsorientierten Ansatz noch verstärkt wird, ergeben sich neben den Chancen auf eine besonders intensive, weil sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Lektüre natürlich auch Gefahren für den Unterrichtsverlauf. Den Schülern wurde von Anfang an klar gemacht, dass das Lesetagebuch in erster Linie eine sehr persönliche Angelegenheit eines jeden Schülers ist und demnach nicht von einem anderen Schüler oder der Lehrkraft kontrolliert wird. Zum anderen wurden in den verschiedenen Unterrichtseinheiten nur diejenigen Beiträge berücksichtigt, die von den Schülern aus freien Stücken vorgetragen wurden. Das bedeutete zum einen, dass manche Schüler die Präsentationsphasen als Bühne für die eigenen Lesetagebucheinträge nutzten, was aber das Unterrichtsgeschehen aufgrund der Qualität der Beiträge sehr wohl bereicherte, weil sie den weiteren Unterrichtsverlauf maßgeblich beeinflussten. Zum anderen bestand die Gefahr, dass andere Schüler die Intimität ausnutzen und so unbehelligt weder die freiwilligen noch die fest vorgegebenen Arbeitsaufträge durchführen würden. Nach meinem eigenen Ermessen kam es aber nicht zu einer solchen Blockadereaktion seitens der Schüler. Vielmehr verriet mir das Lernklima während der Lektürebesprechung, dass die Schüler von den Freiheiten, die ihnen durch diese Methode an die Hand gegeben wurden, derart angetan waren, dass sie diese Freiheiten als Chance für sich selbst verstanden. Somit stellte bereits die mehr oder weniger freiwillige und individuelle Anfertigung des Lesetagebuchs einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler dar. Wie später noch gezeigt wird, nutzten einige der Schüler die Situation und die Intimität des Lesetagebuchs, um ganz erstaunliche Einträge zu verfassen. Die Schüler erwidern in der Regel das ihnen entgegengebrachte Vertrauen mit einer sehr intensiven und persönlichen Auseinandersetzung mit der Lektüre. Weil jedoch das Individuelle und zugleich das Prozesshafte des Schreibens stark im Vordergrund steht (wenngleich am Ende jeweils auch ein fertiges Produkt vorliegt), verbietet sich die Bewertung der Lesetagebücher. Eine vergleichende Beurteilung wie etwa bei einem Klassenaufsatz wäre nur dann ansatzweise möglich, wenn eine klare und für alle identische Aufgabenstellung vorgegeben wäre und das Lesetagebuch dadurch eher zu einem Lesebegleitheft würde. Dadurch ginge aber der persönliche und identitätsorientierte Charakter verloren. Bei den hier vorgeschlagenen offenen Formen der schreibenden Auseinandersetzung mit dem Gelesenen sollte die Bewertung, wenn überhaupt, am Ende allenfalls als individuelle Würdigung der ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Schülerleistung erfolgen und auch nur dann, wenn der Schüler in eine Beurteilung vorher eingewilligt hat.

3.3.4 Bevorzugter Anwendungsbereich des Lesetagebuchs Den Schülern waren die freiwilligen und individuellen Möglichkeiten der Lektürearbeit stets bewusst und präsent. Auf besonderes Interesse der Lehrkraft stießen jedoch immer die Spontanreaktionen der Schüler auf die jeweils zu Hause gelesenen Kapitel. Denn die Schüler sollten

ihre Gedanken, Gefühle, Deutungsansätze, Meinungen, Schwierigkeiten und

Probleme nicht erst am Ende der Lektürebesprechung niederschreiben, sondern während oder kurz nach einer Lesephase, da die persönlichen Eindrücke hier am deutlichsten hervortreten. Die Subjektivität des Schülers kommt dadurch am stärksten zum Tragen. Die Unterteilung von Nicky Singers Jugendbuch kommt dieser Vorgehensweise sehr entgegen, da die Lektüre insgesamt in 18 Kapitel überschaubaren Umfangs unterteilt ist, die jedes für sich eine geschlossene Handlung enthalten und zum Beispiel eine gewisse Weiterentwicklung in der Persönlichkeit der Hauptfigur Robert dokumentieren. Durch das Verfassen eigener Meinungen zu dieser Entwicklung reflektierten die Schüler zumeist die eigene Person, weil eine Meinung immer persönliche Einstellungen und Charakterzüge beinhaltet. Das unter 3.3.5 angeführte Schema zur gesamten Unterrichtssequenz lässt erkennen, welcher Stellenwert diesen Spontanreaktionen im Unterricht zugeteilt wurde. Denn die zu Hause verfassten Einträge stellten die Grundlage und den Anfangspunkt des anschließenden Klassenunterrichts dar, in dem Probleme, Fragen oder Auffälliges im Umgang mit dem Jugendbuch

im

Unterrichtsgespräch

thematisiert

und

behandelt

wurden.

