Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren

Nichts als die Welt Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren Nichts als die Welt Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren Herau...
Author: Monika Flater
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Nichts als die Welt Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren

Nichts als die Welt Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren

Herausgegeben und um die »Bibliothek des Reporters« ergänzt von Georg Brunold Begleitet von 12 Photoreportagen aus dem letzten Jahrzehnt

Ve rlag Gal iani B erlin

Meinem Vater Christian und meinem Sohn Christian gewidmet

Inhalt

Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren   15 vorwort

64

  51 tacitus Um 450 v. Chr.

Nero läßt Rom niederbrennen

  21 herodot Die weitaus gelehrtesten Menschen

70

  54 flavius josephus Um 429 v. Chr.

Die Belagerung von Jerusalem

  25 thukydides Perikles spricht zu den Athenern

79

  57 plinius d. j. Um 425 v. Chr.

Der Ausbruch des Vesuvs

  27 hippokrates Fünf Krankheitsgeschichten

173

  60 pausanias Um 401 v. Chr.

Am Weg nach Olympia

  29 xenophon Auf zum langen Heimweg

449

  62 priskos von panion 399 v. Chr.

  32 platon

Zu Gast bei Attila in der Theiß-Ebene

Der Tod des Sokrates 820 202 v. Chr.

  34 polybios

  64 einhard Karls herausragende Statur

Hannibals letzte Chance 936 58 v. Chr.

  37 gaius julius caesar

  66 widukind von corvey

Lektion für die Helvetier bei Bibracte

König Ottos demokratische Krönung

Um 1 A. D.

1077

  48 strabo Babylon einst und jetzt

  68 lampert von hersfeld Heinrich IV. barfuß in Canossa

1204

  70 niketas choniates

1519

104 bernardino de sahagún

Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel

Sie suchen nach dem Gold wie Schweine

1275

1520

  73 marco polo

107 antonio pigafetta

Bei Kublai Khan

Magellan-Straße

1351

1526

  75 francesco petrarca

110 bartolomé de las casas

Gott in Frankreich oder Babel in Avignon

Die Christen in Yucatán

1352

1586

  78 ibn battuta Timbuktu. In der Stadt von Kankan Musa

114 michel de montaigne Konquistadoren 1630

1362

  84 giovanni boccaccio

117 h. j. chr. v. grimmelshausen Der Soldaten böser Brauch

Eine Frau ihrer Zeit um Epochen voraus 1634–1679 1400

  85 ibn khaldun In Damaskus bei Timur, Sultan der Mongolen und Tataren

120 john aubrey Er dachte viel – Thomas Hobbes 1642

123 abel janszoon tasman 1492

  91 christoph kolumbus (cristóbal colón) Um zwei Uhr morgens kam Land in Sicht

Unfreundlicher Empfang vor Neuseeland 1648

125 der münsterische postreuter Westfälische Friedensbotschaft

1501

  93 amerigo vespucci Eine neue Welt – Brief an Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici 1508

  97 niccolò machiavelli

1665

126 daniel defoe Die Pest zu London 1727

136 jonathan swift

Warum Deutsche nicht reich sein müssen

Ein kurzer Überblick über die Lage Irlands

1510

1733

100 leo africanus

140 voltaire

Hospitäler, Bäder, Wirtshäuser in Fes

Die Pockenimpfung

1519

1767

102 hernán cortés Und Moctezuma richtete folgende Worte an mich

142 gotthold ephraim lessing Das Gespenst auf der Bühne

1768

145 louis-antoine de bougainville

1812

181 stendhal

Die Vertreibung der Jesuiten aus Paraguay

Das Große Feuer von Moskau

1770

1814

150 james bruce

183 john lewis burckhardt

Am abessinischen Hof von Gondar

Mit der Sklavenhändlerkarawane nach Nubien

1773

1822

153 georg forster

186 heinrich heine

Ankunft auf O-Tahiti

Polens Weiber

1780

1827

156 guillaume raynal

188 heinrich heine

Die Negersklaven in der Neuen Welt

London

1781–88

1828

159 louis-sébastien mercier

190 heinrich heine

Pariser Stadtansichten

Beim Eidechs in den Apenninen

1782

1830

164 karl philipp moritz

191 ludwig börne

In den Naturmerkwürdigkeiten von Darbyschire

Stadt der Freiheit

1787

1831

167 johann wolfgang von goethe Am Küchentisch bei Tasso und Ariost 1789

169 ludwig von flüe

196 alexis de tocqueville Wie die Amerikaner die Künste pflegen 1832

199 ludwig börne

»Ich habe die Bastille verteidigt«

Magischer Judenkreis

1797

1833

172 mungo park

200 rifa’a al-tahtawi

Mysteriöses Elfenbein

Über die Bevölkerung von Paris

1800

1841

174 alexander von humboldt

204 richard wagner

Caracas – eine Hauptstadt der Neuen Welt

Brief eines deutschen Musikers aus Paris

1804

1845

177 napoleon bonaparte

207 friedrich engels

Ich, der Kaiser – seine Krönung

Konkurrenz der Irländer

1805

1846

179 johann gottfried seume Petersburg

209 henry david thoreau Einsamkeit und Besuch

1848

212 alexander herzen

1883

252 oscar wilde

Brief aus Neapel

Amerikanische Impressionen

1848

1890

215 gottfried keller

255 anton pawlowitsch chechov

Ein wunderlicher erster Mai

Auf der Insel Sachalin

1853

1892

217 richard francis burton

261 paul gauguin

Die Steinigung Satans am Hadsch in Mekka

Meine Frau Tehamana

1853

1896

219 iwan gontscharow

264 dr. karl may

Sturm auf dem Stillen Ozean

Freuden und Leiden eines Vielgelesenen

1860

1898

222 henry mayhew

269 isabelle eberhardt

Londoner Totenjäger und Rattentöter

Zigeunerinnen der Wüste

1863

1899

225 richard francis burton Zan Yanyana oder die Böse Nacht – Menschenopfer in Dahome

270 walther rathenau Die schönste Stadt der Welt 1902

1865

234 walt whitman

272 jack london Abstieg nach East End

Die Ermordung Lincolns 1910 1870

236 william howard russell

276 alfred döblin Das märkische Ninive

Die Schlacht von Sedan 1911 1871

244 henry morton stanley

280 robert walser Tiergarten

»Mr. Livingstone, I presume« 1912 1879

246 robert louis stevenson

281 mr. & mrs. d. h. bishop Im Rettungsboot der Titanic

New York, New York 1912 1879

248 mark twain

283 rosa luxemburg Im Asyl

Zermatt – Lausanne – Chamonix 1915

285 blaise cendrars Der abgerissene Arm

1915

290 b. traven

1929

327 george orwell

Eine wahrhaft blutige Geschichte

Das feine Restaurant

1916

1930

292 alfred h. fried

331 evelyn waugh

Verdun. Die blutigste Schlacht der Geschichte

Die Kaiserkrönung von Haile Selassie

1917

1931

293 john dos passos

340 henri michaux

Eine endlose Kolonne

Ein Barbar in Japan

1917

1933

294 john reed

343 georges simenon

Sturm auf den Winterpalast

Hitler im Fahrstuhl

1918

1933

296 alfred polgar

344 patrick leigh fermor

Kosmopolitisches Wien

Ankunft in Wien

1918

1935

298 konstantin paustowskij

351 claude lévi-strauss

Ein Schrei in der Nacht

São Paulo

1918

1935

300 konstantin paustowskij

354 graham greene

Der Zug nach Odessa

Liberia: Afrika hat das letzte Wort

1918

1935

309 t. e. lawrence

362 peter fleming

Einzug nach Damaskus

Nachrichten aus Sinkiang

1921

1936

311 karl kraus

366 george orwell

Reklamefahrten zur Hölle

Unsere Zivilisation beruht auf Kohle

1926

1936

318 joseph roth

372 janet flanner

Das Völkerlabyrinth im Kaukasus

Hitlers Stimmbänder

1926

1938

321 bernard von brentano

373 fitzroy maclean

Berliner Postämter

Vor Stalins Richtern

1928

1940

323 egon erwin kisch Bei Ford in Detroit

380 karen blixen Deutscher Sinn für Methode

1941

382 jean genet Gefängnisansichten

1946

418 max frisch München kann man sich vorstellen, Frankfurt nicht mehr.

1941

384 ernest hemingway Chinesen bauen einen Flugplatz

1946

420 jean lacouture In Hanoi bei Onkel Ho

1942

386 curzio malaparte Das wahre Gesicht des Nordens

1946

422 wilfred thesiger Durch das Leere Viertel

1943

390 theo findahl Teppichangriff

1947

425 janet flanner Europas größte Ruine

1944

392 arthur koestler Warum Greueltaten nicht geglaubt werden

1949

428 blaise cendrars Die Eroberung von Sigriswil

1944

395 ernest hemingway Wie wir nach Paris kamen

1954

430 elias canetti Die Blinden und der Marabu

1945

399 norman lewis Neapel sehen und sterben

1955

432 wolfgang koeppen Ein Fetzen von der Stierhaut

1945

400 primo levi Pipettenkrieg – Auschwitz, Januar 1945

1958

443 andré malraux Beim Vorsitzenden Mao

1945

402 margret boveri Berlin, Mai 1945. Die Russen marschieren ein

1959

446 gabriel garcía márquez Der Sowjetbürger wird der sozialen Gegensätze überdrüssig

1945

406 martha gellhorn Dachau, Mai 1945

1961

449 hannah arendt Eichmann in Jerusalem

1945

410 marcel junod Hiroshima

1963

458 norman mailer Hat Oswald es getan?

1965

461 truman capote Das Verbrechen

1988

506 christoph ransmayr Der Totengräber von Hallstatt und die ersten Jahre der Ewigkeit

1966

465 günter wallraff Im Akkord

1989

510 cordt schnibben Jedes Pissoir beherrscht

1968

470 michael herr Depeschen aus der Hölle von Vietnam 1973

473 hubert fichte Tausende von Göttern 1973

480 niklaus meienberg Wohnwagenhausen – eine Wochenendgesellschaft am Rhein

1989

513 ian buruma Benazir Bhutto 1989

520 rysza r d kapu sci ´ ´nski Sowjetkommunismus nördlich des Polarkreises 1990

526 timothy garton ash Die Mauer fällt 1990

1975

485 james fenton

532 hans christoph buch Endstation Coca Cola

Der Fall von Saigon 1990 1977

488 v. s. naipaul

534 umberto eco Die achtziger Jahre waren grandios

Im schmutzigen Krieg 1993 1978

490 bruce chatwin

536 peter haffner

Nadesha Mandelstam

Polski Blues. Mit radioaktivem Material in der Westentasche

1981

1993

492 j. r. von salis

542 julian barnes

Update Nahost am Grabe Sadats

Britannias neue BH-Größe

1983

1995

495 hans magnus enzensberger Dolce vita ohne Kleingeld 1988

501 marie-luise scherer Kleine Schreie des Wiedersehens

544 angelika overath Bis ins Mark 1995

549 jan stage Balkan-Tagebuch

1996

2000

553 richard swartz

578 sophia woodman

Stilleben – oder von Kiew nach Rom und zurück

Chinas schmutzige Wäsche 2000

582 navid kermani

1997

560 pedro rosa mendes

In der ländlichsten Hauptstadt der Welt

Nacht in Angola 2000

585 hans magnus enzensberger

1998

563 ilija trojanow

Ach Deutschland!

Hundezeiten 2000

587 karl-markus gauss

1998

564 amitav ghosh

Bártok-Béla-Express

Countdown 2000

589 andreas langenbacher

1999

576 gabriele goettle

Back to the Future – und weit übers 3. Jahrtausend hinaus

Weltsuppentag

Die Photoreportagen   43 philip blenkinsop Im Herzen der Finsternis

313 akinbode akinbiyi Und obendrauf Dörfer

  81 larry towell Ein Tag im September

359 ben bohane Sprung in die Welt

131 jean chung Beschädigtes Leben

413 daniel schwartz Nationen bauen

193 leo rubinfien Eine Art von Normalität

453 gautier deblonde Tauwetter

229 ad van denderen In Europa



277 us military personnel Aberration



523 stephan vanfleteren Das Rennen 555 antonin kratochvil Der Crash

Die Bibliothek des Reporters Ein Werkzeugkasten in 30 Lieferungen und 227 Teilen von Georg Brunold Vorbemerkung Erste Lieferung:

597 im anfang ist unglück, krieg, verbrechen Zweite Lieferung:

599 gut erzählen kann man einem blinden

Dreizehnte Lieferung:

621 alle sind wir fern von hier Vierzehnte Lieferung:

623 sinnliches ist übersinnlich Fünfzehnte Lieferung:

625 welt der inseln Sechzente Lieferung:

Dritte Lieferung:

627 stunde null

601 grosse zeiten jederzeit Siebzehnte Lieferung: Vierte Lieferung:

629 pausenzeichen

603 selber zähne putzen Achtzehnte Fünfte Lieferung:

631 revolutionäre lieferung

606 auf die welt gekommen Neunzehnte Sechste Lieferung:

633 utopische lieferung

607 das gesamte personal Zwanzigste Siebente Lieferung:

635 politische lieferung

609 unentrinnbare gegenwart Einundzwanzigste Achte Lieferung:

637 oder lieferung vom krieg

611 schreiben über schreiben Zweiundzwanzigste Neunte Lieferung:

613 einfühlung und andere perfidien

640 humanitäre lieferung Dreiundzwanzigste, historische Lieferung:

642 die menschheit Zehnte Lieferung:

615 der böse blick

Vierundzwanzigste, zweite historische Lieferung:

645 wurzeln Elfte Lieferung:

617 die emanzipation des tatorts Zwölfte Lieferung:

619 stunde der subjektivität

Fünfundzwanzigste

647 zeitlose lieferung Sechsundzwanzigste

649 religiöse oder doppellieferung

Siebenundzwanzigste

653 (multi)kulturelle oder intolerante lieferung

664 die bücher der bibliothek des reporters



671 register zur bibliothek des reporters

Achtundzwanzigste

655 moralische lieferung Neunundzwanzigste 657 ökolieferung

673 nachweis der texte und abbildungen

Dreißigste

660 indiskrete lieferung

682 dank

Vorwort

R

eisen in der zeit und durch die Zeiten – gegen die Attraktivität des Zeitreisens kommt, bis zur Stunde jedenfalls, auch die Astronautik nicht an. Daran ändert auch die Science-fiction nichts, deren Mittel uns immerhin ermöglichen, die Milchstraße zu verlassen und uns in fremden Galaxien umzuschauen. Nicht zu reden von unserer bemannten Raumfahrt, die bis heute doch ein recht bescheidenes, nicht eben in den Himmel wachsendes Sortiment an Eindrücken und Bildern vom Planeten geliefert hat. Von Zeitreisen kann das keinesfalls behauptet werden. Dieser ganz anders zielende Bewegungsdrang hat zudem nichts von einem müßigen ­Steckenpferd oder gar von einem Luxus für wenige Auserwählte, an den wir keinen Gedanken zu verschwenden bräuchten.

genwartsflüchtige noch Opfer einer Zwangsvorstellung, an den engen Horizonten unserer Jetztwelt könne man sich allenthalben nur den Kopf einrennen. Aber sie sind neugierig. Für sie gibt es kaum ein abgelegtes, archiviertes Thema, jedenfalls kein interessantes. Auch heute fangen sie, da sie nicht anders können, von vorne an, und wieder ist die ganze Welt von neuem zu entdecken. Bestimmt wird, wer auf geistige Belebung Wert legt, von Zeit zu Zeit ans Fenster treten und darf mit der unverbrüchlichen Neugier meiner Großmutter aus Heidenheim darauf vertrauen, daß er – gleich an welcher Ecke der Welt – manches gewahr wird. Dennoch dürfen wir hoffen, daß der Orkus der Tagesaktualität nur wenige von uns zur Gänze verschluckt. Daß wir alle viel Geschichte nötig haben, nicht etwa nur in den Spalten des Feuilletons, sondern dringender noch in der politischen Berichterstattung, liegt auf der Hand. Nur die Türkenherrschaft und der britische Imperialismus vor dem Hintergrund der Kreuzzüge und des Mongolensturms können uns das Gedankengut militanter Islamisten der Gegenwart aufschlüsseln; und diese ihrerseits verstehen unsere Errungenschaften religiöser Toleranz und den liberalen Rechtsstaat mit seinem repräsentativen Parlamentarismus nicht ohne die Französische Revolution und die Magna Charta von 1215. Die Gegenwart ist – mit einem neuen, aus dem Englischen entliehenen Wort – nicht selbsterklärend, und sie hält auch keine Rezepte zur Behebung ihrer Unzulänglichkeiten bereit. Bewegte Zeiten wie die vergangenen zwölf Monate schärfen unseren Sinn dafür. »Je weiter wir zurück schauen, desto weiter können wir nach vorne sehen«, so ein geflügeltes Wort von Churchill. Diese Einsicht ist nicht nur trivial, sondern obendrein so wahr, daß sie jedem Oberstufenlehrplan zugrunde liegt. Doch es wäre etwas zu kurz gegriffen, in der Vergangenheit lediglich eine Verständnishilfe für unsere Gegenwart zu suchen. Denn die Gegenwart besteht

Im Gegenteil: Zeitreisen ist für uns alle eine Über­ lebensnotwendigkeit. Das mag hie und da in Vergessenheit geraten, wenn unsere nächste Umgebung uns zu sehr absorbiert. Doch rechtzeitig werden wir daran ­erinnert, sobald wir wieder einmal einem jener richtig wachen, eigengesetzlichen Köpfe begegnen, deren Einfälle und Entgegnungen sich nicht an unsere Erwartungen halten. Zuverlässig sind sie mit Gedanken zur Stelle, die nicht jedermann zuvor schon ganz vertraut gewesen sind. Wir treffen sie nicht alle Tage, leider sind sie eher Ausnahmeerscheinungen. Doch ihnen ist etwas gemeinsam, und von dieser Regel ist mir bislang keine Ausnahme vorgekommen. In jedem von ihnen steckt eben ein Reisender dieses besonderen Schlags, der mehr noch als im geographischen Raum unentwegt in sämtlichen Zeiten unterwegs ist, tagein, tagaus, ein Leben lang. Vorwärts, rückwärts, seitwärts lesen sie sich unersättlich durch die Weltgeschichte, nicht weil sie alle Antiquare wären oder akademisch ausgewiesene Größen, die zwei zentnerschwere Koffer Bildungsgut von einer Konferenz zur nächsten schleppen. Sie sind weder Ge15

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

aus überhaupt nichts anderem als Vergangenheit, die nirgendwo als in der Gegenwart aufzufinden ist. Für die Zukunft gilt genau dasselbe. Wenigstens bleibt diese sich einstweilen immer gleich, was sich erst ändert, wenn sie erst einmal auf Reichweite unserer Mißhandlungen herangerückt ist. Die Vergangenheit dagegen ist einem immerwährenden Wandel unterworfen. Wie Einstein kurz vor seinem Tod notierte, hat »die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion«. Wie der Kosmos der Physik in Einsteins Gravitationstheorie ist auch die Kultur kein Hier und Jetzt, sondern ein raumzeitlicher – zuallermindest vierdimensionaler – Gegenstand. Im Stelldichein der Zeiten atmet die Welt auf und kommt zu sich. Darauf zählen können auch literarisch durchaus kompromißbereite Romane, etwa über Alexander den Großen oder über die wechselhaften Geschicke Hannibals, über die Völkerwanderungen und den Hunnen Attila, die sich ansehnlicher Auflagen erfreuen. Und gewiß nicht nur Romane: In den ersten Monaten des Jahres 2009 türmten sich im Einkaufszentrum von Nairobi hohe Stapel einer amerikanischen, 1264 Seiten dicken Taschenbuchausgabe von Adam Smiths The Wealth of Nations, und nicht weit davon lag ein kleines Paperback mit dem Titel Payback, das in der hochangesehenen »New York Review of Books« als »der bis jetzt vielleicht substantiellste und aufwühlendste Kommentar zur Wel­t­finanzkrise« gefeiert wurde. Die Autorin Margaret ­Atwood, die sonst mehr mit ihren Romanen und mit ihrer Lyrik hervorgetreten ist, geht in diesem ursprünglich als Vorlesung angelegten Essay nicht nur bis zu den ­alten Römern und Griechen, sondern in das Ägypten der Pharaonen und Pyramiden zurück, legt deren Idee von Ordnung, ihre Bedeutung und Ergiebigkeit für eine in Verlegenheit geratene Nachwelt dar. Noch etwas verbindet die eingangs erwähnten produktiven und findigen Geister, die etwas zu sagen haben, weil ihnen zur gegenwärtigen Lage etwas einfällt, was diese nicht schon ohnehin und ganz von sich aus jedermann vor Augen und zu Gehör bringt. Leider sind sie, wie gesagt, ziemlich rar, was auch ihren persönlichen Umgang mit Artverwandten knapp hält und sie deshalb an Gesprächspartner außerhalb ihres eigenen Lebenskreises verweist, sie oftmals in anderen Jahrhunderten und zwischen anderen ideellen Horizonten Ausschau halten läßt. Von ihren ungezählten und doch nie aus16

reichenden Lektürestunden reservieren sie, außer sie verdienten als Professoren damit ihr Geld, kaum den größeren Teil der Fiction oder jenen Schöpfungen der schriftstellerischen Einbildungskraft, denen wir ehrfürchtig den Titel Literatur zusprechen, wenn nicht vorbehalten. Ihnen muß es eine Selbstverständlichkeit sein, daß die Nonfiction-Literatur, die ja doch einiges älter ist als der moderne Roman der letzten zwei Jahrhunderte, alle Aussichten hat, diesen zu überleben. Kein Wunder also, wenn sie sich auch lesend den nicht geringeren Teil ihrer Zeit in der Tatsachenwelt aufhalten, die an geistigem Nährwert die Schöpfungen unserer Vorstellungskraft noch immer übertrifft. Nicht daß die alte und stets neue Wirklichkeit – und mit ihr die Nonfiction-Literatur – ein exklusives Hoheitsgebiet der Zeitungen und Zeitschriften wäre. Doch die einzige in deutscher Sprache erschienene Sammlung, die mit dem vorliegenden Band eine gewisse Verwandtschaft hat, trägt den Titel Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung. Ihr Erscheinungsjahr war 1923, ihr Herausgeber Egon Erwin Kisch. Seine Anthologie widmete er nicht exklusiv der Reportage, sondern ebenso anderen journalistischen Formen wie dem kommentierenden Leitartikel und der Kritik. Kischs Vor­rede verzichtet auf das Wort »Literatur«, läßt aber keinen Zweifel daran, was den Leser erwartet: nämlich »Hin­gabe an künstlerische Leistung«. Von der Reportage derweil weiß der Brockhaus: »Als neue literarische Gattung ab Ende des 19. Jahrhunderts erreichte die R. ihren ersten großen Höhepunkt bei E. E. Kisch.« Das ist Unfug. Niklas Luhmann rückt in seinem kleinen Buch Die Realität der Massenmedien die Verhältnisse zurecht: »An einer Schlüsselfigur wie Daniel Defoe (1660–1731) kann man ablesen, daß der moderne Roman aus dem modernen Journalismus entsteht«. Zu Defoes Zeiten gab es bereits regelmäßig erscheinende Journale. Aber diese markieren nicht den Anfang der darin gedruckten literarischen Produktion, genauso wenig wie die den modernen Journalismus kennzeichnenden Merkmale der Aktualität und Periodizität eine Textgattung wie die Reportage definieren würden. Die Briefe, die Plinius der Jüngere schrieb und die in der guten Gesellschaft von Sizilien bis zum Comer See, den Kernlanden des Römischen Reichs, zirkulierten, sind noch immer das Modell des »Letter from Baghdad«, des Briefs aus Kabul oder aus Sarajevo, den der »New ­Yorker« druckt und unter der Rubrik »A Reporter at ­Large« ins

vorwort

Inhaltsverzeichnis setzt. »Annals of Crime« war der Rub- Philosophen, der nebenbei in Boston seine Art Gallery rikentitel, unter dem dasselbe Wochenmagazin Truman leitete: »Wir müssen zwischen Kunst und guter Kunst Capotes bahnbrechende Buchreportage In Cold Blood unterscheiden, denn die meiste Kunst ist schlecht.« vorabdruckte. Die Abfassung von Annalen war das Me- Nicht Strickmuster irgendwelcher Art machen aus tier der karolingischen und sächsischen Hofchronisten Journalismus große Literatur, sondern der wunderbare wie vor ihnen der Staatsschreiber in Byzanz. Die Geo- Reichtum an Mitteln und Formen, welcher der Reporgraphen und Geschichtsschreiber der Antike bereiteten tage zu Gebote steht. Sie hat die Freiheit, alle erdenklimit ihren Berichten den Boden der Stammbäume von chen, auch ganz unerforschte Richtungen einzuschlaReiseschriftstellern und Kriegsreportern, die heute auf gen. Von diesem Reichtum und von dieser Freiheit will dem Weg zum Durchbruch als Buchautoren ihre Ho- die vorliegende, überfällige Sammlung etwas in Erinnorare zur Hauptsache von Zeitschriften für gehobene nerung bringen, und sie scheut sich dabei nicht, an die Ansprüche beziehen – so wenigstens in der angelsächsi- Grenzen dessen zu gehen, was guten Glaubens Reporschen Welt. Unter die großen Zeitzeugen mischten sich tage geheißen werden kann. Nicht um ein abgestecktes immer wieder Autoren besonderen Kalibers wie Caesar, Territorium geht es, sondern um Routen und Vehikel, Napoleon oder Churchill, die als herausragende Akteu- die immer wieder ausschwenken, auf nachbarliches Hore der Weltgeschichte schon fast jenseits dieser unter- heitsgebiet übergreifen dürfen, ohne sich in jedem Fall wegs waren und sich nicht mit der Aussicht auf Verewi- sofort zurückzumelden. gung als wetterfeste Statuen zufrieden gaben, sondern Wer eine wahre Geschichte zu erzählen hat, kommt ihr Vermächtnis in der ihnen eigenen Handschrift sel- – Obacht: Fiction! – nicht ohne Einbildungskraft und ber niederlegen wollten. Phantasie vom Fleck. Dafür, daß selbst die Reportage Die Reportage ist eine wahrhaft universelle literari- unweigerlich fabuliert, sorgt ihr Stoff: die Welt, deren sche Gattung. Sie kann und darf fast alles, solange sie Verwicklungen nicht hinter jenen einer Detektivgevom Tathergang und der Sachlage, von denen darin die schichte zurückstehen. Was wir von ihr wissen, ist nur Rede ist, nicht schon lückenlose Kenntnis voraussetzt. im selteneren Fall das Wichtigste; oft ist ungleich folDer Erzähler ist (obwohl es sogar davon Ausnahmen genreicher, was sich unserem Wissen entzieht. Zwar gibt) ein Augenzeuge. Er hat den Leser auf die Bühne der nicht auf Fragen, aber eben deshalb auf Allwissenheit dramatischen Verstrickungen zu führen und mit den verzichtend, tappt der Autor über weite Strecken im Helden auf Sicht- und Hördistanz zu bringen. Doch das dunkeln, ermittelt und mutmaßt ebenso unerschrocken heißt keineswegs, daß er nur schauen, hören und mit sei- wie umsichtig und wohlüberlegt, selten jedoch unfehlnen Protagonisten sprechen dürfte. Hat er dafür gute bar geradewegs aufs Ziel hinsteuernd. Wir befinden uns Gründe, mag er sich handgreiflich ins Geschehen einmi- auf sumpfigem Gelände, und genau das ist es, was uns schen. Aber auch denken darf er. In einer Reportage ist in Bewegung hält! kein Maß an Gedankenarbeit verboten, solange diese für Nie ist Literatur die wirkliche Welt noch einmal, die den Leser verdaulich bleibt und ihn fesselt. Wird die den- als niedergeschriebene vollends ungenießbar wäre. Im kende Reportage unter der Hand zum Essay, um so schö- guten Fall, ob im Roman oder in der großen Reportage, ner für sie und für den Leser. Die auf Redaktionen heilige führt sie uns in eine gestaltete, hervorgebrachte, sicht– und oft heillos mißverstandene – Trennung von Bericht bar gemachte Welt, die uns zuvor nicht vertraut war. und Kommentar ist in der Reportage völlig fehl am Platz. Endlich öffnete sie sich unserem Blick – dank der schöpJeder anständige Text macht Stellungnahmen als solche ferischen Kraft von Autoren und Künstlern, die in den kenntlich. Inque meo nullum carmine crimen erit – »und in Zeiten unterwegs sind und diese mit ihnen. meinem Gedicht wird kein Verbrechen sein«. Das VerEine weite Reise war es, von Herodot mit 154 Aubrechen nämlich ist der Betrug, nicht die engagierte Mei- toren durch 164 Textauszüge bis ins Jahr 2000. Und, nung, so will es schon die Liebeskunst des Ovid; und in back to the future, mit Nostradamus bis weit über das aller wahren Liebe geht es einzig um Heimlichkeiten, die dritte Jahrtausend hinaus ... – nachdem uns zwölf Foto­ unter erwachsenen Menschen erlaubt sind. strecken noch einmal für einige elementare Augen­blicke Nicht bloß für journalistische, sondern für alle Lite- in unserer fliehenden Jetztzeit eingefangen haben. Da­ ratur gilt das Wort von Nelson Goodman, dem Harvard- niel Schwartz, als Bildredakteur zu Gast, kann dafür 17

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

einstehen: Reportage ist auch Photographie – und Photographie Reportage. Die Genrebezeichnung steht nicht zuletzt für die moderne Verbindung von gedrucktem Wort und Bild, mit der vor wenig über hundert Jahren wenn nicht unsere Gegenwart, so jedenfalls die Zeitgeschichte begonnen hat. Für mich begann die große Fahrt vor etlichen Jahren und war bis heute unter vielen Reisen meine längste. Sie führte über alle Ozeane und mehrmals um die Welt, aber dennoch bleibt der Leser der Führung europäischer Begleiter und Verwandter jenseits des Atlantiks anvertraut. Hinzu kommen einige wenige Gastspiele überlebensgroßer Nachbarn von der Südküste des Mittelmeers. ­Alles übrige hätte sogar dieses Buchformat gesprengt.

Weisen des Glücklichseins nannte Borges das Lesen. Glücklich sein können wir nicht zuletzt in den zahlreichen Begegnungen mit deutschen und deutsch schreibenden Meistern, deren Mitwirkung der Presse einst willkommen war. Heute ist diese zu sehr vom Tagesgeschäft in Dienst genommen, um sich noch die Flügel der Unsterblichen auszuleihen, und deshalb ist auch die Förderung möglicher Anwärter auf deren Nachfolge für die gegenwärtigen Medien keine Priorität. So kommt es, daß wir dem Mittelpunkt der Welt womöglich nirgends näher sind als bei Goethe – in seiner Gondel auf dem Canale Grande von Venedig.

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Georg Brunold, Nairobi im März 2009

Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren

Um 450 v. Chr.

herodot Die weitaus gelehrtesten Menschen Herodot (ca. 490–ca. 425 v. Chr.) wird nicht von ungefähr Vater der europäischen Geschichtsschreibung geheißen: Er ist der Erfinder der Chronologie als Ordnungsprinzip seiner Berichte. Der Reisende, der in Asien und Afrika eine immense Bildung erwirbt, führt als Augenzeuge, der ›ich‹ sagt, den Leser zum Tatort.

J

etzt gehe ich dazu über, ausführlicher über Ägypten zu berichten, weil es sehr viel Wunderliches und Werke aufweist, die man in ihrer Größe kaum schildern kann im Vergleich zu jedem anderen Land. Darum will ich das Land etwas genauer beschreiben. Wie der Himmel bei den Ägyptern anders ist als in anderen Ländern, der Strom sich anders verhält als die anderen Flüsse, so stehen auch die Sitten und Bräuche der Ägypter größtenteils in allen Stücken im Gegensatz zu denen der übrigen Völker. Bei ihnen gehen die Frauen auf den Markt und betreiben Handel, während die Männer zu Hause sitzen und weben. Die anderen Völker schlagen beim Weben den Einschlag von oben nach unten, die Ägypter tun es umgekehrt. Die Männer tragen die Lasten auf dem Kopf, die Frauen auf den Schultern. Den Urin lassen die Frauen im Stehen und Männer im Sitzen. Ihre Notdurft verrichten sie in den Häusern, das Essen nehmen sie draußen auf der Straße ein. Dafür geben sie als Grund an: das Häßliche, aber Notwendige, müsse man im Verborgenen tun, das nicht Häßliche offen. Keine Frau versieht ein Priesteramt, nicht bei männlichen und nicht bei weiblichen Gottheiten. Bei den Söhnen besteht, wenn sie es ablehnen, keine Verpflichtung zur Fürsorge für die Eltern. Aber für die Töchter besteht volle Verbindlichkeit, auch wenn sie nicht wollen.

Schande, davon zu leben. Man bäckt das Brot aus Dinkel, den andere Spelt nennen. Sie kneten den Mehlteig mit den Füßen, den Lehm mit den Händen. (Auch den Mist sammeln sie mit den Händen auf.) Andere Völker lassen die Geschlechtsteile wie sie sind; nur die Ägypter und, die es von ihnen gelernt haben, beschneiden sie. Die Männer tragen zwei Kleidungsstücke, die Frauen jede nur eins. Die Segelringe und Segeltaue binden die anderen von außen an die Schiffswände, die Ägypter von innen. Die Griechen schreiben Buchstaben und rechnen mit Zählsteinchen, indem sie die Hand von links nach rechts führen, die Ägypter von rechts nach links. Dabei behaupten sie, sie schrieben nach rechts und die Griechen nach links. Sie benutzen zwei Arten von Buchstaben; die eine heißt die heilige, die andere die gewöhnliche Schrift für das Volk. Sie sind sehr gottesfürchtig, mehr als andere Menschen. Sie pflegen auch noch diese Bräuche: Sie trinken aus ehernen Bechern, die sie jeden Tag ausspülen; das tun alle ohne Ausnahme. Sie tragen stets frischgewaschene Leinenkleider; darauf achten sie genau. Die Geschlechtsteile beschneiden sie aus Reinlichkeit; sie schätzen Reinlichkeit höher als Anstand. Die Priester rasieren sich alle drei Tage den ganzen Körper, damit sich bei ihnen, den Dienern der Götter, keine Laus oder anderes Ungeziefer einnisten kann. Die Priester tragen nur Leinenkleidung und Sandalen von der Byblosstaude. Andere Kleidung oder anderes Schuhwerk dürfen sie nicht gebrauchen. Sie baden zweimal am Tage und zweimal in der Nacht in kaltem Wasser. Sie pflegen noch zahlreiche andere fromme Bräuche, um es kurz zu machen. Freilich genießen sie auch nicht wenige Vorteile. Sie brauchen ihr Privatvermögen nicht anzurühren und aufzuwenden, sondern bekommen das hei-

Anderswo tragen die Priester der Götter langes Haar, aber in Ägypten scheren sie es ab. Bei Trauer um die nächsten ­Angehörigen haben die anderen Völker die Sitte, den Kopf geschoren zu tragen. In Ägypten läßt man, wenn jemand stirbt, Haupthaar und Bart wachsen, während man sich sonst schert. Andere Völker leben zusammen. Die anderen nähren sich von Weizen und Gerste ; in Ägypten gilt es als große 21

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

lige Brot, das man für sie bäckt. Außerdem erhalten sie täglich reichlich Rind- und Gänsefleisch, dazu Wein vom Weinstock. Fische dürfen sie nicht genießen. Die Ägypter stecken nicht viele Bohnen; sie essen solche weder roh noch gekocht. Die Priester ertragen nicht einmal den Anblick von Bohnen, weil ihrer Meinung nach Hülsenfrüchte etwas Unreines sind. Jeder Gott hat dort nicht einen, sondern viele Priester, von denen einer der Oberpriester ist. Stirbt ein Priester, tritt sein Sohn an die Stelle. Als erste von allen Menschen veranstalteten die Ägypter heilige Feste, Umzüge und Opferdarbietungen. Die Griechen lernten sie von ihnen. Dafür ist mir ein Beweis, daß diese ­Feste in Ägypten schon ziemlich alt sind, während sie in Griechenland erst neuerdings gefeiert werden. Nicht nur einmal im Jahre feiern die Ägypter diese großen Feste, sondern sehr oft. Am häufigsten und liebsten versammelt man sich in der Stadt Bubastis zu Ehren der Artemis, an zweiter Stelle in Busiris zu Ehren der Isis. In dieser Stadt steht der größte Isistempel. Dazu liegt diese Stadt Ägyptens mitten im Delta. Isis ist der ägyptische Name für Demeter. An dritter Stelle feiert man ein solches Fest in der Stadt Saïs zu Ehren der Athene, an vierter in Heliopolis für Helios, an fünfter in der Stadt Buto für Leto, an sechster in der Stadt ­Papremis für Ares. Wenn sie nach Bubastis fahren, verläuft die Feier so: Eine große Volksmenge, Männer und Frauen gemeinsam, fahren in jedem Kahn. Einige Frauen haben Rasseln, mit denen sie Lärm machen; die Männer spielen während der ganzen Fahrt auf der Flöte. Die übrigen Leute singen und klatschen in die Hände. Fahren sie an einer Stadt vorbei, lenken sie ihr Schiff ans Ufer und benehmen sich so: Einige Frauen handeln, wie erzählt, andere rufen die Frauen dieser Stadt heraus und ­necken sie, wieder andere tanzen, andere stehen auf und heben ihre Kleider in die Höhe. Das wiederholt sich bei jeder Stadt, die am Flusse liegt. Wenn sie nach Bubastis kommen, begehen sie ihr Fest unter großen Opfern. Dabei wird in diesen Tagen mehr Wein vom Rebstock verbraucht als im ganzen übrigen Jahr. Die Zahl der Gäste, Männer und Frauen außer Kindern, beträgt sogar bis zu 700 000, wie die Einheimischen erzählen. So geht es in Bubastis zu. Von dem Isisfest in Busiris habe ich früher schon erzählt. Nach dem Opfer schlagen sich alle Männer und Frauen, viele Zehntausende von Menschen. Weswegen sie das tun, darf ich nicht sagen. Die Karer, die in Ägypten ansässig sind, tun darin noch viel mehr; sie zerschneiden sich die Stirn mit ­Messern; und dadurch wird klar, daß sie Fremde, keine Ägypter sind.

Wenn man sich in Saïs zum Fest versammelt, zünden alle in einer Nacht viele Lampen an und stellen sie unter freiem Himmel rings um die Häuser. Die Lampen sind flache Gefäße, mit Salz und Öl gefüllt, und obenauf schwimmt ein Docht. Sie brennen die ganze Nacht, und das Fest heißt das Lampenfest. Ägypter, die am Fest nicht teilnehmen können, halten diese Opfernacht ein und zünden gleichfalls alle Lampen an. So brennen diese nicht nur in Saïs, sondern in ganz Ägypten. Warum diese Nacht mit soviel Licht und Festlichkeit begangen wird, darüber wird eine heilige Sage erzählt. Nach Buto und Heliopolis geht man und bringt nur Opfer. In Pampremis pflegen sie die heiligen Bräuche wie auch anderwärts. Wenn sich die Sonne zum ­Untergang neigt, bemühen sich ein paar Priester um das Götterbild, die Mehrzahl aber steht mit Holz­knütteln bewaffnet an der Tempeltür. Ihnen gegenüber sieht man einen Haufen von mehr als tausend Männern, die ein Gelübde zu erfüllen haben, auch sie mit Knüppeln bewaffnet, in dichter Schar. Sie bringen das Götterbild in einem kleinen vergoldeten Gehäuse aus Holz schon am Tage hervor in ein anderes heiliges Gebäude. Die wenigen Priester, die noch um das Bild beschäftigt sind, ziehen nun das Götterbild mit dem Gehäuse auf einem vierrädrigen Karren herbei; die andern Priester, die sich draußen vor der Tür aufhalten, verwehren ihnen den Eintritt. Doch alle, die das Gelübde getan haben, kämpfen für den Gott und schlagen auf die andern ein, die sich wehren. Es kommt zu einem heftigen Kampf mit den Holzkeulen. Sie schlagen sich die Köpfe ein, und ich glaube, viele sterben sogar an den Wunden. Die Ägypter leugnen allerdings, daß es dabei Tote gibt. Über die Entstehung dieses Festbrauches erzählt man in jener Gegend folgendes: In diesem Tempel wohnte die Mutter des Ares; aber Ares wuchs fern von der Mutter auf. Als er später die Mutter besuchte und sich mit ihr vermählen wollte, verwehrten ihm die Diener, die ihn vorher nie gesehen hatten, den Einlaß und hielten ihn zurück. Da holte er aus einer anderen Stadt Männer heran, richtete die Diener übel zu und ging zur Mutter hinein. Von daher also soll diese Schlägerei stammen, die dem Ares zu Ehren an seinem Feste stattfindet. Die Ägypter beachten auch als erste die Sitte, sich nicht im Tempelbezirk zu begatten oder ungewaschen nach dem Beischlaf in den Tempel zu gehen. Außer den Ägyptern und Griechen begatten sich fast alle Völker im heiligen Gebiet und gehen nach dem Beischlaf, ohne zu baden, in den Tempel. Sie halten den Menschen eben für nichts anderes als die übrigen Tiere. Man sehe ja schließlich auch die anderen Lebewesen, die Tiere und die Scharen von Vögeln, sich in Got22

um 450 v. chr. – herodot – die weitaus gelehrtesten menschen

teshäusern und Tempelbezirken vereinen. Wenn es der Gottheit nicht recht sei, dürften es ja schließlich auch die Tiere nicht tun. Das sagen sie zu ihrer Entschuldigung, mir gefällt es allerdings nicht. Über das Krokodil ist folgendes zu sagen: In den vier Wintermonaten frißt es gar nichts; obwohl ein Vierfüßler, ist es Wasser- und Landtier zugleich. Es legt Eier auf dem Lande, brütet sie aus und lebt den größten Teil des Tages auf dem Trockenen, die ganze Nacht aber im Fluß; denn das Wasser ist wärmer als Nachtluft und Tau. Von allen uns bekannten Lebewesen ist keines am Anfang so klein und wird dann so groß wie ein Krokodil. Die Eier, die es legt, sind nicht viel größer als Gänseeier, und die Länge des Jungen entspricht der Größe des Eies. Wenn es aber wächst, wird es gar an 17 Ellen lang und noch größer. Es hat Augen wie ein Schwein, Zähne und Hauer entsprechen der Körpergröße. Als einzigem Tier wächst ihm keine Zunge. Es bewegt auch den Unterkiefer nicht, sondern führt als einziges Tier den Ober- an den Unterkiefer. Es hat scharfe Krallen und auf dem Rücken eine undurchdringliche Schuppenhaut. Im Wasser ist es blind, außerhalb des Wassers sehr scharfsichtig. Weil es im Wasser lebt, strotzt sein Rachen im Innern von Blutegeln. Alle anderen Vögel und Tiere fliehen das Krokodil, nur der Strandläufer lebt mit ihm in Frieden, da er ihm nützlich ist. Wenn das Krokodil nämlich aus dem Wasser an Land steigt und den Rachen aufsperrt – dabei wendet es sich in der Regel nach Westen –, hüpft der Strandläufer in seinen Rachen und frißt die Blutegel; über diese Wohltat freut sich das Krokodil und tut dem Strandläufer nichts Böses. Bei einigen Ägyptern gelten Krokodile als heilig, bei andern wieder nicht; von diesen werden sie sogar als Feinde ­verfolgt. Die Leute um Tibet und den Moirissee halten sie sogar in besonderem Maße für heilig. Dort wird je ein Kro­kodil gezähmt, gefüttert und abgerichtet, daß man es mit der Hand berühren kann. Es wird mit Ohrgehänge aus Glas und Gold geschmückt und bekommt Ringe um die Vorderfüße; vorgeschriebene Speisen und Opfer werden ihm gereicht, und sein ganzes Leben hindurch wird es aufs beste gehalten. Stirbt so ein Krokodil, so balsamiert man es ein und begräbt es in einem heiligen Sarg. Die Leute um die Stadt ­Elephantine halten Krokodile nicht für heilig, sondern essen sie sogar. Man nennt sie dort auch nicht Krokodile, sondern Champsai. Der Name Krokodil kommt von den Ioniern, weil sie das Aussehen mit den bei ihnen in Dornhecken lebenden ­Eidechsen vergleichen. Man fängt die Krokodile auf vielerlei verschiedene Art: Ich will hier nur die Methode beschreiben, die mir am mei-

sten erzählenswert erscheint. Man befestigt einen Schweinerücken als Köder an einer Angel und läßt ihn mitten in den Strom hinab. Der Angler steht am Ufer mit einem lebenden Ferkel und schlägt es. Wenn das Krokodil das Quieken hört, folgt es dem Ton, findet dabei den Schweinerücken und verschlingt ihn. Nun ziehen es die Leute ans Land. Dort verklebt der Angler zuallererst die Augen des Tieres mit Lehm. Ist ihm das gelungen, kann er das Krokodil im übrigen leicht überwältigen; sonst aber hat man große Mühe damit. Die Ägypter, die im bebauten Teil des Landes wohnen, pfle­gen die Erinnerung an die Vergangenheit am meisten von allen Menschen. Sie sind weitaus die gelehrtesten Leute, die ich kennengelernt habe. Ihr Leben gestalten sie folgendermaßen: Jeden Monat nehmen sie an drei Tagen hintereinander Abführmittel und erhalten sich durch Brechmittel und Klystiere ihre Gesundheit. Sie meinen nämlich, alle menschlichen Krankheiten rühren von den Speisen her, die man genießt. Die Ägypter sind sonst nach den Libyern die gesündesten Menschen. Das liegt meiner Meinung nach am Klima, da die Jahreszeiten nicht wechseln. Veränderungen bringen den Menschen die meisten Krankheiten, besonders der Wechsel der Jahreszeiten. Ihr Brot backen die Ägypter aus Dinkel; es heißt bei ihnen Kyllestis. Bier bereiten sie aus Gerste. In Ägypten gibt es keine Weinstöcke. Fische werden an der Sonne getrocknet und roh gegessen, oder man salzt sie ein. Vögel, z. B. Wachteln, Enten und kleine Arten, ißt man roh, nachdem man sie vorher eingesalzen hat. Alle anderen Vogel- und Fischarten außer denen, die sie für heilig halten, essen die Ägypter gebraten oder gekocht. Beim Gastmahl der Reichen trägt nach dem Essen ein Mann ein hölzernes Leichenbild in einem Sarg umher. Es ist vollendet geformt und gemalt und im ganzen ein bis zwei Ellen lang. Der Träger hält es jedem Zechgenossen vor und sagt: »Schau ihn dir an! Dann trink und sei fröhlich! Wenn du tot bist, wirst du auch so aussehen.« Solche Sitten pflegen sie bei ihren Gelagen. Sie halten nur einheimische Bräuche, fremde lehnen sie ab. Neben anderen merkwürdigen Sitten kennen sie auch nur ein Lied, das Linoslied, das man in Phoinikien, auf Kypern und anderwärts singt. Allerdings trägt es bei jedem Volk einen anderen Namen. Es ist genau die gleiche Weise, die die Griechen als Linos singen; ich wundere mich über vieles andere, was ich in Ägypten gesehen habe, besonders aber darüber, woher sie dieses Linoslied haben. Offenbar singen sie es schon von alters her. Bei den Ägyptern heißt Linos Maneros. Sie erzählen, Maneros sei der einzige Sohn des ersten ägyp23

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

tischen Königs gewesen, und sein früher Tod sei von den Ägyptern durch das Klagelied gefeiert worden. Daraus entstand ihre erste und einzige Weise. Auch etwas anderes noch haben die Ägypter mit den Griechen – allerdings nur mit den Lakedaimoniern – gemeinsam. Wenn junge Leute älteren begegnen, machen sie diesen Platz und lassen sie vorbeigehen; sie stehen auch bei ihrem Kommen von den Sitzen auf und bieten sie ihnen an. Folgendes dagegen haben sie mit keinem Griechenstamm gemeinsam: Statt einander auf der Straße anzureden, verbeugen sie sich tief und senken dabei die Hand bis zu den Knien hinab. Sie tragen ein leinenes Unterkleid, um die Schenkel herum mit Fransen besetzt, das sie Kalasiris nennen. Darüber legen sie ein weißes wollenes Überkleid; dieses nimmt man allerdings nicht mit in den Tempel und begräbt auch niemanden darin; denn es ist verboten. Darin stimmen sie mit den sogenannten orphischen und bakchischen Mysterien überein, die ägyptisch und pythagoräisch sind. Bei den Mitgliedern dieser Geheimkulte gilt es als Sünde, jemanden in wollenen Gewändern zu begraben. Auch darüber gibt es eine heilige Sage. Noch etwas anderes ist von den Ägyptern erfunden worden, nämlich, welchen von den einzelnen Göttern jeder Monat und Tag heilig ist, welches Schicksal, welches Ende und welchen Charakter die an einem bestimmten Tag Geborenen besitzen werden. Dies haben auch die griechischen Dichter übernommen. Die Ägypter entdeckten viel mehr Vorzeichen als alle anderen Menschen. Wenn nämlich etwas Merkwürdiges geschieht, geben sie acht und schreiben den Ausgang der Sache auf. Bei einem ähnlichen Vorfall in späteren Zeiten glauben sie dann, es müßten wieder die gleichen Folgen eintreten. Mit der Seherkunst hält man es bei ihnen so: Kein einziger Mensch ist dort im Besitze dieser Gabe; nur ­einige Götter haben sie. So gibt es dort Orakelstätten des Herakles, des Apollon, der Athene, der Artemis, des Ares, des Zeus. Die höchste Achtung genießt das Orakel der Leto in Buto. ­Allerdings ist die Art der Orakelverkündung nicht überall die ­gleiche, sondern verschieden.

stirbt, bestreichen sich sämtliche weiblichen Mitbewohner den Kopf und das Gesicht mit Lehm. Sie ­lassen die Leiche im Haus liegen und laufen aufgeschürzt und mit entblößter Brust durch die Stadt und schlagen sich. Alle weiblichen Verwandten schließen sich ihnen an. Dann bringt man die Leiche zur Einbalsamierung. Es gibt eigens Leute, die sich zu diesem Gewerbe niedergelassen haben und die Kunst berufsmäßig ausüben. Sie zeigen denen, die den Toten bringen, hölzerne Musterstücke von Leichen in Malerei zur Auswahl vor. Ich halte es aus religiösen Gründen nicht für statthaft, bei der teuersten Malerei den Namen des dabei dargestellten zu nennen. Sie zeigen dann auch noch eine zweite, die geringer ist und billiger als die erste. Die dritte Methode ist die billigste. Dann fragen sie, nach welcher Art man den Leichnam behandelt sehen möchte. Hat man den Preis vereinbart, gehen die Angehörigen heim, und jene bleiben im Geschäft und machen sich sorgfältig an die Einbalsamierung. Zuerst ziehen sie mit einem gekrümmten Eisendraht das Gehirn durch die Nasenlöcher heraus, genauer gesagt, nur einen Teil davon; den Rest beseitigen sie, indem sie auflösende Flüssigkeiten eingießen. Danach schneiden sie mit einem scharfen aithiopischen Stein den Leib in den Weichen auf und nehmen das ganze Innere heraus. Es wird mit Palmwein gereinigt und mit zerriebenen Spezereien durchspült. Darauf füllen sie die Bauchhöhle mitreiner zerriebener Myrrhe, mit Kasia und den übrigen Spezereien, aber nicht mit Weihrauch. Nun nähen sie alles wieder zu und legen die Leiche 70 Tage ganz in Natronlauge. Länger darf die Beizung nicht dauern. Nach 70 Tagen wird der Körper gewaschen, mit Streifen von Leinwand aus Byssos rings umwickelt und mit Gummi bestrichen, den die Ägypter an Stelle von Leim verwenden. Nun holen die Angehörigen die Leiche ab, zimmern einen hölzernen Sarg in Menschen­ gestalt und schließen den Körper ein. Die so eingesargte Leiche bergen sie in der Familiengrabkammer, aufrecht an die Wand gelehnt. Das ist die Art, die Leichen auf die teuerste Weise zu behandeln. Wer die zu hohen Kosten scheut und die mittlere Einbalsamierung vorzieht, den bedient man folgendermaßen: Man füllt die Klystierspritze mit Zedernöl und führt das Öl in den Leib der Leiche ein, ohne ihn aufzuschneiden und die Eingeweide herauszunehmen. Man spritzt es durch den ­After hinein und verhindert den Ausfluß. Dann wird die Leiche die vorgeschriebenen Tage über in Natron gelegt. Am letzten Tag läßt man das vorher eingeführte Zedernöl wieder heraus; es hat eine so große Kraft, daß Magen und Eingeweide aufgelöst und mit herausgespült werden. Das Fleisch wird durch die Natron-

Die ärztliche Kunst ist so unter ihnen aufgeteilt: ­Jeder Arzt ist nur für eine einzige Krankheit zuständig, nicht für mehr. Es gibt eine Unzahl von Ärzten. Da sind Ärzte für die Augen, für den Kopf, für die Zähne, für den Unterleib und für innere Krankheiten. Totenklage und Begräbnis begeht man bei ihnen in folgender Weise: Wenn in einem Haus ein angesehener Mann 24

um 429 v. chr. – t h u k y d i d e s – perikles spricht zu den athenern

lauge zersetzt, so daß an der Leiche nur Haut und Knochen übrigbleiben. Nach dieser Behandlung gibt man den toten Körper zurück, ohne noch etwas daran zu tun. Die dritte Einbalsamierungsart, die nur die Armen interessiert, ist folgende: Der Leib wird mit Rettichöl ausgespült und die Leiche dann die 70 Tage eingelegt. So wird sie zum Abholen zurückgegeben. Die Frauen angesehener Männer schickt man nicht sofort nach dem Tode zur Einbalsamierung, auch nicht schöne Frauen oder solche aus besserem Hause. Man übergibt sie erst drei oder vier Tage nach dem Tode den Balsamierern.

Das tut man, damit sich diese Leute nicht an den Verstorbenen vergehen. Man erzählt, es sei einmal einer ertappt worden, der sich an einer frischen ­Leiche einer Frau verging; ein Zunftgenosse habe ihn angezeigt. Wenn ein Ägypter oder ebenso ein Fremder durch ein Krokodil geraubt wird oder offenbar durch den Fluß selbst zu Tode gekommen ist, müssen ihn die Einwohner der Stadt, bei der er an Land getrieben worden ist, einbalsamieren, aufs schönste schmücken und an geweihter Stätte bestatten lassen. Die Priester des Nilgottes begraben ihn selbst, indem sie Hand anlegen, als wäre er mehr als ein Mensch.

Um 429 v. Chr.

thukydides Perikles spricht zu den Athenern

»

Bei Thukydides (ca. 460 – nach 400 v. Chr.) wird – von ihm selber und von seinen Protagonisten – nicht nur zu den eigenen Landsleuten, sondern zugleich über diese gesprochen. Der Berichtende kalkuliert die psychologische Wirkung und eignet sie sich an, wenn Perikles vor den Athenern steht.

für die ehre, die unsere stadt ihrer Machtstellung verdankt, auf die ihr euch soviel zugute tut, müßt ihr natürlich alle Kraft einsetzen und keine Beschwerden scheuen, solange ihr überhaupt noch Wert auf Ehre legt. Glaubt nicht, daß es sich in diesem Kampf einzig und allein um Knechtschaft oder Freiheit handelt; es handelt sich auch um den Verlust eurer Herrschaft und um die gefährlichen Folgen des Hasses, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen habt. Und diese aufzugeben, seid ihr gar nicht mehr in der Lage, sollte auch dieser oder jener dunkle Ehrenmann unter den jetzigen Umständen um des lieben Friedens willen dazu raten. Denn sie ist längst Gewaltherrschaft geworden, die an sich zu ­reißen unrecht sein mag, aber wieder aufzugeben gefährlich ist. Solche Schwachköpfe mit ihrem guten Rat würden ein Gemeinwesen bald genug zugrunde richten, wenn sie in die Lage ­kämen, es auf ihre Weise zu regieren. Denn mit Friedensliebe um jeden Preis, der keine Tatkraft zur Seite steht, kommt man nicht durch; jedenfalls schickt sie sich nicht für eine Großmacht, sondern höchstens für einen Vasallenstaat, wo man nichts weiter verlangt als ein knechtisches Stilleben.

Laßt euch also durch solche Spießbürger nicht irremachen und seid mir, mit dem ihr ja selbst für den Krieg gestimmt habt, nicht böse, wenn die Feinde uns jetzt ins Land gekommen sind und es nur gemacht haben, wie eben nicht anders zu erwarten war, wenn wir nicht zu Kreuze kriechen wollten. Dazu ist dann unerwartet noch die Pest gekommen, allerdings ein schweres Leiden, aber auch das einzige, worauf wir nicht gefaßt sein mußten. Ich weiß auch, daß ich ihretwegen noch besonders gehaßt werde, aber sehr mit Unrecht; ihr müßtet es denn auch mir zuschreiben, wenn euch mal ein unerwartetes Glück in den Schoß fiele. Was die Götter schicken, muß man mit Ergebung, was der Krieg bringt, mannhaft ertragen. So hat man die Sache hier in Athen immer angesehen, und so laßt es auch ferner bleiben. Unsere Stadt hat ja eben deshalb in der Welt den großen Namen, weil sie sich dem Unglück nie gebeugt und im Kriege weder Opfer an Menschenleben noch Beschwerden gescheut hat und dadurch eine Macht geworden ist, wie sie bis dahin denn noch nie dagewesen ist. Und so wird sie auch für immer im Gedächtnis der Nachwelt fortleben, sollte es auch 25

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

wirklich jetzt mit uns zurückgehen; denn die Bäume wachsen nun einmal nicht in den Himmel. Haben wir doch als Griechen über die meisten Griechen geherrscht, sowohl der Gesamtheit wie den einzelnen in gewaltigen Kriegen widerstanden und unsere Stadt groß und blühend gemacht wie keine andere. Schlafmützen freilich werden davon nichts hören wollen; wer sich aber fühlt und es selbst zu etwas bringen will, wird uns nacheifern, und wenn ihm das nicht gelingt, uns wenigstens beneiden. Und wenn man uns jetzt haßt und gern los sein möchte, so ist das noch allen so gegangen, die das Zeug in sich fühlten, über andere zu herrschen. Wer aber um den Preis von Ruhm und Größe auch Haß und Neid in Kauf nimmt, macht kein schlechtes Geschäft; denn Haß währt nicht lange, der große Name aber, wenn man ihn mal hat, ist unsterblich. Nehmt also im voraus darauf Bedacht, was euch künftig Ehre und gegenwärtig keine Schande machen wird, und strebt danach, daß euch beides zuteil werde. Laßt euch mit den Lakedämoniern auf keine Verhandlungen ein, damit es nicht aussieht, als ob euch die jetzigen Beschwerden zuviel würden. Je weniger man im Unglück den Mut verliert, je steifer man den Nacken hält, um so besser wie für die einzelnen, so für die Staaten.« Durch solche Vorstellungen suchte Perikles den Unwillen der Athener zu beschwichtigen und sie über ihre Lage zu beruhigen. Politisch handelten sie auch nach seinem Rat, indem sie nicht wieder nach Lakedämon schickten und den Krieg mit neuem Eifer betrieben; die einzelnen aber trugen immer noch schwer an ihren Leiden: der kleine Mann, weil ihm auch sein weniges draufgegangen war; die Reichen weil sie ihre schönen Besitzungen auf dem Lande, ihre Häuser und kostbaren Einrichtungen dort verloren hatten; hauptsächlich aber, weil Krieg und kein Friede war. So murrte man immer noch auf ihn und ruhte nicht, bis man ihn wirklich zu einer Geldstrafe verurteilt hatte. Nicht lange danach freilich – so ist die Menge – wählte man ihn dann doch wieder zum Feldherrn und stellte ihn an die Spitze der Geschäfte, teils weil die einzelnen sich über ihre Verluste nachgerade schon mehr beruhigt hatten, teils weil man ihn doch für den Mann hielt, mit dem der Stadt am besten gedient war. Denn in der Tat, solange er im Frieden an der Spitze der Stadt gestanden, hatte er sie mit Weisheit und Gerechtigkeit regiert und sicheren Blicks vor Schaden gehütet, und sie war unter ihm zu höchster Blüte gelangt. Als es dann zum Kriege kam, zeigte sich, daß er auch in dieser Beziehung ihre Machtmittel richtig eingeschätzt hatte. Nach Ausbruch des Krieges lebte er noch zweieinhalb Jahre, und nach seinem Tode überzeugte man sich vollends davon, wie richtig er den Krieg beurteilt

hatte. Er hatte den Athenern gesagt, wenn sie sich auf keine Schlacht im offenen Felde einließen, für die Tüchtigkeit ihrer Flotte sorgten und während des Krieges auf weitere Unternehmungen zur Ausdehnung ihrer Herrschaft verzichteten, um die Stadt dadurch nicht in neue Gefahren zu verwickeln, so würden sie Sieger bleiben. Sie aber taten gerade das Gegenteil und ließen sich zu ihrem und ihrer Bundesgenossen Schaden durch Ehrgeiz und Habgier einzelner zu Unternehmungen verleiten, die mit dem Krieg offenbar nichts zu tun hatten, die, wenn sie gelangen, einzelnen allenfalls Ehre und Vorteil bringen mochten, aber, da sie fehlschlugen, der Stadt im weitern Verlauf des Krieges zum Verderben wurden. Das kam daher, daß er ein Mann von größtem Ansehen und höchster Einsicht und über allem Zweifel erhabener Unbestechlichkeit war, der es verstand, die Menge vornehm zu behandeln. Er ließ sich nicht von ihr, sondern sie sich von ihm leiten; denn da er seine Macht nicht durch unerlaubte Mittel gewonnen hatte, brauchte er ihr nicht nach dem Munde zu reden, sondern konnte den Leuten im Zorn bei aller Würde auch einmal tüchtig ins Gewissen reden. Wenn er merkte, daß sie zur Unzeit zu hoch hinaus wollten, wußte er sie durch seine Reden bis zur Zaghaftigkeit zu ducken, und wiederum, wenn sie ohne Not verzagten, ihnen wieder Mut zu machen. Dem Namen nach regierte das Volk, tatsächlich aber war er der erste Mann, der die Stadt regierte. Unter seinen Nachfolgern, von denen im Grunde keiner mehr bedeutete als der andere und doch jeder der Erste sein wollte, wurde das anders: sie überließen es dem Volk, auch Politik auf eigene Hand zu treiben, wobei es in einer Stadt von solcher Größe und Machtstellung natürlich nicht ausbleiben konnte, daß Fehler über Fehler gemacht wurden, so namentlich mit dem Zug nach Sizilien. Bei dem aber lag der Fehler nicht so sehr darin, daß man ihn überhaupt unternahm, als darin, daß man hinterher für die Leute dort nicht gehörig sorgte und, durch ehrgeizige Intriganten, die um die Volkskunst buhlten, verführt, das Heer in Sizilien zugrunde gehen ließ, auch seitdem erst infolge innerer Zerwürfnisse keine einheitliche Politik mehr verfolgte. Aber auch nach der Niederlage in Sizilien, bei der sie ihr Heer mit allem Material und den größten Teil ihrer Flotte verloren hatten, und trotz den in der Stadt herrschenden Parteikämpfen behaupteten die Athener sich dann noch drei Jahre nicht nur gegen ihre ursprünglichen Feinde, sondern auch gegen die diesen aus Sizilien gekommenen Verstärkungen und ihre der Mehrzahl nach zu ihnen übergegangenen Bundesgenossen, ja auch selbst zuletzt noch, als ­Kyros, der Sohn des Perserkönigs, sich den Peloponnesiern zugewandt hatte und sie mit Geld für ihre Flotte 26

um 425 v. chr. – hippokrates – fünf krankheitsgeschichten

u­ nterstützte. Und erst dann gaben sie klein bei, als sie infolge innerer ­Zerwürfnisse völlig von Kräften gekommen waren. So überreichlich waren die Mittel, die Perikles damals

zu Gebote standen und ihn zu der Annahme berechtigten, daß Athen aus einem Krieg allein mit den Peloponnesiern mit Leichtigkeit als Sieger hervorgehen würde.

Um 425 v. Chr.

hippokrates Fünf Krankheitsgeschichten Sokrates: »Glaubst du von der Seele, man könne ihre Natur in einer den Geist befriedigenden Weise begreifen ohne die Natur des Ganzen?« – Phaidros: »Wenn man Hippokrates folgen soll, so ist das auch bei dem Körper nicht ohne diese Methode möglich.« In seinen Traktaten hat der Stammvater von Europas Ärzten spekuliert und dabei unter anderem das entdeckt, was wir bis heute »Umwelt« nennen. In seinen Krankheitsgeschichten dagegen zeichnet er auf – minutiös wie zu seiner Zeit kein zweiter Autor.

1.

auf thasos ergriff den parier, der oberhalb des Artemis-Tempels lag, ein heftiges Fieber, anfangs andauernd, mit starker Hitze. Durst. Zu Beginn schlafsüchtig und dann wieder schlaflos. Unterleib anfangs in Unordnung. Urin dünn. Am sechsten Tag sein Urin ölartig. Er phantasierte. Am siebten allgemeine Verschlimmerung. Kein Schlaf, aber der Urin war wie zuvor. Sein Geist gestört. Stuhl gallenartig, fetthaltig. Am achten leichtes Nasenbluten. Der Kranke erbrach wenig grünspanfarbige Masse. Schlief ganz wenig. Am neunten der gleiche Zustand. Am zehnten ließ alles nach. Am elften schwitzte er am ganzen Körper. Danach fror er sehr, wurde aber bald wieder warm. Am vierzehnten hohes Fieber. Stuhl gallenartig, fein, reichlich. Im Urin schwimmende Gebilde. Fieberphantasien. Am siebzehnten schlechter Tag: kein Schlaf. Steigen des Fiebers. Am zwanzigsten schwitzte er am ganzen Körper. Fieberfrei. Stuhl gallenartig. Aß nichts. Schlafsüchtig. Am vierundzwanzigsten Rückfall. Am vierunddreißigsten fieberfrei. Der Stuhl wurde nicht konsistent. Der Kranke wurde wieder warm. Am vierzigsten fieberfrei. Der Stuhl wurde kurze Zeit konsistent. Der Kranke aß nichts. Wieder leichtes Fieber. Dieses schwankte durchweg hin und her: bald hatte er Fieber, bald nicht. Denn wenn es einmal aussetzte und eine Erleichterung

eintrat, kehrte es bald darauf wieder. Der Kranke aß viele und schlechte Lebensmittel. Schlief schlecht. Zur Zeit der Rückfälle Phantasieren. Um die Zeit war sein Urin dick, aber durcheinandergerührt und schlecht. Der Stuhl konsistent und dann wieder dünnflüssig. Ständig leichtes Fieber. Stuhl reichlich und dünn. Er starb am einhunderteinundzwanzigsten Tage. Bei diesem Kranken war vom ersten Tage an der Stuhl dauernd flüssig, mit viel gallenartiger Flüssigkeit oder, wenn er einmal konsistent war, bestand er aus gärenden unverdauten Substanzen. Urin dauernd schlecht. Der Kranke meistens im Koma. Schlaflos unter Beschwerden. Aß die ganze Zeit nichts. 2. – Auf Thasos lag eine Frau bei der »kalten Quelle«. Sie hatte eine Tochter geboren, und als hiernach keine Menstruation eintrat, bekam sie am dritten Tage hohes Fieber mit Schüttelfrost. Sie war aber schon lange Zeit vor ihrer Niederkunft fieberkrank, lag zu Bett und aß nichts. Nach dem Schüttelfrost dauernd hohes, von Frostschauern unterbrochenes Fieber. Am achten Tag phantasierte sie viel, auch die folgenden Tage. Und bald darauf war sie wieder geistig ganz klar. Stuhl in Unordnung; viel dünner, wässeriger galliger Abgang. Kein Durst. Am elften bei klarem Bewußtsein, aber 27

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

schlafsüchtig. Viel dünner schwarzer Urin. Schlaflos. Am zwanzigsten leichtes Frösteln und bald darauf wieder Fieber. Sprach einiges wirres Zeug. – Stuhl unverändert. Viel Urin, wasserartig. Am siebenundzwanzigsten fieberfrei. Stuhl wieder konsistent. Bald darauf lange Zeit heftiger Schmerz in der rechten Hüfte. Wiederauftreten von Fieber. Urin wasserartig. Am vierzigsten ließ der Schmerz in der Hüfte nach. Aber dauernd viel feuchter Husten. Stuhl konsistent. Aß nichts. Urin unverändert. Das Fieber setzte gewöhnlich nicht aus, steigerte sich aber regellos, bald so, bald anders. Am sechzigsten setzten die Hustenanfälle ohne sichtbare Anzeichen aus. Denn es erfolgte weder ein Ausreifen des Auswurfs noch ein anderer der gewöhnlichen Abszesse. Der Kinnbacken wurde nach rechts heruntergezerrt. Schlafsüchtig. Phantasierte und war bald darauf wieder bei klarem Verstand. Verhielt sich gegenüber dem Genuß von Speisen wie eine Verrückte, völlig ablehnend. Der Kinnbacken kehrte in seine frühere Lage zurück. Der Unterleib schied kleine gallenartige Substanzen aus. Starke Verschlimmerung des Fiebers, verbunden mit Kälteschauern. Sie war auch die folgenden Tage stumm, und dann wieder sprach sie mit ihrer Umgebung. Am achtzigsten Tage starb sie. Bei dieser Patientin war der Urin bis zum Ende schwarz, dünn und wasserartig. Es folgte Koma. Aß nichts. Mutlos. Schlaflos. Zornausbrüche. Ertrug schwer ihren Zustand. Ihre Gemütsstimmung völlig melancholisch.

Bei klarem Verstand. Urin unverändert. Am neunten ebenso. Auch an den folgenden Tagen. Die Taubheit hielt an. Am vierzehnten Geistesverwirrung. Nachlassen des Fiebers. Am siebzehnten viel Nasenbluten. Die Taubheit ließ etwas nach. Auch an den folgenden Tagen Übelkeit und Taubheit. Phantasierte auch dabei. Am zwanzigsten Schmerz in den Füßen. Taubheit und Phantasieren hörten auf. Leichtes ­Nasenbluten. Schwitzen. Fieberfrei. Am vierundzwanzigsten Rückkehr des Fiebers. Wieder Taubheit. Schmerz in den Füßen blieb. Geistesverwirrung. Am siebenundzwanzigsten schwitzte sie stark. Fieberfrei. Die Taubheit schwand. Der Schmerz in den Füßen blieb. Im übrigen kam sie durch die Krise vollständig zur Genesung. 5. – In Abdera hatte Heropythos, der noch frei herumging, Kopfbeschwerden. Nicht lange darauf mußte er sich hinlegen. Er wohnte in der Nähe der Oberstraße. Ein hitziges Fieber befiel ihn. Anfangs viel Erbrechen von galliger Substanz. Durstig. Sehr üble Stimmung. Urin dünn, schwarz. Hatte bald an der Oberfläche schwimmende Gebilde, bald nicht. Schlechte Nacht. Das Fieber stieg bald so, bald so, meistens ganz ­regellos. Am vierzehnten Tag Ertaubung. Steigen des Fiebers. Urin unverändert. Am zwanzigsten und den folgenden Tagen viel Phantasieren. Am vierzigsten viel Nasenbluten. Kam wieder mehr zu klarer Be­sinnung. Die Taubheit blieb, wurde aber geringer. Das Fieber ließ nach. Hatte an den folgenden Tagen oft leichtes Nasenbluten. Am sechzigsten Tage hörte dies völlig auf. Dagegen steigerten sich die Schmerzen in der rechten Hüfte und das Fieber. Nicht lange Zeit danach traten Beschwerden in allen unteren Partien des Leibes auf. Es zeigte sich aber ein merkwürdiger Zusammenhang: daß entweder das Fieber stärker und die Taubheit größer wurde oder diese Erscheinungen nachließen und Erleichterung eintrat, dagegen in den unteren Partien in Gegend der Hüften die Schmerzen größer wurden. Endlich am achtzigsten Tage ließen alle Beschwerden nach. Doch hörte keine wirklich ganz auf. Denn der Urin hatte gute Farbe und mehrere Ablagerungen, und die Wahnzustände wurden seltener. Am hundertsten Tag wurde der Unterleib durch viele gallenartige Abgänge in Aufruhr gebracht, und es gingen längere Zeit viel solche Exkremente ab; dann traten wieder krankhafte Darmabgänge ein unter Schmerzen, während Erleichterung von den anderen Beschwerden erfolgte. Im allgemeinen hörten die ­Fieber auf und ebenso die Taubheit. Am einhundertzwanzigsten Tage brachte die Krise völlige Genesung.

3. – In Larisa bekam ein kahlköpfiger Mann plötzlich Schmerzen im rechten Oberschenkel. Alle angewandten Mittel versagten. Am ersten Tag hohes Fieber mit großer Hitze. Verhielt sich ruhig. Aber die Schmerzen hielten an. Am zweiten ließen die Beschwerden im Schenkel nach. Aber das Fieber stieg. Ziemlich schlechtes Befinden. Schlief nicht. Kalte Hände und Füße. Schlechter Urin ging in Menge ab. Am dritten hörte zwar der Schmerz im Schenkel auf. Es trat aber völlige Geistesstörung ein und ein ganz aufgeregter Zustand; viel Hin- und Herwerfen auf seinem Lager. Am vierten gegen Mittag starb er. 4. – In Abdera bekam das junge Mädchen, das an der heiligen Straße darniederlag, hitziges Fieber. Durstig und schlaflos. Hatte zum ersten Mal Menstruation. Am sechsten Tag viel Übelkeit, Röte des Gesichts, Frostschauer; starke innere Unruhe. Am siebten unverändert. Urin dünn, von guter Farbe. Stuhl machte ihr keine Beschwerden. Am achten Ertaubung. Hohes Fieber. Schlaflos. Voll Übelkeit. Frostschauer.

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Um 401 v. Chr.

xenophon Auf zum langen Heimweg Der jüngere Kyros scheitert beim Versuch, seinem Bruder, dem Großkönig Artaxerxes II., den persischen Thron zu entreißen, und läßt auf dem Schlachtfeld von Kunaxa oberhalb Babylons am Euphrat sein Leben. Sein griechisches Söldnerheer erwartet ein langer Heimweg. Xenophon (ca. 430 – nach 355 v. Chr.), bislang privater Schlachtenbummler, avanciert zum Feldherrn und zum Journalisten, der eine literarische Gattung begründet: das Kriegstagebuch.

ES

im Begriff standen, den Marsch ins Landesinnere anzutreten, und wurde dem Kyros vorgestellt. Da es Proxenos wünschte, schloß sich auch Kyros seinem Begehren an, er solle bleiben; er versicherte ihm aber, nach Beendigung des Feldzuges ihn sofort zu entlassen. Es hieß, der Feldzug sei gegen die Pisider gerichtet. So zog er in den Krieg, getäuscht, aber nicht von Proxenos; denn es wußte von dem Angriff gegen den Großkönig auch kein anderer Grieche außer Klearches. Als sie aber nach Kilikien gekommen waren, da schien es allen bereits klar zu sein, daß der Zug gegen den Großkönig gerichtet sei. Trotz ihrer Furcht vor dem Marsch und ihrem Unwillen folgten dennoch die meisten aus Scham voreinander und vor Kyros. Einer von ihnen war auch Xenophon. In dieser Bedrängnis war er mit den andern bekümmert und konnte nicht schlafen. Als er aber ein wenig Schlaf fand, hatte er einen Traum. Es schien ihm, als treffe unter Donnerschlag ein Blitz das Vaterhaus und es stehe darauf völlig in Flammen. Heftig erschrocken wachte er sogleich auf; den Traum hielt er einerseits für günstig, weil er in Not und Gefahren ein gewaltiges Licht von Zeus gesehen zu haben glaubte; andererseits fürchtete er aber, weil der Traum von Zeus, dem König, zu kommen und das Feuer rings im Kreise zu lodern schien, er könne nicht aus dem Land des Großkönigs entkommen, sondern werde überall von mancherlei Schwierigkeiten zurückgehalten. Was es aber bedeutet, einen derartigen Traum zu haben, kann man aus den Ereignissen nach dem Traum erkennen; denn es geschah folgendes. Sofort nach dem Erwachen kam ihm der Gedanke: warum

befand sich im heer ein gewisser Xenophon aus Athen, der weder als Stratege noch als Lochage [Hauptmann], noch als Soldat den Feldzug mitgemacht hatte; sondern Proxenos hatte ihn von zu Hause zu sich geladen, da er von alters her sein Gastfreund war. Er hatte ihm versprochen, falls er komme, ihn zum Freund des Kyros zu machen, den er selbst für seine Person, wie er sagte, für wichtiger erachtet als das Vaterland. Als Xenophon den Brief gelesen hatte, beriet er sich mit dem Athener Sokrates über die Reise. Sokrates befürchtete, es könne von der Stadt als Schuld angerechnet werden, mit Kyros Freundschaft zu schließen, da dieser, wie man vermutete, bereitwillig den Lakedaimoniern im Krieg gegen Athen geholfen habe. Daher riet ihm Sokrates, nach Delphi zu gehen und den Gott wegen der Reise zu befragen. Dort befragte also Xenophon Apollon, welchem Gott er opfern, zu welchem Gott er beten müsse, um die beabsichtigte Reise ehrenvoll und glücklich zu vollenden und nach erfolgreichem Gelingen heil zurückzukehren. Apollon verkündete ihm die Götter, denen er opfern müßte. Als er zurückgekehrt war, erzählte er dem Sokrates von dem Orakelspruch. Der tadelte ihn darauf, weil er nicht danach zuerst gefragt hatte, ob es für ihn besser sei zu reisen oder zu bleiben, sondern aus eigenem sich für die Reise entschieden und dann nur gefragt habe, wie er am vorteilhaftesten die Reise beginnen solle. »Da du aber so gefragt hast«, erklärte er, »mußt du alles, was der Gott befohlen hat, tun.« Also opferte ­Xenophon denen, die ihm der Gott aufgetragen hatte, und segelte ab. Er traf in Sardes mit Proxenos und Kyros zusammen, die eben 29

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

liege ich hier? Die Nacht rückt vor; sogleich mit Tagesbeginn werden sicherlich die Feinde anrücken. Wenn wir in die Gewalt des Großkönigs geraten, was hindert, daß wir, die wir das Furchtbarste mit angesehen, alles Schreckliche erduldet haben, verhöhnt sterben müssen? Für unsere Verteidigung rüstet sich und sorgt niemand, sondern wir liegen hier, als könnten wir der Ruhe pflegen. Aus welcher Stadt erwarte ich den Strategen, damit er das durchführe? Welches Alter erwarte ich für mich? Ich werde doch nicht älter werden, wenn ich mich heute den Feinden ergebe. Darauf erhob er sich und berief zunächst die Lochagen des Proxenos zusammen. Als sie zusammengekommen waren, sprach er: »Ich, Lochagen, kann nicht schlafen, wie ich das auch von euch glaube, noch kann ich mehr liegen bleiben, da ich sehe, in welcher Bedrängnis wir sind. Es ist klar, die Feinde haben nicht eher gegen uns den Krieg offen begonnen, bis sie alle Vorkehrungen umsichtig getroffen zu haben glaubten; von uns sorgt aber niemand auch nur im geringsten dafür, wie wir am erfolgreichsten kämpfen können. Denn wahrlich, wenn wir uns aufgeben und in die Gewalt des Großkönigs geraten, was werden wir dort wohl erdulden? Er, der seinem eigenen Bruder, als er schon tot war, Kopf und Hand abhauen und auf die Pfähle stecken ließ! Uns aber, denen kein Fürsprecher zur Seite steht, die wir gegen ihn in den Krieg gezogen sind, um ihn aus einem König zu einem Sklaven zu machen und, wenn möglich, zu töten, wie wird es wohl uns ergehen? Wird er nicht alles daransetzen, um durch unsere härteste Bestrafung allen Menschen Furcht vor einem Kriegszug gegen ihn einzujagen? Daß wir auf keinen Fall in seine Gewalt geraten, dafür muß nun alles unternommen werden. Ich habe, solange der Vertrag galt, niemals aufgehört, uns zu bedauern, den Großkönig und seine Leute glücklich zu preisen, wenn ich die Größe und Beschaffenheit ihres Landes betrachtete, den Überfluß an Lebensmitteln, die Zahl der Diener, den Reichtum an Tieren, Gold und Kleidung. Betrachtete ich aber die Lage der Soldaten, daß wir an allen diesen Schätzen keinen Anteil hatten, außer wir kauften etwas, daß aber nur wenige, wie ich wußte, Mittel zum Kaufen hatten, daß uns daran, die Lebensmittel auf andere Art als durch Kauf zu beschaffen, der Vertrag, wie ich wußte, hinderte – betrachtete ich also die Lage, dann fürchtete ich manchmal den Vertrag mehr als jetzt den Kampf. Da aber jene den Vertrag gebrochen haben, scheinen mir auch ihr Übermut und unsere Befürchtungen ein Ende zu haben. Denn vor aller Augen liegen diese Güter als Kampfpreise für diejenigen unter uns, die tapferer sind, Schiedsrichter aber sind die Götter, die auf unserer Seite, wie es recht und billig ist, stehen werden. Denn diese haben bei

ihnen einen Meineid geschworen; wir aber, obwohl wir viele Güter sahen, haben uns ihrer standhaft enthalten wegen der heiligen Eide vor den Göttern. Daher können wir, glaube ich, in den Kampf ziehen mit viel größerem Vertrauen als diese. Außerdem haben wir Körper, die fähiger sind als die ihren, Kälte, Hitze und Mühen zu ertragen; auch haben wir mit der Hilfe der Götter überlegeneren Mut. Jene Männer sind leichter zu verwunden und zu töten als wir, wenn die Götter wie früher uns den Sieg verleihen. Aber da vielleicht auch andere an dasselbe denken, wollen wir, bei den Göttern, nicht warten, daß andere zu uns kommen, um uns zu den herrlichsten Taten aufzumuntern, vielmehr wollen wir damit beginnen, auch die anderen zur Tapferkeit zu entflammen. Zeigt euch als die vortrefflichsten der Lochagen und würdiger des Oberbefehls als die Strategen. Auch ich will euch folgen, wenn ihr euch dazu entschließen wollt, wenn ihr mich aber zum Führer wählt, werde ich mein Alter nicht als Vorwand benützen, sondern glaube, schon alt genug zu sein, um Gefahren von mir abzuwehren.« So sprach er, die Führer forderten ihn danach alle auf, die Leitung zu übernehmen, außer einem Apollonides, der in boiotischer Sprache redete. Er erklärte den für einen Schwätzer, der behauptete, er könne auf irgendeine andere Art Rettung finden, als durch Verhandlungen mit dem Großkönig; und zugleich begann er die Schwierigkeiten aufzuführen. Xenophon unterbrach ihn mitten in seiner Rede und sprach folgendes: »Wundersamer Mann! Du siehst und erkennst nicht, du hörst und erinnerst dich nicht. Du warst doch mit diesen zusammen, als der Großkönig nach dem Tod des Kyros in seinem Hochmut durch Boten die Auslieferung der Waffen verlangte. Als wir sie aber nicht auslieferten, sondern in voller Rüstung weitermarschierten und in seiner Nähe Lager schlugen, was tat er da nicht alles: er schickte Gesandte, bat um einen Waffenstillstand, bot Lebensmittel an, bis er endlich den Vertrag erlangt hatte! Als aber dann die Strategen und Lochagen, deinem Vorschlag entsprechend, im Vertrauen auf Waffenstillstand unbewaffnet zu ihnen gingen, was wurde daraus? Werden sie jetzt nicht geschlagen, gestoßen, beschimpft, ohne daß die Unglücklichen sterben können, wie sehr sie es auch, glaube ich, wünschen? Obwohl du das alles weißt, behauptest du doch, die Leute, die zur Verteidigung raten, seien Schwätzer und forderst, man solle wiederum zu Verhandlungen gehen? Ich bin dafür, ihr Männer, diesen Menschen nicht in unserer Nähe zu dulden, sondern ihm seine Lochagenstelle wegzunehmen, ihm Gepäck aufzuladen und in solcher Weise zu verwenden; denn dieser macht seiner Vaterstadt und ganz Griechenland Schande, da er als Grie30

um 401 v. chr. – xenophon – auf zum langen heimweg

che sich so aufführt.« Da ergriff Agasias aus Stymphalos das Wort und sagte: »Dieser hat doch weder mit Boiotien noch überhaupt mit Griechenland im geringsten etwas zu tun, da ich selbst gesehen habe, daß ihm wie einem Lyder beide Ohren durchbohrt sind. Und so verhielt es sich auch.« Diesen jagten sie also weg. Die andern gingen die Truppenabteilungen entlang und berieten, wo ein Stratege noch lebte, diesen zur Versammlung zu rufen, wo er aber fehlte, seinen Stellvertreter, und wo der Lochage am Leben war, den Lochagen. Als alle zusammengekommen waren, setzten sie sich vor dem Waffenplatz nieder, die Zahl der versammelten Strategen und Lochagen betrug ungefähr hundert. Als das geschah, war es fast Mitternacht. Da sprach als erster Hieronymus aus Elis, der älteste von den Lochagen des Proxenos, in folgender Weise: »Uns, Strategen und Lochagen, schien es in Anbetracht unserer Lage angemessen, zusammenzukommen und euch herbeizurufen, um, wenn möglich, einen vorteilhaften Entschluß zu fassen. Lege jetzt du dar, Xenophon, was du auch vor uns erklärt hast.« Hierauf sprach Xenophon folgendes: »Das wissen wir jedenfalls alle, daß der Großkönig und Tissaphernes alle von uns, deren sie habhaft werden konnten, gefangengenommen haben; es ist klar, daß sie auch gegen die übrigen Böses im Schilde führen, um sie, wenn möglich, zu töten. Wir müssen, glaube ich, alles daransetzen, daß wir niemals in die Gewalt der Barbaren geraten, sondern eher jene in unsere. Seid euch also bewußt: ihr alle, die ihr hier zusammengekommen seid, habt die höchste Entscheidung in der Hand; denn alle diese Soldaten blicken auf euch, sehen sie euch mutlos, werden sie alle feige sein, rüstet ihr euch aber offen gegen die Feinde und fordert auch die anderen dazu auf, so seid versichert, daß sie euch folgen und nachstreben werden. Vielleicht ist es auch recht, daß ihr euch vor diesen auszeichnet; denn ihr seid doch Strategen, Taxiarchen und Lochagen, in Friedenszeiten empfingt ihr mehr Sold und Ehrung als sie; auch jetzt, im Krieg, müßt ihr von euch selber verlangen besser zu sein als die Menge, für diese mit Rat und Tag zu sorgen, wenn es irgendwo nötig ist. Vor allem glaube ich, ihr würdet dem Heer einen großen Nutzen erweisen, wenn ihr dafür sorgt, daß für die umgekommenen so schnell wie möglich neue Strategen und Lochagen aufgestellt werden; denn ohne Führer geschieht Rechtes und Gu-

tes, um es kurz zu sagen, nirgends, schon gar nicht im Krieg. Die Ordnung, scheint es, bringt Rettung, die Unordnung hat schon viele zugrunde gerichtet. Wenn ihr die nötigen Führer gewählt habt, werdet ihr, glaube ich, unserer Lage gemäß dann handeln, wenn ihr auch die anderen Soldaten versammelt und ihnen Mut zusprecht. Ihr habt vielleicht auch selbst bemerkt, wie mutlos sie zum Waffenplatz gekommen sind, wie mutlos sie die Wachen bezogen habe. Ich weiß also nicht, wozu man sie in einer solchen Verfassung verwenden könnte, ob es nun in der Nacht oder am Tage erforderlich wäre. Wenn man aber ihren Sinn wandelt, so daß sie nicht nur überlegen, was sie erdulden, sondern auch was sie tun werden, dann werden sie viel zuversichtlicher sein. Ihr wißt doch: nicht die Masse und nicht die Stärke führen im Krieg zum Sieg, sondern wer dank Götterhilfe mit größerem Mut den Feinden entgegengeht, dem halten meistens die Gegner nicht stand. Ich habe das erfahren, ihr Männer; alle, die in Kriegszeiten auf jede Weise ihr Leben zu erhalten trachten, sterben meist einen schimpflichen und erbärmlichen Tod; alle die aber, die erkannt haben, daß der Tod allen Menschen gemeinsam und naturnotwendig sei, und für einen ehrenvollen Tod kämpfen, erreichen, wie ich sehen, ein höheres Alter und sind Zeit ihres Lebens glücklicher. Davon müßt auch ihr jetzt vollkommen überzeugt sein – in einer solch entscheidenden Lage befinden wir uns –, euch als tapfere Männer erweisen und außerdem die anderen ermutigen.« Mit diesen Worten endete er. Nach ihm sprach Cheirisophos: »Früher, Xenophon, kannte ich dich nur insoweit, als ich hörte, du seist Athener; jetzt aber lobe ich dich wegen deiner Worte und Taten und wünschte nur, es wären möglichst viele so; das wäre ein Vorteil für alle. Nun aber wollen wir nicht zaudern, Männer; sondern geht vielmehr, die ihr Führer braucht, und wählt welche, dann aber kommt mit den Gewählten in die Mitte des Lagers! Wir werden dorthin die übrigen Soldaten zusammenrufen. Es soll auch der Herold Tolmides dort anwesend sein.« Mit diesen Worten stand er auf, damit keine Verzögerung eintrete, sondern das Notwendigste geschehe. Hierauf wurden als Führer gewählt an Stelle des Klearchos Timassion aus Dardanos, an Stelle des Sokrates Xanthikles aus Achaia, an Stelle von Agias Kleanor aus Arkadien, an Stelle von Menon Philesios aus Achaia, an Stelle von Proxenos Xenophon aus Athen.