Diese

Vorgehensweise hatte für die Schüler eine wichtige Signalwirkung, denn dadurch wurde ihnen klar, dass ihre Meinung nicht nur gefragt war, sondern vielmehr Dreh- und Angelpunkt der jeweiligen Unterrichtsstunde wurde. Natürlich erfordert diese Vorgehensweise von der Lehrkraft eine gewisse Flexibilität, doch die Praxis hat gezeigt, dass die Schüler durch die intensive Heimlektüre die ohnehin eingeplanten Schwerpunkte selbst entdeckt hatten. Somit war diese Methode als Erfolg zu verbuchen, was durch das Engagement der Schüler vom ersten bis zum letzten Tag der Lektürebesprechung belegt wurde.

3.3.5 Übersicht zur Unterrichtssequenz

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Um die später angeführten Unterrichtsbeispiele in der Gesamtheit der Lektürebesprechung besser einordnen zu können und zugleich einen groben Überblick über die von der Lehrkraft vorgegebenen Arbeitsformen für das Lesetagebuch zu erhalten, folgt hier ein kurzer tabellarischer Überblick über die gesamte Unterrichtssequenz zu Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“. Präzisiert werden der Einsatz und die Wirkung des Lesetagebuchs unter Berücksichtigung einer identitätsorientierten Auseinandersetzung im darauf folgenden Punkt. Zunächst sei hier auf die Stunden im Überblick verwiesen, wobei die Tabelle das Datum, den Inhaltsschwerpunkt der Unterrichtseinheit und die Art des Lesetagebucheinsatzes darstellt.

Datum

Inhaltsschwerpunkt (Kapitelnummer)

12.01.2005 Einführung in das Lesetagebuch / Vorahnung nach Betrachtung des Buchdeckels 13.01.2005 Meiner erster Eindruck (Kapitel 1) 14.01.2005 Nicky Singer – die Autorin / Vorstellung der Hauptpersonen (Kapitel 2, 3) 18.01.2005 Wer ist hier der Held? Was ist ein Held? (Kapitel 3, 4) 19.01.2005 Das Klassenprojekt und Edith Sorrel (Kapitel 4, 5) 20.01.2005 Die Symbolik des Fliegens (Kapitel 6, 7) 21.01.2005 25.01.2005 26.01.2005 27.01.2005 28.01.2005 01.02.2005

Art des Lesetagebucheinsatzes Inhaltliche Erwartungen formulieren

Erste Leseeindrücke niederschreiben Steckbriefe der Hauptpersonen verfassen

Gedanken zum Thema „Held“ niederschreiben / Bild gestalten Steckbrief Edith Sorrel verfassen Eigene Leseeindrücke niederschreiben Eigene Leseeindrücke niederschreiben / Bild malen Die Projektarbeiten (Kapitel 8, 9) Eigene Leseeindrücke niederschreiben und Kritiken zu den Projektarbeiten verfassen Die Nacht im Chance House (Kapitel 10) Eigene Leseeindrücke niederschreiben Die Bedeutung des Federmantels (Kapitel Eigene Leseeindrücke niederschreiben 11, 12, 13) Robert dreht durch – Gewalt ist keine Eigene Leseeindrücke niederschreiben Lösung (Kapitel 14) Die Folgen von Roberts Fehlverhalten Einen Bericht über die Vorkommnisse aus Sicht der Klassenlehrerin verfassen Roberts Besinnung und die Auflösung Eigene Leseeindrücke niederschreiben Abschließend einen Brief an Robert verfassen

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody

3.4 Konkrete Unterrichtsbeispiele Welche Chancen und welche Bereicherung für die Lektürebesprechung im Lesetagebuch und identitätsorientierten Ansatz liegen, soll nun anhand zweier konkreter Unterrichtsbeispiele belegt werden. Dabei geht es an dieser Stelle nicht darum, die gesamte Unterrichtseinheit in all ihren Einzelheiten darzustellen und anschließend zu reflektieren. Vielmehr soll die Wirksamkeit des Lesetagebucheinsatzes beziehungsweise des identitätsorientierten Ansatzes innerhalb der Unterrichtsstunde präsentiert und analysiert werden. Um die Unterrichtsstunde dennoch in ihrer Gesamtheit überblicken zu können, befinden sich im Anhang die jeweiligen Stundenskizzen und die verwendeten Unterrichtsmaterialien (s. Anlagen 1 und 2). Sowohl die Sachanalyse als auch die didaktisch-methodischen Vorüberlegungen beschränken sich ebenfalls im Großen und Ganzen auf das Lesetagebuch und den identitätsorientierten Literaturunterricht. Anschließend werden die Schülerbeiträge zu der Stunde ausgewertet und davon ausgehend die jeweiligen Ansätze und deren Wirkungsgrad kritisch reflektiert und diskutiert.