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399 v. Chr.

platon Der Tod des Sokrates Phaidon erzählt, Platon (* 428/427 v. Chr., † 348/347 v. Chr.) zeichnet auf: Vor uns haben wir eine erste klassische Reportage.

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haidon: Ich will versuchen, dir alles von Anfang an zu erzählen. Wir pflegten nämlich auch schon die vorigen Tage immer zum Sokrates zu gehen, ich und die andern, und versammelten uns des Morgens im Gerichtshause, wo auch das Urteil gefällt worden war; denn dies ist nahe bei dem Gefängnis. Da warteten wir jedesmal, bis das Gefängnis geöffnet wurde, und unterredeten uns unterdessen. Denn es wurde nicht sehr früh geöffnet; sobald es aber offen war, gingen wir hinein zum Sokrates und brachten den größten Teil des Tages bei ihm zu. Auch damals nun hatten wir uns noch früher versammelt, weil wir tags zuvor, als wir abends aus dem Gefängnis gingen, erfahren hatten, daß das Schiff aus Delos angekommen sei. Wir gaben uns also einander das Wort, auf das früheste an dem gewohnten Ort zusammenzukommen. Das taten wir auch, und der Türsteher, der uns aufzumachen pflegte, kam heraus und sagte, wir sollten warten und nicht eher kommen, bis er uns riefe. Denn, sprach er, die Elf lösen jetzt den Sokrates und kündigen ihm an, daß er heute sterben soll. Nach einer kleinen Weile kam er dann und hieß uns ­hineingehen. Als wir nun eintraten, fanden wir den Sokrates eben entfesselt, und Xanthippe, du kennst sie doch, sein Söhnchen auf dem Arm haltend, saß neben ihm. Als uns Xanthippe nun sah, wehklagte sie und redete allerlei dergleichen, wie die Frauen pflegen, wie: O Sokrates, nun reden diese deine Freunde zum letztenmal mit dir und du mit ihnen. Da wendete sich Sokrates zum Kriton und sprach: O Kriton, laß doch jemand diese nach Hause führen. Da führten einige von Kritons Leuten sie ab, heulend und sich übel gebärend. Sokrates aber, auf dem Bette sitzend, zog das Bein an sich und rieb sich den Schenkel mit der Hand, indem er zugleich sagte: Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das, was die Menschen angenehm nennen, wie wunderlich es sich verhält zu dem, was ihm entgegengesetzt zu sein scheint, dem Unangenehmen, daß nämlich beide zu gleicher Zeit

zwar nie in dem Menschen sein wollen, doch aber, wenn einer dem einen nachgeht und es erlangt, er fast immer genötigt ist, auch das andere mitzunehmen, als ob sie zwei an einer Spitze zusammengeknüpft wären; und ich denke, wenn Äsopos dies bemerkt hätte, würde er eine Fabel daraus gemacht haben, daß Gott beide, da sie im Kriege begriffen sind, habe aussöhnen wollen, und weil er dies nicht gekonnt, sie an den Enden zusammengeknüpft habe, und deshalb nun, wenn jemand das eine hat, komme ihm das andere nach. So scheint es nun auch mir gegangen zu sein; weil ich von der Fessel in dem Schenkel vorher Schmerz hatte, so kommt mir nun die angenehme Empfindung hintennach. (...) Als Sokrates dies gesagt hatte, sprach Kriton: Wohl, o Sokrates! Was trägst du aber diesen auf oder mir deiner Kinder wegen, oder was wir sonst irgend dir noch recht zu Dank machen könnten, wenn wir es täten? – Was ich immer sage, sprach er, o Kriton, nichts Besonderes weiter, daß nämlich, wenn ihr euer selbst recht wahrnehmt, ihr mir und den Meinigen und euch selbst alles zu Dank machen werdet; was ihr nur tut, und wenn ihr es auch jetzt nicht versprecht; wenn ihr aber euch selbst vernachlässigt und nicht wollt gleichsam den Spuren des jetzt und sonst schon Gesagten nachgehen im Leben, ihr dann, wenn ihr jetzt noch so vieles und noch so heilig versprächt, doch nichts weiter damit ausrichten werdet. – Dieses also wollen wir uns bestreben, so zu machen, sagte Kriton. Aber auf welche Weise sollen wir dich ´begraben´? – Wie ihr wollt, sprach er, wenn ihr mich nur wirklich haben werdet und ich euch nicht entwischt bin. Dabei ­lächelte er ganz ruhig und sagte, indem er uns ansah: Diesen Kriton, ihr Männer, überzeuge ich nicht, daß ich der Sokrates bin, dieser, der jetzt mit euch redet und euch das Gesagte einzeln vorlegt, sondern er glaubt, ich sei jener, den er nun bald tot sehen wird, und fragt mich deshalb, wie er mich begraben soll. Daß ich aber schon so lange eine große Rede darüber gehalten habe, daß, wenn ich den Trank genommen 32

399 v. chr. – platon – der tod des sokrates

habe, ich dann nicht länger bei euch bleiben, sondern fortgehen werde zu irgendwelchen Herrlichkeiten der Seligen, das, meint er wohl, sage ich alles nur so, um euch zu beruhigen und mich mit. So legt ihr denn eine Bürgschaft für mich ein beim Kriton, und zwar eine ganz entgegengesetzte, als er bei den Richtern eingelegt hat. Denn er hat sich verbürgt, ich würde ganz gewiß bleiben, ihr aber verbürgt euch dafür, daß ich ganz gewiß nicht bleiben werde, wenn ich tot bin, sondern abgezogen und fort sein, damit Kriton es leichter trage und, wenn er meinen Leib verbrennen oder begraben sieht, sich nicht ereifere meinetwegen, als ob mir Arges begegne; und damit er nicht beim Begräbnis sage, er stelle den Sokrates aus oder trage ihn heraus oder begrabe ihn. Denn wisse nur, sagte er, o bester Kriton, sich unschön auszudrücken, ist nicht nur eben insofern fehlerhaft, sondern bildet auch etwas Böses ein in die Seele. Sondern du mußt mutig sein und sagen, daß du meinen Leib begräbst, und diesen begrabe nur, wie es dir eben recht ist und wie du es am meisten für dich schicklich hältst. Dieses gesagt, stand er auf und ging in ein Gemach, um zu baden, und Kriton begleitete ihn, uns aber ließ er dableiben. Wir blieben also und redeten untereinander über das Gesagte und überdachten es noch einmal; dann aber auch klagten wir wieder über das Unglück, welches uns getroffen hätte, ganz darüber einig, daß wir nun gleichsam des Vaters beraubt als Waisen das übrige Leben hinbringen würden. Nachdem er nun gebadet und man seine Kinder zu ihm gebracht hatte – er hatte nämlich zwei kleine Söhne und einen größeren – und die ihm angehörigen Frauen gekommen waren, sprach er mit ihnen in Kritons Beisein, und nachdem er ihnen aufgetragen hatte, was er wollte, ließ er die Weiber und die Kinder wieder gehen, er aber kam zu uns. Und es war schon nahe am Untergang der Sonne, denn er war lange drinnen geblieben. Als er nun gekommen war, setzte er sich nieder »nach dem Bade« und hatte noch nicht viel seitdem gesprochen, so kam der Diener der Elfmänner, stellte sich zu ihm und sagte: O Sokrates, über dich werde ich mich nicht zu beklagen haben wie über andere, daß sie mir böse werden und mir fluchen, wenn ich ihnen ansage, das Gift zu trinken auf Befehl der Oberen. Dich aber habe ich auch sonst schon in dieser Zeit erkannt als den edelsten, sanftmütigsten und trefflichsten von allen, die sich jemals hier befunden haben, und auch jetzt weiß ich sicher, daß du nicht mir böse sein wirst, denn du weißt wohl, wer schuld daran ist, sondern jenen. Nun also, denn du weißt wohl, was ich dir zu sagen gekommen bin, lebe wohl und suche so leicht als möglich zu tragen, was nicht zu ändern ist. Da weinte er,

wendete sich um und ging. Sokrates aber sah ihm nach und sprach: Auch du lebe wohl, und wir wollen so tun. Und zu uns sagte er: Wie fein der Mensch ist. So ist er die ganze Zeit mit mir umgegangen, hat sich bisweilen mit mir unterredet und war der beste Mensch; und nun, wie aufrichtig beweint er mich! Aber wohlan denn, o Kriton, laßt uns ihm gehorchen, und bringe einer den Trank, wenn er schon ausgepreßt ist, wo nicht, so soll ihn der Mensch bereiten. Da sagte Kriton: Aber mich dünkt, o Sokrates, die ­Sonne scheint noch an die Berge und ist noch nicht untergegangen. Und ich weiß, daß auch andere erst ganz spät getrunken ­haben, nachdem es ihnen angesagt wurde, und haben noch gut gegessen und getrunken, ja einige haben gar noch Schöne zu sich kommen lassen, nach denen sie Verlangen hatten. Also übereile dich nicht; denn es hat noch Zeit. – Da sagte Sokrates: Gar recht, o Kriton, hatten jene so zu tun, wie du sagst, denn sie meinten etwas zu gewinnen, wenn sie so täten, und gar recht habe auch ich, nicht so zu tun. Denn ich meine, nichts zu gewinnen, wenn ich um ein weniges ­später trinke, als nur, daß ich mir selbst lächerlich vorkommen würde, wenn ich am Leben klebte und sparen wollte, wo nichts mehr ist. Also geh, sprach er, folge mir und tue nichts anders. Darauf winkte denn Kriton dem Knaben, der ihm zunächst stand, und der Knabe ging heraus, und, nachdem er eine Weile weggeblieben war, kam er und führte den herein, der ihm den Trank reichen sollte, welchen er schon zubereitet im Becher brachte. Als nun Sokrates den Menschen sah, sprach er: Wohl, Bester, denn du verstehst es ja, wie muß man es machen? – Nichts weiter, sagte er, als, wenn du getrunken hast, herumgehen, bis dir die Schenkel schwer werden, und dann dich niederlegen, so wird es schon wirken. Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn ganz ­getrost, o Echekrates, ohne im mindesten zu zittern oder ­Farbe oder Gesichtszüge zu verändern, sondern, wie er ­pflegte, ganz gerade den Menschen ansehend, fragte er ihn: Was meinst du von dem Trank wegen einer Spendung? Darf man eine machen oder nicht? – Wir bereiten nur soviel, o Sokrates, antwortete er, als wir glauben, daß hinreichend sein wird. – Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muß es, daß die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so möge es geschehen. Und wie er dies gesagt hatte, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen sich zu halten, daß sie nicht weinten; als wir aber sahen, daß er trank und getrunken hatte, nicht mehr. Son33

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

dern auch mir selbst flossen Tränen mit Gewalt, und nicht tropfenweise, so daß ich mich verhüllen mußte und mich ausweinen, nicht über ihn jedoch, sondern über mein Schicksal, was für eines Freundes ich nun sollte beraubt werden. Kriton war noch eher als ich, weil er die Tränen nicht zurückzuhalten vermochte, aufgestanden. Apollodoros aber hatte schon früher nicht aufgehört zu weinen, und nun brach er völlig aus, weinend und unwillig sich gebärdend, und es war keiner, den er nicht durch sein Weinen erschüttert hätte, von allen Anwesenden, als nur Sokrates selbst, der aber sagte: Was macht ihr doch, ihr wunderbaren Leute! Ich habe vorzüglich deswegen die Weiber weggeschickt, daß sie dergleichen nicht begehen möchten; denn ich habe immer gehört, man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker. Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher, und als er merkte, daß ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken, denn so hatte es ihn der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift gegeben hatte, von Zeit zu

Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle, er sagte nein. Und darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn noch einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein. Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte: O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den und versäumt es nicht. – Das soll geschehen, sagte Kriton, sieh aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast. Als Kriton dies fragte, antwortete er aber nichts mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der Mensch deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloß er ihm Mund und Augen. Dies, o Echekrates, war das Ende unseres Freundes, des Mannes, der unserm Urteil nach von den damaligen, mit denen wir es versucht haben, der trefflichste war und auch sonst der vernünftigste und gerechteste.

202 v. Chr.

polybios Hannibals letzte Chance Polybios (* um 200 v. Chr., † 120 v. Chr.) nennt seine Art der Geschichtsschreibung »pragmatisch«: Als erfahrener Staatsmann schreibt er zur Belehrung künftiger Politiker. Das Walten der Tyche – der willkürlichen Schicksalsmacht, die bei den Römern Fortuna heißt – läßt sich also doch in einem vorgegebenen Rahmen politischer Abläufe einhegen.

A

l s die karthager sahen, daß ihre Städte verloren  wurden, schickten sie zu Hannibal und baten ihn, nicht zu zögern, sondern näher an die Feinde heranzurücken und die Entscheidung durch eine Schlacht herbeizuführen. Als er sich das angehört hatte, antwortete er den Boten, sie sollten sich um andere Dinge kümmern und sich darüber keine Sorgen machen. Er werde nämlich den richtigen Zeitpunkt selbst bestimmen. Nach einigen Tagen brach er aus der Gegend von Hadrumetum auf, rückte vor und schlug bei Zama ein Lager auf. Das ist eine Stadt, die von Karthago in westli-

cher Richtung ungefähr fünf Tagemärsche entfernt ist. Von dort schickte er drei Späher aus, um herauszubekommen, wo sich das römische Lager befinde und wie es organisiert sei. Als die Späher gefangen Publius vorgeführt wurden, war er so weit davon entfernt, sie zu bestrafen, wie es sonst üblich ist, daß er ihnen sogar einen Tribunen mitgab und ihn beauftragte, alles im Lager genau zu zeigen. Danach fragte er sie noch, ob der Tribun, den er mitgegeben hatte, ihnen alles sorgfältig gezeigt habe. Als sie das bejahten, versorgte er sie mit Proviant, gab ihnen Begleiter mit und schickte sie weg mit dem 34

202 v. chr. – polybios – hannibals letzte chance

Auftrag, Hannibal genau über das, was ihnen zugestoßen sei, zu berichten. Nach ihrer Rückkehr wurde Hannibal von Bewunderung für die Großherzigkeit und den Mut dieses Mannes ergriffen und bekam unwillkürlich das Verlangen, mit Publius zu einer Unterredung zusammenzutreffen. Als er sich dazu entschlossen hatte, schickte er einen Unterhändler und ließ ausrichten, er wolle sich mit ihm über die gesamte Situation besprechen. Publius hörte sich diese Botschaft an, ging auf die Aufforderung ein und erklärte, er werde über den Ort und Zeitpunkt noch Genaueres mitteilen lassen. Daraufhin kehrte der Unterhändler wieder ins eigene Lager zurück. Am folgenden Tag kam Masinissa mit ungefähr 6000 Fußsoldaten und etwa 4000 Reitern. Publius empfing ihn freundlich und beglückwünschte ihn, weil er alle, die früher von Syphax abhängig waren, zu seinen Untertanen gemacht hatte. Dann brach er auf und schlug bei der Stadt Naragara ein Lager auf, wo er einen Punkt besetzte, der neben anderen Vorteilen auch noch die Möglichkeit bot, sich innerhalb von Schußweite mit Wasser zu versorgen. Und von hier ließ er dem karthagischen Feldherrn melden, daß er bereit sein, zu einer Unterredung mit ihm zusammenzutreffen. Auf diese Nachricht hin brach Hannibal auf und näherte sich ihm bis auf eine Entfernung von nur 30 Stadien (ca. 5,5 km). Dann schlug er ein Lager auf an einem Hügel, der bei der vorliegenden Situation in vieler Hinsicht günstig zu sein schien, die Wasserversorgung allerdings nur in etwas größerer Entfernung ermöglichte; und die Soldaten nahmen auch große Anstrengungen auf sich, um das Wasser herbeizuschaffen. Am folgenden Tag gingen beide von ihrem Lager aus mit wenigen Reitern weiter vor, dann trennten sie sich von diesen und kamen allein in der Mitte zusammen, jeder in Begleitung eines Dolmetschers. Nach der Begrüßung begann zuerst Hannibal zu sprechen; er hätte gewünscht, daß die Römer niemals Anspruch auf ein Gebiet außerhalb Italiens erhoben und daß die Karthager es niemals auf ein Gebiet außerhalb Afrikas abgesehen hätten. Für beide nämlich seien jene die schönsten und auch noch, um es kurz auszudrücken, die gleichsam von der Natur abgegrenzten Herrschaftsbereiche. »Nachdem wir zuerst im Kampf um ­Sizilien, dann wieder im Streit um Iberien aneinandergeraten sind und schließlich, vom Schicksal noch nicht zur Vernunft gebracht, soweit gekommen sind, daß die eine Partei schon um ihren Heimatboden gekämpft hat, die andere jetzt auch noch weiter um ihn zu kämpfen hat, so bleibt uns nur noch zu versuchen übrig, ob wir irgendwie, nachdem wir die Götter versöhnt haben, aus eigener Kraft unsere augenblickliche Gegnerschaft beenden können. Ich bin dazu bereit, weil gerade ich durch den Verlauf der Geschichte erfahren habe, wie

schnell das Schicksal sich wandeln und wie es durch einen geringen Anstoß zum Guten wie zum Schlechten entscheidend ausschlagen kann, als ob wir unmündige Kinder wären. Bei dir aber fürchte ich allzusehr, Publius, weil du noch sehr jung bist und dir alles in Iberien und Libyen nach Wunsch gegangen ist, und weil du bis jetzt noch nie den Wechsel des Schicksals zu spüren bekommen hast, daß du deshalb meinen Worten keinen Glauben schenkst, obgleich sie Glauben verdienen. Betrachte den Verlauf der Geschichte an einem einzigen Beispiel, nicht aus der Vergangenheit, sondern aus unserer eigenen Zeit. Ich bin jener Hannibal, der nach der Schlacht bei Cannae von fast ganz Italien Besitz ergriff, nach einiger Zeit sogar gegen Rom marschierte und der, nachdem er in einer Entfernung von nur 40 Stadien (ca. 7,4 km) ein Lager aufgeschlagen hatte, sich über euch und euren Heimatboden Gedanken machte, wie er darüber verfügen solle. Jetzt aber stehe ich in Libyen, um mit dir, einem Römer, über die eigene Rettung und die der Karthager zu verhandeln. Im Hinblick darauf bitte ich dich, nicht überheblich zu sein, sondern im Bewußtsein, nur ein Mensch zu sein, Maßnahmen zur gegenwärtigen Situation zu treffen. Das aber heißt: von den Gütern immer das größte, von den Übeln aber das kleinste zu wählen. Welcher Verständige würde sich nun dafür entscheiden, in einen solchen Kampf zu ziehen, wie er dir jetzt bevorsteht? Wenn du darin siegst, wirst du weder deinem eigenen Ruhm etwas Großes hinzufügen noch dem des ­Vaterlandes; wenn du aber unterliegst, wirst du alles, was vorher großartig und ruhmvoll war, mit eigener Hand voll­ ständig auslöschen. Was ist es nun, was ich mir als Ziel der jetzigen Unterredung stecke? Alles, worum wir früher kämpften, soll den Römern gehören – Sizilien, Sardinien, Iberien –, und die Karthager sollen um diese Gebiete niemals einen Krieg gegen die Römer entfesseln. Ebenso sollen auch die ­anderen Inseln, die zwischen Italien und Libyen liegen, den Römern gehören. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß ein solcher Vertrag den Karthagern auch für die Zukunft die größte Sicherheit bietet, dir aber und allen Römern die größte Ehre bringt.« Das sagte Hannibal. Publius aber erwiderte, die Römer seien weder am Krieg um Sizilien noch an dem um Iberien schuld gewesen, sondern offensichtlich die Karthager. Darüber wisse gerade Hannibal am besten Bescheid. Das hätten auch die Götter bezeugt, die den Sieg nicht denen verliehen, die mit unredlichen Machenschaften begannen, sondern denen, die sich zur Wehr setzten. Er habe auch die Macht des Schicksals vor Augen wie nur irgend jemand sonst und bedenke nach Kräften die Beschränktheit des Menschen. 35

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

»Aber wenn du, bevor die Römer nach Libyen herüberfuhren, von selbst Italien verlassen hättest und auf dieser Grundlage einen Frieden vorgeschlagen hättest, dann, glaube ich, wärest du in deiner Hoffnung nicht getäuscht worden. Da du aber gegen deinen Willen aus Italien weggegangen bist und wir nach der Überfahrt nach Libyen das offene Land kontrollierten, ist die Lage deutlich verändert. Als deine Mitbürger eine Niederlage erlitten hatten und bittend zu uns kamen, haben wir schriftlich einen Vertrag geschlossen, in dem außer dem, was du jetzt vorschlägst, stand, daß die Karthager die Gefangenen ohne Lösegeld zurückgeben, die Kriegsschiffe abtreten, 5000 Talente bezahlen und Geiseln dafür stellen sollten. Das war der Inhalt unserer gegenseitigen Vereinbarungen. Deswegen schickten wir beide Gesandte zu unserem Senat (nach Rom) und zum Volk, wir mit der Erklärung, daß wir diesen schriftlich festgelegten Vereinbarungen zustimmen würden, ihr mit der Bitte, euch diese Bedingungen zu gewähren. Der Senat stimmte zu, das Volk gab seine Bestätigung. Als sie erhalten hatten, was sie wünschten, verwarfen die Karthager die Bedingungen wieder und begingen an uns Treubruch. Was bleibt zu tun? Versetzte dich in meine Lage und antworte selbst. Sollen wir die drückendsten der von uns gemachten Auflagen streichen? Damit die Karthager für ihren Verrat belohnt werden und für die Zukunft lernen, an ihren Wohltätern Treubruch zu begehen, oder sollen wir es tun, um von ihnen, nachdem sie ihre Wünsche erfüllt bekommen haben, Dank zu erwarten?

Doch nun, nachdem sie durch flehentliches Bitten erhalten hatten, was sie verlangten, haben sie, weil sie durch dich einen Funken Hoffnung bekommen hatten, auf der Stelle uns als ihre ärgsten Feinde behandelt. Wenn wir bei dieser Lage der Dinge irgendeine schärfere Bedingung hinzufügen, so kann der Vertrag dem Volk noch einmal vorgelegt werden, wenn wir aber von den Bedingungen, die wir gestellt haben, etwas streichen, hat es auch keinen Sinn, den Gegenstand unserer Beratung (dem Volk) wieder vorzulegen. Was ist also das Ergebnis unserer Unterredung? Daß ihr entweder die bedingungslose Kapitulation von euch und eurer Vaterstadt anbietet oder in der Schlacht siegt.« Als sie das einander gesagt hatten, trennten sich Hannibal und Publius, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Am folgenden Tag, gleich bei Tagesanbruch, ließen beide ihre Truppen ausrücken und trafen die Vorbereitungen zum Kampf; den Karthagern ging es dabei um ihre Existenz und ihren Besitz in Libyen, den Römern um die Herrschaft und Macht über die Welt. Wer würde an diesem Punkt der Darstellung nicht innerlich mitgerissen? Denn man könnte weder kriegerische Truppen finden noch andere Feldherrn, die erfolgreicher gewesen sind und mit größerer Meisterschaft die Kriegführung beherrscht haben. Auch das Schicksal hat nie größere Belohnungen ausgesetzt als damals. Denn nicht nur Libyen und nicht allein Europa sollten die Sieger in dieser Schlacht beherrschen, sondern auch die anderen Teile der Welt, soweit sie bekannt sind.

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58 v. Chr.

gaius julius caesar Lektion für die Helvetier bei Bibracte Mit ihrem angestammten Land nicht mehr zufrieden, zogen die Helvetier nach Südgallien aus. Im Burgund erwartete sie Caesar (100–44 v. Chr.), römischer Statthalter in Narbonne. Dieser spricht von sich in der dritten Person, wie nach ihm Napoleon. Als Commentarii überschrieben die späteren Editoren seine Kriegsberichte – was lateinisch »schriftliche Aufzeichnungen« hieß. Soviel zur Trennung von Bericht und Kommentar, dem ­obersten ­Leitsatz im Katechismus des Gegenwartsjournalismus.

S

obald caesar die nachricht erhalten hatte, die ­Helvetier versuchten, durch unsere Provinz zu ziehen, beschleunigte er seine Abreise von Rom und eilte Hals über Kopf in das jenseits der Alpen gelegene Gallien. Als er in der Gegend von Génava angekommen war, befahl er der ganzen Provinz, Truppen soviel wie möglich zu stellen – denn es lag in Gallien jenseits der Alpen nur eine Legion –, und ließ die Brücke von Génava abbrechen. Die Helvetier hatten kaum Caesars Ankunft erfahren, so schickten sie die Angesehensten aus ihrer Mitte als Abgeordnete zu ihm; Nammeius und ­Verucloetius hießen die vornehmsten von ihnen. Sie hatten zu erklären, man sei willens, ohne jemanden zu kränken, durch unsere Provinz zu ziehen, weil es doch keinen anderen Weg sonst gebe; man bitte, Caesar möchte es mit gutem Willen geschehen lassen. Caesar fand nicht für gut, den Helvetiern ihr Begehren zu bewilligen; denn er wußte, daß eben diese Helvetier ehedem den Konsul ­Lucius ­Cassius getötet, sein Heer geschlagen und durch das schimpflichste Joch hatten kriechen lassen. Er glaubte auch nicht, Leute, die so feindselig wie die Helvetier ­gesinnt seien, würden sich bei dem gestatteten Durchzug des Unfugs und der Gewalt­tätigkeit enthalten. Um jedoch Zeit zu gewinnen, die Truppen, die er zu stellen befohlen hatte, zusammen­zubringen, antwortete er den Abgeordneten, er wolle sich Bedenkzeit nehmen. Sie möchten am 13. April wieder zu ihm kommen, wenn sie ein Anliegen ­hätten.

Caesar ließ inzwischen von seiner Legion und den Truppen, die aus der Provinz zu ihm gestoßen waren, von dem Lemannersee, der in den Rhódanus abfließt, bis an das Juragebirge, die Grenze zwischen dem Séquaner- und Helvetiergebiet, einen 19 000 Schritte langen und 16 Fuß hohen Damm und Graben ziehen. Als er mit dieser Anlage fertig war, besetzte er sie und errichtete befestigte Türme, um den Feind desto leichter abwehren zu können, wenn er gegen seinen Willen übersetzen wollte. Als an dem verabredeten Tage die Abgeordneten sich wieder bei ihm einfanden, sagte er, man könne nach dem herkömm­lichen Brauch des römischen Volkes niemandem einen Durchzug durch die Provinz gestatten, und gab auch zu verstehen, er würde sie zurückschlagen, wenn sie etwa versuchen sollten, Gewalt zu gebrauchen. Nach fehlgeschlagener Hoffnung versuchten die Helvetier, aus zusammengejochten Schiffen und einer guten Anzahl von Flößen, die sie gemacht hatten, zum Teil auch an den Furten des Rhódanus, wo der Fluß nicht so tief ist, zu Zeiten bei Tage, häufiger bei Nacht, sich einen Weg zu öffnen. ­Allein, durch die Befestigungsanlagen, unsere herbeieilenden Truppen und ihre Gegenwehr wurden sie zum Weichen gebracht und standen endlich von ihrem Vor­ haben ab. Einzig der Weg durch das Gebiet der Séquaner blieb also noch übrig, den man aber gegen deren Willen seiner Enge wegen nicht benutzen konnte. Da nun die Helvetier von sich aus die Séquaner nicht bereden konnten, schickten sie Abgeordnete an den Häduer Dúmnorix, die Erlaubnis durch seine Für37

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

sprache von den Séquanern zu erhalten. Dúmnorix vermochte wegen der Gunst, in der er bei den Séquanern stand, und wegen seiner Freigebigkeit sehr vieles, war wegen seiner Frau, die eine Tochter des Orgétorix und also eine Helvetierin war, gut helvetisch gesinnt, suchte aus Begierde, Herr in seinem Staat zu werden, Neuerungen zu erregen, und war beflissen, sich so viele Staaten, wie er immer konnte, durch erwiesene Dienste verbindlich zu machen. Er übernahm deshalb den Auftrag, erhielt von den Séquanern einen freien Durchzug für die Helvetier und brachte zuwege, daß beide Völker einander Geiseln gaben: Die Séquaner wollten die Helvetier nicht am Durchmarsch hindern, die Helvetier aber, ohne jemanden zu mißhandeln oder zu kränken, durch­ziehen. Caesar erhielt die Nachricht, der Helvetier Entschluß sei, durch das Séquaner- und Häduerland in das santonische Gebiet zu ziehen, welches in der Nachbarschaft der Tolosaten – eines Volks in der Provinz – liegt. Er sah voraus, die Provinz würde zu ihrem großen Nachteil ein kriegerisches, gegen Rom feindseliges Volk auf einer Seite, wo sie allen Anfällen offensteht und das Land ungemein fruchtbar ist, zu Nachbarn haben, wenn die Helvetier ihr Vorhaben ausführten; er machte deshalb den Legaten Titus Labienus zum Befehlshaber der Befestigung, die er angelegt hatte, und verfügte sich eilends nach Italien. Hier hob er zwei Legionen aus und zog seine drei andern, die um Aquileja herum in den Winterquartieren lagen, an sich. Mit diesen fünf Legionen eilte er auf dem nächsten Weg über die Alpen nach dem jenseitigen Gallien. Die Keútronen, Grajókeler und Katurígen hatten zwar das Gebirge besetzt und suchten dem Heer den Weg zu sperren, doch sie wurden in mehreren Treffen zurückgeschlagen, und Caesar kam am siebenten Tage von Ócelum, der letzten Stadt in der diesseitigen Provinz, in das Land der Vokontier, eines Volkes im jenseitigen Gallien. Von da führte er das Heer in das Gebiet der Allóbroger, hernach in das der Segusiaver. Dies ist das erste Land außerhalb der Provinz jenseits des Rhódanus. Die Helvetier hatten ihre Scharen durch den Engpaß und das Gebiet der Séquaner geführt und waren in das der Häduer gelangt, wo sie das Land zu verheeren anfingen. Die Häduer waren nicht imstande, sich und das Ihrige gegen den Feind zu verteidigen; sie schickten deshalb nach Caesar und baten ihn um Hilfe. Sie hätten sich zu allen Zeiten so um das römische Volk verdient gemacht, daß man nicht fast vor den Augen unserer Armee ihre Felder hätte verwüsten, ihre Kinder in die Sklaverei schleppen und ihre Städte wegnehmen lassen dürfen. Um eben diese Zeit teilten die Ambarrer, Freunde und Blutsverwandte der Häduer, Caesar mit, ihr Land sei verwüstet, und sie könnten nicht leicht mehr den Ansturm

der Feinde von ihren Städten abwehren. Auch die Allóbroger, die jenseits des Rhódanus Dörfer und Besitzungen hatten, flüchteten sich zu Caesar und machten die Anzeige, es sei ihnen nichts mehr als der Grund und Boden von ihren Feldern übrig. Auf diese Nachricht hin faßte Caesar den Entschluß, nicht ferner mehr abzuwarten, bis die Bundesgenossen des römischen Staates gänzlich zugrunde gerichtet wären und die Helvetier das santonische Gebiet erreicht hätten. Die Helvetier gingen unterdessen auf Flößen und zusammengejochten Kähnen über den Ararfluß, welcher durch das Séquaner- und Häduergebiet in den Rhódanus fließt, aber so unglaublich langsam, daß man mit dem freien Auge nicht unterscheiden kann, wohin er läuft. Als Caesar durch Kundschafter erfahren hatte, drei Teile des helvetischen Heeres seien schon übergesetzt, der vierte allein stehe noch diesseits des Arar, da brach er noch um die dritte Nachtwache mit drei Legionen aus dem Lager auf und kam zu den Feinden, die noch nicht den Fluß passiert hatten. Behindert und nichtsahnend, wie sie waren, wurden sie überrumpelt und ein großer Teil davon zusammengehauen; der Rest ergriff die Flucht und verkroch sich in das nächste Gehölz. Das geschlagene Korps bestand aus den Truppen des Tigurinergaues; das ganze Helvetierland besteht nämlich aus vier Gauen. Dieser Gau allein hatte in den vorigen Zeiten bei einem Zuge außer Landes den Konsul Lucius Cassius getötet und sein Heer durch das Joch kriechen lassen. Der helvetische Gau also, von dem das römische Volk eine so merkwürdige Niederlage erlitten hatte, mußte zuerst, es mochte nun ein Zufall oder eine Fügung der unsterblichen Götter sein, seine Strafe leiden; und Caesar rächte nicht allein Rom für den erlittenen Verlust des Cassius, sondern auch seine eigne Anverwandtschaft, denn die Tiguriner hatten in dem nämlichen Treffen, wo Cassius blieb, auch den Legaten Lucius Piso, den Großvater seines Schwiegervaters Lucius Piso, erschlagen. Nach diesem Treffen ließ Caesar eine Brücke über den Arar schlagen, um das übrige Heer der Helvetier einholen zu können, und führte seine Armee hinüber. Seine plötzliche Ankunft setzte die Helvetier in Schrecken, indem sie sahen, er sei in einem Tage über den Fluß gegangen, über den sie mit genauer Not kaum in zwanzig Tagen gekommen waren; sie schickten daher Gesandte zu ihm, deren Haupt Dívico war, der in dem Krieg gegen Cassius die Helvetier geführt hatte. Er trug Caesar folgendes vor: Würde das römische Volk mit den Helvetiern Frieden schließen, so wollten sie dahin ziehen und da bleiben, wohin sie Caesar versetzen würde und haben wollte. Setzte er aber den Krieg fort, so möchte er doch die vorige Niederlage des römischen Volkes und die dabei bezeigte 38

58 v. chr. – gaius julius caesar – lektion für die helvetier bei bibracte

Tapferkeit der Helvetier erwägen. Wenn er unversehens die Truppen eines Gaues überfallen hätte, während die übrigen den Fluß schon überschritten und nicht zu Hilfe hätten kommen können, so solle er wegen dieser Heldentat mit seiner Tapferkeit nicht allzusehr großtun oder sie selbst verachten. Sie hätten von ihren Vätern und Vorfahren gelernt, mehr mit tapferer Faust zu kämpfen als sich auf Betrug oder Hinterlist zu verlassen. Er solle sich deshalb hüten, daß nicht der Ort, wo sie Stellung bezogen hätten, durch eine Niederlage des römischen Volkes und den Untergang seine Heeres berühmt und dem Gedächtnis der Nachwelt überliefert werde. Caesar gab zur Antwort, er habe um so weniger Anlaß zu zweifeln, als er selbst den ganzen Verlauf der Sache, welche die Helvetier erwähnt hätten, wohl im Gedächtnis habe, und das Schicksal jenes römischen Heeres kränke ihn um so mehr, je weniger es sich dieses durch sein Verschulden zugezogen habe. Wäre es sich nämlich eines Vergehens bewußt gewesen, so hätte es sich gar leicht vor allem Schaden hüten können; allein, eben dadurch sei es in die Falle geraten, daß es sich weder einer Mißhandlung gegen die Helvetier schuldig gewußt, um von ihnen etwas gegenwärtigen zu müssen, noch geglaubt habe, es hätte ohne Ursache etwas zu befürchten. Gesetzt auch, er wollte diese alte Beleidigung vergessen, könnte er wohl die neuen Vergehen, daß sie gegen seinen Willen mit Gewalt durch die Provinz hätten ziehen wollen, daß sie die Häduer, die Ambarrer, die Allóbroger feindselig behandelt hätten, vergessen? Dazu komme noch ihr Großdünken, so lange straflos geblieben zu sein für ihre Gewalttaten. Die unsterblichen Götter pflegten nämlich zuweilen über Menschen, die sie für ihre Bosheiten einmal züchtigen wollten, mehr Glück als sonst zu verhängen und sie lange Zeit ungestraft dahinleben lassen, damit der Wechsel ihres Schicksals dann für sie desto kränkender werde. Doch dem allen ungeachtet wolle er Frieden mit ihnen machen, wenn sie ihm Geiseln gäben, damit er versichert sei, sie würden ihr Versprechen erfüllen, und wenn sie den Häduern und ihren Bundesgenossen wie auch den Allóbrogern den zugefügten Schaden vergüten wollten. Dívico antwortete, die Helvetier seien von ihren Vätern gewöhnt worden, Geiseln zu nehmen, aber keine zu geben. Das römische Volk selbst sei ein Beweis davon. Und mit dieser Antwort verließ er Caesar. Den folgenden Tag brachen die Helvetier auf. Caesar tat das nämliche und schickte seine ganze Reiterei, ungefähr 4000 Mann, die teils die ganze Provinz, teils die Häuser und ihre Bundesgenossen gestellt hatten, voraus, um zu rekognoszieren, wohin sich der Feind wende. Diese setzten der feindlichen Nachhut zu hitzig nach und gerieten mit den

helvetischen Reitern auf ungünstigem Gelände in ein Gefecht; dabei fielen einige unserer Leute. Die Helvetier wurden durch dieses Treffen, weil sie mit nur 500 Pferden eine so zahlreiche Reiterei zurückgeschlagen hatte, stolz und fingen an, von Zeit zu Zeit mit größerer Kühnheit haltzumachen. Caesar gab Befehl, ein Treffen zu vermeiden, und begnügte sich unter den gegenwärtigen Umständen damit, den Feind am Plündern und an der Verheerung des Landes zu hindern. So ging der Marsch beider Heere ungefähr fünfzehn Tage lang fort, wobei die feindliche Nachhut und unsere Vorhut nur ungefähr fünf- bis sechstausend Schritte voneinander entfernt waren. Unterdessen forderte Caesar täglich von den Häduern das Getreide, das ihm von seiten des Staates versprochen war; denn das auf dem Felde war wegen der Kälte – weil Gallien gegen Norden liegt, wie wir schon erwähnt haben – noch nicht reif; ja man fand nicht einmal Futter in ausreichender Menge. Jenes Getreide aber, welches auf dem Arar nachgeführt wurde, konnte Caesar nichts helfen, weil die Helvetier sich von dem Arar hinweggeschlagen hatten, und ihnen wollte er ununterbrochen nachsetzen. Die Häduer verschoben es von einem Tag zum andern. »Es wird eingeliefert, zusammengetragen, nun – nun muß es kommen«, hieß es immerfort. Als Caesar sah, man halte ihn nur mit leeren Worten hin und der Tag stehe vor der Tür, wo man dem Heer Proviant zuteilen müsse, ließ er die vornehmsten Häuser, von denen sich eine große Anzahl in seinem Lager befand, zusammenkommen, unter diesen auch Diviciácus und Liscus, welch letzterer damals die höchste Obrigkeit oder – wie die Häduer sagen – der ›Vergobret‹ war; zu diesem Amt wird jedes Jahr ein anderer gewählt, und er hat Gewalt über Leben und Tod seiner Untertanen. Caesar warf ihnen nachdrücklich vor, daß man ihm in so bedenklichen Umständen, wo man Getreide weder kaufen noch auch von den Feldern nehmen könne, wo der Feind so nahe stehe, keinen Proviant herbeischaffe; zumal er ja hauptsächlich auf ihre Bitte den Krieg angefangen habe. Noch mehr aber beschwerte er sich, daß man ihn betrüglicherweise im Stich lasse. Diese Rede bewog den Liscus endlich, eine Sache zu entdecken, die er seither verschwiegen hatte: Es fänden sich einige unter ihnen, auf deren Willen es meistens bei dem Volke ankomme; ihres Privatstandes ungeachtet hätten sie größeren Einfluß als die regierende Obrigkeit. Durch böswillige und aufrührerische Reden – man müsse doch wohl lieber Gallier als Römer zu Herren haben, wenn schon ihr Staat das Übergewicht in Gallien nicht erhalten könnte; man solle ja nicht zweifeln, die Häduer würden nicht auch wie die übri39

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

gen Gallier um ihre Freiheit kommen, wenn die Römer einmal mit den Helvetiern fertig wären – hielten sie den gemeinen Mann davon ab, das zu liefernde Getreide herzugeben. Von denselben Leuten würden alle unsere Pläne, und was nur immer im Lager vorgehe, dem Feind verraten. Seine Gewalt gehe nicht so weit, sie in Schranken zu halten. Ja er sehe, wie gefährlich es für ihn sei, daß er, obschon aus Not, dem Caesar diese Entdeckung gemacht habe; und deswegen habe er auch solange wie möglich geschwiegen. Caesar merkte, die ganze Rede des Liscus gehe auf des Diviciácus Bruder Dúmnorix; allein, weil er die Sache nicht öffentlich vornehmen wollte, ließ er die Versammlung schnell auseinandergehen. Nur den Liscus behielt er bei sich und begehrte eine nähere Erklärung zu dem, was er in der Versammlung gesagt hatte. Liscus redete nun mit mehr Mut und Herz. Auch bei anderen erkundigte sich Caesar insgeheim und fand, daß es sich tatsächlich so verhielt: Dúmnorix sei wirklich ein höchst unternehmender Mensch, beim Volk äußerst beliebt seiner Freigebigkeit wegen, und er arbeite auf den Umsturz hin. Er habe schon seit einer beträchtlichen Zeit die Zölle und alle übrigen Abgaben der Häduer um einen geringen Preis gepachtet; denn wenn er einmal geboten habe, so unterstehe sich niemand, ihn zu überbieten. Dadurch sei sein Vermögen angewachsen, und er habe sich in den Stand gesetzt, häufig Geschenke machen zu können. Er unterhalte auf eigene Kosten ein starkes Geschwader von Reitern und habe es allzeit bei sich. Er vermöge nicht allein in seinem Staat, sondern auch bei den benachbarten sehr vieles, und um dieser Macht willen habe er seine Mutter ins Biturgische an einen sehr vornehmen und vielvermögenden Mann verheiratet; er selbst habe eine Helvetierin zur Frau; seine Halbschwester von der Mutter her und weiter Verwandte habe er Männern aus anderen Staaten gegeben. Wegen dieser Anverwandtschaft habe er viele Neigung und Liebe zu den Helvetiern; dem Caesar und den Römern sei er auch aus persönlichen Gründen gram: denn durch ihre Ankunft habe er vieles von seiner Macht verloren und sein Bruder Diviciácus sein voriges Ansehen und die Achtung im Staat wiedererhalten. Fiele dieser Krieg nicht zum Besten der Römer aus, so habe er die größte Hoffnung, mit Unterstützung der Helvetier die Herrschaft zu erlangen; bei der Übermacht der Römer verlöre er nicht nur die Hoffnung auf künftige Herrschaft, sondern auch auf die Achtung, in der er gegenwärtig stehe. Caesar erfuhr auch bei Gelegenheit dieses Nachfragens, Dúmnorix und seine Reiter – er kommandierte die Reiterei, die die Häduer dem Caesar zur Hilfe geschickt hatten – seien in dem Reiterscharmützel, das ei-

nige Tage zuvor unglücklich ausgefallen war, zuerst geflohen, und ihre Flucht habe die übrige Reiterei in Schrecken gesetzt. Als dies ermittelt war und zu diesen Verdachtsgründen die untrüglichsten Beweise kamen – der den Helvetiern verschaffte Durchmarsch durch das Séquanerland; daß er für den Austausch von Geiseln gesorgt und dies alles nicht nur ohne Caesars und seines eigenen Staates Auftrag, sondern auch ohne ihr Wissen getan habe; die Anklage durch die höchste Obrigkeit der Häduer –, da glaubte Caesar hinlänglich berechtigt zu sein, ihn entweder selbst zu bestrafen oder durch seinen Staat bestrafen zu lassen. Ein einziges Hindernis stand diesem allem im Wege: Caesar hatte seines Bruders Diviciácus überaus großen Eifer für das römische Volk, seine ungemein starke Zuneigung für ihn selbst, seine außerordentliche Treue, Gerechtigkeitsliebe und Mäßigung erfahren und fürchtete, er möchte ihn durch Dúmnorix´ Bestrafung kränken. Ehe er also etwas unternahm, ließ er den Diviciácus zu sich kommen, und nachdem die gewöhnlichen Dolmetscher auf die Seite getreten waren, unterredete er sich mit ihm durch seinen Vertrauten Gaius Valerius Troucillus, den angesehensten Mann aus der Provinz, zu dem er in allen Stücken das größte Zutrauen hatte. Er erinnerte Diviciácus an das, was in dessen eigener Gegenwart bei der Versammlung der Kelten über Dúmnorix gesagt worden war, und entdeckte ihm zugleich, was ein jeder gesondert bei ihm gesagt habe. Er bat ihn eindringlich, sich nicht verletzt zu fühlen, wenn er entweder selbst gegen seinen Bruder eine Untersuchung einleite und ein Urteil fälle oder seinem Staat befehle, dies zu tun. Diviciácus umarmte Caesar unter vielen Tränen und beschwor ihn, er möge doch keine zu harte Strafe über seinen Bruder verhängen. Es sei alles wahr, er wisse es wohl, und niemand empfinde darüber mehr Schmerz als er; denn Dúmnorix, da er seiner jungen Jahre wegen ohne alles Ansehen gewesen sei, wäre durch ihn, der damals durch die Gunst, in der er beim Volk in seinem Staat und dem übrigen Keltenlande gestanden sei, sehr vieles vermocht habe, ein großer Mann geworden. Er gebrauche nun freilich diesen Einfluß und diese Macht dazu, nicht nur die Gewogenheit des Volkes gegen ihn zu schwächen, sondern auch ihn fast zugrunde zu richten. Allein, er sei doch sein Bruder und der Liebling des Volkes. Wenn ihm etwas Schwerwiegendes von Caesar widerfahren sollte, während er selbst dessen Freundschaft in so hohem Grade besäße, so werde ein jeder glauben, es sei mit seiner Einwilligung geschehen; und das würde ihm den Widerwillen der Kelten zuziehen. Da er dies noch umständlicher, mit 40

58 v. chr. – gaius julius caesar – lektion für die helvetier bei bibracte

vielen Tränen flehend vorbrachte, ergriff Caesar seine Hand, sprach ihm tröstlich zu und sagte, er möge doch dem Flehen ein Ende machen, mit der Versicherung, er gelte bei ihm so viel, daß er auf sein Verlangen und Bitten ein Staatsverbrechen und die persönliche Kränkung ungestraft wolle hingehen lassen. Hierauf ließ er Dúmnorix zu sich rufen und sagte ihm im Beisein seines Bruders, was er ihm vorzuwerfen habe; er stellte ihm vor, was er selbst durchschaut habe und worüber sich der Staat beschwere. Er mahnte ihn zuletzt, in der Zukunft keine Ursache mehr zu einem neuen Verdacht zu geben; das Geschehene wolle er ihm seines Bruders Diviciácus zuliebe verzeihen. Doch stellte er Dúmnorix unter Aufsicht, damit er allezeit wisse, was er treibe und mit wem er sich unterhalte. An dem nämlichen Tage erhielt Caesar durch Späher Nachricht, der Feind habe sich 8000 Schritte von seinem Lager am Fuß eines Berges festgesetzt. Er ließ sogleich den Berg, und wie er durch einen Umweg zu ersteigen sei, erkunden und vernahm, es könne ohne viele Mühe geschehen. Auf diese Nachricht gab er seinem Legaten und Stellvertreter, dem Titus Labienus, den Befehl, um die dritte Nachtwache mit zwei Legionen und den Führern, die den Weg erkundet hatten, den Bergrücken zu ersteigen, und teilte ihm seinen Plan mit. Er selbst ging um die vierte Nachtwache auf demselben Weg, den der Feind genommen hatte, gerade auf ihn los. Die ganze Reiterei bildete die Vorhut, und Publius Considius, der unter Lucius Sulla und hernach unter Marcus Crassus gedient hatte und als ein ungemein erfahrener Soldat galt, ging mit Spähern voraus. Mit dem Anbruch des Tages, da Labienus schon auf dem Gipfel des Berges stand und Caesar nur noch 1500 Schritte vom feindlichen Lager entfernt war – die Helvetier wußten damals, wie wir hernach von den Gefangenen erfahren haben, von beidem noch nichts –, kam Considius in vollem Galopp zu Caesar gesprengt mit der Nachricht, der Berg, den ­Labienus habe wegnehmen sollen, sei vom Feind besetzt: er habe dies aus den gallischen Waffen und Feldzeichen erkannt. Caesar zog sich bei dieser Nachricht auf den nächsten Hügel zurück und stellte seine Truppen in Schlachtordnung. Labienus erwartete unterdessen die Unsrigen auf dem Gipfel, den er besetzt hatte, nach dem Befehl Caesars, sich still zu halten, bis seine eigenen Truppen nahe beim feindlichen Lager zu sehen wären, um auf allen Seiten zugleich dem Feind auf den Leib zu gehen, und unternahm keinen Angriff. Als es endlich völlig Tag geworden war, erfuhr Caesar durch seine Späher, der Berg sei von seinen eigenen Leuten besetzt und die Helvetier abgezogen, Considius habe aus Furcht Dinge gesehen

und hinterbracht, die nicht vorhanden gewesen seien. Caesar ­folgte an diesem Tag in der gewöhnlichen Entfernung dem Feind und schlug 3000 Schritte von ihm sein Lager auf. Am folgenden Tag – es waren nur noch zwei Tage übrig, bis das Heer sein Getreide empfangen mußte, und Bibracte, bei weitem die größte und volksreichste Stadt der Häduer, lag nur 18 000 Schritte entfernt – hielt es Caesar für richtig, Anstalten zu Verproviantierung seines Heeres zu machen; er wandte sich von den Helvetiern ab und zog gegen Bibracte. Den Feinden wurde dies durch Überläufer des Lucius Aemilius, eines Wachtmeisters der gallischen Reiterei, hinterbracht, und sie glaubten entweder, die Römer zögen sich aus Furcht zurück – eine Mutmaßung, die ihnen um so wahrscheinlicher vorkam, weil man am vorhergehenden Tag nach Besetzung der Anhöhe doch keinen Angriff auf sie gewagt hätte – oder hofften ganz sicher, sie von der Verproviantierung abschneiden zu können. Sie änderten daher ihr Vor­haben, schwenkten und fingen an, unsere Nachhut zu beunruhigen. Caesar führte seine Truppen, als er dies wahrnahm, auf den nächsten Hügel und schickte die Reiterei aus, den an­rü­ckenden Feind aufzuhalten. Die vier alten Legionen stellte er unterdessen in mittlerer Höhe des Hügels in drei Treffen auf; oben auf dem Hügelrücken ließ er die zwei Legionen, die er unlängst im diesseitigen Gallien ausgehoben hatte, und alle Hilfstruppen Fuß fassen, so daß er die ganze Höhe über sich mit Truppen besetzte, und währenddessen befahl er, das Gepäck der Armee an einen Ort zusammenzubringen, den das Korps auf dem Gipfel des Berges sichern sollte. Die Helvetier waren mit allen ihren Wagen gefolgt und brachten ihren Troß an einen Ort zusammen; sie warfen unsere Reiterei mit einer ungemein dichten Masse zurück und rückten, in eine Phalanx geschlossen, bis an unser erstes Treffen an. Caesar ließ zuerst sein Pferd und hernach alle übrigen auf die Seite schaffen, damit alle in gleicher Gefahr seien und keiner hoffen könnte, sich durch eine schnellere Flucht zu retten, ermunterte hierauf die Seinigen zum Treffen und fing an zu schlagen. Die römischen Soldaten trennten ohne viele Mühe durch ihre Wurfspieße von oben herab die feindliche Phalanx und fielen mit gezücktem Schwert in die aufgesprengten Öffnungen. Den Galliern war folgender Umstand beim Kampfe sehr hinderlich: mehrere Schilder wurden zugleich von einem einzigen Wurfspieß durchbohrt und dadurch aneinandergekettet; das Eisen hatte sich gebogen, man konnte also den Spieß nicht mehr herausziehen, noch auch, da an dem linken Arm eine Last von mehreren Schildern hing, ungehindert streiten. Viele ließen daher, nachdem ihr Arm lange hin und her gezerrt worden war, 41

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

den Schild fahren und fochten lieber ohne ihn. Endlich begannen sie nach großem Verlust zu weichen und sich auf eine Höhe zurückzuziehen, die sich in einer Entfernung von ungefähr 1000 Schritten vorfand. Sie hatten den Berg erreicht, und wir setzten ihnen noch ohne Unterlaß nach, als ungefähr 15 000 Bojer und Tulinger, welche die feindliche Nachhut ausmachten und den hintersten Haufen deckten, aus ihrem Marsch heraus in unsere offene Flanke fielen und uns einschlossen. Kaum sahen dies die Helvetier, die schon auf die Anhöhe gekommen waren, so taten sie einen frischen Angriff und erneuerten den Kampf. Die Römer schwenkten und bildeten zwei Fronten, mit den zwei ersten Treffen dem geschlagenen und zurückgedrängten Feind Widerstand zu leisten, mit dem dritten den neu ankommenden abzuwehren. Es folgte also nach zwei Seiten ein hartnäckiges und hitziges Gefecht. Endlich konnten die Feinde unserer Macht nicht länger widerstehen, und die einen zogen sich, wie sie angefangen hatten, auf ihren Berg, die anderen aber zu der Bagage und den Wagen zurück; denn fliehen sah man in diesem ganzen Treffen keinen Mann, obschon es von der siebenten Stunde bis zum Abend gedauert hatte. Auch spät in der Nacht noch wurde bei der Bagage gekämpft; denn sie hatten eine Wagenburg um dieselbe gezogen und warfen von oben herab Wurfgeschosse auf unsere anrückenden Truppen; einige warfen auch zwischen den Wagen und Rädern von unten her eine gewisse Art von Lanzen und Speeren, die sie Mataren und Tragulen nennen, und verwundeten unsere Leute. Nach langem Ringen nahmen endlich die Unsrigen den Troß und das Lager. Dort wurden des Orgétorix Tochter und einer von seinen Söhnen gefangengenommen. Der Rest der Helvetier, der bei diesem Treffen davonkam – ungefähr 130 000 –, lief die ganze Nacht fort und kam schon am vierten Tag im Gebiet der Língonen an, weil sie auch nicht einmal die folgenden Nächte auf ihrem Marsch rasteten, während sich unterdessen Caesar teils der Verwundeten wegen, teils um die Toten zu begraben, drei Tage aufhalten mußte und sie nicht verfolgen konnte. Doch schickte er Boten und Briefe an die Língonen, sie sollten den Helvetiern weder mit Getreide noch mit sonst etwas an die Hand gehen: sonst würde er sie wie die Helvetier behandeln. Am vierten Tag setzte er ihnen mit der ganzen Armee nach. Der Mangel an allen Lebensmitteln bewog die Helvetier, sich zu ergeben und zu dem Zweck Abgeordnete zu Caesar zu schicken. Sie trafen ihn auf dem Marsche an, warfen sich

zu seinen Füßen und baten unter Flehen und Weinen um Frieden. Caesar gebot ihnen, an dem Ort, wo ihr Heer stehe, seiner zu warten, und sie gehorchten. Bei seiner Ankunft forderte er von ihnen Geiseln, ihre Waffen und die übergelaufenen Sklaven. Während man diese zusammensuchte und an einen Ort brachte, verließen nach Anbruch der Nacht ungefähr 6000 Mann aus dem Verbigenergau, wie man ihn nennt, entweder aus Furcht, man möchte nach Auslieferung der Waffen sie zur Strafe ziehen, oder in der Hoffnung, ihre Flucht würde bei der großen Menge, die sich ergeben hatte, dem Caesar verborgen, wo nicht überhaupt unbemerkt bleiben, das Lager der Helvetier und eilten dem Rhein und Germanien zu. Als Caesar dies erfuhr, befahl er den Gauen und Ortschaften durch die sie gezogen waren, man solle die Ausreißer aufgreifen und zurückbringen, wenn sie außer Verdacht und der Schuld sein wollten. Die Zurückgebrachten behandelte er als Feinde; den übrigen aber gestand er nach der Auslieferung der verlangten Geiseln, Waffen und Überläufer die angebotene Übergabe zu. Die Helvetier, Tulinger, Latobíker, Raúraker ließ er ihr verlassenes Land wieder beziehen, und weil sie nach dem Verlust aller Verpflegung keine anderen Lebensmittel mehr in ihrem Lande fanden, wurde den Allóbrogern aufgetragen, ihnen Getreide zukommen zu lassen. Auch die Städte und Dörfer, die sie (beim Auszug) angesteckt hatten, mußten von ihnen, auf Caesars Befehl, wieder aufgebaut werden. Seine Hauptabsicht dabei war, das Land, aus dem die Helvetier gezogen waren, nicht ohne Einwohner zu lassen, damit nicht die Germanen von jenseits des Rheins des guten Bodens wegen ins Helvetische herüberzögen und Nachbarn der Provinz und der Allóbroger würden. Den Bojern gestattete er auf Ansuchen der Häduer, die sie ihrer bekannten ausnehmenden Tapferkeit wegen bei sich haben wollten, sich in deren Gebiet niederzulassen; sie räumten ihnen Felder ein und gewährten ihnen dann gleiche Rechte und eben die Freiheit, die sie selbst besaßen. Im Lager der Helvetier fand man Tafeln mit griechischer Schrift und brachte sie zu Caesar; sie enthielten ein namentliches Verzeichnis der ganzen streitbaren Mannschaft, die aus dem Lande gezogen war, und auch ein besonderes von Kindern, Alten und Weibern. Alles in allem waren es 263 000 Köpfe Helvetier, 36 000 Tulinger, 14 000 Latobíker, 23 000 Raúraker und 32 000 Bojer; davon waren 92 000 Waffen­ fähige. Die Summe aller betrug 368 000. Von dieser ganzen Zahl bezogen nur 110 000 nach der Zählung, die auf Caesars Befehl mit ihnen vorgenommen wurde, wieder ihr Land.

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Im Herzen der Finsternis Photographiert von Philip Blenkinsop

Es gibt Konflikte, die es nicht einmal zu einer Kurznachricht in der Zeitung bringen. Zu entlegen, zu unzugänglich sind die Schauplätze, zu wenig tangieren sie unsere eigene Agenda, als daß es sich lohnte, davon Notiz zu nehmen. Die Hmong sind ein kleines Bergvolk mit verstreutem Siedlungsgebiet in den Gebirgsregionen von Laos und anderen Teilen Südostasiens. In den Sechzigern, als der Vietnamkrieg auf das Territorium des neutralen Königreichs Laos übergriff, rekrutierte die CIA rund 30 000 dieser archaischen Wanderbauern, um sie gegen die erstarkenden Kräfte des kommunistischen Pathet Lao einzusetzen. Letzte Reste der einstigen Geheimarmee fristen seit dem Abzug der Amerikaner vor siebenundzwanzig Jahren und der Machtübernahme durch die Kommunisten ein elendes Dasein im laotischen Dschungel. Das Regime streitet den ­Fort­bestand des Konflikts ab und setzt weiterhin auf eine »militärische Lösung«. Dem australischen Photographen Philip ­Blenkinsop (*1965) ist mit seinem Vordringen in das militärische Sperrgebiet ein journalistischer Scoop gelungen.

aufmacherbild:

links aussen:

Im laotischen Dschungel kämpfen Reste der einstigen Geheimarmee der CIA und ihre Familien gegen ihre Vernichtung. Die Begegnung mit dem Journalisten aus dem Westen löst unbeschreibliche Szenen aus. Es ist das erste weiße Gesicht, seit die Amerikaner sie vor siebenundzwanzig Jahren zurückgelassen haben.

Eine Kugel traf Phai Lo im November 2001 in den Hals. Vier Tage später verlor ihr Mann Teng Kong Wa ein Bein durch eine Mine.

Laos, Januar 2002

links innen: Vor zwei Jahren, am 29. Dezember 2000, ist Ya Tua in eine ­Landmine getreten.

Laos, Januar 2003

Laos, Januar 2003

oben: Geheimes Lager im Morgengrauen. Laos, Januar 2003

Drei Generationen Widerstand. Der Großvater Song ­kämpfte für die Franzosen, der Vater Sai Tua auf seiten der CIA. Die Söhne Shua Yung und der zehnjährige Sai wehren sich jetzt gegen die Vernichtung durch das laotische Militär. Laos, Januar 2003

Um 1 A. D.

strabo Babylon einst und jetzt Strabo (* um 63 v. Chr., † nach 23 n. Chr.), »der Schielende« aus Amasia in Kleinasien, war weit gereist: von Persien im Osten bis ans Ligurische Meer im Westen und bis zur Grenze des heutigen Äthiopien im Süden. Als der prototypische Geograph mit dem Auge des frühen Kultur- und Sozial­historikers Anfang erstes Jahrhundert in Babylon eintraf, war die Stadt der Hängenden ­Gärten nicht mehr, was sie einst, auf ihrem Höhepunkt 600 v. Chr., gewesen war.

B

Werk nicht vollenden konnte; denn alsbald befiel den König seine Krankheit und der Tod; von den Späteren aber kümmerte sich niemand darum. Doch auch das übrige wurde vernachlässigt; denn einen Teil der Stadt zerstörten die Perser, einen anderen die Zeit und die Geringschätzung solcher Werke von seiten der Macedonier und besonders seitdem ­Seleukos Nikator in der Nähe von Babylon, etwa 300 Stadien (55,49 km) davon, Seleucia am Tigris erbaute. Denn sowohl er, als alle seine Nachfolger begünstigten diese Stadt und verlegten ihren Königssitz dahin; und so ist sie denn jetzt größer geworden als Babylon, dieses aber größtenteils verödet, so daß man kein Bedenken tragen darf, auch von ihm zu sagen, was einer der Lustspieldichter von Megalopolis in Arkadien sagte:

abylon liegt gleichfalls in der ebene und seine Mauer hat einen Umfang von 365 Stadien (67,514 km) und eine Dicke von zweiunddreißig Fuß (9,866 m); die Höhe zwischen den fünfzig Mauertürmen beträgt fünfzig Ellen (23,122 m), die der Türme aber sechzig (27,747 m); der Weg auf der Mauer hin ist so breit, daß Vierspänner leicht beieinander vorbeifahren können. Deshalb wird sowohl diese Mauer den sieben Wunderwerken beigezählt, als der schwebende Garten, welcher bei einer viereckigen Gestalt auf jeder Seite eine Länge von vier Plethren hat. Er wird von Schwibbogen bildenden Gewölben getragen, die, eines über dem anderen, auf würfelförmigen Pfeilern ruhen; diese Pfeiler aber sind hohl und mit Erde ausgefüllt, so daß sie die Wurzeln der größten Bäume fassen, und sowohl sie selbst, als die Schwibbogen und Gewölbe sind aus gebrannten Ziegelsteinen und Erdpech ausgeführt. Das oberste Stockwerk hat treppenähnliche Aufgänge und neben denselben liegende Schraubenpumpen, vermittelst deren dazu angestellte Leute beständig das Wasser aus dem Euphrat in den Garten hinaufheben. Denn der ein Stadium (185 m) breite Strom fließt mitten durch die Stadt, und der Garten liegt am Strome. – Daselbst fand sich auch das jetzt vernichtete Grabmal des Belus, welches, wie man sagt, Xerxes zerstörte. Es war aber eine vierseitige Pyramide aus gebrannten Ziegelsteinen und sowohl selbst ein Stadium hoch, als auch jede der Seiten ein Stadium lang. Alexander wollte sie wiederherstellen, aber das Unternehmen war groß und erforderte viel Zeit (denn schon das Wegräumen des Schuttes war eine Arbeit von zwei Monaten für zehntausend Menschen), so daß er das schon begonnene

Doch große Wüstenei ist jetzt die Große Stadt. Wegen Mangels an (anderem) Bauholz wird (daselbst) der Häuserbau von Balken und Pfosten aus Palmenholz bewerkstelligt; um die Pfosten aber windet man aus Stroh gedrehte Seile, welche man hernach übertüncht und mit Farben bestreicht, sowie die Türen mit Erdpech. Auch diese sind hoch und alle Häuser des Holzmangels wegen überwölbt. Denn das Land ist größtenteils kahl und trägt, den Palmbaum ausgenommen, bloß Strauchwerk; dieser aber wächst in Babylonien sehr häufig, häufig auch in Susis, an der persischen Küste und in Karmanien. Dachziegel jedoch gebrauchen sie nicht; denn sie haben wenig Regen. Ähnlich sind auch die Einrichtungen in Susis und Sitacene. 48

um 1 a. d. – strabo – babylon einst und jetzt

In Babylon war für die einheimischen Weisen, die sogenannten Chaldäer, welche sich meist mit der Sternkunde beschäftigen, ein Wohnplatz abgegrenzt. Einige (von ihnen) maßen sich auch die Deutung des Standes der Gestirne in der Geburtsstunde an, werden jedoch von den übrigen nicht anerkannt. Auch gibt es ein gewisses Volk der Chaldäer und eine von ihnen bewohnte Landschaft Babyloniens, welche den Arabern und dem sogenannten Persischen Meere benachbart ist. Auch von den sternkundigen Chaldäern gibt es mehrere Arten; denn einige heißen Orchener, andere ­Borsippener und so mehrere andere, die, gleichsam in Schulen geteilt, über dieselben Gegenstände verschiedene Lehren vortragen. Einiger dieser Männer gedenken auch die Mathematiker, wie des Cidenas, Naburianus und Sudinus; auch Seleukus von Seleucia ist ein Chaldäer und mehrere andere namhafte Männer. Borsippa ist eine heilige Stadt der Artemis und des Apollo, eine große Leinwandfabrik. In ihr findet sich eine Menge Fledermäuse und viel größere, als an an­deren Orten. Sie werden zum Essen gefangen und eingesalzen. Umgeben wird das Land der Babylonier gegen ­Osten von den Susiern, Elymäern und Parätacenern, gegen Süden von dem Persischen Meerbusen und den Chaldäern bis zu den Mesenischen Arabern hin, gegen Westen von den ScenitenArabern bis Adiabene und Gordyäa, gegen Norden endlich von den Armeniern und Medern bis zu dem Zagrus und den an ihm wohnenden Völker­schaften. Das Land wird von mehreren Flüssen durchströmt, unter welchen der Euphrat und Tigris die größten sind. Denn nächst den indischen Strömen sollen diese in den südlichen Teilen Asiens den zweiten Rang einnehmen. Sie können auch weit hinauf beschifft werden, der Tigris bis Opis und bis zum heutigen Seleucia (Opis aber ist ein Flecken und Handelsplatz für die ringsumliegenden Orte), der Euphrat aber bis Babylon, mehr als 3000 Stadien (ppt. 555 km) weit. Zwar hatten die Perser, die aus Furcht vor Angriffen von ­außen her die Hinauffahrt absichtlich verhindern wollten, von Menschenhand gemachte Wasserfälle angelegt, Alexander aber zerstörte, als er hinkam, so viele derselben, als möglich und besonders die bei Opis. Er sorgte auch für die Kanäle; denn der schon im Frühling anschwellende Euphrat tritt mit Anfang des Sommers aus, so daß die Felder notwendig überschwemmt werden und versumpfen müssen, wenn man nicht durch Gräben und Kanäle aus dem Strome austretende und überfließende Wasser ableitet, wie das Wasser des Nils in Ägypten. Daher sind denn die Kanäle entstanden; doch bedürfen sie großer Nachhilfe, denn die Erde ist tief, weich und nachgebend, so daß sie von den Fluten des Stromes

leicht weggespült wird und die Ebene ihrer Decke beraubt, die Kanäle aber anfüllt und daß der Schlamm dann leicht ihre Mündungen verstopft. So ereignete es sich denn wiederum, daß der sich in die Ebenen der am Meer ergießende Überfluß des Wassers Seen, Sümpfe und Schilf erzeugt, woraus allerlei Gerätschaften geflochten werden, die man teils durch Bestreichen mit Erdpech wasserdicht macht, teils unbestrichen gebraucht. Auch Segel werden aus dem Schilf verfertigt, den Matten oder Flechten ähnlich. Solche Überschwemmungen nun gänzlich zu verhindern, ist vielleicht unmöglich, doch ist es wenigstens Pflicht guter Herrscher, die mögliche Hilfe (dagegen) zu bringen. Diese Hilfe aber besteht darin, daß ein starker Seitenerguß durch Eindämmung, die Anfüllung der Kanäle aber, welche der Schlamm bewirkt, durch Reinigung derselben und Offenhaltung ihrer Mündungen verhindert wird. Die Reinigung nun ist leicht, die Eindämmung aber erfordert viele Hände; denn da die Erde nachgebend und weich ist, so trägt sie den aufgeworfenen Schutt nicht, sondern weicht und zieht auch jenen mit nach und macht die Öffnung schwer verstopfbar. Aber auch der Eile bedarf es, damit die Kanäle schnell geschlossen werden und nicht alles Wasser ihnen entfließe. Denn wenn sie im Sommer austrocknen, trocknen sie auch den Strom aus; wenn aber dieser niedrig steht, so kann er nicht zu rechter Zeit die Bewässerung bewirken, deren das im Sommer meist durchglühte und verbrannte Land bedarf. Es macht aber keinen Unterschied, ob die Früchte bei großem Wasser ersaufen oder bei Wassermangel durch Durst verschmachten. Jedoch auch die Schiffahrt stromaufwärts, die so großen Nutzen bringt, aber durch beide ebenerwähnten Gegenstände stets gestört wird, kann nicht geregelt werden, wenn nicht die Mündungen der Kanäle schnell geöffnet und schnell (wieder) geschlossen werden und die Kanäle stets eine mittlere Höhe behalten, so daß das Wasser in ihnen weder überfließe, noch fehle. Aristobulus erzählt, Alexander habe selbst hinaufschiffend und das Fahrzeug steuernd die Kanäle durchsucht und durch die Menge seines Gefolges reinigen, ebenso aber auch einige Mündungen zuschütten, andere aber öffnen lassen; und da er bemerkte, daß einer von ihnen, der vorzüglich zu den Seen und Sümpfen vor Arabien führende, eine besonders schwer zu bearbeitende Mündung hatte und des nachgebenden und weichen Erdbodens wegen nicht leicht zugedämmt werden konnte, so habe er, einen steinigen Punkt dreißig Stadien (5,549 km) abwärts wählend, eine andere neue Mündung eröffnet und auch den Kanallauf dahin verlegt. Dies aber habe er zugleich aus Fürsorge dafür getan, daß nicht Arabien, das so schon der Wassermenge wegen einer Insel 49

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

gleiche, durch die Seen und Sümpfe ganz unzugänglich gemacht werde. Denn (sagt er) er beabsichtige (auch) dieses Land zu erobern und hatte schon Flotten und Waffenplätze vorbereitet, indem er die Schiffe teils in Phönizien und Zypern aus zerlegbaren und durch Pflöcke verbundenen Stücken zimmern ließ, welche dann sieben Stathmen weit nach Thapsakus gebracht und von da auf dem Strome bis Babylon hinabgeführt wurden, teils in Babylonien aus den Zypressen der Götterhaine und Lustgärten erbaut. Denn dort ist Mangel an Bauholz, bei den Kossäern aber und einigen anderen Völkern nur mäßiger Vorrat. Als Ursache des Krieges, sagt Aristobulus, habe er vorgeschützt, daß unter allen Völkern nur die Araber keine Gesandten an ihn abgesandt hätten, der wahre Grund aber sei das Streben gewesen, Beherrscher zu sein; und weil er gehört, daß nur zwei Götter von ihnen verehrt würden, Zeus und Dionysos, welche die notwendigsten Bedürfnisse fürs Leben gewähren, so habe er gehofft, als der dritte von ihnen verehrt zu werden, wenn er sie bezwungen und ihnen die urväterliche Selbständigkeit, welche sie früher besessen, zu behalten erlaubt hätte. Dies also habe Alexander hinsichtlich der Kanäle ausgeführt und (zugleich) die Grabmäler der Könige und Fürsten durchsucht; denn die meisten (derselben) befänden sich (dort) in den Sümpfen. Eratosthenes aber sagt, der Seen bei Arabien gedenkend, das Wasser habe sich aus Mangel an Abflüssen Gänge unter der Erde eröffnet, und durch sie gelange es bis zu den Cölesyrern; dort aber breche es wieder hervor in den Gegenden um Rhinokorura und den Berg Kasius her und bilde die dortigen Seen und Wasserschlünde. Ich weiß aber nicht, ob er Glaubwürdiges berichtet hat. Denn die Ergießungen des Euphrat, welche die Seen und Sümpfe bei Arabien bilden, sind in der Nähe des Persischen Meeres; die sie davon scheidende Landenge aber ist weder breit noch felsig, so daß es wahrscheinlicher wäre, daß das Wasser hier in das Meer hinausbräche, sei es unter der Erde, sei es auf der Oberfläche, als daß es weiter als 6000 Stadien (1100 km) eine so wasserlose und dürre Gegend durchlaufen sollte, und noch dazu da Berge in der Mitte liegen, der Libanus, Antilibanus und Kasius. Solches also berichten diese. Polykleitos aber behauptet, der Euphrat fließe gar nicht über; denn er durchströme große Ebenen, die Berge aber wären größtenteils 2000 Stadien (370 km) entfernt, die kossäischen zwar kaum tausend (185 km), diese aber wären nicht sehr hoch, auch nicht stark beschneit und bewirkten kein rasches Schmelzen des Schnees. Denn die Gipfel dieser Berge lägen in den nördlichen Strichen oberhalb Ekbatanas, würden aber nach Süden zu sich teilend und weiter

ausbreitend viel niedriger; außerdem aber nehme auch der Tigris das meiste Wasser auf und trete somit aus. Diese letzte Behauptung nun ist offenbar widersinnig, denn der Tigris fließt in dieselben Ebenen hinab; die erwähnten Gipfel der Berge aber zeigen eine Ungleichheit, indem die nördlichen höher ansteigen, die südlichen hingegen sich niedriger ausbreiten; der Schnee aber wird nicht allein nach den Höhen, sondern auch nach den Breitestrichen beurteilt, und derselbe Berg wird auf der nördlichen Seite mehr beschneit, als auf der südlichen, und jene hat länger liegenbleibenden Schnee, als diese. Der Tigris also, der das Schneewasser, dessen nicht viel da ist, da es von der Südseite kommt, aus den südlichsten, in der Nähe von Babylon liegenden Teilen Armeniens empfängt, wird wohl weniger austreten; der Euphrat dagegen empfängt das Wasser von beiden Seiten und nicht von einem Gebirge, sondern von vielen, wie ich in der Beschreibung Armeniens gezeigt habe, indem ich auch die Länge des Stromes angab, soweit er Groß- und Klein-Armenien durchfließt, dann soweit er aus Klein-Armenien und Kappadocien den Taurus durchbrechend bis Thapsakus vordringt, das untere Syrien und Mesopotamien scheidend, endlich so weit er noch bis Babylon und bis zur Mündung strömt, ­zusammen 36 000 Stadien (6660  km). Soviel also von den Kanälen (Babyloniens). Das Land erzeugt so viel Gerste, wie kein anderes (denn man sagt dreihundertfältig); die übrigen (Bedürfnisse) aber werden durch den Palmbaum befriedigt. Denn Brot, Wein, Essig, Honig, Mehl und allerlei Flechtwerk kommt von ihm. Der Kerne bedienen sich die Schmiede statt der Kohlen, aufgeweicht aber dienen sie dem Mastvieh, sowohl Rindern als Schafen, zur Nahrung. Es soll sogar ein persisches Gedicht geben, worin dreihundertsechzig Benutzungsarten der Palme aufgezählt werden. Auch des Sesamöles bedient man sich häufig; die übrigen Länder aber entbehren dieser Pflanze. In Babylonien bildet sich auch viel Erdpech, von ­welchem Eratosthenes folgendes berichtet: »Das flüssige, welches man Naphtha nennt, erzeugt sich in Susis, das trockene aber, welches verhärten kann, in Babylonien. ­Seine Quelle findet sich unweit des Euphrat. Wenn dieser beim Schmelzen des Schnees austritt, füllt sich auch jene und ergießt sich in den Strom hinüber; hier aber bilden sich große, beim Häuserbau aus gebrannten Ziegelsteinen brauchbare Klumpen.« Andere behaupten, auch das flüssige Erdpech erzeuge sich in Babylonien. Vom trockenen ist bereits angeführt, wie nützlich es namentlich beim Häuserbau ist; man sagt aber auch, daß Fahrzeuge geflochten und durch einen 50

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Überzug von Erdpech wasserdicht gemacht werden. Das flüssige aber, welches man Naphtha nennt, hat sonderbare Eigenschaften. Denn dem Feuer nahe gebracht, reißt es dasselbe an sich, und wenn man einen damit bestrichenen Gegenstand dem Feuer nähert, so brennt er an und läßt sich nicht durch Wasser löschen (denn er entbrennt dann um so mehr), ausgenommen durch eine sehr große Masse; aber durch Lehm, Essig, Vitriol und Vogelleim erstickt, erlischt es. Eines Versuches wegen soll Alexander im Bade einen Knaben mit Naphtha begossen und ihm ein Licht genähert haben. Sogleich sei der Knabe angebrannt und dem Tode nahe gekommen, wenn nicht die Umstehenden mit vielem über ihn geschüttetem Wasser die Flamme erstickt und ihn gerettet hätten. Posidonius sagt, die Quellen in Babylonien gäben teils weißes, teils schwarzes Naphtha, einige davon aber (ich meine die des weißen, dieselben, die auch die Flammen anziehen) flüssigen Schwefel, andere jedoch, die des schwarzen, das flüssige Erdpech, welches man statt des Öls in den Lampen brennt.

Vor alters nun war Babylon die Hauptstadt Assyriens, jetzt aber ist es Seleucia mit dem Beinamen »am Tigris«. In der Nähe liegt ein großer Flecken namens Ktesiphon. Diesen machten die Könige der Parther zu ihrer Winterresidenz, um die Einwohner von Seleucia zu schonen und sie nicht mit Einquartierung skythischen Volks und Kriegsheers belegen zu müssen. So ist sie denn durch parthische Macht jetzt statt eines Fleckens eine Stadt, die teils ihrem Umfange nach eine gewaltige Menschenmenge faßt, teils von jenen (Königen) selbst mit allen Bedürfnissen ausgestattet und mit Handelswaren und den für diese erforderlichen Künsten reichlich versehen ist. Denn die Könige pflegen hier des milden Klimas wegen den Winter zuzubringen, den Sommer aber zu Ekbatana und in Hyrkanien wegen des Vorzugs alten Ruhmes. Wie wir aber das Land Babylonien nennen, so heißen auch die von dort gebürtigen Männer Babylonier, nicht nach der Stadt, sondern nach dem Lande; noch weniger aber (benennt man einen) nach Seleucia, wenn er auch von dort gebürtig ist, wie der stoische Philosoph Diogenes.

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tacitus Nero läßt Rom niederbrennen Sine ira et studio hieß sein Wahlspruch – »ohne Zorn und Eifer«. Doch eingekreist von politischem und moralischem Verfall, den er zu epochalen Fresken ausgestaltete, entwickelt er sich zum Klassiker des Kulturpessimismus. Publius Cornelius Tacitus (* um 55 n.Chr., † nach 115) war neun Jahre alt, als Nero Rom in Flammen aufgehen ließ; er schrieb fünfzig Jahre später über den Brand.