3.4.1 Identitätsorientierung: Niker vs. Robert - Wer ist hier der Held?

3.4.1.1

Sachanalyse

Bei der Besprechung der ersten Kapitel von Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ geht es vor allem darum, den Schülern einen Einblick in die wichtigsten Charaktere zu gewähren. Diese umfassen in erster Linie die beiden Kontrahenten Robert, den Ich-Erzähler, und Niker. Niker macht seinem Klassenkameraden das Leben zur Hölle. Er nennt ihn Norbert Nobody und gibt ihm immer wieder das Gefühl, ein Loser zu sein. Niker selbst hingegen ist der Anführer der Klasse. Seinem Wort wird gefolgt. Für Robert bleibt hier nur das Image des Außenseiters, der zugleich Mobbing-Opfer des stärkeren Niker ist. Erst später überwindet Robert sein ‚Loser-Bewusstsein’. Er wird aktiver, selbstbewusster und schließlich offensiv und durchsetzungsfähig. Er beginnt sein persönliches Potenzial auszuschöpfen. Bis es jedoch soweit ist, muss Robert zahlreiche Kränkungen seitens Niker einstecken. Es stellt sich gerade in diesen Anfangskapiteln die Frage ‚Wer ist der wahre Held?’. Ist es Robert, aus dessen Blickwinkel der Leser trotz der Peinigungen erkennt, welches Potenzial in ihm steckt? Oder ist es doch Niker, der immer wortgewandt und aktionsreich selbst die Lehrerin einzuschüchtern weiß? Niker ist zu Beginn der Handlung sicherlich der sowohl körperlich als auch mental Stärkere der beiden. Aber macht das einen Helden aus? Was macht überhaupt einen Helden aus? ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Genau diese Fragestellungen sind Gegenstand der hier vorgestellten Unterrichtsstunde. Dabei ist es wichtig, dass die Schüler erfahren, dass unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei der Definition des Begriffs „Held“ möglich sind. Helden des Alltags zeichnen sich zum Beispiel durch Zivilcourage, durch den Einsatz für die Anderen aus. Hier entscheiden nicht die Muskelkraft oder eine scharfe Zunge. Somit kann jeder zum Helden werden, so lange er / sie sich für die Belange der Mitmenschen interessiert und sich für sie einsetzt.

3.4.1.2

Didaktische Vorüberlegungen∗

Identitätsentwicklung und Identitätsorientierung erhalten in der heutigen Kinder- und Jugendliteratur eine immer größere Bedeutung. Bei Nicky Singers Jugendbuch verhält es sich nicht anders. Der Bezug zur Identitätsentwicklung der Schüler realisiert sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Vordergründig erkennen die Schüler in der Lektüre ganz konkrete Situationen wieder, die ihnen in ihrem eigenen Leben bedeutsam oder ihnen selbst widerfahren sind. Dadurch, dass sich eigenes Erleben in der Lektüre spiegelt, können die Heranwachsenden Distanz zu sich selber gewinnen, ihre Gefühle klären, sie können sich bestärkt fühlen oder andere Sichtweisen gewinnen. Bücher können aber auch Vorstellungen entfalten, die ein Gegenbild zur Lebenswelt der Lesenden darstellen, zum Beispiel die Veranschaulichung verdrängter Ängste. Deshalb sind auch Texte, die einen zweifelhaften Helden, eingeschüchterten Protagonisten oder einen AntiHelden beinhalten, wichtig für den Identitätsfindungsprozess. In der Lektüre finden die jungen Leser die grundlegenden Entwicklungsaufgaben der Heranwachsenden wieder – zum Beispiel, wenn es darum geht, sich gegen den Willen Stärkerer für die Wünsche und Sehnsüchte Schwächerer couragiert einzusetzen, also ganz in dem Sinne, wie es Robert in seiner persönlichen Entwicklung innerhalb des Buches durchlebt. Der jugendliche Leser begleitet ihn auf diesem Weg. Zunächst ist es aber wichtig, die eigenen Vorstellungen im Bezug auf das, was ein Held ist, zu verbalisieren und im Vergleich mit der Lektüre zu problematisieren. Dadurch ergeben sich fast zwangsläufig Auswirkungen auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung.

Die

besondere

Chance

dieses

Ansatzes

und

dieser

Unterrichtseinheit liegt darin, dass der Schüler implizit über eigenes Leben und Erleben reden kann, aber zugleich die literarische Figur als Maske erkennt, hinter der man sich verstecken



Nochmals sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die hier vorgestellten Überlegungen sich vor allem auf den identitätsorientierten Ansatz beziehungsweise auf den Einsatz des Lesetagebuchs beschränken. Demnach stehen hier nicht alle der in der Skizze angegebenen Unterrichtsziele im Vordergrund.