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rande des teiches standen Lusthäuser ­voller vornehmer Frauen, und gegenüber konnte man Dirnen mit entblößtem Leibe schauen. Schon zeigten sich unzüchtige Gebärden und Bewegungen, und sobald die Dunkelheit anbrach, ertönte Gesang und erglänzten Lichter aus dem umgebenden Park sowie den umliegenden Gebäuden. Nero selbst, durch Erlaubtes und Unerlaubtes schon geschändet, hätte keinen Frevel mehr übrig gehabt, wodurch er sich verderbter hätte zeigen mögen, hätte er nicht wenige Tag darauf sich einem aus jener Schar von Lustbefleckten, er

hieß Pythagoras, ganz wie in förmlicher Ehe zum Weibe hingegeben. Dem Imperator wurde der Brautschleier umgeworfen, man sah Heiratszeugen, die Morgengabe, das Brautbett, die Hochzeitsfackeln. Alles wurde zur Schau gegeben, was selbst bei der Frau die Nacht bedeckt. Ein Unglück folgt, man weiß nicht, ob durch Zufall oder Hinterlist des Fürsten – denn beides haben die Geschichtsschreiber berichtet –, aber schwerer und entsetzlicher als alles, was diese Stadt durch Feuers Ungestüm betroffen hat. Den Anfang nahm es an der dem Palatin und dem Caelius zu51

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

gewandten Seite des Zirkus, wo längs der Buden, in denen solche Waren sich befanden, die der Flamme Nahrung geben, das Feuer in demselben Augenblicke entstand und auch schon mächtig und mit dem Winde schnell den Zirkus seiner Länge nach ergriff. Denn weder mit Brandmauern versehene Paläste, noch mit Mauern umgebene Tempel oder sonst etwas Hemmendes lag dazwischen. Ungestüm zuerst die Ebenen durchstreichend, dann sich zu den Höhen erhebend und wiederum die Niederungen verheerend, kam der Brand jeder Vorkehrung bei der Schnelligkeit des Unglücks zuvor. Die Stadt war ihm besonders ausgesetzt wegen der engen, bald hier- bald dorthin sich windenden Straßen und unregelmäßigen Häusermassen, wie das alte Rom ja war. Dazu war das Wehgeschrei der ängstlichen Frauen, das kraftlose Alter oder die Unerfahrenheit der Jugend, wie dieser für sich, jener für andere sorgte, die Schwachen mit sich schleppend oder auf sie wartend, das Zögern der einen, die Eile der anderen, kurz alles war hinderlich. So wurde man oft, wenn man rückwärts schaute, von der Seite oder von vorn eingeschlossen, oder fand, wenn man in die Nachbarschaft geflüchtet, auch diese schon vom Feuer ergriffen, selbst das entfernt Geglaubte war in derselben Gefahr. Ungewiß endlich, was man meiden, worauf man zugehen solle, füllte man die Straßen und warf sich auf den Feldern hin. Einige fanden, da sie alle ihre Habe, selbst für den täglichen Lebensunterhalt, verloren, andere aus Liebe zu den Ihrigen, die sie nicht hatten retten können, obwohl ihnen selbst ein Ausweg offenstand, den Tod. Und dabei wagte niemand Einhalt zu tun bei den häufigen Drohungen einer Menge von Menschen, welche das Löschen verwehrten, und, weil andere geradezu Feuerbrände schleuderten und riefen, sie wüßten wohl, von wem sie den Auftrag hätten, sei es nun um ungezügelte Räuberei zu treiben, oder wirklich auf Befehl. Nero, der sich in letzter Zeit zu Antium aufhielt, kehrte nicht eher nach der Stadt zurück, als bis sich das Feuer dem Gebäude näherte, durch welches er den Palast und den Park des Maecenas in Verbindung gesetzt hatte. Es war jedoch nicht zu verhindern, daß auch der Palast, das Gebäude und alles ringsumher, verbrannte. Aber zum Troste für das vertriebene und flüchtig gewordene Volk öffnete er das Marsfeld und die Bauten des Agrippa, ja seinen eigenen Park, und ließ in Eile Gebäude aufführen, um die hilflose Menge aufzunehmen. Auch wurden Lebensmittel von Ostia und den benachbarten Landstädten herbeigeschafft und der Getreidepreis bis auf drei Sesterzen herabgesetzt. So populär dies war, verfehlte es doch seine Wirkung, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, er habe gerade während des Brandes der Stadt in

seinem Hause die Bühne bestiegen und Troias Untergang besungen, das gegenwärtige Unglück Vernichtungsszenen der Vorzeit gleichstellend. Erst am sechsten Tag wurde am äußersten Rande der Esquilien der Feuersbrunst dadurch ein Ende gesetzt, daß man auf einem ungeheuren Raum die Gebäude niederriß, so daß sich der anhaltenden Gewalt offenes Feld und gleichsam leerer Himmel entgegenstellte. Und man fühlte sich noch nicht von Furcht befreit, als von neuem, nicht minder wütend, das Feuer wiederkehrte, mehr auf den offenen Plätzen der Stadt, weshalb weniger Menschen umkamen. Die Tempel der Götter und die dem Vergnügen gewidmeten Säulengänge stürzten weithin nieder und diese Feuersbrunst hatte schlimmere Nachrede, weil sie in den aemilianischen Besitzungen des Tigellinus ausgebrochen war, und es den Anschein hatte, als wolle Nero nur den Ruhm haben, eine neue Stadt zu bauen und nach seinem Namen zu benennen. Rom wird nämlich in vierzehn Bezirke eingeteilt, von denen vier unversehrt blieben, drei bis auf den Grund zerstört wurden, in den sieben übrigen standen nur noch wenige zerfetzte und halbverbrannte Trümmer von Gebäuden. Die Zahl der Häuser, Mietsgebäude und Tempel, die zu Schaden kamen, zu bestimmen, dürfte wohl nicht leicht sein. Aber die ältesten Heiligtümer, das, welches Servius Tullius der Luna, der große Altar und Tempel, welche dem anwesenden Herkules der Arkadier Evander geweiht hatte, der Tempel des Jupiter Stator, welchen Romulus gelobte, Numas Königsburg und das Heiligtum der Vesta mit den Penaten des römischen Volkes verbrannten. Ferner die durch so viele Siege erworbenen Schätze und die Zierden der griechischen Kunst, sodann auch alte und unverfälschte Denkmäler des Geistes. Bei aller Schönheit der wiederaufgebauten Stadt erinnerten sich doch ältere Personen vieler ­Dinge, die nicht ersetzt werden konnten. Es haben einige angemerkt, daß am 19. Juli, an dem auch die Senonen die eroberte Stadt in Brand gesteckt, diese Feuersbrunst ihren Anfang genommen habe. Andere sind in ihrem Forschungseifer so weit gegangen, daß sie zwischen beiden Feuersbrünsten gleich viele Jahre Monate und Tage zählen. Übrigens benützte Nero die Zertrümmerung seiner Vaterstadt und erbaute sich einen Palast, in welchem nicht nur Edelsteine und Gold zu bewundern sein sollten, was ja längst etwas Gewöhnliches und durch Verschwendung schon gemein geworden war, als vielmehr Auen und Teiche und wie in einsamen Gegenden hier Wälder, dort offene Flächen und Aussichten. Beaufsichtigt und geplant wurde die Anlage von 52

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Severus und Celer, welche Erfindungsgabe und Kühnheit besaßen, selbst das, was die Natur verweigerte, durch Kunst zu versuchen und mit den Kräften des Fürsten zu spielen. Sie hatten nämlich versprochen, vom Averner See bis zur Tibermündung einen schiffbaren Graben zu ziehen, an dürrem Gestade vorbei und durch hindernde Berge hindurch. Denn man trifft auf keine andere Feuchtigkeit, die Wasser geben könnte, als auf die pontinischen Sümpfe. Alles übrige ist Felsen oder Sand, und wäre es auch möglich, durchzubrechen, so würde die Arbeit unerträglich und der Grund unzureichend sein. Nero jedoch als ein Liebhaber vom Unglaublichen, machte den Versuch, die nächsten Höhen am Avernus zu durchstechen, und heute noch sieht man die Spuren der vereitelten Hoffnung. Indessen wurde, was der Palast von der Stadt noch übrigließ, nicht, wie nach dem gallischen Brande, ohne Unterschied und ohne Ordnung wieder aufgeführt, sondern in regelmäßigen Häuserreihen, mit breitem Straßenraume und beschränkter Höhe der Gebäude, sowie mit freien Höfen und dazu mit Säulengängen, um die Front der Mietsgebäude zu decken. Diese Säulengänge versprach Nero auf seine Kosten aufzuführen und die Höfe den Eigentümern gereinigt zu übergeben. Auch setzte er nach dem Stande und Vermögen eines jeden Prämien aus und bestimmte eine Zeit, innerhalb welcher die Häuser oder Mietsgebäude fertig sein mußten, um sie zu erhalten. Zur Aufnahme des Schuttes bestimmt er die Sümpfe bei Ostia, und daß die Schiffe, welche Getreide den Tiber hinaufgefahren, mit Schutt beladen hinab­fahren sollten, desgleichen, daß die Gebäude selbst bis zu einer gewissen Höhe ohne Gebälk massiv von gabinischem oder ­albanischem Stein, weil dieser feuerfest ist, errichtet würden und daß sie auch keine gemeinsamen Wände, sondern jedes ­Gebäude ringsumher seine eigenen Mauern hätte. Ferner sollte das willkürlich von Privatleuten aufgefangene Wasser, damit es reichlicher und an mehreren Orten für das Publikum flösse, Aufseher bekommen, und ein jeder Löschwerkzeuge an einem zugänglichen Platz halten. Dies alles, um der Zweckmäßigkeit willen angenommen, verlieh der ­neuen Stadt auch Schönheit. Indes glaubten einige doch, es sei jene alte Gestalt Roms der Gesundheit zuträglicher gewesen, weil die Enge der Straßen und die Höhe der Gebäude die Sonnenhitze nicht so eindringen ließ, wogegen jetzt die offene, durch keinen Schatten geschützte Breite in um so drückenderer Hitze glühe. Dies nun waren Veranstaltungen menschlicher Vorsicht. Darauf suchte man Sühnmittel für die Götter und befragte die sibyllinischen Bücher, nach welchen dem Vulcan, der ­Ceres und der Proserpina ein Betfest gehalten, und Juno von

den Matronen versöhnt wurde, zuerst auf dem Kapitol, dann an der nächsten Küste des Meeres, aus welchem Wasser geschöpft, und Tempel und Bilder der Göttin besprengt wurden. Auch Sellisternien und Pervigilien feierten die Frauen, welche Männer hatten. Doch nicht durch Sühnungen der Götter ließ sich das schmähliche Gerücht bannen, daß man glaubte, die Feuersbrunst sei befohlen worden. Um daher dies Gerede zu beenden, gab Nero denen, die wegen ihrer Schandtaten verhaßt das Volk Christen nannte, die Schuld, und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen. Der, von welchem dieser Name ausgegangen, Christus, war unter der Regierung des Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden. Der für den Augenblick unterdrückte verderbliche Aberglaube brach nicht nur in Judäa, dem Vaterlande dieses Unwesens, sondern auch in Rom, wo von allen Seiten alle nur denkbaren Greuel und Abscheulichkeiten zusammenfließen und Anhang finden, wieder aus. Anfangs wurden ­solche ergriffen, welche sich dazu bekannten, und dann auf deren Anzeige hin eine ungeheure Menge nicht nur der Brandstiftung als auch des allgemeinen Menschenhasses bezichtigt. Bei ihrem Tod wurde auch noch Spott mit ihnen getrieben, indem sie, bedeckt mit den Fellen wilder Tiere, von Hunden zerrissen oder ans Kreuz geheftet starben oder zum Feuertode bestimmt, sich zur nächtlichen Erleuchtung verbrennen lassen mußten, wenn sich der Tag neigte. Nero hatte seinen Park zu diesem Schauspiel geöffnet und gab ein Zirkusspiel, wobei er sich im Aufzuge eines Wagenlenkers unter das Volk mischte, oder auf dem Wagen stand. Daher wurde auch für noch so Schuldige, welche die härtesten ­Strafen verdienten, Mitleiden rege, als würden sie nicht dem allgemeinen Besten, sondern der Mordlust eines einzigen ­geopfert. Unterdessen wurde, um Geld zusammenzutreiben, Italien ausgeplündert, die Provinzen, die Bundesvölker und die sogenannten freien Städte zu Grunde gerichtet, ebenso die Bundesvölker und die sogenannten freien Städte. Dieser Plünderung verfielen auch die Götter, indem man die Tempel in Rom beraubte und das Gold wegschleppte, welches bei Triumphen, bei Gelübden jede Generation des römischen Volkes im Glücke oder in der Furcht geweiht hatte. Ja, in Asien sowie in Achaja wurden nicht nur die Geschenke, sondern auch die Bildnisse der Götter weggenommen, durch Acratus und Secundus Caprinas, die man in jene Provinzen sandte. Jener war ein Freigelassener, zu jeder Schändlichkeit bereit, dieser in griechischer Bildung bis zur Zungenfertigkeit wohl bewandert, dem Geiste hatte er von edler Kunst nichts angeeignet. Man erzählte, Seneca habe, um das Gehässige des Tempelraubes von sich abzuwenden, um zurück53

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

gezogenes Leben auf einem fernen Landgute gebeten und sei, als dies ihm nicht gestattet worden war, sich krank stellend, als leide er an den Nerven, nicht aus seinem Schlafgemach gekommen. Einige haben berichtet, es sei ihm von seinem eigenen Freigelassenen, Cleonicus mit Namen, auf Neros

Befehl Gift bereitet worden. Seneca sei dem durch den Verrat des Freigelassenen oder durch eigene Besorgnis entgangen, indem er mit sehr einfacher Kost, mit wildem Obst und, wenn der Durst ihn quälte, mit fließendem Wasser sein Leben fristete.

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flavius josephus Die Belagerung von Jerusalem Flavius Josephus (* Jerusalem 37/38, † Rom um 100) war führend am jüdischen Aufstand (66–70) beteiligt, ehe er zu den Römern überging und in Rom in griechischer Sprache die »Geschichte des jüdischen Krieges« abfaßte. Für einmal wurde diese von einem Verlierer und Verteidiger ­seines Volkes geschrieben, obschon mit mannigfaltiger Rücksicht auf seine römischen Gönner. Das formal straffe Werk ist eine Sammlung stilistischer Preziosen, die als solche durch Jahrhunderte fortwirkte.

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unger. – In der Stadt forderte unterdessen die Hungersnot zahllose Opfer und erzeugte unsägliches Elend. Wo in einem Haus auch nur eine Spur von Nahrungsmitteln sich zeigte, entbrannte ein förmlicher Kampf; die besten Freunde wurden handgemein miteinander und suchten sich die armseligsten Brocken zu entreißen, um ihr Leben zu fristen. Selbst den Sterbenden gestattete man nichts, und die Räuber durchsuchten demgemäß auch alle, die in den letzten Zügen lagen, ob sich einer vielleicht nur sterbend stelle und noch irgendwelche Nahrungsmittel in den Falten seiner Kleider verborgen habe. Mit vor Hunger weit aufgerissenem Munde rannten sie wie tolle Hunde umher, schlugen wie Betrunkene die Türen ein und stürmten in ihrer Verzweiflung zwei- oder dreimal in einer Stunde in das gleiche Haus. Alles trieb die Not ihnen zwischen die Zähne: Dinge, die nicht einmal die unreinsten Tiere fressen können, lasen sie auf und scheuten sich nicht, sie zu verzehren. Über Gürtel und Schuhe machten sie sich endlich her und kauten sie, wie auch das Leder, das sie von den Schildern rissen. Manchem diente ein Büschel Heu als Speise; andere verkauften Halme,

die sie gesammelt hatten, in geringsten Mengen zu vier attischen Drachmen. Doch was brauche ich die unverschämte Gier nach allen möglichen toten Dingen zu schildern, die der Hunger hervorgerufen hatte? Ich bin im Begriff, über eine Tat zu berichten, wie sie weder bei den Griechen noch bei den Barbaren je verübt wurde – schrecklich zu erzählen, unglaublich zu hören. Gern würde ich, um nicht bei der Nachwelt in den Ruf eines abenteuerlichen Lügners zu kommen, diesen Vorfall verschwiegen haben, hätte ich nicht unzählige Zeugen unter meinen Zeitgenossen. Übrigens würde ich auch meiner Vaterstadt einen schlechten Dienst erweisen, wenn ich die Wiedergabe dessen, was sie in Wirklichkeit zu erdulden hatte, unterdrücken wollte. Eine Frau von jenseits des Jordans, Maria mit Namen, ­Tochter Eleazars aus dem Dorfe Bethezuba, ausgezeichnet durch Geburt und Reichtum, war mit der übrigen Menge nach Jerusalem geflohen, wo sie in die Belagerung geriet. Ihr sonstiges Vermögen, das sie aus Peräa in die Stadt mitbrachte, hatten ihr die Tyrannen bereits weggenommen, und die ihr noch verbliebenen Kleinodien sowie Nahrungsmittel, 54

70 – flavius josephus – die belagerung von jerusalem

die ausfindig zu machen waren, raubten ihr deren Anhänger, die Tag für Tag in ihr Haus stürzten. Große Erbitterung bemächtigte sich infolgedessen der Frau, und oft brachte sie mit Schmähungen und Verwünschungen die Räuber gegen sich auf. Als aber keiner sie aus Zorn oder Mitleid tötete und sie es müde war, immer nur Nahrung für andere zu suchen, was jetzt auch erfolglos war, ihr der Hunger in den Eingeweiden und noch heftiger Zorn in ihr brannte, schritt sie zu einem Akt, der wider alle Natur war. Sie ergriff ihr Kind, einen Säugling, und sprach: »Armer Kleiner! In Krieg, Hunger und Aufruhr – für wen soll ich dich da erhalten? Bei den Römern erwartet uns Sklaverei, falls sie uns überhaupt am Leben lassen; stärker als Sklaverei aber ist der Hunger, und die Empörer sind grausamer als beides. So komm, werde mir Speise, den Tyrannen ein Rachegeist, den Lebenden eine Fabel, wie sie allein fehlt, um das Elend der Judäer voll zu machen!« Mit diesen Worten erschlägt sie ihr Kind, brät es und verzehrt die eine Hälfte; die andere bedeckt und verwahrt sie. Im Nu aber sind die Empörer wieder da und drohen ihr, wie sie den fluchwür­digen Braten riechen, sie augenblicklich zu ermorden, wenn sie nicht zeige, was sie zubereitet habe. Daraufhin deckt sie mit den Worten, sie habe noch ein schönes Stück aufgespart, die Reste ihres Kindes auf. Schauder und Entsetzen ergriff die Räuber, und sie standen bei diesem Anblick wie festgewurzelt. Maria fuhr fort: »Das ist mein leibliches Kind und das mein Werk. Eßt, denn auch ich habe gegessen; seid nicht weichherziger als eine Frau, nicht gefühlsvoller als eine Mutter! Achtet ihr aber die Gesetze, und graut euch vor meinem Opfer – gut, so will ich euren Anteil gegessen haben, und auch der Rest verbleibe mir.« Zitternd schlichen die Empörer hinaus, dieses eine Mal als Feiglinge, und nur ungern ließen sie der Mutter dieses Mahl. Bald verbreitete sich das Gerücht von diesem Greuel in der ganzen Stadt, und jeder schauderte, wenn er sich die Tat vorstellte, als hätte er sie selbst verübt. Die Hungernden aber drängten sich zum Tode und priesen die Vorangegangenen glücklich, daß sie solchen Jammer nicht mehr gesehen und gehört hätten. Schnell war die Kunde von diesem Vorfall auch zu den Römern gelangt. Manche wollten es nicht glauben, andere fühlten Mitleid; die meisten aber haßten jetzt das Volk nur noch mehr. Der Caesar seinerseits rechtfertigte sich vor dem Gott, da er Frieden, Selbständigkeit und Verzeihung für alle früheren Unternehmungen den Judäern angeboten habe; sie aber hätten statt Eintracht Zwietracht, statt Frieden Krieg, statt Überfluß und Wohlstand Hunger vorgezogen, mit eigner Hand an das Heiligtum, das die Römer erhalten wollten, Feuer gelegt; und sie seien auch dieses Mahles wert. Er aber

wolle jetzt den Greuel des Kannibalismus mit den Trümmern ihres Landes bedecken und der Sonne nicht mehr den Anblick einer Stadt lassen, in der sich Mütter so nährten. Eher noch als die Mütter freilich hätten die Väter eine solche Speise verdient, weil sie nach so grenzenlosem Jammer noch unter den Waffen blieben. – Während er so redete, überzeugte er sich mehr und mehr von der völligen Verzweiflung der Empörer; jetzt, meinte er, nachdem sie dies alles durchgemacht, würden sie ihre Gesinnung wohl nicht mehr ändern, während, wenn sie es nicht wirklich erlebt hätten, ihre Umkehr wahrscheinlich gewesen wäre. Der Tempel brennt. – Als zwei der Legionen am achten des Monats Loos die Wälle vollendet hatten, ließ der Caesar die Sturmblöcke gegen die westliche Galerie des Tempelhofs heranbringen. Vorher hatte die stärkste Belagerungsmaschine trotz sechstägigen unausgesetzten Stoßens nichts gegen die Mauerwand ausrichten können, da die Quader wegen ihrer Größe und der Festigkeit ihres Gefüges ihr wie anderen widerstanden. Andere untergruben mittlerweile die Fundamente des nördlichen Tores und brachen nach angestrengter Arbeit die vordersten Steine los, während das Tor selbst, von den inneren Quadern gehalten, stehen- blieb. Schließlich verzweifelten die Römer an der Wirksamkeit ihrer Maschinen und Hebbäume und legten deshalb Leitern an die Halle an. Die Judäer beeilten sich nicht, sie dabei zu stören; kaum aber waren die Römer oben, als sie sich ihnen entgegenwarfen und sie kopfüber von der Mauer hinunterstießen oder gegen die Brüstung drängten und niedermachten. Viele wurden, als sie die Leitern verließen und sich mit ihren Schildern noch nicht gedeckt hatten, durchbohrt, während andere dadurch verletzt wurden, daß die Judäer Leitern, die mit Bewaffneten dicht besetzt waren, von oben her umwarfen. Auch die Judäer verloren eine Menge Leute. Die Träger der Feldzeichen kämpften besonders hart, da sie deren Verlust für große Schande hielten. Schließlich bemächtigten sich ­jedoch die Judäer auch der Feldzeichen und hieben alles nieder, was heraufgestiegen war. Die übrigen Römer, entsetzt über das Schicksal der Getöteten, zogen sich zurück. Auf Seiten der Römer fiel keiner, der nicht vorher etwas vollbracht gehabt hätte; unter den Empörern zeichneten sich wieder dieselben durch Tapferkeit aus, die sich schon in den früheren Gefechten hervorgetan hatten, und außer ihnen noch Eleazar, der Neffe des Tyrannen Simon. Als Titus erkannte, daß die Schonung fremder ­Heiligtümer seinen Soldaten nur Verwundung und Tod bringe, befahl er, Feuer an die Tore zu legen. 55

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

Um diese Zeit gingen Ananos von Ammaus, der blutdürstigste unter den Anhängern des Simon, und Archelaos, der Sohn des Magaddates, zu ihm über; sie hofften auf Gnade, weil sie die Judäer zu einer Zeit verließen, als diese im Vorteil waren. Ihre Handlung kam aber dem Caesar verächtlich vor, und da er außerdem erfuhr, wie grausam sie sich gegen ihre Landsleute verhalten hätten, zeigte er nicht übel Lust, sie beide hinrichten zu lassen. Nur die Not, sagte er, habe sie hergetrieben, nicht ihre Neigung. Sie hätten keinen Anspruch auf Begnadigung, zumal sie aus der von ihnen selbst in Brand gesteckten Vaterstadt geflohen seien. Gleichwohl stand er trotz seines Zorns zu dem einmal gegebenen Wort und entließ die Männer, ohne sie indes in der Behandlung den übrigen gleichzustellen. Unterdessen hatten die Soldaten Feuer an die Tore gelegt, und das überall schmelzende Silber öffnete den Flammen den Zugang zu dem hölzernen Gebälk, von wo aus sie die Hallen ergriffen. Als die Judäer den Brand rings um sich auflodern sahen, verloren sie alle Energie und jeden Mut; vor lauter Bestürzung getraute sich niemand, Widerstand zu leisten, sondern gelähmt standen sie und sahen zu. So niederschlagend das Feuer auf sie wirkte, so lernten sie doch auch daraus nichts für das Kommende; vielmehr zeigten sie sich, als sei die Einäscherung des Tempels schon beschlossene Sache, nur um so erbitterter gegen die Römer. Den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch wütete das Feuer; denn die Römer konnten die Hallen nur einzeln und nicht alle zugleich in Brand setzen. Tags darauf beorderte Titus einen Teil des Heeres zum Löschen und ließ zugleich bei den Toren einen Weg anlegen, um den Legionen den Aufstieg zu erleichtern. Dann beschied er die Befehlshaber zu sich. Die sechs vornehm-

sten traten zusammen, nämlich Tiberius Alexander, der Präfekt der gesamten Streitkräfte, Sextus Cerealis, der Anführer der fünften, Larcius Lepidus, der Anführer der zehnten, Titus Phrygius, der der fünfzehnten Legion, ferner Fronto Heterius, der Präfekt der beiden alexandrinischen Legionen, und Marcus Julianus, der Prokurator von Judäa. An diese schlossen sich die übrigen Prokuratoren und Kriegstribunen an, und Titus hielt mit ihnen allen Kriegsrat über den Tempel. Die einen meinten, man solle dem Kriegsrecht freien Lauf lassen; denn solange der Tempel als Sammelpunkt aller Judäer noch stehe, würden sie niemals aufhören, an Empörung zu denken. Andere äußerten ihre Ansicht dahin, daß man, wenn die Judäer den Tempel räumten und niemand mehr zu seiner Verteidigung das Schwert ziehe, ihn erhalten, wenn sie dagegen bei ihrem Widerstand beharrten, ihn verbrennen solle. In diesem Falle sei er eine Festung und kein Tempel mehr, wobei sich nicht die Römer einer Gottlosigkeit schuldig machten, sondern die, die sie dazu genötigt hätten. Titus erklärte jedoch, man solle, selbst wenn die Judäer vom Tempel herab sich wehren würden, seine Rache nicht an leblosen Dingen statt an Menschen nehmen und unter keinen Umständen ein so herrliches Bauwerk niederbrennen. Der Schaden treffe im Grund die Römer, während er, wenn er erhalten bleibe, eine Zierde des Reiches sein werde. Dieser Ansicht traten Fronto, Alexander und Cerealis bei. Darauf entließ der Caesar die Versammlung und befahl den Unterbefehlshabern, ihren Truppen Ruhe zu gönnen, damit sie sich für die kommenden Gefechte stärken könnten; nur aus den Kohorten las er eine Anzahl Leute aus, die den Weg durch die Trümmer bahnen und das Feuer löschen sollten.

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plinius der jüngere an tacitus Der Ausbruch des Vesuvs Gaius Plinius Caecilius Secundus (* 61/ 62, † um 113), der in Como geborene römische Redner und Schriftsteller, versorgte mit seinem neun Bücher umfassenden 97–109 veröffentlichten Briefwerk die skandalvernarrte Reichshauptstadt mit ihrer Gesellschaftsspalte – wie sie noch heute in den italienischen Zeitungen »La Cronaca« zu liefern hat.

24.

august 79. – Du bittest mich, Dir vom­ Lebensende meines Onkels zu berichten, damit Du es um so wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir. Ich sehe nämlich, daß ­seinen Tod unsterb­licher Ruhm erwartet, wenn er von Dir feierlich besprochen wird. Denn er ist zwar bei der Zerstörung der herrlichsten Landschaften, ebenso wie die Völker und Städte, bei einem denkwürdigen Untergang ums Leben gekommen, um gleichsam ewig fortzuleben; zwar hat er selbst sehr viele unsterbliche Werke verfaßt, dennoch werden Deine unvergänglichen Schriften viel zu seinem Fortleben beitragen. Ich freilich halte die für glücklich, die von den Göttern die Gabe erhalten haben, entweder beschreibenswerte Taten zu vollbringen oder lesenswerte zu beschreiben; für die glücklichsten aber halte ich die, welche beides erhalten haben. Zu diesen wird mein Onkel durch seine und Deine Werke gehören. Um so bereitwilliger übernehme, ja verlange ich mit Nachdruck, was Du mir aufträgst. Er befand sich in Misenum und befehligte persönlich die Flotte. Am 24. August, ungefähr um die siebente Stunde, meldete ihm meine Mutter, es zeige sich eine Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt. Jener hatte ein Sonnenbad genommen, dann ein kaltes Bad, hatte im Liegen gespeist und widmete sich nun seinen Studien. Er forderte seine Sandalen und stieg zu einem Punkt empor, von dem aus man diese wunderbare Erscheinung am besten betrachten konnte. Eine Wolke erhob sich, für die, welche aus der ­Ferne schauten, war es unsicher, von welchem Berg – daß es der Vesuv war, erkannte man später –; ihre Gestalt dürfte wohl am ehesten einer Pinie ähnlich gewesen sein. Denn sie wuchs mit einem Riesenstamm empor und teilte sich dann

in mehrere Äste, wohl deshalb, weil sie von einem frischen Luftstrom emporgehoben wurde, dann aber, wenn dieser nachließ, den Auftrieb verlor, oder auch weil sie sich wegen ihres Eigengewichtes in die Breite verflüchtigte. Bisweilen war sie weiß, bisweilen schmutzig und fleckig, je nachdem sie Erde oder Asche emporgeworfen hatte. Als Gelehrtem schien ihm die Sache wichtig und einer näheren Untersuchung wert zu sein. Er ließ einen Schnellsegler bereitmachen. Mir stellte er frei, ob ich mitkommen wolle. Ich erwiderte, ich wolle lieber arbeiten, und zufällig hatte er selbst mir etwas zum Schreiben gegeben. Er wollte gerade das Haus verlassen; da erhielt er ein Schreiben der Rectina, der Frau des Cascus, die wegen der drohenden Gefahr sehr beunruhigt war – ihr Haus lag nämlich am Fuße des Vesuvs, und ein Entkommen war nur zu Schiff möglich –; sie bat ihn, er möge sie aus einer so großen Gefahr retten. Er änderte seinen Plan und, was er im Wissensdrang begonnen hatte, verfolgte er nun mit Heldenmut. Er ließ Vierruderer in See stechen, bestieg selbst ein Schiff, um nicht nur Rectina, sondern vielen Menschen – die Küste war nämlich wegen ihrer anmutigen Lage dicht besiedelt – Hilfe zu bringen. Er eilte dorthin, von wo andere flohen, und steuerte geradewegs auf die Gefahr zu, so ganz ohne jede Furcht, daß er tatsächlich alle Phasen und Erscheinungsformen dieses Unglücks, wie er sie mit seinen Augen wahrnahm, diktierte und aufschreiben ließ. Schon fiel Asche auf die Schiffe, desto heißer und dichter, je näher sie herankamen. Schon fielen auch Bimssteine und schwarzes, vom Feuer verbranntes und geborstenes Gestein; schon entstand eine plötzliche Untiefe, und das Gestade war durch Trümmerbrocken vom Vesuv unzugänglich geworden. Er zögerte einen Moment, ob er umkeh57

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

ren sollte, sagte dann aber zum Steuermann, der dazu riet: »Dem Mutigen hilft das Glück, fahre zu Pomponianus!« Dieser befand sich in Stabiae, getrennt durch die dazwischenliegende Bucht – denn das Meer strömt in einem sanft gekrümmten Bogen zum Land hin –; zwar war hier die Gefahr noch etwas fern, doch schon sichtbar, und wenn sie zunahm, war sie ganz rasch da; daher hatte Pomponianus sein Gepäck auf die Schiffe bringen lassen, fest entschlossen zur Flucht, wenn sich der Gegenwind gelegt hätte. Dorthin fuhr nun mein Onkel mit dem für ihn äußerst günstigen Wind, umarmte den Verängstigten, tröstete und ermunterte ihn, und um dessen Angst durch seine eigene Unbesorgtheit zu lindern, ließ er sich ins Bad tragen. Nach dem Bad setzte er sich zu Tisch und speiste gelassen oder, was ebenso großartig ist, anscheinend gelassen. Inzwischen leuchteten aus dem Vesuv an mehreren Stellen gewaltige Flammenstreifen und hohe Brände auf, deren strahlende Helligkeit durch die Dunkelheit der Nacht noch gesteigert wurde. Um die Furcht zu beschwichtigen, erklärte mein Onkel immer wieder, die Bauern hätten in ihrer Bestürzung ihre Herdfeuer im Stich gelassen und die verlassenen Gehöfte stünden nun brennend in der Einsamkeit. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief wirklich ganz fest. Denn seine Atemzüge, die bei ihm wegen seiner Körperfülle ziemlich schwer und laut waren, hörten diejenigen, die sich vor der Schwelle aufhielten. Aber der Hof, durch den man Zugang zu seinem Zimmer hatte, war schon mit einem Gemisch von Asche und Bimsstein so hoch angefüllt, daß bei einem längeren Aufenthalt im Schlafzimmer ein Entkommen nicht mehr möglich gewesen wäre. Er wurde also aufgeweckt, ging ins Freie und begab sich zu Pomponianus und den übrigen, welche die Nacht durchwacht hatten. Gemeinsam überlegten sie, ob sie im Hause bleiben oder im Freien auf und ab gehen sollten. Denn durch häufige, starke Beben schwankten die Häuser und schienen, gleichsam aus ihren Fundamenten gehoben, sich bald hierhin, bald dorthin zu neigen. Andererseits fürchtete man unter freiem Himmel das Herabfallen von Bimssteinen, wenn diese auch leicht ausgeglüht waren. Doch zog man bei einem Vergleich der Gefahren das letztere vor. Bei ihm siegte eine vernünftige Überlegung. Sie legten Kopfkissen auf ihren Kopf und banden sie mit Leinentüchern fest; das diente als Schutz gegen herabfallende Steine. Schon war es anderswo Tag, dort aber Nacht, schwärzer und dichter als alle Nächte, doch machten viele Fackeln und verschiedene Lichter sie erträglich. Man beschloß, zum Strand zu gehen und aus nächster Nähe zu schauen,

ob das Meer schon die Ausfahrt zuließe; das aber blieb immer noch wild und stürmisch. Dort legte sich mein Onkel auf ein hingebreitetes Tuch, verlangte wiederholt kaltes Wasser und trank es. Dann trieben Flammen und der Vorbote der Flammen, der Schwefelgeruch, die anderen in die Flucht, ihn veranlaßten sie aufzustehen. Gestützt auf zwei Sklaven erhob er sich, brach aber sofort zusammen, weil, wie ich vermute, der ziemlich dicke Qualm seinen Atem hemmte und seine Luftröhre verschloß, die bei ihm von Natur schwach, eng und häufig asthmatisch war. Nachdem es wieder Tag geworden war – es war der dritte nach dem, den er zuletzt gesehen hatte –, fand man seinen Körper unversehrt, ohne Verletzung, mit derselben Kleidung wie zuletzt. Er glich in seiner äußeren Erscheinung eher einem Schlafenden als einem Toten. Inzwischen waren meine Mutter und ich in Mise­num – aber das gehört nicht zur Geschichte, und Du hast ja nur etwas über sein Lebensende wissen wollen. Also will ich schließen. Das eine möchte ich noch hinzufügen: daß ich alles berichtet habe, was ich selbst erlebt und was ich gleich anfangs erfahren habe, wo man die wirklichen Ereignisse noch ganz wahrheitsgetreu erzählt. Du wirst das Wichtigste auswählen. Es ist nämlich etwas anderes, einen Brief, etwas anderes, eine Geschichte, etwas anderes, für einen Freund und wieder etwas anderes, für die Allgemeinheit zu schreiben. Lebe wohl! Der Brief, den ich Dir, auf Dein Verlangen hin über den Tod meines Onkels schrieb, habe Dich, wie Du sagst, neugierig gemacht zu erfahren, welche Ängste und auch welche Gefahren ich, in Misenum zurückgeblieben, ertragen habe; denn als ich darüber zu berichten begann, habe ich abgebrochen. ›Zwar schreckte mein Herz bei der Erinnerung zurück, aber dennoch will ich beginnen.‹ Nach der Abfahrt meines Onkels verbrachte ich selbst die übrige Zeit mit meinen Studien – denn deshalb war ich ja geblieben –; dann nahm ich ein Bad, speiste und schlief, aber unruhig und kurz. Vorausgegangen war schon viele Tage lang ein Erdbeben, das nicht so sehr beunruhigte, weil es in Campanien üblich war. In jener Nacht aber nahm es so zu, daß man glauben konnte, alles bewege sich nicht, sondern stürze ein. Meine Mutter kam aufgeregt in mein Schlafzimmer; ich meinerseits wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie noch schliefe. Wir setzten uns im Hof des Hauses nieder, der das Meer von den Gebäuden in mäßigem Abstand trennte. Ich bin unschlüssig, ob ich es Unerschrockenheit oder Unvorsichtigkeit nennen soll – ich war nämlich erst 18 Jahre alt –; ich verlangte nach einem Buch des Titus Livius 58

79 – plinius der jüngere an tacitus – der ausbruch des vesuvs

und las darin sozusagen in aller Ruhe und machte mir auch, wie ich begonnen hatte, Auszüge. Da erschien ein Freund meines Onkels, der kürzlich aus Spanien zu ihm gekommen war. Wie er meine Mutter und mich so dasitzen sah, mich sogar lesend, tadelte er heftig ihre Gleichgültigkeit und meine Sorglosigkeit. Ich beschäftigte mich mit meinem Buch darum nicht weniger eifrig. Es war schon die erste Stunde des Tages, und das Tageslicht erschien uns noch dämmrig und sozusagen müde. Schon wurden die umliegenden Häuser heftig erschüttert, und wir hatten, obwohl wir uns auf einem freien, jedoch beengten Platz aufhielten, große und berechtigte Furcht vor einem Einsturz. Da endlich faßten wir den Entschluß, die Stadt zu verlassen. Es folgte uns eine bestürzte Menge, und was in der Angst der Klugheit ähnelt: sie zog fremden Rat dem eigenen vor, und man drückte und stieß uns beim Weggehen in einem gewaltigen Zug vorwärts. Nachdem wir die Häuser hinter uns gelassen hatten, machten wir halt. Hier mußten wir viel Seltsames, viel Schreckliches erleben. Denn die Wagen, die wir hatten hinausfahren lassen, rollten hin und her, obwohl sie sich auf völlig ebenem Gelände befanden, und blieben nicht einmal dann an Ort und Stelle stehen, wenn Steine untergelegt wurden. Außerdem sahen wir, daß das Meer zurückgetrieben wurde. Jedenfalls hatte sich der Strand erweitert und hielt viele Meerestiere im trockenen Sand fest. Auf der anderen Seite wurde eine schauerliche schwarze Wolke von feurig-zuckenden Schlangenlinien zerrissen und spaltete sich immer wieder in lange Feuergarben: sie glichen Blitzen, waren aber größer. Darauf aber sagte jener Freund aus Spanien heftiger und eindringlicher: »Wenn Dein Bruder, wenn Dein Onkel noch lebt, dann will er, daß ihr gerettet werdet. Ist er aber umgekommen, so wünschte er, daß ihr überlebt. Was zögert ihr also, der Gefahr zu entfliehen?« Wir erwiderten, wir würden es nicht fertigbringen, an unsere Rettung zu denken, während wir wegen seiner im Ungewissen seien. Er blieb nicht länger, stürzte davon und entzog sich im schnellen Lauf der Gefahr. Nicht viel später senkte sich jene Wolke auf die Erde herab und bedeckte das Meer. Schon hat sie Capri rings um­schlossen und verhüllt, das Vorgebirge von Misenum unseren Blicken entzogen. Da bat, mahnte und befahl mir meine Mutter, ich solle auf irgendeine Weise fliehen; denn ich sei noch jung und könne es, sie dagegen, altersschwach und schwerfällig, werde ruhig sterben, wenn sie nur nicht schuld an meinem Tode sei. Ich entgegnete: ich wolle nur zusammen mit ihr gerettet werden. Darauf faßte ich sie bei der

Hand und zwang sie so, ihre Schritte zu beschleunigen. Sie fügte sich nur widerwillig und machte sich Vorwürfe, daß sie mich aufhalte. Dann fiel Asche, aber zunächst noch wenig. Ich schaute zurück. Hinter uns drohte dichter Qualm, der sich über die Erde ergoß und uns wie ein Gießbach folgte. »Wir wollen vom Wege abbiegen«, sagte ich, »solange wir noch etwas sehen, damit wir nicht auf der Straße niedergestoßen und in der Dunkelheit von der Masse der mit uns Flüchtenden zertreten werden.« Kaum hatten wir uns niedergesetzt, da war es auch schon Nacht, aber nicht so, wie eine mondlose und bewölkte, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn das Licht gelöscht ist. Man hörte das Wehklagen der Frauen, das Wimmern der Kinder, das Geschrei der Männer. Die einen riefen nach ihren Eltern, andere nach ihren Kindern, wieder andere nach ihren Ehepartnern und suchten sie an ihrer Stimme zu erkennen. Diese beklagten ihr eigenes Schicksal, jene das ihrer Angehörigen. Es gab auch Leute, die aus Furcht vor dem Tode den Tod herbeiwünschten. Viele erhoben die Hände zu den Göttern, noch mehr erklärten, nirgends gebe es mehr Götter, und die ewige und letzte Nacht sei über die Welt gekommen. Es fehlte nicht an Leuten, die mit erfundenen und erlogenen Schauergeschichten die wirklichen Gefahren noch vergrößerten. Auch gab es Leute, die fälschlicherweise berichteten, in Misenum sei dieses eingestürzt, jenes stehe in Flammen, doch man glaubte ihnen. Es wurde wieder ein wenig hell, aber das schien uns nicht das Tageslicht, sondern das Anzeichen eines herannahenden Feuers zu sein. Das Feuer freilich kam in größerer Entfernung zum Stillstand, wieder wurde es dunkel, wieder fiel dichte und schwere Asche. Immer wieder erhoben wir uns und schüttelten diese von uns ab; andernfalls wären wir zugedeckt und auch von ihrem Gewicht erdrückt worden. Ich könnte mich rühmen, daß ich keinen Seufzer, kein zaghaftes Wort trotz solch drohender Gefahr von mir gegeben habe, wenn ich nicht geglaubt hätte, ich ginge zugleich mit allem und alles mit mir zugrunde, ein kümmerlicher, aber doch im Tode auch großer Trost für uns Menschen. Endlich wurde jener Qualm dünner und verflüchtigte sich gleichsam in Rauch und Nebel. Bald wurde es wirklich Tag, sogar die Sonne leuchtete hervor, jedoch nur fahl, wie bei einer Sonnenfinsternis. Alles erschien unseren verängstigten Augen noch verändert und hoch mit Asche wie mit Schnee bedeckt. Wir kehrten nach Misenum zurück, richteten uns ein, so gut es ging, und verbrachten eine unruhige Nacht zwischen Hoffnung und Furcht schwankend. Die Furcht überwog; denn das Erdbeben dau59

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

erte an, und sehr viele Menschen, außer sich durch schreckenerregende Prophezeiungen, spotteten über ihr eigenes Unglück und das der anderen. Zwar kannten wir die Ge-

fahr und erwarteten sie weiterhin, aber dennoch faßten wir auch jetzt nicht den Entschluß wegzugehen, bis wir eine Nachricht vom Onkel hätten.

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pausanias Am Weg nach Olympia Er war der Erfinder einer eigenen Literaturgattung, die freilich nicht nur eine Subspezies der Reportage ist, sondern durchaus eigene Rechte geltend macht und auf absehbare Zeit vollends unentbehrlich bleibt: der Reiseführer. Im Falle der neuen Gattung des Pausanias (* um 115; †um 180) ist das allererste Exempel bis zur Stunde unübertroffen. Das macht seine Aktualität aus, und nicht bloß der Umstand, daß man sich mit seinem Werk in der Hand noch heute in Hellas gut zurechtfindet.

Ü

berschreitet man auf dem geraden weg den Anigros und geht gegen Olympia, dann erhebt sich nicht lange danach rechts vom Weg ein hoher Platz und darauf eine alte Stadt Samikon. Die soll der Aetoler Polysperchon als Befestigung gegen die Arkader benutzt haben  … Geht man nach dem Anigros längere Zeit durch meistens sandiges Land mit wilden Kiefern, sieht man rückwärts zur Linken die Trümmer von Skillus. Auch Skillus gehörte zu den Städten in Triphylien. Im Krieg der Pisaeer gegen die Eleer waren die Skilluntier Bundesgenossen der Pisaeer und den Eleern offen feindlich, und deshalb zerstörten die Eleer die Stadt. Später trennten die Spartaner Skillus von Elis ab und gaben es Xenophon, dem Sohn des Grylos, der aus Athen verbannt war. Xenophon wurde von den Athenern deshalb verbannt, weil er an dem Feldzug des Kyros, der dem Volk sehr feindlich war, gegen den ihnen wohlgesinnten Perserkönig teilgenommen hatte. Kyros hatte nämlich während seines Aufenthalts in Sardes dem Lysander, dem Sohn des Aristokritos, und den Spartanern Geld für die Schiffe gegeben. Dafür wurde Xenophon verbannt, und als er in Skillus wohnte, baute er der ephesischen Artemis einen Bezirk und ein Heiligtum und einen Tempel. Skillus bietet auch Jagdge-

legenheit auf wilde Tiere, Wildschweine und Hirsche. Und durch das Gebiet von Skillus fließt der Fluß Selinus. Die elischen Erklärer erzählten, die Eleer hätten Skillus dann wiederbekommen und Xenophon sei dafür, daß er das Land von den Spartanern erhalten hatte, zwar im olympischen Rat vor Gericht gestellt worden, habe aber von den Eleern Verzeihung erhalten und unbehelligt in Skillus wohnen können. Etwas weiter vom Heiligtum wurde auch ein Grabmal gezeigt, und auf dem Grab ist eine Figur aus pentelischem Marmor; die Anwohner behaupten, es sei das Grab Xenophons. Am Weg nach Olympia von Skillus her befindet sich, bevor man den Alpheios überschreitet, ein Berg mit hohen schroffen Felsen, den man Typaion nennt. Die Eleer haben ein Gesetz, von diesem Berg die Frauen hinabzustoßen, wenn sie dabei ertappt sind, daß sie zu dem olympischen Fest gekommen sind oder auch nur an den für sie verbotenen Tagen den Alpheios überschritten haben. Es soll aber noch keine ertappt worden sein außer allein Kallipateira. Andere nennen diese selbe Pherenike und nicht Kallipateira. Sie richtete sich, als ihr Mann gestorben war, ganz wie ein Sportlehrer her und brachte ihren Sohn zum Mitkämpfen nach Olympia. Als Pei60

173 – pausanias – am weg nach olympia

sirodos siegte, übersprang Kallipateira die Umfriedigung, in der man die Sportlehrer abgetrennt hielt, und entblößte sich dabei. Obwohl sie nun als Frau ertappt war, ließen sie sie straffrei aus Rücksicht auf ihren Vater und ihre Brüder und ihren Sohn. Sie alle hatten olympische Siege erfochten, und daraufhin machte man ein Gesetz in bezug auf die Sportlehrer inskünftig, daß sie nackt zum Kampf antreten müßten.

einige, das nicht zu glauben, habe ich keinen Grund, da ich weiß, daß der Gott in Delphi darin mit ihnen übereinstimmt, der den Korinther Archias zur Gründung der Kolonie Syrakus aussandte und auch diese Verse sagte: »Ortygie liegt im dämmernden Meer über Trinakie, wo des Alpheios Mündung aufsprudelt, sich mischend mit den Quellen der schön fließenden Arethusa.«

Kommt man nach Olympia, so ist da nun der Fluß Alpheios, wasserreich und sehr angenehm anzusehen, da unter anderem sieben besonders bedeutende Flüsse in ihn münden. Durch Megalopolis fließt der Helisson und mündet in den Alpheios und der Brentheates aus dem Gebiet von Megalopolis und an Gortys, wo ein Asklepiosheiligtum ist, daran fließt der Gortynios vorbei, aus Melaineai zwischen dem Gebiet von Megalopolis und Heraia der Buphagos, aus dem Gebiet von Kleitor der Ladon und aus dem Gebirge Erymanthos der mit dem Gebirge gleichnamige Fluß. Diese fließen aus Arkadien in den Alpheios, aus Elis kommt der Kladeos und ergießt sein Wasser in ihn. Der Alpheios selbst hat seine Quellen in Arkadien und nicht in Elis. Auch das erzählt man noch über den Alpheios, daß er ein Jäger gewesen sei und sich in die Arethusa verliebt habe und daß auch sie Jägerin gewesen sei. Und Arethusa habe sich nicht heiraten lassen wollen und sei auf die Insel bei Syrakus mit Namen Ortygia gelangt und dort aus einem Menschen in eine Quelle verwandelt worden. Infolgedessen habe sich auch Alpheios aus Liebe in den Fluß verwandelt. Das ist an der Geschichte in bezug auf Alpheios nicht vernünftig, daß aber der Alpheios durch das Meer hindurchfließe und sein Wasser hier mit der Quelle ver-

Eben daraus, daß sich das Wasser des Alpheios mit der Arethusa vermischt, meine ich, ist auch die Sage von der Liebe des Flusses entstanden. Diejenigen Griechen oder Aegypter, die nach Aethiopien oberhalb Syene und der Aethiopenstadt Meroe hinaufgezogen sind, erzählen, daß der Nil in einen See eintrete, ihn durchfließe und wie aus festem Land herauskomme und danach durch das untere Aethiopien und nach Aegypten fließe und bei Pharos und dem dortigen Meer münde. Im Land der Hebraeer habe ich selber gesehen, daß ein Fluß Jordan den See Tiberias durchfließt und dann in einen anderen See mündet, der Totes Meer heißt, und von dem See aufgezehrt wird. Das Tote Meer hat entgegengesetzte Eigenschaften wie jedes andere Wasser. Lebende Wesen können darauf, ohne zu schwimmen, gehen, sinken aber in die Tiefe, wenn sie sterben. Daher liefert der See auch keine Fische, da sie wie aus der unmittelbarsten Gefahr wieder in ihr gewohntes Wasser hinauffliehen. Wie dem Alpheios geht es auch einem anderen Fluß in Ionien. Die Quelle dieses Flusses ist im Mykalegebirge, er durchfließt das Meer dazwischen und kommt bei Branchidai beim Panormos genannten Hafen wieder heraus. Das verhält sich also auf die besagte Weise …

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priskos von panion Zu Gast bei Attila in der Theiß-Ebene Priskos von Panion (410/420–472, Byzanz), Historiker, Rhetorik-Lehrer und byzantinischer Diplomat aus Thrakien, hier auf Gesandtschaftsreise beim Hunnen-König Attila, der »Geißel Gottes«. Priskos ist ein scharfer Beobachter: Noch trotzt die Antike im klassischen Geist der griechischen Wissenschaft der christlichen Zuflucht beim offenbarten Wort.

N

a c h u n s e r e r r ü c k k e h r i n s z e l t kam ­Tatulus, der Vater des Orestes, und teilte uns mit, Attila lade uns beide zum Gastmahl um die neunte Stunde ein. Wir stellten uns also zugleich mit den weströmischen Gesandten zur angegebenen Zeit ein. Wir standen an der Schwelle des Saales, Attila gegenüber. Die Mundschenken reichten uns nach der Landessitte einen Kelch; wir mußten, ehe wir uns setzten, zur Begrüßung daraus trinken. Dann nahmen wir die uns angewiesenen Plätze ein. Die Stühle standen längs der beiden Seitenwände; in der Mitte saß Attila auf einem Ruhebett. Dahinter führten ein paar Stufen zu einem anderen Ruhelager empor, das man mit Leinentüchern und bunten Decken geschmückt hatte, ähnlich den Hochzeitsbetten, wie man sie bei Griechen und Römern den Neuvermählten bereitet. Als die höchsten Ehrenplätze galten die Sitze in der Reihe zur Rechten Attilas; für die Zweithöchsten im Range war die Reihe zu seiner Linken bestimmt. Dort saßen auch wir neben Berichos, einem vornehmen Skythen; er aber saß näher an Attilas Thron. Rechts neben dem Lager des Königs stand der Sitz des Onegesios; ihm gegenüber saßen zwei Söhne Attilas. Der älteste Sohn saß auf dem Sofa des Königs; allein nicht dicht neben ihm, sondern am äußersten Ende; er hielt aus Ehrfurcht vor seinem Vater den Blick gesenkt. Als alle die ihnen gebührenden Plätze eingenommen hatten, trat ein Mundschenk zu Attila und reichte ihm einen gefüllten Becher; Attila nahm ihn entgegen und trank seinem Sitznachbarn zu. Der so Geehrte erhob sich und durfte sich erst wieder setzen, wenn er den Wein gekostet oder auch den Becher ausgetrunken und dem Mundschenk zurückgegeben

hatte. Nachdem er sich gesetzt hatte, tranken die anderen dem König auf gleiche Weise zu. Sie erhoben ihre Becher, wünschten dem König Heil, tranken daraus und erzeigten ihm so die gebührende Ehre. Jeder Gast hatte seinen eigenen Mundschenk, der zu ihm hintrat, sobald sich Attilas Mundschenk zurückgezogen hatte. Nachdem alle der Reihe nach so begrüßt worden waren, trank Attila auch uns zu, jedem einzelnen nach der Sitzordnung. Nach diesen Begrüßungen zogen sich die Mundschenken zurück. Dann wurden Tische neben dem Attilas aufgestellt, immer ein Tisch für drei, vier oder auch mehr Gäste, und jeder konnte nach Belieben zulangen, ohne die Sitzordnung zu stören. Zuerst erschien ein Diener Attilas mit einer Schüssel voll Fleisch. Nach ihm kamen andere mit Brot und Zukost. Den übrigen Barbaren und uns wurden auf Silbertellern erlesene Speisen vorgesetzt. Attila jedoch erhielt nur einen Holzteller mit Fleisch. Er zeigte sich auch sonst überaus mäßig; seine Gäste erhielten nämlich goldene und silberne Becher vorgesetzt, er aber trank aus einem hölzernen. Schlicht war auch sein Gewand, das nur durch fleckenlose Reinheit hervorstach. Weder sein Schwert, das er am Gürtel trug, noch die Bänder an den Sandalen, die er nach Barbarensitte anhatte, noch auch das Geschirr seines Rosses waren wie bei den übrigen Skythen mit Gold, Edelsteinen oder anderem Zierat geschmückt. Nachdem die Speisen des ersten Ganges verzehrt waren, standen wir alle auf und setzten uns erst wieder, als jeder in der früheren Reihenfolge einen ihm gereichten vollen Becher auf Attilas Wohl geleert hatte. Nach dieser abermaligen Ehrung des Königs setzten wir uns wieder, und es wurde auf allen Tischen eine zweite Schüssel mit 62

449 – priskos von panion – zu gast bei attila in der theiss-ebene

anderen Speisen aufgetragen. Auch von diesen aßen wir alle; sodann standen wir wieder wie vorhin auf, tranken Attila zu und setzten uns. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden Fackeln entzündet. Zwei Barbaren traten vor Attila und trugen Lieder vor, darin sie seine Siege und Tapferkeit besangen. Alle Gäste schauten auf die beiden Sänger; die einen erfreuten sich am Gesang, die anderen begeisterten sich im Gedenken an die Kriege, die sie mitgemacht hatten, und wieder andere vergossen Tränen, weil sie altersschwach geworden und ihren Mut nicht mehr beweisen konnten. Nach den beiden trat ein schwachsinniger skythischer Narr auf, der allerlei ungereimtes Zeug stammelte und damit allgemeine Heiterkeit erregte. Nach ihm erschien der Maurusier Zerkon. Ihn hatte Edekon überredet, zu Attila zu kommen, und ihm versprochen, sich mit aller Kraft dafür einzusetzen, daß Zerkon seine Frau zurückgewinne. Die hatte er als Günstling des Bleda im Barbarenland erhalten, dann aber, als er von Attila dem Aetius geschenkt wurde, im Skythenland zurücklassen müssen. Diese Hoffnung trog ihn jedoch, weil Attila ihm wegen seiner Rückkehr zürnte. Als er nun zu so vorgerückter Stunde beim Mahle auftauchte, rief er bei allen durch sein Aussehen, seine Tracht, seine Stimme und sein Kauderwelsch aus Latein, Hunnisch und Gotisch unauslöschliches Gelächter hervor, nur bei Attila nicht. Der saß mit unbeweglicher Miene da und ließ sich weder in Wort noch Tat irgendwelche Heiterkeit anmerken, außer daß er seinen jüngsten Sohn Ernas, der hereingekommen war und neben ihm stand, froh und freundlich ansah und ihm die Wangen streichelte. Als ich mich darüber verwunderte, daß Attila sich um seine anderen Söhne nicht kümmere und sich nur mit diesem abgebe, erklärte mir mein Tischnachbar, ein Barbar, der Latein konnte, unter dem Siegel der Verschwie-

genheit, Attilas Seher hätten geweissagt, sein Geschlecht werde untergehen, in diesem seinem Sohne aber sich neu erheben. Als sich nun das Gastmahl bis in die späte Nacht hineinzog, hielten wir es für ratsam, nicht mehr zu trinken, und brachen früher auf. Bei Tagesanbruch gingen wir zu Onegesios und erklärten ihm, wir müßten entlassen werden und könnten unsere Zeit nicht länger ungenützt verstreichen lassen. Er antwortete, das sei ohnehin Attilas Absicht gewesen. Bald darauf beriet er mit den Vornehmen über die Beschlüsse Attilas und ließ einen Brief an den Kaiser abfassen; unter seinen Sekretären befand sich auch ein gewisser Rusticius, ein Kriegsgefangener aus dem oberen Mysien, der wegen seiner Sprachkenntnisse den Barbaren bei der Abfassung diplomatischer Schreiben diente. Als Onegesios nach beendeter Beratung zu uns kam, ersuchten wir ihn, die Gattin des Syllos samt ihren Kindern freizulassen. Diese waren bei der Eroberung der Stadt Ratiaria mit ihrer Mutter in die Sklaverei geraten. Er war keineswegs abgeneigt, sie freizulassen, verlangte jedoch von uns ein hohes Lösegeld für sie. Wir baten und beschworen ihn, doch zu bedenken, wie glücklich sie früher gewesen und wie elend sie nun geworden seien. Er verwendete sich bei Attila für sie, und dieser ließ sie um den Preis von fünfhundert Gold­ stücken frei und sandte ihre Söhne dem Kaiser als Geschenk. Mittlerweile lud uns auch Attilas Frau Kreka in das Haus ihres Verwalters Adamis zum Essen. Bei ihm wurden wir zusammen mit einigen Hunnen gastfreundlich aufgenommen. Man bewirtete uns überaus freundlich und reichlich. Jeder Anwesende erhob sich, reichte uns mit skythischer Höflichkeit einen Becher, ließ uns trinken, umarmte und küßte uns dann und nahm den Becher wieder zurück. Nach dem Essen legten wir uns in unserem Zelt schlafen.

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einhard Karls herausragende Statur Der Hofgelehrte Einhard (* um 770, † 840), ständiger Begleiter Karls des Großen auf all dessen weiten Reisen, hatte in erster Linie Urkunden und Briefe abzufassen. In der einzigen zeitgenössischen Biographie des Frankenkaisers ließ er die klassische Tradition der Herrscherbiographien eines Plutarch und Sueton wieder aufleben.

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ch habe mir vorgenommen, so kurz wie möglich über das private und öffentliche Leben und vor allem über die Taten meines Herrn und Gönners, des trefflichen und hochberühmten Königs Karl, zu berichten. Dabei gab ich mir Mühe, nichts wegzulassen, was ich in Erfahrung bringen konnte, und auch nicht durch Weitschweifigkeit solche Leser abzuschrecken, die an allem Neuartigen etwas auszusetzen haben – das heißt, wenn es überhaupt möglich ist, sie mit einem neuen Werk zu befriedigen, wo sie doch sogar die alten Meisterwerke der gelehrtesten und geistreichsten Verfasser ablehnen. Zwar weiß ich genau, daß es Gelehrte gibt, die die heutigen Verhältnisse nicht für so unbedeutend halten, daß sie glauben, alles Gegenwärtige verdiene Verachtung und müsse ohne jede Aufmerksamkeit schweigend übergangen werden; sie wollen vielmehr in ihrer Begeisterung für Vergangenes die berühmten Taten anderer irgendwie beschreiben und hofften, so auch zu verhindern, daß ihr eigener Name wegen schriftstellerischer Untätigkeit von der Nachwelt vergessen wird. Gleichwohl hindern mich alle diese Gründe keineswegs, mit meinem Werk zu beginnen, da ich sicher bin, daß außer mir niemand die Ereignisse genauer schildern kann, die sich sozusagen vor meinen eigenen Augen zugetragen haben und deren Wahrhaftigkeit ich bezeugen kann. Auch ist es nicht völlig gewiß, daß sonst noch jemand darüber berichten wird. Und so hielt ich es für besser, daß diese Geschehnisse in verschiedenen, wenn auch ähnlichen Darstellungen der Nachwelt überliefert werden, anstatt es zuzulassen, daß das ruhmvolle Leben und die unvergleichlichen und heute unnachahmbaren Taten dieses angesehensten Königs seiner Zeit im Dunkel der Vergangenheit verschwinden. Es gibt aber noch weitere Gründe, und jeder einzelne davon hätte ausgereicht, mich zur Aufzeichnung dieser Schrift zu

bewegen: es sind dies vor allem die Erziehung, die mir König Karl während meiner Kindheit angedeihen ließ, und auch die lebenslange Freundschaft, die mich seit meiner Ankunft am Hof mit ihm und seinen Kindern verband. Daher bin ich ihm sehr verpflichtet, und er hat mich im Leben wie im Tode zu seinem Schuldner gemacht. Man könnte mich also mit Recht undankbar nennen, wenn ich die großartigen Taten dieses Mannes, der sich um mich so sehr verdient gemacht hat, stillschweigend überginge und es zuließe, daß sein Leben keine schriftliche Würdigung oder gebührende Anerkennung erhielte – ganz so, als hätte er nie existiert! Mein armseliges und unbedeutendes Talent reicht freilich nicht aus, seinen Lebenslauf, wie es sich gebührt, darzustellen. Das wäre sogar für die Redegewandtheit eines Tullius schwierig gewesen. Hier also ist das Buch, das die Lebensgeschichte eines wahrhaft großen Mannes enthält. Karl war kräftig und stark, dabei von hoher Gestalt, die aber das rechte Maß nicht überstieg. Er hatte einen runden Kopf, seine Augen waren sehr groß und lebhaft, die Nase etwas lang; er hatte schöne graue Haare und ein heiteres und fröhliches Gesicht. Seine Erscheinung war immer imposant und würdevoll, ganz gleich ob er stand oder saß. Sein Nacken war zwar etwas dick und kurz, und sein Bauch trat ein wenig hervor, doch fielen diese Fehler bei dem Ebenmaß seiner Glieder nicht sehr auf. Sein Gang war selbstbewußt, seine ganze Körperhaltung männlich und seine Stimme klar, obwohl sie nicht so stark war, wie man bei seiner Größe hätte erwarten können. Seine Gesundheit war immer ausgezeichnet, nur in den letzten vier Jahren seines Lebens litt er öfter an Fieberanfällen und hinkte schließlich sogar auf einem Fuß. Trotzdem folgte er weiterhin lieber seinem eigenen 64

820 – einhard – karls herausragende statur

Gutdünken und nicht dem Rat der Ärzte, die er fast haßte, weil sie ihm vorschrieben, daß er das gewohnte Bratenfleisch aufgeben und dafür gekochtes Fleisch essen sollte. Nach fränkischem Brauch ritt und jagte er fleißig: es gibt auf der Welt kein Volk, das sich in dieser Beziehung mit den Franken messen könnte. Karl liebte die Dämpfe heißer Naturquellen und schwamm sehr viel und so gut, daß es niemand mit ihm aufnehmen konnte. Darum baute er einen Palast in Aachen und verbrachte seine letzten Lebensjahre ununterbrochen bis zu seinem Tode dort. Er lud nicht nur seine Söhne, sondern auch Adelige und Freunde, manchmal sogar sein Gefolge und seine Leibwächter zum Baden ein. Oft badeten mehr als hundert Leute mit ihm.

hörte er sich entweder Musik oder einen Vorleser an. Dabei wurden geschichtliche Werke und die Taten der Alten vorgetragen. Er hörte auch gerne die Werke des heiligen Augustinus, besonders seine Schrift De Civitate Dei. An Wein oder anderen Getränken gönnte er sich so wenig, daß er während der Mahlzeit selten mehr als dreimal trank. Im Sommer aß er nach dem Mittagessen Obst, leerte seinen Becher, zog dann Kleider und Schuhe aus, wie er es am Abend zu tun pflegte, und ruhte zwei bis drei Stunden lang. Mit der Nachtruhe hielt er es so, daß sein Schlaf gewöhnlich vier- oder fünfmal unterbrochen wurde; sobald er erwachte, stand er dann auch auf. Während man ihm die Schuhe und Kleider anzog, gab er seinen Freunden meist Audienzen. Und wenn ihm der Pfalzgraf von einer Streitigkeit berichtete, die seine Entscheidung verlangte, ließ er die streitenden Parteien sofort hereinführen, hörte sich den Fall an und verkündete sein Urteil, genauso als säße er auf dem Richterstuhl. Doch nicht nur das, er gab gleichzeitig auch Anweisungen, was alles am Tage getan oder den Beamten aufgetragen werden sollte. Karl war ein begabter Redner, er sprach fließend und drückte alles, was er sagen wollte, mit äußerster Klarheit aus. Er beherrschte nicht nur seine Muttersprache, sondern erlernte auch fleißig Fremdsprachen. Latein verstand und sprach er wie seine eigene Sprache. Griechisch konnte er allerdings besser verstehen als sprechen. Er war rednerisch so begabt, daß er manchmal beinahe zu weitschweifig erschien. Die Sieben Freien Künste pflegte er mit großem Eifer, achtete seine Lehrer sehr und erwies ihnen große Ehrbezeugungen. Der Diakon Peter von Pisa, der schon ein alter Mann war, lehrte ihn Grammatik. Ein anderer Diakon, Albinus, genannt Alcuin, ein Mann sächsischer Abstammung aus Britannien, der der größte Gelehrte seiner Zeit war, unterrichtete ihn in den übrigen Wissenschaften: der König verwendete viel Zeit und Mühe auf das Studium der Rhetorik, Dialektik und besonders der Astronomie. Er lernte Rechnen und verfolgte mit großem Wissensdurst und aufmerksamem Interesse die Bewegungen der Himmelskörper. Auch versuchte er sich im Schreiben und hatte unter seinem Kopfkissen im Bett immer Tafeln und Blätter bereit, um in schlaflosen Stunden seine Hand im Schreiben zu üben. Da er aber erst verhältnismäßig spät damit begonnen hatte, brachte er es auf diesem Gebiet nicht sehr weit. Die christliche Religion, mit der er seit seiner Kindheit vertraut war, hielt er gewissenhaft und fromm in höchsten Ehren. Deshalb erbaute er die wunderschöne Kirche in ­Aachen, die er mit Gold und Silber, mit Leuchtern und mit Gittern und Türen aus massivem Metall ausschmückte. Für

Er kleidete sich nach der nationalen Tracht der Franken: auf dem Körper trug er ein Leinenhemd, die Oberschenkel bedeckten leinene Hosen; darüber trug er eine Tunika, die mit Seide eingefaßt war; die Unterschenkel waren mit Schenkelbändern umhüllt. Sodann umschnürte er seine Waden mit Bändern und seine Füße mit Stiefeln. Im Winter schützte er seine Schultern und Brust durch ein Wams aus Otter- und Marderfell. Darüber trug er einen blauen Umhang. Auch gürtete er sich stets ein Schwert um, dessen Griff und Gehenk aus Gold oder Silber waren. Nur an hohen Feiertagen oder bei Empfängen von Gesandten aus fremden Ländern trug er ein Schwert, das mit Edelsteinen besetzt war. Ausländische Kleider ließ er sich fast niemals anziehen, auch wenn sie noch so kleidsam waren, denn er konnte sie nicht leiden. Ausnahmsweise sah man ihn bei zwei Anlässen in Rom in langer Tunika, Chlamys und römischen Schuhen: das erste Mal dem Papst Hadrian, das zweite Mal seinem Nachfolger Leo zuliebe. An hohen Festtagen trug er goldgewirkte Kleider und Schuhe, auf denen Edelsteine glänzten. Sein Umhang wurde dann von einer goldenen Spange zusammengehalten, und er schritt im Schmucke eines Diadems aus Gold und Edelsteinen einher. An anderen Tagen unterschied sich seine Kleidung nur wenig von der des gewöhnlichen Volkes. Karl war maßvoll im Essen und Trinken. Zumal im Trinken, da er die Trunkenheit bei jedem Menschen, ganz besonders an sich selbst und den übrigen Mitgliedern seines Haushaltes, sehr verabscheute. Enthaltsamkeit im Essen fiel ihm dagegen schwer, und er beklagte sich oft, daß das Fasten seiner Gesundheit schade. Er gab sehr selten Gelage, meist nur an hohen Feiertagen, dann aber für eine große Anzahl von Leuten. Seine täglichen Mahlzeiten bestanden aus vier Gängen und dem Fleisch, das seine Jäger auf dem Spieß brieten und das er lieber als alles andere aß. Während des Essens 65

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

diesen Bau ließ er Säulen und Marmor aus Rom und Ravenna bringen, da er sie sonst nirgends bekommen konnte. Er besuchte die Kirche regelmäßig morgens und abends, nahm an den nächtlichen Horen und an den Messen teil, solange es seine Gesundheit erlaubte. Er bestand darauf, daß alle dort abgehaltenen Gottesdienste mit möglichst großer Feierlichkeit zelebriert wurden. Oft ermahnte er die Kirchendiener, daß nichts Ungebührliches oder Unreines in die Kirche gebracht werden oder dort verbleiben dürfe. Er schenkte der Kirche viele heilige Gefäße aus Gold und Silber sowie eine große Anzahl von Priestergewändern: nicht einmal die Türsteher, die die niedrigsten Kirchenämter versahen, mußten während des Gottesdienstes ihre alltäglichen Kleider tragen. Größte Aufmerksamkeit widmete er der Verbesserung des liturgischen Lesens und des Psalmen­

gesanges: er war in beidem selbst wohl bewandert, wenngleich er in der Öffentlichkeit nie vorlas und nur leise im Chor mitsang. Ganz besonders lag Karl die Unterstützung der Armen am Herzen und jene uneigennützige Freigebigkeit, die von den Griechen mit dem Wort ›Almosen‹ bezeichnet wird. Er übte diese Tugend aber nicht nur in seinem eigenen Vaterland und Reich, denn sobald der sicher wußte, daß die Christen in Syrien, Ägypten und Afrika, in Jerusalem, Alexandrien und Karthago in Armut l ebten, schickte er ihnen aus Mitleid mit ihrer Lage regelmäßig Geld über das Meer. Vornehmlich aus diesem Grunde warb er um die Freundschaft der Fürsten jenseits des Meeres, damit er den unter ihrer Herrschaft lebenden Christen Erleichterung und Hilfe zukommen lassen könnte.

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widukind von corvey König Ottos demokratische Krönung Widukind von Corvey (* um 925, † nach 973), der im Kloster von Corvey die berühmte Sachsengeschichte schrieb, war ganz nach dem Vorbild der Griechen und Römer auch als politischer Reporter tätig. Sein lebendiges und teils äußerst kontroverses Zeugnis beweist einen ­glühenden Patriotismus, der das Zentrum seiner Welt nicht in Rom erblickt.

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achdem nun also der Vater des Vaterlandes und der größte und beste der Könige, Heinrich, entschlafen war, da erkor sich das ganze Volk der Franken und Sachsen dessen Sohn Otto, der schon vorher vom Vater zum König bestimmt worden war, als Gebieter. Und als Ort der allgemeinen Wahl bezeichnete und bestimmte man die Pfalz zu Aachen. Es ist aber jener Ort nahe bei Jülich, das nach seinem Gründer Julius Caesar benannt ist. Und als man dorthin gekommen war, versammelten sich die Herzöge und die Ersten der Grafen mit der Schar der vornehmsten Ritter in dem Säulenhof, der mit der Basilika Karls des Großen verbunden ist, und sie setzten den neuen Herrscher auf einen hier aufgestellten Thronsessel; hier huldigten sie

ihm, gelobten ihm Treue und versprachen ihm Hilfe gegen alle seine Feinde und machten ihn so nach ihrem Brauche zum Könige. Während dies die Herzöge und die übrige Beamtenschaft taten, erwartete der Erzbischof mit der gesamten Priesterschaft und dem ganzen Volk innen in der Basilika den Aufzug des neuen Königs. Als dieser eintrat, ging ihm der Erzbischof entgegen, berührte mit seiner Linken die Rechte des Königs, während er selbst in der Rechten den Krummstab trug, bekleidet mit der Albe, geschmückt mit Stola und Meßgewand, und schritt dann vor bis in die Mitte des Heiligtums, wo er stehenblieb. Dann zum Volke gewandt, das ringsumher stand – es waren nämlich in dieser Basilika Säulengänge unten und oben rundherum –, so 66

936 – widukind von corvey – könig ottos demokratische krönung

daß er von allem Volk gesehen werden konnte, sprach er also: »Sehet, hier bringe ich euch den von Gott erkorenen und einst vom großmächtigen Herrn Heinrich bestimmten, nun aber von allen Fürsten zum Könige gemachten Otto; wenn euch diese Wahl gefällt, so bezeugt dies, indem ihr die rechte Hand zum Himmel emporhebt.« Darauf hob alles Volk die Rechte in die Höhe und wünschte mit lautem Zuruf dem neuen Herrscher Heil. Sodann schritt der Erzbischof mit dem Könige, der nach fränkischer Art mit enganliegendem Gewande bekleidet war, hinter den Altar, auf dem die Abzeichen des Königs lagen, das Schwert mit dem Wehrgehenk, der Mantel mit den Spangen, der Stab mit dem Zepter und das Diadem. Erzbischof war zu dieser Zeit Hildebert, von Geschlecht ein Franke, seines Standes ein Mönch, erzogen und gebildet im Kloster Fulda und nach Verdienst zu dieser Ehre emporgestiegen, daß er zu dessen Abt bestellt wurde und hernach die höchste Würde des erzbischöflichen Stuhles zu Mainz erlangte. Dies war ein Mann von wunderbarer Heiligkeit, und außer der natürlichen Weisheit seines Geistes war er durch wissenschaftliche Arbeiten hochberühmt. Man erzählt von ihm, daß er unter anderen Gnadengaben auch den Geist der Weissagung erhalten habe. Und da wegen des Königs Weihe ein Streit unter den Bischöfen sich erhob, dem Trierer und Kölner – von seiten jenes, weil sein Stuhl der ältere und gewissermaßen vom Apostel Petrus gegründet sei, von seiten dieses, weil der Ort zu seinem Sprengel gehöre, und deshalb beide meinten, die Ehre der Weihe gebühre ihnen –, so traten sie dennoch beide vor der allen bekannten Hoheit Hildeberts zurück. Dieser trat an den Altar, nahm hier das Schwert mit dem Wehrgehenk und sprach zum König gewendet: »Empfange dieses Schwert und treibe mit ihm aus alle Widersacher Christi, die Heiden und schlechten Christen, da durch Gottes Willen alle Macht im ganzen Frankenreich dir übertragen ist, zum bleibenden Frieden aller Christen.« Sodann nahm er die Spangen und den Mantel und bekleidete ihn damit, indem er sagte: »Die bis auf den Boden herabrei-

chenden Zipfel deines Gewandes mögen dich erinnern, von welchem Eifer im Glauben du entbrennen und in Wahrung des Friedens beharren sollst bis in den Tod.« Darauf nahm er Zepter und Stab und sprach: »Diese Abzeichen sollen dich ermahnen, mit väterlicher Zucht deine Untertanen zu leiten und vor allem den Dienern Gottes, den Witwen und Waisen die Hand des Erbarmens zu reichen; und niemals möge dein Haupt des Öls der Barmherzigkeit ermangeln, auf daß du in Gegenwart und in Zukunft mit ewigem Lohne gekrönt wirst.« Darauf wurde er alsbald mit dem heiligen Öle gesalbt und mit dem goldenen Diadem gekrönt von den Bischöfen Hildebert und Wichfrid, und als nun die rechtmäßige Weihe vollzogen war, wurde er von eben denselben Bischöfen zum Thron geführt, zu dem man auf einer Wendeltreppe hinanstieg, und er war zwischen zwei marmornen Säulen von wunderbarer Schönheit so errichtet, daß er von hier aus alle sehen und von allen wiederum gesehen werden konnte. Nachdem man das Te deum laudamus gesungen und das Meßopfer feierlich begangen hatte, stieg der König herab und ging in die Pfalz; hier trat er an die marmorne, mit königlicher Pracht geschmückte Tafel und setzte sich mit den Bischöfen und allem Volk; die Herzöge aber warteten auf. Der Herzog der Lothringer, Giselbert, zu dessen Machtbereich dieser Ort gehörte, ordnete die ganze Feier. Eberhard besorgte den Tisch, Hermann der Franke führte die Mundschenken, Arnulf sorgte für die ganze Ritterschaft und für die Wahl und Absteckung des Lagers; Siegfried aber, der Sachsen trefflichster und der zweite nach dem Könige, Schwager des einstigen Königs, jetzt auch dem neuen König verschwägert, verwaltete um diese Zeit Sachsen, damit nicht etwa unterdessen ein feindlicher Einfall stattfände, und hatte als Erzieher des jungen Heinrich diesen bei sich. Der König aber ehrte danach einen jeden der Fürsten königlicher Freigebigkeit gemäß mit dem jedem angemessenen Geschenk und entließ die Menge mit aller Fröhlichkeit.

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lampert von hersfeld Heinrich IV. barfuß in Canossa Bei ihrer epischen Breite und dem Sinn fürs sprechende Detail wären die Annalen des Abts Lampert von ­Hersfeld (* vor 1028, † vor 1085) heute wohl als Folge im »New Yorker« zu lesen. Auch der prickelnde Stoff, Heinrichs Bußgang nach Canossa, ist preisverdächtig. Der König, der ein Jahr zuvor auf der Synode von Worms zusammen mit den deutschen Bischöfen den Papst für abgesetzt erklärt hat, sucht im Büßeraufzug die Aufhebung des Kirchenbanns zu erzwingen. In ihrem Ultimatum haben ihm die deutschen Fürsten dafür ein Jahr Zeit gegeben.

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kam der könig, wie ihm befohlen war, und da die Burg von drei Mauern umgeben war, wurde er in den zweiten Mauerring aufgenommen, während sein ganzes Gefolge draußen blieb, und hier stand er nach Ablegung der königlichen Gewänder ohne alle Abzeichen der königlichen Würde, ohne die geringste Pracht zur Schau zu stellen, barfuß und nüchtern vom Morgen bis zum Abend, das Urteil des Papstes erwartend. So verhielt er sich am zweiten, so am dritten Tage. Endlich am vierten Tag wurde er zu ihm vorgelassen, und nach vielen Reden und Gegenreden wurde er schließlich unter folgenden Bedingungen vom Bann losgesprochen: er solle an einem vom Papst zu bestimmenden Tag und Ort auf einer allgemeinen Versammlung, zu der die deutschen Fürsten berufen werden würden, erscheinen und auf die Anklagen, die man vorbringen werde, Bescheid geben; der Papst solle, wenn er es für vorteilhaft halte, selbst als Richter die Entscheidung treffen, und er solle auf seinen Urteilsspruch hin entweder die Krone behalten, wenn er sich von den Vorwürfen reinige, oder ohne Unmut verlieren, wenn seine Vergehen erwiesen seien und er nach den kirchlichen Gesetzen für die Zukunft der königlichen Würde für unwürdig erklärt werde; er solle, ob er nun die Krone behielte oder verlöre, für diese Demütigung in alle Zukunft an niemandem Rache nehmen. Bis zu dem Tage aber, an dem seine Sache nach einer förmlichen Untersuchung entschieden werde, dürfe er keinerlei königlichen Schmuck tragen, keine Abzeichen der königlichen Würde anlegen, keine staatlichen Verwaltungsmaßnahmen wie sonst gewöhnlich aus eigner Machtvollkommenheit vollziehen und keine rechtskräftigen

Entscheidungen treffen; endlich dürfe er außer der Einforderung der königlichen Gefälle, die zu seinem und seiner Leute Lebensunterhalt nötig seien, kein königliches, kein staatliches Gut in Anspruch nehmen; auch sollten alle, die ihm eidlich Treue zugesagt hätten, einstweilen von der Bindung an diesen Eid und der Treupflicht gegen ihn vor Gott und Menschen frei und entbunden sein; den Bischof Robert von Bamberg, Udalrich von Godesheim und die übrigen, auf deren Rat hin er sich und das Reich ins Unglück gestürzt habe, müsse er für immer von seinem vertrauten Umgang ausschließen. Falls er nach Widerlegung der Anschuldigungen mächtig und erstarkt auf dem Thron bleibe, solle er dem Papst immer untertan und gehorsam sein und ihm nach allen Kräften helfen. Endlich, wenn er einem dieser Punkte zuwiderhandle, solle die jetzt so heiß von ihm ersehnte Lösung vom Bann ungültig sein, ja, er werde dann schon für überführt und geständig angesehen werden, nie mehr Gehör finden zum Erweis seiner Schuldlosigkeit, und die Reichsfürsten würden, jeder Verpflichtung zu weiterer Untersuchung, jeder Bindung an ihren Eid ledig, einen anderen König wählen, auf den sie sich einigen würden. Der König nahm die Bedingungen mit Freuden an und versprach mit den heiligsten Beteuerungen, sie alle einhalten zu wollen. Doch man schenkte seinen Versicherungen nicht ohne weiteres Glauben. Da verpfändete der Abt von Cluny, der mit Rücksicht auf sein Mönchsgelübde einen Eid verweigerte, vor den Augen des alles sehenden Gottes sein Wort. Auch der Bischof von Zeitz, der Bischof von Vercelli, Markgraf Azzo und andre Fürsten, die diese Vereinbarung vermittelt hatten, verbürgten sich durch einen Eid 68

1077 – lampert von hersfeld – heinrich iv. barfuss in canossa

auf die Gebeine der Heiligen, die man herbeigebracht hatte, dafür, daß er tun werde, was er versprochen hatte, und daß er sich durch keine Widrigkeit und keinen etwa eintretenden Umschwung der Verhältnisse von seinem Entschluß abbringen lassen würde. Nach der Lösung vom Bann hielt der Papst ein feierliches Hochamt, und nach Beendigung des heiligen ­Meßopfers rief er den König und die zahlreichen übrigen Anwesenden an den Altar und sprach, den Leib des Herrn in der Hand: »Ich habe schon vor längerer Zeit von dir und deinen Anhängern Briefe erhalten, in denen du mich beschuldigtest, ich hätte den apostolischen Stuhl durch simonistische Ketzerei erlangt und vor wie nach Übernahme des Bischofsamts mein Leben mit einigen anderen Verbrechen besudelt, die mir nach den kirchlichen Satzungen den Zugang zu kirchlichen Ämtern verwehrt hätten. Und wenn ich auch diese Beschuldigungen derer nämlich, die meine ganze Lebensführung von früher Jugend an genau kennen, sowie derer, die meine Berufung in das Bischofsamt veranlaßt haben, so will ich doch nicht den Anschein erwecken, als verließe ich mich mehr auf menschliches als auf göttliches Zeugnis, und will für alle jeden Anlaß zu einem Ärgernis auf einem abgekürzten Weg der Rechtfertigung beseitigen: siehe hier den Leib des Herrn, den ich zu mir nehmen werde, er soll mich heute durch sein Urteil entweder vom Verdacht der mir vorgeworfenen Vergehen befreien, wenn ich unschuldig bin, oder durch einen plötzlichen Tod dahinraffen, wenn ich schuldig bin.« Nachdem er, wie üblich, diese und andere schreckende Worte vorausgeschickt hatte, mit denen er zu Gott betete, als der gerechte Richter seiner Sache und Verteidiger seiner Unschuld zugegen zu sein, nahm er einen Teil vom Leib des Herrn und aß ihn. Als er ihn ohne jede Furcht verzehrt hatte und das Volk ihn zum Erweisen seiner Unschuld beglückwünscht und ihm unter Lobpreisung Gottes eine Zeitlang zugejubelt hatte, gebot er endlich Schweigen und sprach, zum König gewandt: »Tue nun, mein Sohn, wenn du willst, was du mich hast tun sehen. Die Fürsten des deutschen Reichs liegen mir täglich in den Ohren mit ihren Anklagen und laden dir eine schwere Last von Kapitalverbrechen auf, deretwegen du nach ihrer Meinung nicht nur von jeder Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, sondern auch von der kirchlichen Gemeinschaft und jeder Art weltlichen Lebens bis zu deinem letzten Atemzug ausgeschlossen werden müßtest. Auch bitten sie dringend, Ort und Tag zu bestimmen und eine Versammlung anzuberaumen zur kanonischen Untersuchung der Anklagen, die sie gegen dich vorbringen wollen. Du weißt ja selbst genau, daß menschliche Urteile oft in die Irre gehen und bei

politischen Streitigkeiten sich zuweilen falsche Überzeugungen bilden statt richtiger, denn man hört wegen der Verstandesschärfe redegewandter Männer und der reichen Fülle und der Eleganz ihrer Rede gern auf die mit dem Schmuck der Worte behangene Unwahrheit, während man die sich auf keine rhetorischen Mittel stützende Wahrheit mißachtet. Da ich dir nun zu deinem Besten raten will, weil du in deiner Not flehentlich den Schutz des apostolischen Stuhles erbeten hast, so tue, was ich dir rate. Wenn du weißt, daß du unschuldig bist, und daß dein Ruf von deinen Gegnern verleumderisch durch falsche Beschuldigungen angetastet wird, dann befreie auf diesem abgekürzten Weg die Kirche Gottes von ­diesem Ärgernis und dich selbst von dem ungewissen Ausgang dieses langen Streites und nimm diesen Rest des Leibes des Herrn, um deine Schuldlosigkeit durch Gottes Zeugnis zu beweisen und allen, die Unrechtes gegen dich schwatzen, den Mund zu stopfen, dann werde ich selber künftighin dein Sachwalter und der eifrigste Verfechter deiner Unschuld sein, die Fürsten werden sich mit dir versöhnen, die Krone wird dir zurückgegeben, und alle Stürme der Bürgerkriege, durch die das Reich schon so lange geplagt wird, werden für immer gestillt sein.« Der König, von diesem unerwarteten Ansinnen wie vom Donner gerührt, schwankt, sucht Ausflüchte, berät sich abgesondert von der Menge mit seinen Vertrauten und überlegt voll Angst, was zu tun sei, wie er der Notwendigkeit dieser furchtbaren Prüfung entgehen kann. Als er endlich wieder etwas zu Atem gekommen war, fing er an die Abwesenheit der Fürsten vorzuschützen, die ihm im Unglück bisher unverbrüchliche Treue bewahrt hätten, ohne deren Befragung und vor allem wegen der Abwesenheit der Ankläger werde jede Genugtuung, die er zum Erweis seiner Unschuld vor so wenigen Anwesenden leiste, unwirksam sein und bei Ungläubigen keinerlei Geltung haben. Deshalb bat er den Papst dringend, die Entscheidung auszusetzen und bis zu der all­ gemeinen Versammlung und der gemeinsamen Verhandlung zu verschieben, damit er dort vor versammelten An­klägern nach Prüfung der Anklagen wie der Persönlichkeit der Ankläger entsprechend den kirchlichen Gesetzen unter den von den Fürsten des Reichs für billig erachteten Be­dingungen die Beschuldigungen widerlege. Ohne Schwierigkeit gewährte der Papst diese Bitte, und nach Beendigung des Gottesdienstes lud er den König zum Mahl, und nachdem dieser sich gestärkt und er ihn genau über alles unterrichtet hatte, was er zu beachten habe, entließ er ihn auf das gnädigste in Frieden zu den Seinigen, die weit außerhalb der Burg zurück­ geblieben waren. 69

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niketas choniates Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel Auch in diesem Fall ist die Geschichte aus der Sicht der Verlierer geschrieben. Die Chronik des Niketas Choniates (*um 1150, † um 1215) ist mit großer stilistischer Ambition verfaßt, sein Duktus stellt den byzantinischen Staatsmann in die rhetorische Tradition der antiken Redner.