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody kann und die es deshalb erlaubt, Probleme zur Sprache zu bringen, über die man anders schweigen würde.

3.4.1.3

Einsatz des Lesetagebuchs

Wie bereits angedeutet und an der Unterrichtsskizze (s. Anhang) zu erkennen, stellen die Spontanreaktionen der Schüler zu den Kapiteln 3 und 4 die Ausgangslage für das weitere Unterrichtsgeschehen dar. Demnach sollten die Schüler in Heimarbeit wieder ihre Meinungen zu den beiden Kapiteln niederschreiben, dieses Mal jedoch mit der Einschränkung verbunden, dass die Überschrift des Lesetagebucheintrags vorgegeben war: Die Frage „Wer ist hier der Held?“ stand dadurch im Mittelpunkt. Im personalen Schreiben sollten die Schüler somit ihre bisher gewonnenen Erkenntnisse im Bezug auf die beiden Hauptfiguren Robert und Niker verbalisieren. Hinzu kam die kreative Aufgabe, das im Buch dargestellte „Heldendasein“ zu versinnbildlichen und dieses Bild zu zeichnen. Die Ergebnisse wurden zu Beginn der Stunde durch Vorlesen und Vorzeigen präsentiert – natürlich auf freiwilliger Basis. Die hier gesammelten Resultate machten es für den weiteren Unterrichtsverlauf einfach, sich kritisch mit dem Begriff des Helden auseinanderzusetzen und am Ende die Eigenschaften eines wahren Helden festzuhalten.

3.4.1.4 Auswertung eines Schülertextes Ein besonders gelungenes Schülerexemplar zum Thema „Wer ist hier der Held?“ befindet sich im Anhang (Anlage 3) und belegt, dass sich dieser Schüler des Mediums Lesetagebuch bedient hat, um nicht nur die Entwicklung der Hauptfiguren der Lektüre zu reflektieren, sondern diese auch mit seiner eigenen Lebenswelt zu vergleichen: „Ich denke, dass Robert der Held ist, denn er ist im Prinzip die Hauptperson im Buch. Er ist freundlich, entschlossen und aufrichtig. Niker hat zwar in der Klasse die Zügel in der Hand, aber für einen Helden ist er zu albern, egoistisch und schadenfroh. Er hat nichts, das ein Held hat. Helden tragen ein Schwert bei sich. Roberts Schwert ist seine Vernunft und sein Verstand. Ein Held tut Gutes. Das kann man von Niker nicht erwarten, er kann (wie es im Moment aussieht) noch nicht einmal ein „Schwert“ führen. Robert setzt sein „Schwert“ für das ein, was anderen nicht schadet. Niker kann nur den Bass spielen und seine Klappe weit aufreißen. Damit geht er vielen, wie zum Beispiel mir, auf die Nerven. Ich verstehe es nicht, wie man in Nikers Alter so selbstlos sein kann. Er ist alles andere als ein Held.“ (Sven*)

Durch die Vorbildfunktion, die Robert bereits jetzt für ihn zu haben scheint, entfernt sich dieser Schüler auch vom angeberischen Verhalten Nikers. Der Vergleich zu den Figuren *

Der Name des Verfassers wurde geändert. Genauso verhält es mit den noch folgenden Schülerbeiträgen.

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody gleichen Alters ermöglicht dem Schüler eine Selbstreflexion in seinem Verhalten, die in diesem kleinen Rahmen einen wichtigen Schritt im natürlichen Übergangsprozess von der Rollen- zur Ich-Identität des Schülers ermöglicht. Die bildliche Umsetzung des „Heldendaseins“ (s. Anlage 3) belegt darüber hinaus das kreative Potenzial, das der Schüler beim Visualisieren der von ihm erarbeiteten Inhalte beweist. Beide Ergebnisse stellen eine außerordentlich intensive und persönliche Auseinandersetzung mit dem Gelesenen dar – eine Auseinandersetzung, die ohne den intimen Raum des Lesetagebuchs und die persönliche Auseinandersetzung im identitätsorientierten Rahmen meiner Meinung nach nicht möglich gewesen wäre.