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icht einmal den anblick der stirnplatte eines einzigen Reiters, wenn auch eines Reiters von entsetzenerregendem Aussehen und staunenswerter Größe, vermochten die Vornehmen des kaiserlichen Gefolges und das übrige Heer zu ertragen. Den Rücken zu kehren hielten sie für ein gutes Mittel, das Leben zu retten, und ergriffen die ihnen so vertraute Flucht, als ob die lange Gewohnheit, immer nur zu fliehen, sie zu einer einzigen feigen Seele zusammengeschmolzen hätte. Selbst ihre feste Stellung – sie standen nämlich auf steilen Hügeln – schien ihnen nicht fest genug und sie rannten zu Tausenden vor dem einen davon und drängten sich vor dem Landtor, welches das Goldene heißt, rissen das neulich erbaute Mauerwerk weg und liefen nach allen Seiten auseinander. Oh, wären sie nur gleich in den Abgrund der Hölle und ins gänzliche Verderben gerannt! Die Feinde stürmten, da niemand ihnen entgegentrat, hierhin und dorthin und zogen das Schwert gegen jegliches Alter und Geschlecht, nicht einer neben dem anderen und in größeren Gruppen und in Ordnung rannten sie daher, sondern sie zerstreuten sich und liefen einzeln umher, weil der Schrecken schon alle Rhomäer lähmte. Am Abend zündeten sie im Osten, noch ein wenig ostwärts vom Euergeteskloster, die Stadt an, und diese Feuersbrunst vernichtete den dort neben dem Meere liegenden Stadtteil bis zu Drungarion. Dann kehrten die Feinde wieder um und schlugen neben dem Pantepopteskloster ihren Befehlsstand auf. Sie plünderten das Zelt des Kaisers und eroberten sonder Mühe beim ersten Ansturm den Blachernenpalast. Der Kaiser durchstreifte die engen Gassen der Stadt und suchte das ziellos umherirrende Volk zu sammeln und aufzustellen. Aber die Leute folgten nicht seinen aufmunternden Worten, sie gehorchten nicht seinem Schelten. Die Ägis der

Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit war gegen alle geschüttelt worden. Aber um in der Erzählung forzufahren. Der Tag ging zu Ende, die Nacht brach herein. Jeder der Bürger in der Stadt war eifrig damit beschäftigt, seine Habe wegzuräumen und zu vergraben. Einige trachteten auch, aus der Stadt herauszugelangen und bemühten sich, so gut es gehen wollte, ihr Leben zu retten. Dukas sah, daß alles umsonst war. Er fürchtete auch, gefangen zu werden, und wollte nicht wie ein Stück Brot auf dem Tisch vor den Kinnladen der Lateiner liegen. Darum begab er sich in den Großen Palast. Er holte die Kaiserin Euphrosyne, die Gattin des Kaisers Alexios (III.), und ihre Tochter Eudokia, zu der er schon früher in Liebe entbrannt war – denn er jagte seit seinem ersten Bart unersättlich immer neuen ­Liebesgenüssen nach und hatte zwei rechtmäßige Gattinnen gesetzwidrig verstoßen –, bestieg mit ihnen einen Kahn und verließ die Stadt, nachdem er zwei Monate und 16 Tage ­Kaiser gewesen war. Die Feinde merkten zu ihrer Überraschung, daß ihnen niemand mehr entgegentrat, niemand gegen sie die Hand erhob, niemand sich wider sie rüstete. Sie konnten gehen, wohin sie wollten, nehmen was sie wollten, die engen Gassen standen ihnen offen, die breiten Straßen lagen frei. Von ihren Gegnern hatten sie keinen Kampf mehr, sondern nur noch Beute zu erwarten. Sie fühlten sich von einem gnädigen Glück geführt und unterstützt. Da sahen sie auf einmal die Einwohnerschaft der Stadt mit Kreuzen und hochzuverehrenden Ikonen Christi, wie man sie bei feierlichen Umzügen mitführt, heranziehen. Aber der rührende Anblick rührte nicht ihre Seele, in ihren harten Gesichtern zuckte kein weicher Zug auf, das unerwartete Bild, das sich ihren Augen bot, ließ nicht ihren 70

1204 – niketas choniates – die kreuzfahrer erobern konstantinopel

haßgetriebenen, grimmigen Blick zu Milde verfließen, sondern sie begannen gefühllos zu plündern, zuerst die Pferde, dann die Habe und das Geld der Bürger und sogar das, was Gott geweiht war. Alle hatten sie Schwerter in den Händen, einige hatten auch ringsum gepanzerte Schlachtrosse. Was soll ich als erstes, was als letztes aufzählen von dem, was diese blutbesudelten Männer zu tun sich vermaßen? O welche Schändung, als sie die verehrten Ikonen zu Boden schleuderten, als sie die Reliquien derer, die für Christus gelitten, auf abscheuliche Orte warfen! Wovor einem schaudert, wenn man davon bloß hört, das mußte man damals sehen: das göttliche Blut, ausgegossen auf die Erde, den Leib Christi, gestreut in den Staub! Diese Vorläufer und Vorboten des Antichrist, die damals schon die gotteslästerlichsten Untaten verbrachen, die jener einst tun soll, raubten die wertvollen Gefäße und Behältnisse des Heiligen, zerbrachen sie und steckten sie in ihre Taschen oder stellten sie als Brotkörbe und Trinkbecher auf ihre eigenen Tische. Ja, dieses Volk zog wahrhaftig, wie es das schon einmal getan hatte, Christus die Kleider aus und verhöhnte ihn, teilte sein Gewand und warf das Los, bloß daß sie Christus nicht wiederum die Seite mit der Lanze öffneten, um Ströme göttlichen Blutes zur Erde rinnen zu lassen. Die Freveltaten, die sie in der Großen Kirche verübten, sind kaum zu glauben. Der Altartisch, aus lauter edlen, im Feuer aneinandergefügten Materialien, ein einziger, vielfarbiger Gipfel der Schönheit, der auf der ganzen Welt als außerordentlich galt und bewunderndes Staunen erregte, wurde von den Plünderern zerstückt und verteilt, desgleichen auch der ganze Kirchenschatz, der ungeheuer groß und unendlich prachtvoll war. Als sie, gleich als wäre das auch eine Beute, die allerheiligsten Geräte und Gefäße von unübertrefflicher Kunst und Schönheit und aus seltenen Stoffen, das gediegene, mit Gold überzogene Silber, welches den Sims des Bemas (Vimas) sowie den herrlichen Ambo und die Pforten zierte und noch vieles andere schmückte, aus der Kirche fort­ schaffen wollten, führten sie Maulesel und Packtiere bis zum ­Allerheiligsten vor und beluden sie schwer. Als einige Tiere auf dem blinkenden Steinboden ausglitten, zogen sie die Schwerter und erstachen sie, so daß die heilige Stätte nicht nur von dem Unrat der Tiere, sondern auch von dem vergossenen Blut befleckt wurde. Ein Weisbild, ein Misthaufen der Sünde, eine Erzpriesterin der Erinnyen, eine Dienerin der bösen Geister, eine Werkstatt geheimer Zauberei und verschriener Beschwörungen, eine Buhlerin wider Christus (vgl. Paulus I tim. 5, II) setzte sich auf den Thron und sang ein unanständiges

Lied, drehte sich auch oft im Tanz und schwenkte die Füße. Und das war nicht der einzige Frevel. Nicht daß etwa hier mehr Abscheuliches geschah und dort weniger, sondern einmütig verübten alle überall die ärgsten Gotteslästerungen. Hätten etwa jene Schandbuben, die so gegen Gott wüteten, ehrwürdige Frauen, heiratsfähige Mädchen, Bräute Gottes, die sich der Jungfräulichkeit geweiht, verschonen sollen? Diese Barbaren mit Bitten zu erweichen, ihr Mitleid anzuflehen und sie nur ein wenig sanfter und milder zu stimmen, das war in jedem Fall ungeheuer schwer und kaum zu erreichen. So reizbar waren sie. Bei jedem Wort, das ihnen mißfiel, spien sie gleich Gift und Galle, und alles konnte ihren Zorn entflammen. Wer ihnen nur im geringsten widersprach oder zögerte, ihren Wünschen willfährig zu sein, wurde als Tor verlacht oder ein vorlauter Mensch gescholten, oft aber sah er sich auch einem gezückten Dolch gegenüber. Das Unheil kam über jedes Haupt. In den Gassen war Weinen und Jammern, die Straßen erfüllte Klagen und Geheul, aus den Kirchen tönte Wehgeschrei, Männer seufzten, Frauen schrien, überall wurden Leute verschleppt, versklavt, gezerrt, aus den Armen ihrer Lieben gerissen. Die Vornehmen schlichen bar allen Glanzes umher, ehrwürdige Greise saßen kläglich in einem Winkel, die Reichen standen mittellos da. So war es auf den Plätzen, so in den engen Gassen, so war es in den Kirchen, so in den Schlupfwinkeln. Kein Ort blieb undurchstöbert, kein Platz gewährte den Zufluchtsuchenden Schutz, alles war allerwege voll von ­allen Greueln. Christus, König! Welche Drangsal, welche Beklemmung kam damals über die Menschen! Warum hat nicht das Brausen des Meeres, Verdunkelung und Verfinsterung der Sonne, ein im Blut zerfließender Mond, Erschütterung der Sterne diese letzten Dinge angekündigt (vgl. Lukas 21, 25)! Wir haben doch den Greuel der Verwüstung stehen gesehen an heiliger Stätte (vgl. Matthäus 24, 15), haben gehört, wie ein geläufiges Maul Hurenlieder grölte, wir haben gesehen, wie alles, was Christen verehrungswürdig ist und unseren Glauben verherrlicht, sich in sein Gegenteil verkehrte oder sich wenigstens anschickte, dazu überzugehen. Solches, um von vielem nur weniges der Geschichte zu überliefern, verbrachen die Heere aus dem Westen gegen das erwählte Volk Christi. Bei keinem einzigen von allen Rhomäern ließen sie Milde walten. Sie nahmen allen alles, Geld und Gut, Haus und Gewand, und ließen die rechtmäßigen Besitzer nichts auch nur benützen. Ja, das waren die Männer mit dem ehernen Nacken, dem prahlerischen Sinn, der hochge71

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

zogenen Braue, den allzeit jünglinghaft glattgeschabten Backen, mit der blutgierigen Rechten, der zornbebenden Nase, dem stolz erhobenen Auge, den unersättlichen Kinnladen, mit dem lieblosen Herzen und dem gellenden, überstürzten Geschwätz – es hätte nur noch gefehlt, daß es auf ihren Lippen getanzt hätte! –, ja, das waren die verständigen, weisen Männer, wofür sie sich hielten, die wahrheitsliebenden, treu die Eide bewahrenden Hasser alles Schlechten, das waren die Männer, die so viel frömmer waren als wir elenden Griechen, so viel gerechter und genauer im Befolgen der Gebote Christi, das waren die Männer, die, was noch schwerer wiegt, das Kreuz auf ihren Schultern trugen, die oft auf dieses Kreuz und die Heilige Schrift den falschen Eid geschworen, sie würden Christenländer ohne Blutvergießen durchziehen, nicht nach links abweichen, nicht nach rechts abbiegen, weil sie nur gegen die Sarazenen ihre Hand gewaffnet hätten und ihr Schwert nur mit dem Blut der Zerstörer Jerusalems färben wollten, das waren die Männer, die gelobt hatten, keine Frau zu berühren, solange sie das Kreuz auf ihren Schultern trügen, weil sie als Gott geweihte Schar im Dienste des Allerhöchsten zögen! Ja, als Schwätzer, als Verfertiger leerer Worte erwiesen sie sich in Wahrheit! Sie wollten Rache für das Heilige Grab nehmen und wüteten offen gegen Christus! Im Namen des

Kreuzes stürzten sie ruchlos das Kreuz und schauderten nicht davor zurück, wegen einer Handvoll Gold und Silber das gleiche Zeichen, das sie auf der Schulter trugen, mit den Füßen zu zertreten! Sie steckten Perlen in ihre Taschen und verwarfen Christus, die wertvollste Perle; sie, die reinste und heiligste, warfen sie den schmutzigsten Tieren vor! So sind nicht die Ismaeliten! Ja, diese benahmen sich geradezu menschenfreundlich und milde gegen die Landsleute dieser Lateiner, als sie Sion einnahmen. Sie fielen nicht brünstig wiehernd über lateinische Frauen her, sie machten nicht Christi leeres Grab zu einem Massengrab, sie machten nicht den Eingang der lebenspendenden Stätte zu einem todbringenden Hadeschlund und die Auferstehung Christi zum Untergang vieler, sondern sie gewährten allen Lateinern den Abzug, bestimmten für jeden Mann nur ein geringes Lösegeld und ließen alles übrige den Besitzern, auch wenn dies zahlreich war wie der Sand am Meer. So verfuhren Feinde Christi mit den christlichen Lateinern! Ohne Schwert, ohne Feuer, ohne Hunger, ohne Verfolgung, ohne Beraubung, ohne Schlagen, ohne Bedrückung traten sie ihnen groß­mütig entgegen. Aber diese guten Christen behandelten uns, ihre Glaubensgenossen, so, wie ich es eben schilderte, und dabei konnten sie uns kein Unrecht vorwerfen.

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marco polo Bei Kublai Khan Der venezianische Kaufmann Marco Polo (* um 1254, † 8. Januar 1324 ebenda) berichtet mündlich, was Rustichello, sein Freund und Leidensgenosse in gemeinsamer genuesischer Gefangenschaft, aufzeichnet. Im Gegensatz zum Erzähler ist der Schreiber, ein Sammler bretonischer Ritterepen, der sich des Altfranzösischen bedient, kulturell vorbelastet. Das Ergebnis ist ein mehrstimmiger Text aus Business News, phantastischen ­Einsprengseln von »Gewährsleuten« und westlichem Bildungsgut.

C

iandu und der kaiserpalast. – Nach drei Tagesreisen steht man vor den Toren von Ciandu. Diese Stadt hat Kublai Khan, der heute regierende Großkhan, bauen lassen. Hier errichtete er einen Prachtbau aus Marmor und Stein. Säle und Zimmer sind vergoldet. Das Gebäude ist wundervoll geschmückt. Eine etwa sechsundzwanzig Meilen lange Mauer umgrenzt ein Gebiet, das reich ist an Quellen, Bächen und Wiesen. Hier hält der Großkhan Tiere aller Art: Hirsche, Damhirsche und Rehe zur Fütterung der Nord- und Tatarenfalken in den Käfigen; Nordfalken gibt es dort über zweihundert. Der Großkhan besichtigt die Käfige einmal jede Woche. Oftmals reitet er mit einem Leoparden auf dem Rücken seines Pferdes durch den Wildpark. Sooft er Lust hat, läßt er den Leoparden springen, und der schlägt einen Hirsch, einen Damhirsch oder ein Reh. Die Beute wird den gefangenen Falken verfüttert. Diese Ausritte sind des Kaisers Erholung und Vergnügen. Und noch mehr habe ich zu berichten: inmitten des Tiergartens hat der Großkhan einen Palast bauen lassen, und zwar ganz aus Bambus. Das Innere ist vollständig vergoldet und geschmückt mit wunderbar gearbeiteten Tier- und Vogelmotiven. Das Dach ist ebenfalls aus Bambus und dermaßen gut gefügt und abgedichtet, daß es schneesicher ist. Ich erkläre euch die Bambus-Bauweise. Ihr müßt wissen, die Bambusrohre sind mehr als drei Spannen dick und zehn bis fünfzehn Schritt lang. Man durchschneidet sie bei den Knoten und spaltet sie nachher. Die schindelartigen Teile sind dick und so groß, daß Wände und Dach daraus gemacht werden können. Nach diesem Verfahren ist der oben genannte

Palast errichtet worden. Der Großkhan hatte befohlen, ihn derart zu konstruieren, daß er jederzeit an irgendeinen beliebigen Ort transportiert werden könne. Mit über zweihundert Seilen aus Seide kann er überall neu aufgestellt werden. Drei Monate im Jahr hält sich der Großkhan hier auf, im Juni, Juli und August. Das Wetter ist dann nicht heiß, und es behagt ihm sehr. Für diese Zeitspanne wird der Bambus-Palast aufgebaut, in den übrigen Monaten wird er zusammengepackt. So hat es der Khan befohlen, nach seinem Willen wird der Palast erstellt oder abgebrochen. Jedes Jahr am gleichen Tag, am 28. August, verläßt der Khan die Stadt und den Palast. Ihr werdet gleich erfahren, warum. Der Großkhan besitzt ein Gestüt mit Schimmelhengsten und -Stuten ohne den geringsten Farbfleck, sie sind weiß wie Schnee. Die Anzahl der Stuten ist riesig, mehr als zehntausend. Die Schimmelstutenmilch darf von niemand anderem als von Angehörigen der kaiserlichen Familie, also ausschließlich von der Khan-Familie, getrunken werden. Mit einer einzigen Ausnahme: Angehörige eines anderen Stammes namens Horiat haben auch das Recht, sie zu trinken. Cinghis Khan gewährte ihnen diese Gunst, weil sie einst mit ihm zusammen einen wichtigen Sieg errungen haben. Stellt euch vor: wenn die weißen Pferde vorbeiziehen, wird ihnen große Ehre erwiesen; kein noch so edler Herr würde sich dazwischen hindurchdrängen, sondern würde warten, bis die Herde weitergegangen wäre, oder er selbst würde sich entfernen, um die Tiere nicht zu stören. Die Astrologen und die Heiden haben dem Großkhan gesagt, er müsse jedes Jahr am 28. August die Milch der weißen Stuten in die Luft und die 73

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Felder sprengen, damit die Geister zu trinken hätten. Die Heiden glauben, dank dem Trinkopfer wachen die Geister über all seinen Besitz, über Männer und Frauen, über Tiere, Vögel, über die Ernte und alles ­übrige. Der Khan verläßt also Ciandu und begibt sich an einen andern Ort. Etwas Seltsames, das ich vergessen habe, will ich vorerst nachholen. Also hört: wenn der Khan sich in seinem Palast aufhielt und es regnete, oder es war bewölkt, oder es war düster, dann brachten es die kundigen Zauberer fertig, mit ihrem Hokuspokus Wolken und Schlechtwetter über seinem Palast zu vertreiben, so daß das Unwetter sich woandershin verzog. Diese Magier heißen Tebet und Quesmur, und das sind zwei Heidenstämme. Teufelskünste und Zauberei beherrschen sie besser als andere Völker. Alles ist Teufelswerk, was diese Scharlatane betreiben; sie lassen aber die Leute im Glauben, ihre Taten seien heilig und göttlich. Überdies haben sie noch eine höchst eigenartige Gewohnheit. Sooft ein Mensch zum Tode verurteilt und im Auftrag der Obrigkeit hingerichtet worden ist, holen sie seinen Leichnam, kochen und essen ihn. Wenn jemand eines natürlichen Todes stirbt, verspeisen sie ihn keinesfalls. Noch eine andere Geschichte weiß ich zu erzählen von den obengenannten Bacsi, die sich so trefflich aufs Zaubern verstehen. Stellt euch vor: der Großkhan sitzt im Hauptsaal an seinem Tisch, welcher auf einem acht Ellen hohen Podest steht. Die Trinkgefäße befinden sich auf dem Boden des Saales, etwa zehn Schritte vom Tisch entfernt; sie sind gefüllt mit Wein, Milch oder sonstigen guten Getränken. Die Zauberer, Bacsi ge­heißen, bewirken mit ihrem Hexeneinmaleins, daß sich die vollen Gefäße vom Fußboden abheben und ohne jemanden zu berühren zum Khan hinschweben. Solches geschieht vor den Augen von zehntausend Menschen. Es ist die reine Wahrheit, nicht eine Spur von Erfindung. Jeder, der etwas von der Schwarzen Kunst versteht, muß zugeben, daß derartiges möglich ist. Vor den heidnischen Feiertagen begeben sich die Bacsi zum Großkhan und sagen ihm: »Herr, das Fest von einem unserer Götter naht« – dann geben sie den Namen einer bestimmten Gottheit an und fahren fort: »Herr, Ihr wißt, wie dieser Gott schlechtes Wetter zu bringen pflegt, wie er unserem Hab und Gut, unserem Vieh und unseren Ernten Schaden zufügt, wenn wir ihm kein Brandopfer bringen. Und darum, gnädiger Herr, veranlaßt, daß wir soundso viel schwarzköpfige Schafe, soundso viel Weihrauch, soundso viel Aloeholz und dies und jenes zur Verfügung haben, damit wir dem Gotte Ehre erweisen und opfern können, auf daß er wache über unser Leben, über unser Vieh und unsere Ernte.«

Die Bacsi tun es den Fürsten am Hofe kund und ebenfalls den Lehnmännern. Diese wiederholen dem Khan die Bitte, und die Bacsi erhalten, was sie verlangen. Mit viel Gesang und Festlichkeiten wird die Gottheit gepriesen. Die Heiden versetzen das Hammelfleisch mit vielen guten Gewürzen, lassen es über dem Holzfeuer gar werden, legen es den Göttern vor, versprengen die Brühe ringsum und behaupten, die Götter würden nach Belieben davon kosten. Das ist die Art und Weise, wie sie die Götter ehren an ihren Feiertagen. Und wirklich, es verhält sich so: jede Gottheit hat ihr Fest an ihrem Namenstag, genau wie unsere Heiligen. Es gibt große Bacsi-Klöster und Bacsi-Abteien; einige dehnen sich aus, gleich einer kleinen Stadt; mehr als zweitausend Mönche leben dort gemäß ihrer Regel. Sie kleiden sich geziemender als die gewöhnlichen Leute. Sie sind kahlköpfig und bartlos. Zu ihren prächtigen Götterfesten gehören herrlicher Gesang und strahlende Lichter, wie man sie sonst nirgends sieht. Unter den Bacsi sind welche, die sich, entsprechend der Ordensregel, vermählen können. Sie nehmen sich eine Frau und zeugen Kinder. Ich beschreibe jetzt noch eine andere Religionsgemeinschaft, die Sensi. Die Gebote verpflichten die Männer zu strenger Enthaltsamkeit. Ihr werdet sogleich erfahren, wie sich ihr Leben gestaltet. Es ist die reine Wahrheit: Ihr Lebtag essen sie nichts als Kleie, das sind die Getreidekörnerhülsen, die beim Mahlen abfallen. Die Hülsen der Körner legen sie in heißes Wasser, lassen sie eine Weile drin und essen sie dann. (Sie nehmen nämlich Abfälle, legen sie in warmes Wasser, lassen sie eine Weile drin, bis sich das Korn oder das Mark der Hülse löst. Und sie essen diese gewaschenen Hülsen ohne den geringsten Geschmack nach Getreide.) Im Laufe des Jahres fasten die Sensi von Zeit zu Zeit; niemals würden sie eine andere Nahrung als Kleie zu sich nehmen. Sie verehren große Götzenbilder, und bisweilen beten sie das Feuer an. Die strengen Asketen werden von den andern Ordensbrüdern wegen ihrer starren Gebräuche als Ketzer verschrien. Der Unterschied zwischen den zwei heidnischen Mönchsregeln ist beträchtlich. Die Asketen würden um nichts in der Welt eine Frau anrühren; Kopf- und Barthaare scheren sie kahl; ihre Gewänder sind aus blauem oder schwarzem Sacktuch, und sollten sie einmal aus Seide sein, so wären sie von derselben Farbe. Sie schlafen auf einer Matte. Kein Mensch auf Erden führt ein so karges, hartes Leben wie sie. Ihre Klöster und ihre Gottheiten tragen alle weib­liche Namen. Die Gestalt des Großkhans. – Der mächtigste Herr ­aller Herren, Kublai Khan mit Namen, ist eine edle 74

1351 – francesco petrarca – gott in frankreich oder babel in avignon

Gestalt. Er ist nicht zu groß, nicht zu klein, sondern von mittlerer Statur. Er ist ein kräftiger Mann mit wohlgeformten Gliedmaßen. Seine Gesichtshaut ist rosigweiß, die Augen leuchten dunkel, fein ist die Nase profiliert. Vier Gattinnen hat er, er nennt alle vier seine Haupt­ frauen, der älteste Sohn dieser vier wird nach seinem Tode der rechtmäßige Nachfolger. Die Gemahlinnen haben den Rang von Kaiserinnen, jede trägt ihren persönlichen ­Namen, jede hat ihren eigenen Hofstaat. Jede Kaiserin ist umgeben von dreihundert reizenden, hübschen Jungfrauen. Viele Eunuchen und noch andere Männer und Frauen gehören zu ihrem Gefolge. Der Hof einer Khans­ gattin zählt zehntausend Personen. Sooft der Khan bei einer der vier Frauen liegen will, läßt er sie in seine Kammer rufen; manchmal auch begibt er sich selbst ins Frauen­ gemach.

Der Khan hat aber noch viele Geliebte. Hört euch an, wie er sie behandelt: Allgemein ist bekannt, daß es einen Tatarenstamm gibt, Ungrac genannt, der als sehr schöner Menschenschlag gilt. Jedes Jahr werden die hundert schönsten Töchter ausgewählt und zum Großkhan gebracht. Er gibt sie den Hofdamen in Obhut. Die Mädchen haben mit den Hofdamen im selben Bett zu liegen und diese prüfen, ob jene einen angenehmen Atem haben, ob sie noch unberührt und körperlich gesund sind. Die blühend schönen Jungfrauen kommen in den persönlichen Dienst des Khans. Drei Tage und drei Nächte bedienen sechs Jungfrauen den hohen Herrn; im Schlafgemach, im Wohnraum, für alles, war er nur wünschen mag, stehen sie zur Verfügung. Der Khan behandelt sie, wie es ihm beliebt. Nach drei Tagen und drei Nächten kommen die nächsten sechs Mädchen. Und so geht es das ganze Jahr hindurch.

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francesco petrarca Gott in Frankreich oder Babel in Avignon Als Sohn eines aus Florenz verbannten Papstanhängers war er vierzig Jahre zuvor nach Avignon ­gekommen. Inzwischen war er als Diplomat und Gelehrter in Italien, Frankreich, Belgien und Deutschland weit herumgekommen und auf dem Kapitol in Rom zum Dichterkönig gekrönt worden. Die Briefe über die Zustände in Avignon um die Mitte des 14. Jahrhunderts waren aus den 24 Büchern seiner Vertraulichen Briefe (Epistolae familiares) ausgesondert worden: als Liber sine nomine – ›Buch ohne Namen‹. Wie viele vor und nach ihm lebte der Berichterstatter Francesco Petrarca (1304–1374) sehr gefährlich.

A

vignon, frühling 1352 1 – Wo ich jetzt anfange oder aber nicht anfange, ist mir zweifelhaft, und jenes poetische Wort fällt mir immer aufs neue ein:

densten Dinge dringen um die Wette auf mich ein, stoßen sich untereinander und verhindern ihre Verknüpfung. Es fehlt die Zeit, sich allen zu widmen, denn ihre Zahl ist unendlich. Und hätte ich Zeit, wäre es gefährlich. Selbst wenn mir also keinerlei Pflichten und keinerlei Sorgen oblägen, de-

»Rede ich? Schweige ich still?« 2 Reden will ich dennoch, damit Du nicht etwa aus meinem Schweigen den Verdacht schöpfst, aus lauter Trägheit werdest Du vernachlässigt oder aus Übermut gar geringgeschätzt. Doch wovon soll ich zuerst und wovon ausführlich reden? Oder besser: wovon soll ich nicht reden? Die verschie-

1 [ Anm. des Hrsg.:] Brief vermutlich an Rinaldo Cavalchini, auch bekannt als Rinaldo von Villafranca, ein Grammatiker, der in Villafranca bei Verona lebte und dort als einer der Lehrer von Petrarcas Sohn Giovanni wirkte. 2 [Anm. d. Übers.:] Vergil, Äneis 3,39.

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ren Last und Zahl Dir doch bekannt sind, würde die bloße Furcht meine Feder entschuldigen. Denn wenn da, wo nicht die Sittlichkeit vorherrscht, die Wahrheit stets schwächlich und nackt und bar allen Schutzes gewesen ist, was meinst Du, muß da geschehen, wo die Sittlichkeit völlig erstickt und längst schon begraben ist? Da gilt in der Tat die Wahrheit als größtes Verbrechen und genügt für sich allein, den Haß der vielen zu erwerben, während man die Liebe eines einzigen Menschen mit mancherlei Nachgiebigkeiten erwerben muß. Vielen muß dienen, wer vielen lieb sein will; wer aber allen verhaßt ist, hat die geringsten Verpflichtungen. Unnötig, zu den Waffen zu greifen und einen Feind zu verletzen; denn eine freimütige Rede ist so viel wie ein Schwert und eine aufrichtige Äußerung so viel wie eine Verwundung. Warum sollte es dort anders sein, wo niemand ist, dem man ein wahres Wort ohne schwere Beleidigung sagen kann? Wo kein Pflichtgefühl, keine Nächstenliebe, kein Glaube wohnt? Wo Hochmut und Mißgunst, Prunksucht und Habsucht mit ihren Künsten regieren? Wo jeder beliebige Bösewicht aufsteigt und ein spendefreudiger Räuber zum Himmel erhoben, ein redlicher Armer zu Boden gedrückt wird? Wo man Schlichtheit als Wahnsinn und Bosheit als Weisheit bezeichnet? Wo man Gott verachtet, den Mammon anbetet, die Gesetze mit Füßen tritt, die Guten in einem Maß verspottet, daß schon fast keiner, der belacht werden könnte, auch nur daherkommt? Oh diese Sitten der Menschen! Oh dieses Jahrhundert! Oh dieser traurige, elende Ort meiner Verbannung! Und oh wie glücklich Deine Augen, die all das nicht sehen! Höchst vergnüglich ist Deine Mühe, beneidenswert Deine Armut im Vergleich mit dieser häßlichen fauligen Ruhe hier und mit diesem übel erworbenen und übel zu ver­schwendenden Reichtum! Ein Sprichwort sagt: Die Münze fiel in die Gosse. Und wer seinen Sinn nicht begreift, der komme hierher, wo er das Wort auf der Stirn jedes einzelnen samt tausend anderen gleich rühmlichen Aufschriften lesen wird. Einen einzigen wollte ich gerne aus dieser allgemeinen, verruchten Sintflut der Verbrechen heraushalten, und er verdiente es, das gestehe ich. Doch ist mir lächerlich erschienen, eine ganz sichere, allumgreifende Erfahrung durch das Aussondern eines einzigen Namens zu erschüttern. Somit wird kein Noah, kein Deukalion3 schwimmend entkommen. Und damit Du nicht meinst, eine Pyrrha sei glücklicher gesegelt, so wisse, daß durchaus keine wieder auftaucht; alle miteinander hat eine Woge schimpflichster Lüste, ein unglaublicher Sturm weibischer Schandtaten und ein allergräßlichster Schiffbruch der Schamhaftigkeit verschlungen. (…)

Diesem Brief habe ich weder meine Unterschrift, noch mein Siegel, weder Ort noch Zeit angefügt. Du weißt, wo ich bin, und die Stimme des Sprechenden erkennst Du. vaucluse, april/mai 1352.4 – Wie Du siehst, so gehen die Geschäfte; vielmehr gehen sie nicht, sondern schleppen sich hin. Keinen Beistand bietet die Tugend; die Gerechtigkeit ging zugrunde; die Freiheit wurde begraben; die Billigkeit liegt bezwungen; die Wollust ist mächtig; es wütet die Geldgier, und es brodelt die Mißgunst. Jede Menschengattung erträgt ihre eigenen Tyrannen. Zwar geboren, mit Herz und Mund Gott zu preisen, verbringen wir unsere ganze Lebenszeit mit Streitereien und Eifersüchteleien. Jener herrliche Palast Jesu Christi, jene einst hochragende Feste der Gottesverehrung ist schließlich – weil unsere Sünden das fordern – von göttlicher Hilfe verlassen, eine Höhle entsetzlicher Räuber geworden. Und einer einzigen Quelle entspringt das Übel. Doch kommen andere, kleinere Quellen dazu, durch die sie zu einem ungeheuren Fluß von aller Art Elend emporschwillt. Daraus ergibt sich notwendigerweise, daß wir in Bälde verkommen und von gewaltigsten Fluten dieser Übel ertränkt werden und daß, sofern nicht der menschlichen Entartung die göttliche Güte entgegenwirkt, die Kirche einen trostlosen Schiffbruch erleidet. Wie sehr unterscheiden sich doch die Sitten und wie stark hebt sich die Gesinnung der Aufbauenden von jener der Zerstörenden ab! Es sorge der allmächtige Gott für sein Haus; denn ich selber habe nichts, was ich der großen Zahl von Widersetz­lichen entgegenhalten könnte, außer das Mitleid, das ich der Mutter5 schulde, und die – wie Du siehst – mir genehme Flucht, durch die ich meine Augen dem traurigen Schauspiel entziehen will. Ich sehe es ja aus der Ferne6, aber unvermögend, es zu hindern, und ich weigere mich, es aus der Nähe zu sehen, mit welch grau3 [ Anm. d. Übers.:] Deukalion und Pyrrha: sagenhafte Gestalten, die der Sintflut entrannen. 4 [Anm. d. Hrsg.:] Frage des Adressaten ungeklärt. 5 [Anm. d. Übers.:] Gemeint ist die Kirche. 6 [ Anm. d. Hrsg.:] Petrarca schreibt diesen Brief nach neuerlichem Rückzug in seine Einsiedelei Vaucluse. 7 [ Anm. d. Hrsg.:] In Dionysios sieht die Forschung Papst Clemens VI., der während seines Pontifikats (1342–1352) insgesamt 25 Kardinäle ernannte, neunzehn von ihnen aus Südfrankreich, acht seine Neffen oder andere nahe Verwandte. Semiramis, bei griechischen Historikern die legendäre Gründerin Babylons, steht hier für Cecilie de Comminges, Gräfin von Turenne, die unter Clemens VI. als eine Art weltlicher Regentin der Kurie von Avignon auftrat. Für wen Perikles und Alkibiades stehen, ist ungeklärt.

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samem, entsetzlichem Kunststück dieser kirchliche Dionysios unser Syrakus peinigt und ausraubt.7 Ich sehe auch, mit welcher Tiara Semiramis – einen Mann vortäuschend – ihre Stirne bedeckt und mit Scharfsinn die Augen der Umstehenden blendet und – besudelt von unzüchtigen Umarmungen – Männer erniedrigt. Ich sehe auch, mit welchen Künsten unser Perikles hier sich behauptet, so daß ihm die Rechenschaft, die zu geben unmöglich ist, zu geben erlassen wird. Auch dieser hat seinen Alkibiades, und niemand macht sich böse Ratschläge rascher zu eigen. Er verwirrt daher alles und vermischt es mit Eifer. Was meinst Du, weshalb, wenn nicht, um nach Art von Herumstreichern mit verwirrten Stricken oder mit durchwühltem Sand desto leichter zu betrügen, wodurch seine eigene Gaunerei im Schatten eines unruhigen Gemeinwesens sich verberge? Er bedient sich ­jedenfalls – sieht man ab von der Größe seines Vorhabens – keiner neuartigen Kunstgriffe. Denn auch der Vogelfänger ist froh über Dickicht, der Fischer über Trübung und der Dieb über Finsternis. Was aber könnte ich uns bei unserer Trägheit Schlimmeres wünschen, als daß wir unter uns immer ähnlich blieben, um vor einem Ehebrecher mit empfindsamer Nase beim Becher zu schnarchen. Ich weiß nicht, so gestehe ich, ist seine Unverschämtheit oder ist unsere Duldsamkeit schimpflicher.

ge ich keinen anderen Richter darüber, in welchem Maß dort alles an Tugend und Wahrheit leer ist, doch voll von Verbrechen, voll von Betrug, voll von Schminke und Schöntun, voll von häßlichsten Ränken der Ehrsucht, der Habgier, des Stolzes und Neides. Gesehen hast Du, daß alles in unechter, eitler Weise geschieht, nicht bloß vor Menschen, nein selbst vor Gott. Bemerkt hast Du listiges Gelächter und weinerliche Herzen, heitere Stirnen und umwölkte Gemüter, weichliche Hände und rauheste Taten, engelgleiche Stimmen und teuflische Vorhaben, liebliche Gesänge und stählerne Brust, honigsüße Worte, träufelnd aus ätzender Lunge und trockener Kehle, kaum vernehmbar auf spitzen Lippen, an denen sich wahrlich jene Aussage Davids erfüllt: »Sanfter sind ihre Reden als Salbe, doch sind sie Geschosse.«9 Und nicht bloß unbestraft bleibt bei ihnen das Lügen, vielmehr ist es auch ruhmvoll, als wäre sonderlich geistreich, wer betrogen hat, und höheren Standes jener, den zu tadeln niemand den Mut hat. Fern liegt mir, diesen Punkt noch gründlicher zu behandeln, damit nicht, vom Thema verleitet, die Feder dahin gleite, wohin es nicht ratsam ist. Übrigens ist die Sache aller Welt bekannt und bedarf überhaupt weder der Bestätigung noch der Mitteilung. Eine einzige, kurze Begebenheit, die für sich schon genügt, über alles andere Auskunft zu geben, will ich anfügen; ich, der Schreibende, war dabei. Zwei jener auserwählten Väter, um die sich der Erdkreis und die Pforte des Gotteshauses wie um eine Angel drehen10, stiegen gemeinsam vom Palast des Papstes herunter, umringt von einer dichten Schar ihrer Diener. Eine riesige Menge von Bittstellern, von denen diese unselige und gottverhaßte Stadt mehr als andere voll ist, hatte, wie üblich, den empfindungslosen, steinharten Eingang belagert. Als sie ihre Berater erblickten, auf denen ihre Hoffnung ruhte, begannen sie ringsum zu lärmen, indem jeder für sich ängstlich danach forschte, wie es um sein Schicksal und wie um seine Anliegen beim Papst bestellt sei. Da begann einer der Väter, völlig unbeeindruckt durch den Zudrang, wie einer der seit langem an solches gewöhnt ist, und unangefochten von jedem Bedenken und von jedem Mitleid mit diesen Armen, die unter eitelsten Hoffnungen Seele, Leib und Gut und alle ihre Zeit verschwenden, als abgefeimter Lügenschmied vieles zu erlügen und zu erdichten, was jedem zu hoffen bleibe und was

mailand, 1353.8 – (…) Geschautes melde ich, nicht bloß Gehörtes, wurde ich doch als Knabe durch mein schlimmstes Geschick in jene Gegend verschlagen, und sind mir doch ebendort bis auf den heutigen Tag – ungehalten war ich deswegen, doch durch irgendwelche Ketten Fortunas gefesselt – große Abschnitte meines Lebens unter Seufzern verstrichen. Ich weiß durch Erfahrung, daß da kein Pflichtgefühl, keine Liebe, kein Glaube, keine Gottesverehrung, keine Furcht ist, nichts Heiliges, nichts Gerechtes, nichts Richtiges, nichts Wichtiges und überhaupt nichts Menschliches. Freundlichkeit, Züchtigkeit, Schicklichkeit, Lauterkeit sind hier geflohen; von Wahrheit zu schweigen! Denn wo sonst wäre ein Ort, an dem alles von Lügen strotzt? Luft und Erde, Häuser, Türme, Quartiere, Höfe und Plätze, Säulenhallen, Vorräume, Säle, Gemächer, Deckengetäfel und Mauerritzen, Gaststuben in Herbergen und Altarräume in Tempeln, Richterstühle und Bischofssitze, endlich auch Menschengesichter, Winke und Gesten, Stimmen, Stirnen und Herzen? Was sagst Du? Lüge ich oder sage ich über Lügen die Wahrheit? Wenn Du dort gewesen bist und – durch kein größeres Geschäft abgelenkt – die Schärfe Deines Verstandes und Deine Augen auf das verbotene, lasterhafte Treiben gerichtet hast, verlan-

8 [Anm. d. Hrsg.:] Frage des Adressaten ungeklärt. 9 [Anm. d. Übers.:] Psalmen 54,22. 10 [Anm. d. Übers.:] Dies eine Anspielung auf das Wort ›Kardinal‹, abhängig von ›cardo‹ (›Türangel‹), in der christlichen Frühzeit für ›Hauptkirche‹ verwendet.

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auf des einen und anderen Begehren der Papst geantwortet habe, wobei er eines nach dem andern mit anhaltender Unverschämtheit und ohne irgendwo zu stocken entwickelte. Jene alle schenkten dem Gehörten Glauben und gingen, wie natürlich, der eine recht fröhlich, der andere trübselig, aus­ einander. Der andere Vater aber, von edlerer Natur und größerem Anstand, der – gehörte er nicht jenem Rang an – ein guter Mensch sein könnte, sagte zu seinem Kollegen scherzend: »Schämst Du Dich gar nicht, diese einfachen Leute zu narren und nach Belieben Antworten des Papstes zu erfinden, wis-

send, daß wir ihn nicht bloß heute, sondern seit schon vielen Tagen nicht sehen konnten?« Darauf sagte jener ehrenwerte Pfaffe und treffliche Pfiffikus, in seiner schamlosen Hurenfrechheit lächelnd: »Vielmehr Du selbst sollst Dich schämen, so langsam im Begreifen zu sein, daß Du die Künste der Kurie in all der Zeit nicht zu lernen imstande bist.« Diese Worte brachten mich zum Erstarren, alle andern jedoch zu schallendem Gelächter. Und indem sie die Antwort des windigen Kerls mit vielen Lobsprüchen ehrten, erklärten sie ihn als einen blitzgescheiten Mann, da er so schlagfertig zu lügen und zu täuschen verstehe.

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ibn battuta Timbuktu. In der Stadt von Kankan Musa Abu Abd Allah Mohammed Ibn Battuta (*1304; † 1368 od. 1377) tritt 1324 in Tanger seine Pilgerfahrt nach Mekka an. Sie führt ihn nach Zentralasien, China, Indonesien und erst nach 24 Jahren wieder zurück in seine Heimatstadt. Anschließend bereist er die iberische Halb­insel, sodann den Maghreb, und im hohen Jahrhundert der Pest hat er inzwischen deren Verheerungen auf drei ­Kontinenten gesehen. Auf der Fährte des 15 Jahre zuvor verstorbenen reichsten Mannes der Welt, den er in Kairo um zwei Jahre verpaßt hat, durchquert er zuletzt die Sahara und besucht das Reich Mali, das zu seiner Zeit rund die Hälfte der Weltgoldproduktion erbringt.