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody

3.4.2 Wertevermittlung und Fremdverstehen: Gewalt ist keine Lösung 3.4.2.1 Sachanalyse Roberts Entwicklung zu einer selbstständigen und selbstbewussten Persönlichkeit ist aber nicht frei von Rückschlägen. Daher fällt es den Schülern nicht immer leicht, sich mit Robert zu identifizieren. Seine Besessenheit in der Aufgabe, das Leben von Edith Sorrel durch das Nähen eines Federmantels zu retten, steigert sich am Ende des 14. Kapitels in einen wahren Wutausbruch gegenüber seinem größten Widersacher und Neider Niker. Als dieser versucht ihm den Federmantel zu entreißen, schlagen Roberts Verbissenheit und Selbstvertrauen in gewalttätige Aggression um. Er prügelt seinen Kontrahenten nach einem kurzen Wortgefecht krankenhausreif. Robert hat in dieser Szene nicht den Mut, mit seinem Widersacher und mit anderen Mitschülern oder Klassenlehrern über seine Emotionen und Motive, die er mit dem Federmantel verbindet, zu sprechen. Durch dieses Geständnis hätte er einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Niker, der neben seinen negativen Charaktereigenschaften auch immer wieder positive Wesenszüge im Verlauf des Jugendbuchs aufblitzen lässt, verhindern und die Situation somit entschärfen können. Durch diesen Zwischenfall bekommt die bisher so positive Entwicklung Roberts einen herben Rückschlag, für den er auch innerhalb des nächsten Kapitels eine Bestrafung erhält. Er hat noch nicht erkannt, dass zu einem selbstbewussten Auftreten auch das offene Gespräch über die eigenen Beweggründe und Emotionen gehört. Doch er sieht seine Verfehlung später ein und schließt am Ende sogar Freundschaft mit Niker. Die Entwicklung zum Positiven wird also erst hier endgültig zum Abschluss gebracht. Am Ende des 14. Kapitels ist diese positive Entwicklung jedoch ernsthaft gefährdet.

3.4.2.2 Didaktisch-methodische Vorüberlegungen Diese Problematik sollen die Schüler in dieser Unterrichtseinheit zunächst über den Text in seiner äußeren Handlung erkennen und anschließend durch Gegenschreiben und szenisches Interpretieren auf eine Art und Weise diskutieren, die zu einer Lösungsstrategie für den angesprochenen Konflikt führen soll. Außerdem beinhaltet dieser Ansatz eine der möglichen Aussageabsichten der Lektüre. Neben der Lektürearbeit stehen vor allem die Schüler selbst im Mittelpunkt, sind sie es doch, die durch einen identitätsorientierten Ansatz die besprochene ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Episode in die eigene Erfahrungswelt rücken und nach einer Reflexionsphase selbst nach einer besseren Lösungsmöglichkeit für den Konflikt suchen.

3.4.2.3 Identitätsorientierter Ansatz Identitätsentwicklung bedeutet für den heranwachsenden Schüler, dass er zunehmend in der Lage ist, die gegensätzlichen Aspekte seines Ichs in Beziehung zueinander zu bringen. Gerade bei Jugendlichen einer 7. Klasse spielt die Erfahrung des Erzogenwerdens und der damit verbundenen Einschränkung des eigenen Willens eine besonders große Rolle. Der Widerstreit von Wildheit und Einfügen in die Normen der gesellschaftlichen Welt ist deshalb ein Grundthema der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen und von Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ im Speziellen. Zwar ist die Auseinandersetzung mit Normen und Werten seit jeher ein Thema der Kinder- und Jugendliteratur gewesen, aber „Norbert Nobody“ ist gerade in dieser Hinsicht nicht mehr als moralisierende Geschichte zu verstehen, sondern stellt im Zeichen einer erwünschten Mündigkeit der Leser die moralischen Probleme, wie das Faustrecht beim Kampf um etwas eigentlich Gutes (Robert kämpft brutal gegen Niker um den Federmantel), so dar, dass die Schüler ihre eigenen Konflikte wieder erkennen können und zum selbstständigen Weiterdenken im Sinne einer mündigen Konfliktlösung angeregt werden. Dies gilt gerade auch für die Problematik jugendlicher Gewalt, wie sie in diesem 14. Kapitel dargestellt wird. Durch das Rollenspiel wird den Schülern in dieser Unterrichtsstunde eine Auseinandersetzung mit der eigenen Innenwelt ermöglicht, die ein Stück reflektierter Ichstärke vermittelt. Verknüpft mit dieser Werteerziehung ist das Fremdverstehen. Kinder finden im Text eben nicht nur sich selbst und ihre eigenen Probleme, sondern sie versetzen sich in die Lebensumstände Roberts und folgen dabei seinen Empfindungen und Gedanken, die vielleicht anders sein mögen als ihre eigenen. Indem sie sich aber im Rollenspiel trotzdem auf Robert und Niker einlassen, entwickeln sie die Fähigkeit, fremde Sichtweisen nachzuvollziehen. In diesen Bereich gehört bereits das individuelle Einlassen auf den sehr persönlich gehaltenen Erzählstil des Ich-Erzählers.

3.4.2.4 Kurze Auswertung Gerade in der Entfaltung von Fremdverstehen kann man einen großen Beitrag des Literaturunterrichts zur moralischen Bildung und zur Werteerziehung sehen, wie auch an der Durchführung dieser Stunde deutlich wurde. In der Unterrichtsstunde ist diese Kombination von Fremdverstehen und Wertevermittlung durch den kreativen Bereich des Rollenspiels, ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody aber auch wiederum durch den Einsatz des Lesetagebuchs in der häuslichen Vorbereitung gut gelungen. Die Schüler hatten das Problematische in Roberts brutalem Handeln für die gute Sache erkannt und selbst nach geeigneten Auswegen gesucht. Das Fazit „Gewalt ist keine Lösung“ stellte wiederum einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler dar (s. Anlagen 4 und 5).

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody 4 Ein

Literarisches Lernen Aspekt,

den

man

nur

schwer

innerhalb

einer

Unterrichtssequenz

erlernen

beziehungsweise gezielt vermitteln kann, ist derjenige des literarischen Lernens, den SPINNER ebenfalls als einen Schwerpunkt in der didaktischen Bedeutung heutiger Kinderund Jugendliteratur versteht.25 Die Einsicht, dass gerade auch in den einfachen literarischen Formen wie Kinder- und Jugendliteratur grundlegende ästhetische Erfahrungen vermittelt werden, ist im Unterricht nur schwer als konkretes Lernziel zu vermitteln. Ästhetische Form versteht SPINNER als „Sensiblisierung der Sinneswahrnehmungen“26, die wiederum nur schwer messbar ist. Demnach ist bei diesem Ansatz der Weg das Ziel, denn ein Unterricht, der sich ästhetische Bildung zum Ziel gesetzt hat, wird die Beschäftigung mit der Lektüre über andere Ausdrucksformen wie Malen (s. Anlage 3 und 10) oder Spielen verbinden. Auch dieser Aspekt wurde in der Planung der Unterrichtssequenz berücksichtigt. Darüber hinaus stellt SPINNER fest, dass „in jüngeren schreibdidaktischen Untersuchungen neu bestätigt worden [sei], dass die Begegnung mit ästhetisch gelungenen literarischen Texten Kinder und Jugendliche wesentlich in ihrem eigenen Ausdrucksvermögen zu beeinflussen vermag.“27 Als Voraussetzung sei hier ein offener Lese- und Schreibunterricht, dem es nicht um rigide Nachahmung, sondern um entdeckende Sprachsensibilität geht, zu sehen. Die Beeinflussung des Ausdrucksvermögens der Schüler ist zwar nur schwer nachzuweisen, doch einige der Schülerbeiträge aus diversen Lesetagebüchern der Klasse 7A vermittelten den Eindruck, dass die Schüler durch den persönlichen Raum des Lesetagebuchs und die auf die eigene Persönlichkeit gerichtete Auseinandersetzung mit der Lektüre zu wahren Höhenflügen in ihrer schriftlichen Ausdrucksform angetrieben wurden. Der nun folgende kurze Beitrag aus einem Lesetagbuch soll dies kurz belegen (s. Anlage 6):

„Ein Blatt, egal von welchem Baum, wird als Knospe im Frühling geboren. Es wächst, wird größer und hilft dem Baum den ganzen Sommer. Aber nur ein halbes Jahr nach seiner Geburt stirbt es dann und fällt zu Boden. Das ist das Schicksal eines jeden Blattes. Doch was ist das Schicksal von Norbert. Muss er immer ein Außenseiter bleiben? [...]“ (Kathrin*)

25

SPINNER 2000, S.16 ebd. S. 19 27 ebd. S. 20 26 26

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Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody 5

Einschätzung der Lesetagebucheinträge unter Berücksichtigung pädagogischpsychologischer Überlegungen

Der Einblick in solch eindrucksvolle Ergebnisse ist für die Lehrkraft natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Schüler den Klassenverband und / oder den Lehrer an diesen Ergebnissen teilhaben lassen, möglich. Wie bereits erwähnt, ist es wichtig, die vorher abgesprochenen Spielregeln beim Umgang mit dem Lesetagbuch einzuhalten. In diesem Fall bedeutete dies, dass das Lesetagebuch absoluter Schutzraum für die Schüler war, in den man nur nach einer „Einladung“ durch den Schüler selbst eintreten durfte. Vereinzelte Schüler hatten im Rahmen der Lektürebesprechung keinerlei Scheu, andere an ihren Einsichten teilhaben zu lassen. Sie bereicherten immer wieder den Unterricht durch die vorgelesenen Spontanreaktionen im Bezug auf die jeweilige Kapitelbesprechung zu Beginn der Stunden. Andere Schüler hielten sich in dieser Unterrichtsphase komplett zurück, machten aber durch ihre sonstige Mitarbeit deutlich, dass auch sie sich sehr intensiv mit der Lektüre beschäftigt hatten. Ein Schüler, der vor der Lektürebesprechung vor allem durch sein äußerst unsauberes Schriftbild auffiel, gewährte mir kurz vor Ende der Unterrichtssequenz auf seine Initiative einen kurzen Blick in sein Lesetagebuch. Voller Stolz, aber kommentarlos präsentierte mir der Schüler seine Einträge, die in einer Schönschrift verfasst waren, die man dem Schüler vorher nicht zugetraut hätte. Erarbeitet man die Inhalte eines Jugendbuchs wie „Norbert Nobody“ unter einer identitätsorientierten Zielrichtung, muss man sich als Lehrkraft der großen Verantwortung bewusst sein, die man zu diesem Zeitpunkt als Leiter des Unterrichtsgeschehens inne hat. Durch die teils sehr persönlichen Schülerbeiträge ist es wichtig, für ein positives und vertrauensvolles Klassenklima zu sorgen, in der man als Schüler keine Angst haben muss, sich mit seinen Gedanken den Kommentaren der Mitschüler zu stellen. Kommt es etwaig zu verurteilenden Bemerkungen durch Mitschüler, ist es die Aufgabe der Lehrkraft, den Jugendlichen die vorher abgesprochenen Spielregeln ins Gedächtnis zurückzurufen. Allerdings kam es auch zu Lesetagebuchergebnissen, die mich persönlich vor eine große Herausforderung stellten. Insbesondere die Beiträge eines Schülers zeigten deutlich, dass das Lesetagebuch bei der identitätsorientierten Auseinandersetzung mit der Lektüre zur Offenlegung eigener Probleme führte. Der Schüler sah Parallelen in der Entwicklung Roberts und seiner eigenen Situation. Die Tatsache, dass er mir das Lesetagbuch nach Abschluss der Lektürebesprechung zum Lesen übergab, obwohl er sich bis dahin mit Lesetagebucheinträgen vor der Klasse völlig zurückgehalten hatte, verdeutlichte mir zum einen, wie wichtig die ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Inhalte der Lektüre für ihn persönlich waren, zum anderen war der mir gewährte Einblick als ein großer Vertrauensbeweis zu verstehen, der mich in die Pflicht nahm (s. Anlage 7): „Genau wie Robert habe auch ich viel Ausdauer. Aber nicht etwa in Sport. Nein, der Beweis ist, dass ich die ersten vier Schuljahre die meiste Zeit davon geschwiegen habe. Vier Jahre lang habe ich Qualen durchlebt. Habe versucht mich durchzuschlagen und ich habe mich wacker geschlagen. Das Resultat: von der 1. Klasse bis zur 4. Klasse war ich fünftbester Schüler unserer Klasse. Und was bin ich jetzt: ein Wrack, ein Nichts. Ich bin kein Held. Nicht so mutig wie Robert. Ich kann nichts. Ich glaube dieses Schuljahr bleibe ich sitzen. Wegen Mathe. [...] Ich bin wahrlich ein Nichts. [...] Ich fühle mich machtlos, machtlos gegenüber meinem Schicksal und niemand kann mir helfen. Seitdem ich in der letzten SA in Mathe eine 6 hatte, ist mein Traum vom Studium erloschen. Mein Leben ist erloschen.“ (Christian*)

Erhält man als Lehrer Einblick in solche Beiträge, ist es natürlich wichtig, das Gespräch unter vier Augen mit dem jeweiligen Schüler zu suchen. Auch wenn Lesetagebucheinträge dieser Art sicherlich eine Ausnahmesituation darstellen, ist es für die Lehrkraft wichtig, sich auf solche Reaktionen seitens der Schüler im Voraus einzustellen, um angemessen reagieren zu können.

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Lesetagebuch als Allzweckwaffe mit Erfolgsgarantie?

Betrachtet man die Lesetagebucheinträge der Schüler (s. Anhang), so ist man zunächst geneigt, die hier formulierte Frage im Sinne eines abschließenden Fazits mit „Ja“ zu beantworten. Allerdings verliert man dabei aus dem Blick, dass ein wirkungsvoller und effektiver Einsatz des Lesetagebuchs von zahlreichen Voraussetzungen abhängig ist. Zum einen ist die Klassensituation zu berücksichtigen. Vom Sozialverhalten der Schüler untereinander hängt maßgeblich die Fähigkeit der Schüler ab, mit den eigenen Anmerkungen im Klassenverband offen umzugehen. Außerdem hat die Lehrkraft die Aufgabe einer angemessenen begleitenden Beratung. Der Organisationsrahmen muss im Vorfeld klar abgesteckt werden. Dem Schüler muss der Ernst und der Anspruch der Methode und des Ansatzes klar gemacht werden, so dass die überlassenen Freiräume bei der Erstellung des Lesetagebuchs nicht zur unbemerkten Arbeitsverweigerung ausgenutzt werden. Der aus meiner Sicht aber wichtigste Aspekt stellt die Lektüreauswahl dar. Aufgrund meiner Beobachtungen komme ich zu dem Ergebnis, dass der Einsatz des Lesetagebuches gerade bei solchen Kinder- und Jugendbüchern Sinn macht, die eine Identifikation des jugendlichen Lesers mit dem Lesestoff und den darin beschriebenen Personen und Handlungsentwicklungen ermöglichen. Dadurch kristallisiert sich recht eindeutig eine sinnvolle Verbindung von Lesetagebuch und identitätsorientiertem Literaturunterricht heraus. Dort, wo der Schüler Persönlichkeitsentwicklungen innerhalb der Literatur erkennt und diese auf sein eigenes Sein projiziert, macht es Sinn, mit dem Lesetagebuch ein Leseverfahren und ein Medium an der Hand zu haben, das es den Schülern in freien und vorgegebenen Schreibarrangements möglich macht, diese Entwicklungen in Ruhe und in einem zugleich intimen wie auch öffentlichen Rahmen zu dokumentieren und somit zu reflektieren. Außerdem bietet das Lesetagebuch auch Jahre nach der Lektürebesprechung die Möglichkeit, diese Entwicklung nochmals Revue passieren zu lassen. Erstaunlich ist es aus meiner Sicht, dass diese sich ergänzende und bereichernde Verbindung von identitätsorientiertem Literaturunterricht und Lesetagebuch in der Deutschdidaktik meines Wissens, jedenfalls in der fachwissenschaftlichen Literatur, noch nicht hinreichend thematisiert worden ist. Letztendlich führt meine Arbeit zu dem Fazit, dass das Lesetagebuch nicht als „Allzweckwaffe“ für einen Erfolg garantierenden Literaturunterricht in der 7. Klasse gesehen werden kann. Es bleibt Aufgabe der Lehrkraft, in Abhängigkeit von der ©deutsch.digitale-schule-bayern.de Autor: Matthias Schneider

Lektüreempfehlungen für den Unterricht Nicky Singer – Norbert Nobody Lektüreauswahl einzuschätzen, ob der Einsatz des Lesetagebuchs sinnvoll ist oder nicht. Die Frage nach der Möglichkeit einer identitätsorientierten Auseinandersetzung kann hier eine viel versprechende Hilfestellung leisten. Die Berücksichtigung von Begriffen wie „Identität“ und „Finden der eigenen Rolle“ im neuen Lehrplan der 7. Jahrgangsstufe (G8) zeigt, welch wichtigen Bestandteil des Deutschunterrichts der identitätsorientierte Literaturunterricht in Zukunft darstellen wird. Demnach wäre es aus meiner Sicht angebracht, das Lesetagebuch als dafür angemessenes Leseverfahren anzuerkennen und verstärkt einzusetzen. Ob

der

Lehrkraft

letztendlich

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erfolgreiche

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von

Lektüre,

identitätsorientiertem Ansatz und Lesetagebuch geglückt ist, zeigt sich spätestens an den Beiträgen der Schüler. Dass dies im Rahmen der Lektürebesprechung von Nicky Singers „Norbert Nobody oder Das Versprechen“ gelungen ist, sollen abschließend zwei Lesetagebucheinträge der Schüler der Klasse 7A belegen (s. Anlage 8 und 9). Der erste Beitrag stammt aus einem Brief, den die Schülerin abschließend an die Person Roberts geschrieben hat:

„Es war, das wollte ich noch sagen, sehr interessant zu sehen, wie deine Gefühle waren. Du gehst offen damit um und das ist einfach eine Sache von Stärke und Selbstbewusstsein. Doch eins möchte ich dir noch sagen: Wie stark und mächtig du auch wirst, werde nicht wie Niker! Du hast mir, durch deine Geschichte, bestimmte Sachen gezeigt, die ich in meinem Leben anwenden möchte, deswegen sage ich dir das, damit ich dir auch etwas geben kann. Das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber es ist so und dafür bin ich dankbar.“ (Kathrin*) „Dieses Buch hat mir beigebracht, dass andere Menschen dich verändern können. Aber sie ändern dich nur, wenn du es selbst willst, von ganzem Herzen. Nach diesem Buch habe ich mich geändert.“ (Christian*)

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