IM

n a me n g otte s , des gnädigen Erbarmers! Gott segne unseren Herrn Mohammed, seine Familie und seine Gefährten und gebe ihnen Heil! Es spricht der Scheich Abu Abdallah Mohammed, Sohn des Abdallah, Sohn des Mohammed, Sohn des Ibrahim vom Stamme Lawate aus Tanger, bekannt unter dem Namen Ibn Battuta. Zehn Tage nach unserem Aufbruch aus meiner Vaterstadt (18. Januar 1352) erreichten wir die Stadt Marrakesch. Sie ist eine der schönsten Plätze der Erde und wird wohl nur noch von Bagdad übertroffen. Großartige Moscheen, prächtige Paläste und viele Gärten zeichnen sie aus. In der Kutubiya, der

Hauptmoschee, verrichtete ich das Freitagsgebet. Starke Mauern in roter Farbe umgeben die Stadt und ihre Basare, in denen die Waren des ganzen Landes gehandelt werden. In der Mitte der Stadt liegt der große Platz der Getöteten. Ich ließ mir sagen, daß hier die Verbrecher und gefangenen Feinde hingerichtet werden. Man köpft, hängt oder ledert sie, um dann ihre Köpfe auf hohe Stangen zu stecken, gleichsam als Abschreckung für andere Missetäter. Die Geier und Toten­vögel reißen Haut und Fleisch von den Köpfen der Hin­ gerichteten, bis nur noch der kahle Schädel übrig bleibt. Die Frauen von Marrakesch sind schön und keusch, doch gibt es schon viele unter ihnen, die aus dem Neger78

1352 – ibn battuta– timbuktu

land stammen. Auch die Sklavinnen sind meistens schwarz, die man von den Völkern des Landes nach hier bringt und an die Muslime verkauft. Denn die Heiden in Afrika haben das Recht, ihre Kinder und Frauen den Rechtgläubigen zum Kauf anzubieten. Die Muslime wiederum haben das Recht, heidnische Sklaven zu erwerben. So habe auch ich mir später in Mali eine Sklavin gekauft. Sie war von schöner Gestalt und bereits in all den Dingen, die eine Sklavin kennen muß, gut angelernt, so daß ihr Preis sehr hoch war, und ich mehrere Kamele für sie geben mußte. Auch Meknes ist eine schöne Stadt, die viele Gärten besitzt, in denen die Leute spazieregehen und sich ausruhen können. Über Fez kamen wir nach Sidjilmassa, der letzten größeren Station vor der Wüste, die zwischen uns und den Negerreichen in Afrika lag. Ich hatte mich einer Karawane muslimischer Händler angeschlossen, die jene alten Wege benutzte, die schon seit frühen Zeiten bekannt sind und auf denen sich immer wieder in entsprechenden Abständen Oasen befinden, die man zur Rast und Erholung für Mensch und Tier benötigt. Zwei Monate lang zogen wir mit unseren Kamelen durch die endlose Wüste, nur gelegentlich einen Aufenthalt einlegend. Es waren Tage darunter, an denen ich Gott stündlich um seinen Beistand bat, mich diese Reise glücklich überstehen zu lassen. Wir litten großen Durst und mußten auch mit unseren mitgeführten Vorräten sehr sparsam umgehen. In den Wüstenplätzen Taghara und Qualata hielten wir uns nicht lange auf, da die Händler immer wieder schnell zum Aufbruch drängten, um möglichst bald ihre Geschäfte tätigen zu können. Schließlich erreichten wir die Stadt und das Land von Mari (Mali). Es ist eines der größten Reiche der Erde. Sultan Kankan Musa, der Sohn von Abu Bakari, ein tapferer und kluger Herrscher, hat sein Land durch Feldzüge und Weisheit ausgedehnt und seinen Untertanen zu Reichtum verholfen. Er unterhielt ständige Beziehungen zu Ägypten und schickte jährlich 12 000 Kamele von Mali nach Kairo. Mit dem edlen und berühmten Sultan von Marokko, Abu al-Hassan, pflegte er freundschaftliche Verbindungen und sandte ihm wertvolle Geschenke. Er selbst erhielt dafür von den Gesandten Abu al-Hassans die besten Zeugnisse Marokkos überbracht. Der Sultan der Neger, Kankan Musa, ein frommer Muslim, führte auch Wallfahrten zur heiligen Stadt Mekka durch. Auf seiner ersten Wallfahrt entfaltete er einen Prunk, daß man noch Jahre hindurch von ihm in allen Ländern des Islam erzählte. Mit einer großen Schar von Bediensteten, vielen Kamelen, Pferden und anderen Tragtieren reiste er durch die

Wüste und das Land Tuat (Südalgerien) nach Kairo. Dort kaufte er viele Bücher berühmter muslimischer Rechtsgelehrter ein. In Mekka ließ er, nachdem er die vorgeschriebenen Gebete und Waschungen verrichtet hatte, 20 000 Goldstücke als Almosen verteilen, nachdem schon zuvor jeder in seinem Dienst Stehende eine große Menge Gold erhalten hatte. Am Ende seiner Wallfahrt besaß er schließlich kein Gold mehr, so daß er sich welches ausleihen mußte, um die Kosten seiner Rückreise damit bestreiten zu können. Sein Ruhm war so groß geworden, daß ihm gern zahlreiche ­arabische Gelehrte, darunter der berühmte Dichter und Baumeister as-Saheli, an seinen Hof folgten und das Land Mali mit muslimischer Weisheit unterrichteten. Als ich in die Hauptstadt kam, herrschte dort der zweite Sohn des Kankan Musa, Suleyman. Er ist ein weiser und großer Herrscher und erlaubte mir, bei ihm zur Audienz zu erscheinen. Als er mich empfing, saß Sultan Suleyman auf einem Thron, mit einem roten Gewand aus den Ländern der Christen bekleidet, und ließ sich mit einem großen Schirm, auf dessen Spitze ein Vogel aus reinem Gold befestigt war, vor der Sonne schützen. Er ist ein strenger, aber gerechter Herrscher. Die Neger von Mali haben mehr als alle anderen Abscheu vor Ungerechtigkeit. So ist der Sultan unerbittlich, wenn sich jemand eines Vergehens der Ungerechtigkeit schuldig macht. In der Hauptstadt Mali kommen Sudanesen, Ägypter und Marokkaner zusammen. Sie haben die schwarzen, mit großen Ohrringen geschmückten Menschenfresser unterrichtet und ihnen einige gute Sitten beigebracht. Vor allem lieben die Bewohner von Mali die Ordnung und Einhaltung der Gebete. Ihre Frauen sind schön und genießen hohes Ansehen. Sie können sich frei bewegen, tun dies aber recht schamlos; denn sie tragen keine Schleier. Ihre Oberkörper sind nackt, so daß jeder die Brüste sehen kann. So gehen sie durch die Stadt, und niemand findet etwas dabei. Auch der Götzendienst ist noch weit verbreitet. Als ich zum Empfang beim Sultan war, traten Djulatänzer auf, die vor dem Gesicht abscheuliche Masken trugen, die mit bunten Federn geschmückt waren und vorne in einem häßlichen roten Schnabel endeten. Sie tanzten vor Sultan Suleyman und sprachen eigenartige Verse. In diesem Land gibt es eine seltsame Sitte. Wenn ein Herrscher stirbt, so folgt ihm nicht sein Sohn in der Regierung, sondern der Sohn der Schwester des toten Sultans. Das Land hat viele und fruchtbare Felder. Die Menschen treiben Handel; denn von überall kommen Karawanen hierher. Die Bewohner leben einfach; ihre Hauptmahlzeit ist ein 79

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

mit saurer Milch verdünnter und mit Honig gesüßter Hirsebrei. Eine gewisse Frucht ließ mich sehr erstaunen. Die Ein­ geborenen ziehen Körner aus der Erde, die wie Bohnen aussehen, sie braten sie, worauf sie wie geröstete Kichererbsen schmecken. Man mahlt diese Mandeln und gewinnt daraus Öl, das man für das Kochen, die Beleuchtung, die Körperpflege und zum Streichen der Häuser benutzt (es handelt sich um die Erdnuß). Überhaupt fand ich an den einfachen Speisen des Landes keinen Gefallen, so daß ich es oft vorzog, nur Bananen und andere Früchte zu essen. In diesem Land fühlt man sich vollkommen sicher. Weder die Eingeborenen noch die Reisenden haben Überfälle oder Gewalttaten zu befürchten. Der Reisende kann immer gewiß sein, Nahrung kaufen zu können und eine gute Unterkunft für die Nacht zu finden. Trotz des Reichtums, den der Herrscher und das ganze Land aufweisen, ist Sultan Suleyman bei seinen Untertanen nicht sehr beliebt. Er ist sehr geizig und entließ auch mich, ohne mir Ehrerbietung entgegenzubringen und mir Geschenke zu machen. Die Stadt Timbuktu, die wir von Mali aus erreichten, zählt zu den größten in diesem Land. Ein buntes Leben erfüllt sie, und alle verschiedenen Menschen Afrikas scheinen sich hier zu treffen. Auch in dieser Stadt kümmerte man sich wenig um mich. Die Leute gingen lärmend ihren Geschäften nach, und die Gouverneure des Sultans lassen einen Fremden nur selten zu sich kommen. Ich besuchte dort das Grab eines berühmten Dichters aus dem Sultanat Granada, der hier den Tod gefunden hatte. Nach einigen Tagen mietete ich ein Boot, um auf dem Fluß (Niger) weiterzufahren. Die Reise war, im Gegensatz zu den Beschwernissen auf dem Landweg, recht angenehm. Am Abend legten wir immer bei einem Dorf an. Doch übernachtete ich nur ungern in den Häusern der Eingeborenen; denn sie sind nicht sauber und haben viel Ungeziefer. Am Ufer des Flusses sind die Yoruba ansässig. Nicht weit von ihnen entfernt in Richtung Wüste liegt das Königreich Nupe. Sein Sultan und dessen Untertanen sind Heiden, die immer wieder von den Yoruba und anderen Völkern angegriffen werden. In vielen Teilen des Landes herrscht die grausige Sitte der Menschenfresserei. Wenn ich auch selbst niemals gewünscht habe, an einem solchen Mahl teilzunehmen, so ließ ich es mir doch von glaubwürdigen Leuten berichten. Die Neger machen direkt Jagd auf andere Völker und verspeisen die Gefangenen. Was ich aber mit eigenen Augen gesehen habe und was mich mit solchem Ekel erfaßte, daß es mir übel wurde und ich

tagelang keine Nahrung zu mir nehmen konnte, war die Art der Eingeborenen, verendete Kamele, die schon lange Zeit in der prallen Sonne gelegen hatte, zu zerteilen und zu essen. Mit dem kleinen Schiff kamen wir schließlich nach Gao, eine schöne und große Stadt mit vielen Gebäuden. Sie wird von einer großen Zahl Menschen bewohnt. Auch hier zeigten sich die Frauen in recht schamloser Weise auf den Straßen, indem sie nur um die Hüften ein Tuch tragen oder ganz unbekleidet gehen, so daß sie jedermann völlig nackt sehen kann. Am Fluß und auch in anderen Teilen der Stadt sind prächtige Gärten angelegt, wo man in der Hitze angenehmen Schatten findet. Weil es mir in Gao besonders gut gefiel, hielt ich mich in ihren Mauern länger auf und beschloß erst nach einem Monat, die Weiterreise anzutreten. Dazu bot sich mir eine günstige Gelegenheit, indem eine Karawane zusammengestellt wurde, die 600 junge, schwarze Sklavinnen in die muslimischen Länder, besonders nach Ägypten, bringen sollte. Die Kaufleute waren bereit, mich mitzunehmen. Auf dieser Reise traf ich Sultan Idris, den Enkel des berühmten Fürsten Dunama Dibalami, der ein frommer und tüchtiger Herrscher war. Jener, Sohn des Abu el-Djelil, war der erste Negerfürst in diesem Land gewesen. Dibalami hatte ein Reiterheer von 30 000 Mann aufgestellt und viele Völker zwischen dem Fluß und der Wüste unterworfen. Seine Handelskarawanen mit jungen Sklaven und Sklavinnen zogen regelmäßig nach Ägypten, von wo sie wiederum viele Erzeugnisse in ihre Heimat brachten. Dibalami war es, der in Kairo eine Schule mit Unterkunft für die jungen Leute seines Landes errichten ließ, damit sie dort im Koran und in der Rechtslehre ausgebildet würden. Nach einer sehr anstrengenden Reise erreichten wir die Stadt Taccada (Agades). Hier fand ich ein Schreiben meines großmütigen Herrschers, des Sultans Abu al-Hassan, vor, worin mir nahegelegt wurde, doch wieder in die Heimat zurückzukehren, um über meine Eindrücke Bericht zu erstatten. So entschloß ich mich nicht ungern, die Rückreise anzutreten. Dies war insofern wichtig, als mir der Führer einer Karawane mitteilte, daß man genau im Monat Ramadan auf dem bekannten Weg durch die Wüste die Berggegenden durchqueren würde, in denen die dort hausenden Räuberscharen keine Überfälle auf die Reisenden unternähmen, da sie als Muslime den heiligen Monat achten. Gott, der Allerbarmer, war mir gnädig, so daß ich die Unbilden und Anstrengungen dieser Heimreise glücklich überstand und unversehrt in meine Heimatstadt gelangte.

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Ein Tag im September Photographiert von Larry Towell

»Every nation, in every region, now has a decision to make. Either you are with us, or you are with the terrorists.« Die Worte, ausgesprochen vom damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten George Bush elf Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September vor dem amerikanischen Kongress, hängen noch immer in der Luft, ebenso wie die Bedrohung, die sie ausgelöst hat. Sie markieren eine historische Zäsur. Sicher ist, daß es einstweilen verfrüht wäre, Bilanz zu ziehen. 3015 Menschen fanden an diesem Tag den Tod, ein paar Hunderttausend sind es seither in Folge gewesen. Wer sich über die politischen Hintergründe ins Bild setzen möchte, sei auf zwei Bücher verwiesen: The 9/11 Report. The National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States. St. Martin’s Press, New York 2004 und Lawrence Wright, The Looming Tower. Al-Qaeda and the Road to 9/11. Alfred A. Knopf, New York 2006. Die Fotos stammen von dem amerikanischen Fotografen Larry Towell (*1953).

aufmacherbild: Entgeisterte Menschen nach dem Einsturz des World Trade Center in Lower Manhattan. New York, 11. September 2001 unten: Ein Polizist flieht vom Ground Zero. New York, 11. September 2001 rechts: In den Tagen nach dem Anschlag sind überall Fahnen zu sehen. New York, 15. September 2001

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g i o va n n i b o c c a c c i o Eine Frau ihrer Zeit um Epochen voraus In Johanna I. von Anjou, Königin von Jerusalem und Sizilien, trifft Giovanni Boccaccio (1313–1375) auf eine Frau und Zeitgenossin, die nicht an den Männern ihrer Gesellschaft Maß nimmt, geschweige denn sich deren Herrschaftsanspruch unterwürfe.

J

o h a n n a , die Königin von Jerusalem und ­Sizilien, steht über allen Frauen unserer Zeit durch ihre Familie, ihre Macht und ihren Charakter. Ich hätte es vorgezogen, von ihr ganz zu schweigen als nur wenig – zu wenig – über sie zu sagen; aber das würde man als Zeichen von Antipathie mißverstehen. Johanna also war die erstgeborene Tochter des erlauchten Herzogs Karl von Kalabrien (des erstgeborenen Sohns König Roberts von Jerusalem und Sizilien) und Marias, der Schwester König Philipps von Frankreich. Wollten wir in ihrer Ahnenreihe nach den Vorfahren ihrer Eltern suchen, so kämen wir schließlich über ungezählte Generationen von Königen bis zu Dardanus, dem Gründer Ilions, den die Alten für einen Sohn Jupiters hielten. Aus diesem altedlen Geschlecht sind so viele große Fürsten entsprossen, daß es keinen König der Christenheit gibt, mit dem sie nicht versippt oder verschwägert wäre; und so kommt ihr niemand an Adel gleich, nicht in den Tagen unserer Ahnen noch in der heutigen Zeit. Ihr Vater Karl starb früh, als sie noch ein kleines Mädchen war; und da ihr Großvater Robert keine männlichen Erben hatte, war sie bei seinem Tod die einzige rechtmäßige Erbin; er hatte dies auch durch sein Vermächtnis bekräftigt. Und diese prächtige Erbschaft, die ihr zufiel, lag wahrlich nicht jenseits der hitzeverbrannten Tropen oder unter dem eisstarrenden Nordpol im Sarmatenland, sondern zwischen dem Adriatischen und Tyrrhenischen Meer von Umbrien, Picenum und dem alten Volskerland bis zur Meerenge von Messina unter einem milden Himmel. Dort gehorchten ihr die alten Kampaner, die Bruttier, Salentiner, Kalabrer, Daunier und Vestiner, die Samnier, Päligner, Marser und viele andere Völker, von größeren Herrschaften ganz zu schweigen, wie dem Königreich Jerusalem, der Insel Sizilien und in der Gallia Cisal-

pina Piemont: Gebiete, die allerdings heute in der Hand von Usurpatoren sind; ihr gehorchen die Menschen, die die Provence bewohnen, zwischen der alten Gallia Narbonensis, der Rhone und den Alpen, und die Grafschaft Forcalquier. Wie viele berühmte Städte liegen in diesen Gebieten, wie viele glänzende Burgen, wie viele Meeresbuchten und Seefahrerschlupfwinkel, wie viele Häfen, Seen und Heilquellen, wie viele Wälder, Haine, Schluchten, lachende Auen und fette Felder; und wie viele vielköpfige Völker, wie viele Vornehme; welche Fülle, welcher Überfluß an Nahrungsmitteln – man kann’s kaum sagen. Die Größe dieses Riesenreiches läßt uns, wenn man sich’s recht überlegt, staunen, und daß es, was ja sonst nicht üblich ist, im Besitz einer Frau ist, erhöht noch ihren Ruhm. Was uns aber noch weit mehr staunen macht: sie hat auch das Herz einer Herrscherin; das glänzende Genie ihrer Ahnen ist noch lebendig in ihr. Als sie die Krone empfangen hatte, zeigte sie ihre ­Fähigkeiten und säuberte Stadt und Land, ja sogar die ent­legensten Schluchten der Alpen, Wälder und Höhlen vom Verbrechergesindel; erschreckt floh es oder zog sich auf hochgelegene Burgen zurück. Gegen diese Burschen schickte sie ein Heer unter einem tapferen Führer und be­lagerte sie so lange, bis sie die Mauern gebrochen und die Schurken ihrer Strafe zugeführt hatte: keiner ihrer könig­lichen Vorgänger hatte das gewollt oder gekonnt. Sie schuf Ordnung in ihrem Reich, so daß nicht nur der Arme, sondern auch der Reiche bei Tag und in der Nacht sicher seines Weges gehen und dabei sein Liedchen trällern konnte. Und, was ebenso förderlich war, sie legte den Edlen und Großen des Reiches solche Bescheidenheit auf und besserte ihre verrohten Sitten, daß sie von ihrem alten Dünkel ließen; und hatte sie sich früher keinen Deut um die Könige geschert, so zittern sie nun vor ihrem 84

1400 – ibn khaldun – in damaskus bei timur, sultan der mongolen und tataren

Zorn. Zudem ist sie eine so scharfsinnige Frau, daß man ihr nichts vormachen, sie allenfalls betrügen kann. Sie tritt prächtig auf – eher wie ein König als wie eine Frau. Auch dankbar ist sie, vergißt geleistete Dienste nicht. Langmütig ist sie und beharrlich; und von ihrem geheiligten Vorsatz bringt sie so leicht nichts ab: die Attacken des wütenden Geschicks gegen sie haben das zur Genüge gezeigt. Immer wieder wurde sie heftig von ihnen gebeutelt und hin und her geschleudert, denn im Innern hatte sie die Zwistigkeiten der königlichen Prinzen zu ertragen, auswärts Krieg, die nicht selten sogar bis ins Herz des Reiches tobten; sie mußte ohne eigene Schuld Flucht und Exil erdulden, die Bosheit ihrer Ehemänner, die Mißgunst des Adels, üble Nachrede, die Drohungen der Päpste und vieles mehr – alles ertrug sie tapferen Herzens; und schließlich wurde

sie aufrecht und unbesiegt mit allem fertig: welch eine Leistung wäre das für einen starken, mächtigen König gewesen, ­geschweige denn für eine Frau. Und obendrein: Sie ist schön und heiter von Angesicht, ihre Rede sanft, und jedermann freut sich über ihre Beredsamkeit. Und bei all ihrer königlich-unbeugsamen Würde: Wenn es nottut, ist sie von einer menschlichen Umgänglichkeit, von Treue, Sanftmut und Güte, daß man in ihr eher die Gefährtin ihrer Untertanen als deren Königin sehen möchte. Was kann man mehr von einem klugen König verlangen? Es würde zu weit führen, wenn man all ihre Vollkommenheiten aufzählen wollte. Und deshalb bin ich der Meinung, nicht nur, daß sie eine große, hochberühmte Frau ist, sondern daß sie eine ganz außerordentliche Zierde Italiens ist, wie sie bislang kein anderes Volk gesehen hat.

1400

ibn khaldun In Damaskus bei Timur, Sultan der Mongolen und Tataren Von dem überragenden Wissenschaftler aus Tunis stamme »das größte Werk aller Zeiten und Länder, das je von einem einzelnen Geist hervorgebracht worden ist, (...) die umfassendste und erhellendste Analyse, wie menschliche Verhältnisse funktionieren, die jemals irgendwo unternommen wurde«, so 1967 der englische Historiker Arnold J. Toynbee. Doch Ab dar-Rahman ibn Mohammed ibn Khaldun al-Hadrami (1332–1406) war zudem ein großer Diplomat, von arabischen Herrschern mit entsprechenden Missionen betraut: hier vom ägyptischen Sultan Faraj ibn Balquq beim Mongolenherrscher Timur in Syrien.

A

ls in ägypten die nachricht eintraf, Timur habe das Land der Romäer unterworfen, habe Sivas zerstört und sei danach nach Syrien zurückgekehrt, rief der Sultan seine Truppen zusammen, öffnete den Sold-Diwan und hieß sein Heer nach Syrien aufbrechen. Ich lebte damals ohne eine Aufgabe, weshalb mich Jischbak, der Sekretär des Sultans, zu sich rief und mir vorschlug, ihn im Gefolge des Sultans zu begleiten. Als ich mich ablehnend verhielt, drang er in mich und erwies mir üppige Wohltat. Da gab ich nach. Mitte des gnädigen Monats der Geburt des Propheten im Jahre 3* zog ich mit ihnen los.

In Gaza angekommen, ruhten wir ein paar Tage aus und verfolgten die Meldungen. Dann erreichten wir ­Syrien, im Wettlauf mit den Tataren. Nach einem Halt in Schaqhab eilten wir weiter und langten am Morgen in Damaskus an. Fürst Timur war mit seinen Truppen von Baalbak ebenfalls in Richtung Damaskus auf­gebrochen. Der Sultan schlug sein Lager auf dem Platz der ­Julbugha-Kuppel auf, und Timur, ohne Hoffnung, die Stadt angreifen zu können, schlug in Sichtweite von uns sein Lager * Im Jahr 803 der Hidschra = 1400 A. D.

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reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

auf. Einen Monat lang beobachtete er uns, und wir beobachteten ihn. Beide Heere hatten währenddessen drei oder vier Zusammenstöße, die aber zu nichts führten. Dann erreichte den Sultan und die Großfürsten die Meldung, einige Befehlshaber hätten sich mit Meuterern eingelassen und beabsichtigten, nach Ägypten zu fliehen, um dort eine Revolte anzuzetteln. Daraufhin wurde der Beschluß gefaßt, man wolle nach Ägypten zurückkehren, da man ­befürchtete, es könnte zu einem für den Staat gefährlichen ­Aufstand kommen. Also brachen sie in der Nacht auf einen Freitag im Monat (...)2 auf. Sie überquerten die hohen Berge von as-Salihija und marschierten die Küste entlang bis nach Gaza. In der Annahme, der Sultan reise auf der großen Straße, zog das Gefolge bei Nacht los, und zwar in kleinen Gruppen über Schaqhab, bis sie nach Ägypten gelangten. Die Bewohner von Damaskus waren ratlos, da sie über nichts informiert waren. Mich suchten die Richter und die Rechtsgelehrten auf. Man versammelte sich in der Adilija-Madrassa und einigte sich darauf, von Fürst Timur Sicherheit für Besitz und Familie zu erbitten. Diesen Vorschlag unterbreitete man auch dem Festungskommandanten, der ihn aber ablehnte und mißbilligte und nicht umzustimmen war. Trotzdem ging der hanbalitische Richter Burhan ad-Din ibn Muflih hinaus, begleitet vom Scheich der Armen im Kloster (...)3. Timur entsprach ihrer Bitte nach einem Sicherheitsversprechen und sandte sie zurück mit einer Einladung an die Notabeln und die Richter, die sich daraufhin zu ihm aufmachten. Versorgt mit Geschenken, wurden sie von der Stadtmauer hinabgelassen. Er empfing sie freundlich, ließ ihnen Sicherheitsversprechen ausstellen und weckte bei ihnen große Hoffnungen. Am folgenden Tag, so war man übereingekommen, sollten die Stadttore geöffnet werden. Die Bewohner würden kooperativ sein, und ein Befehlshaber könnte einziehen und die Herrschaft übernehmen und ihre Belange in seinem ruhmvollen Namen regeln. Mir teilte der Richter Burhan ad-Din mit, Timur habe sich nach mir erkundigt und wissen wollen, ob ich mit den Truppen nach Ägypten zurückgezogen sei oder mich noch in der Stadt aufhalte. Da habe er ihm die Madrassa genannt, in der ich logierte. In jener Nacht machten wir uns gerade bereit, zu ihm hinauszugehen, als es zwischen einigen Leuten in der Großen Moschee zu einer Auseinandersetzung kam. ­Einigen mißfiel es, sich ganz auf eine verbale Abmachung verlassen zu müssen. Mir kam die Sache mitten in der Nacht zu 2+3

Ohren, und ich befürchtete Schlimmes für mich. Darum begab ich mich früh am Morgen zu den am Tor versammelten Richtern und bat sie, mich hinaus- oder von der Stadtmauer hinabzulassen. Zunächst weigerten sie sich, dann gaben sie nach und ließen mich von der Mauer hinunter. Ich fand Timurs Höflinge am Tor, ebenso seinen Stellvertreter, den er als Herrschaft über Damaskus vor­gesehen hatte. Er hieß Schah Malik und stammte von den Tschagatai, zu ­denen auch Timur gehörte. Wir tauschten vielfältige Begrüßungsworte. Dann bot mir Schah Malik ein Reittier an und beauftragte ­einen der Höflinge des Sultans, mich zu diesem zu ­geleiten. Als ich vor der Tür stand, kam die Aufforderung, mich in einem Zelt neben dem seinen Platz nehmen zu lassen. Doch sobald er Näheres über meinen Namen erfahren und gehört hatte, daß ich der malikitische Richter aus dem Maghreb sei, bat er mich zu sich. Als ich eintrat, saß er da, auf den Ellbogen gestützt, und die mongolischen Männer, die vor dem Zelt in Zirkeln saßen, trugen auf ein Zeichen von ihm Platten mit Speisen auf. Ich trat vor ihn, richtete den Gruß an ihn und erwies ihm eine Geste der Demut. Er hob das Haupt und hielt mir die Hand hin, die ich küßte. Dann gab er mir ein Zeichen, Platz zu nehmen, und ich setzte mich genau dorthin, wo ich stand. Nun ließ er aus seinem Gefolge den Rechtsgelehrten Abd alGabbar ibn an-Nu’man, einen hanafitischen Rechts­gelehrten aus Chwarizm, kommen. Diesen beauftragte er, unser Gespräch zu dolmetschen. Zuerst fragte er, aus welchem Teil des Maghreb ich stammte und warum ich von dort weggegangen sei. Ich hätte mein Heimatland verlassen, erklärte ich, um die religiöse Pflicht der Pilgerfahrt zu erfüllen. Per Schiff sei ich bis in den Hafen von Alexandria gereist und dort am Id alFitr des Jahres 784 eingetroffen. Daselbst seien große Festivitäten im Gange gewesen, weil Sultan az-Zahir genau zehn Tage zuvor auf den Thron gelangt sei. »Wie hat er Dich behandelt?« wollte er wissen. »Auf das Beste«, erwiderte ich. »Er hat mich freundlich empfangen, hat mich üppig bewirtet und hat mich für die Pilgerreise versorgt. Nachdem ich aus Mekka zurückgekehrt war, hat er mir eine Pension angewiesen, und ich habe in seinem Schatten und dem Genuß seiner Wohltat geweilt. Gott erbarme sich seiner und vergelte es ihm.« »Und wie kam es, daß er Dir das Richteramt übertrug?« »Als der Richter der malikitischen Gemeinde starb, hat er mich für würdig gehalten, diese Funktion zu übernehmen, da er in mir das Streben nach Gerechtigkeit und Unparteiligkeit

Lücke im Originaltext

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1400 – ibn khaldun – in damaskus bei timur, sultan der mongolen und tataren

sah. Also setzte er mich als dessen Nachfolger ein. Doch nur einen Monat später starb er, und den Leuten am Hof behagte meine Stellung nicht und sie ersetzten mich durch einen anderen. Gott vergelte es ihnen.« »Und wo ist dein Sohn?« fragte er weiter. »Er ist im Inneren Maghreb. Er arbeitet als Sekretär für den dortigen erhabenen König.« »Was bedeutet ›Innerer‹ als Beschreibung des ­Maghreb?« »Das heißt in der dortigen Sprache ›der fernste‹. Der gesamte Maghreb liegt ja an der Südküste des Syrischen Meeres. Die von hier aus nächsten Regionen sind Barqa und Ifriqija; dann folgt der Mittlere Maghreb: das sind Tilmisan und das Land der Zanata; dahinter kommt der Ferne Maghreb: das sind die Gebiete von Fes und Marrakesch. Und diese Region heißt eben der Innere Maghreb.« »Wo liegt denn dort dieser Ort namens Tanger?« »In dem Winkel zwischen Atlantik und der Meerenge, die ›die Gasse‹ heißt und noch zum Syrischen Meer gehört.« »Und Ceuta?« »Ein Stück von Tanger entfernt, ebenfalls an der Küste der ›Gasse‹. Von dort aus erfolgt, wegen der kurzen Distanz, die nur etwa zwanzig Meilen beträgt, der Übergang nach Andalusien.« »Und Fes?« »Diese Stadt liegt nicht am Meer, sondern inmitten der Hügel. Es ist der Sitz der Könige des Maghreb, der Dynastie der Meriniden.« »Und Sigilmasa?« »Dieses liegt, im Süden, an der Grenze zwischen dem Nutzland und den Sandgebieten.« »Das genügt mir noch nicht«, meinte er schließlich. »Ich hätte gern, daß du mir den gesamten Maghreb beschreibst, den Fernen und den Nahen, samt Flüssen, Dörfern und Städten, damit ich ihn richtiggehend vor mir sehen kann.« »Das soll zu Eurer Zufriedenheit geschehen.« Später begann ich also zu schreiben, was er von mir verlangt hatte. Ich faßte den Gegenstand so kurz wie möglich zusammen, auf den Umfang von zwölf großformatigen Heften. Nun wies er seine Diener an, mir aus seinem Haus von dieser Speise zu holen, die sie Rischta nennen und die sie auf das Delikateste zubereiten. Man brachte mehrere Platten davon, und er gab Anweisung, sie mir vorzusetzen. Ich erhob mich und bediente mich, aß und trank und ließ es mir schmecken, was auf ihn einen vorzüglichen Eindruck machte. Danach setzte ich mich wieder, und wir schwiegen. Plötzlich wurde es mir unheimlich zumute beim Gedanken an das Unheil, das Sadr ad-Din al-Munawi, dem

Oberrichter der Schafiiten, widerfahren war. Ihn hatten die mongolischen Verfolger der ägyptischen Truppen in Schaqhab gefangengenommen und gefesselt zurückgebracht. Er wurde eingekerkert, und man verlangte ein Lösegeld für ihn. Davor fürchtete ich mich. Also legte ich mir ein paar Lobesworte zurecht, die ich an ihn richten wollte. Es waren hymnische Worte auf ihn und seine Herrschaft. Zuvor, schon im Maghreb, hatte ich viel von Ereignissen gehört, die sein Auftreten begleiten sollten. Die Sterndeuter, die über die Zusammenhänge der beiden Hohen Planeten, Saturn und Jupiter, sprachen, erwarteten die zehnte Konjunktion im Dreieck. Diese sollte im Jahr 766 sichtbar sein. Nun hatte ich eines Tages im Jahre 761 in der Qarawiyin-Moschee in Fes Abu Ali Ibn Badis, den Prediger von Constantine, getroffen, einen vorzüglich in der Kunst der Astronomie bewanderten Mann, und ihn gefragt, was es mit dieser erwarteten Konjunktion auf sich habe. »Sie deutet«, lautete seine Antwort, »auf einen gewal­tigen Aufrührer im Nordosten, der von einem nomadisierenden Steppenvolk stammt. Er wird Königreiche besiegen und ­Dynastien stürzen und sich des größten Teils der bewohnten Welt bemächtigen.« »Wann wird seine Zeit kommen?« hatte ich wissen wollen. »Im Jahre 784 werden sich die Nachrichten über ihn ausbreiten.« Ähnliches schrieb mir der jüdische Arzt Ibn Zarzar, der Leibarzt und Sterndeuter des Frankenkönigs Pedro, des Sohnes von Alfons XI. Und mein seliger Lehrer, der Meister der Metaphysik, Muhammad Ibn Ibrahim al-Abili, sagte mir, wenn immer ich mit ihm darüber sprach oder ihn darüber befragte: »Das steht nahe bevor. Und wenn du lang genug lebst, wirst du es sehen.« Auch unter den Sufis im Maghreb vernahmen wir, daß sie dieses Wesen erwarteten, in dem sie den in gewissen, zumal von Schiiten akzeptierten Prophetenhadithen erwähnten Fatimiden sahen. Dann berichtete mir Yahya ibn Abdallah, der Enkel des bedeutendsten Sufigelehrten im Maghreb, Abu Ya’qub al-Badisi, der Scheich habe einmal nach dem Mittagsgebet erzählt: »Am heutigen Tag wurde der Fatimide geboren.« Dies war irgendwann in den vierziger Jahren. Wegen all ­dieser Aussagen erwartete ich sein Erscheinen. Wegen der Furcht, die mich erfaßt hatte, dachte ich, ich sollte mit ihm über derlei sprechen, um ihn zu beruhigen und ihn mir gegenüber freundlich zu stimmen. Also wandte ich mich folgendermaßen an ihn: »Gott stehe Euch bei, Herr! Seit dreißig oder vierzig Jahren schon wünsche ich, Euch zu begegnen.« 87

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

»Was ist der Grund dafür?« fragte mich darauf Abd alGabbar, der Dolmetsch. »Zwei Dinge«, erwiderte ich. »Erstens, daß Ihr der Herrscher der Welt seid, der König hienieden. Ich glaube nicht, daß es unter den Irdischen seit Adam einen König Euresgleichen gegeben hat. Ich sage so etwas nicht leichtfertig. Ich gehöre zu den Trägern der Wissenschaft und will das erklären: Das Königtum existiert nur durch Zusammenhalt, asabija, und floriert desto besser, je mehr es von diesem gibt. Seit alter Zeit sind sich die Gelehrten einig, daß die umfangreichsten Völker der Menschheit zwei Gruppen sind: die Araber und die Türken. Und Ihr wißt, wie das Königtum der Araber war, als sie sich unter ihrer Religion um ihren Propheten scharten. Was die Türken angeht, so ist Zeugnis für ihre Macht ihre Auseinandersetzung mit den Königen der Perser, denen ihr König Afrasiyab Chorasan entrissen hat. Und ihnen kommt an asabija kein König der Erde gleich, weder Chosrau noch Caesar, weder Alexander noch Nebukadnezar. Chosrau, das ist der Führer und König der Perser. Aber was sind die Perser, verglichen mit den Türken? Caesar und Alexander, das sind die Könige der Romäer. Doch was sind die Romäer, ver­ glichen mit den Türken? Nebukadnezar, das ist der ­Führer der Babylonier und Nabatäer. Doch was sind sie, verglichen mit den Türken? Das ist doch wohl ein offensichtlicher Beweis für das, was ich über Eure Majestät gesagt habe.« Zweitens habe ich mir gewünscht, ihm zu begegnen, weil mir von den Gelehrten und Heiligen im Maghreb schon so viele Ankündigungen zu Ohren gekommen sind. Und ich erzählte ihm von all dem, was ich oben erwähnt habe, worauf er erwiderte: »Ich sehe, daß Du Nebukadnezar in einem Atemzug mit Chosrau, Caesar und Alexander nennst. Doch er gehört nicht mit ihnen zusammen. Sie waren nämlich gewaltige Könige, Nebukadnezar dagegen war nichts als ein Führer der Perser, genau wie ich, ein Beauftragter des Throninhabers, nämlich dieses Mannes hier.« Er wies auf die Reihe derer, die hinter ihm standen, unter denen der Erwähnte sich gewöhnlich befand: sein Stiefsohn, dessen Mutter er nach dem Tod seines Vaters Satlamasch geheiratet habe. Doch er fand ihn nicht, und die anderen er­ klärten, er habe sich für einen Augenblick entfernt. Danach nahm er unser Gespräch wieder auf. »Von welchem Volk stammt denn Nebukadnezar?« ­wollte er wissen. »Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Manche sagen, von den Nabatäern, den letzten Königen von ­Babylon. Andere behaupten, von den alten Persern.«

»Das hieße also, er wäre ein Nachkomme Manuschehrs.« »Ja, das wird behauptet.« »Aber mit Manuschehr sind wir mütterlicherseits verwandt.« Danach überschüttete ich den Dolmetscher mit einem großen Lobpreis für diese seine Worte. »Auch aus diesem Grunde wollte ich Euch treffen«, versicherte ich. »Welche der beiden Ansichten scheint Dir nun wahrscheinlicher?« fragte er. »Daß er zu den Nachfahren der Könige von Babylon gehört.« Doch er vertrat die gegenteilige Ansicht, weshalb ich erwiderte: »Hier führt uns Tabari in die Irre. Er ist der Historiker und Überlieferer der Muslime. Außer ihm hält das niemand für wahrscheinlich.« »Was soll uns dieser Tabari?« fragte er. »Wir werden Werke von Arabern und Nichtarabern heranschaffen und dich widerlegen.« »Und ich werde meinerseits die Ansicht des Tabari widerlegen.« Damit endete dieser Disput zwischen uns, und wir schwiegen. Dann kam die Meldung, das Stadttor sei geöffnet und die Richter seien auf dem Weg, um sich ihm, entsprechend ihrem Wort, als Gegenleistung für das Sicherheitsversprechen zu unterwerfen. Daraufhin hob man ihn, da er ein Leiden am Knie hatte, hoch und setzte ihn auf sein Pferd. Er nahm die Zügel und richtete sich auf. Nun wurden beidseits von ihm die Trommeln geschlagen, bis die Luft dröhnte. Und so ritt er nach Damaskus. Am Mandschak-Grab beim Gabiya-Tor ließ er lagern. Er setzte sich, und die Richter und die Notabeln der Stadt traten vor ihn. Auch ich gesellte mich zu ihnen. Er machte ihnen ein Zeichen, sich zurückzuziehen, und Schah Malik, seinem Stellvertreter, trug er auf, ihnen, entsprechend ihrer Stellung, Ehrengewänder umzulegen. Mir winkte er, mich zu setzen. Ich folgte seiner Aufforderung und nahm vor ihm Platz. Dann ließ er die Emire seines Staates kommen, die sich aufs Bauen verstanden. Diese brachten kenntnisreiche Geometer mit, die darüber debattierten, wie man das Wasser aus dem Festungsgraben ablassen könnte, um so vielleicht das Kanalsystem ausfindig zu machen. Sie debattierten lang vor ihm, dann gingen sie. Auch ich ging in mein Haus in der Stadt, nachdem ich dafür um Erlaubnis nachgesucht hatte, die mir gewährt wurde. Ich zog mich völlig zurück und arbei88

1400 – ibn khaldun –in damaskus bei timur, sultan der mongolen und tataren

tete an der Beschreibung des gesamten Maghreb, die er mir aufgetragen hatte. In wenigen Tagen schrieb ich sie nieder und legte sie ihm vor. Er nahm sie aus meiner Hand entgegen und hieß seinen Sekretär eine Übersetzung ins Mongolische anfertigen. Dann intensivierte er die Belagerung der Festung und richtete gegen sie Kriegsgerät: Wurfmaschinen, Pechwerfer, Steinschleudern und Katapulte. Innerhalb von wenigen Tagen stellten sie sechzig Wurfmaschinen und allerhand andere Gerätschaften auf. Der Ring um die Festung wurde immer enger, und das Gemäuer brach auf allen Seiten ein. Da suchten die dortigen Bewohner um Sicherheit nach. Es gab in der Festung auch eine Schar Dienstboten, die der Sultan von Ägypten dort zurückgelassen hatte. Diesen gewährte Sultan Timur Sicherheit, und sie fanden sich bei ihm ein. Danach zerstörte er die Festung und machte sie dem Erdboden gleich. Von den Bewohnern der Stadt konfiszierte er große Geldsummen, die er an sich nahm, nachdem er sich schon all der Habe bemächtigt hatte, die vom ägyptischen Herrscher dort zurückgelassen worden war: Geld, Reitpferde und Zelte. Dann ließ er gierige Hände auf die Häuser der Stadt los. Diese rissen Bewohner und Hausrat an sich und legten Feuer an alles, was an Wertlosem noch herumlag. Der Brand machte sich auch über die Wände der Häuser her, die mit Holz gestützt waren, und bald erreichte er die Große Moschee, wo die Flammen bis zur Decke hochschlugen. Da schmolz alles, was aus Blei war, und Decke und Wände stürzten ein. Es war ein Vorgang, der an Abscheulichkeit und Häßlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Doch alles, was geschieht, liegt in Gottes Hand. Er macht mit Seiner Schöpfung, was Er will und waltet in Seinem Reich nach eigenem Ermessen.

tig wurde, machte er mir ein Zeichen, mich zu seiner Rechten niederzulassen. Beidseits von ihm hatten die Führer der Tschagatai Platz genommen. Nachdem ich einige Zeit gesessen hatte, wandte ich mich ihm zu, wies auf das Mitgebrachte, das meine Diener trugen, und legte es vor ihn hin. Da wandte er sich mir zu, und als ich den Koran aufschlug und er ihn sah und erkannte, worum es sich handelte, stand er rasch auf und legte ihn sich auf den Kopf. Als ich ihm daraufhin die Mantelode reichte, erkundigte er sich, was das sei, und wer es verfaßt habe. Ich erklärte ihm, was ich davon wußte. Schließlich nahm er auch den Teppich entgegen, den ich ihm überreichte. Zuallerletzt stellte ich die Schachteln mit dem Konfekt vor ihn und nahm selbst, wie die Sitte es verlangte, ein Stück davon. Danach verteilte er den Inhalt der Schachteln auf die Anwesenden. Alle meine Geschenke nahm er entgegen und schien davon an­getan. Nun lenkte ich das Gespräch auf das, was ich und ­einige meiner Freunde dort auf dem Herzen hatten: »Gott helfe Euch, Herr! Ich würde Euch gern etwas vortragen.« »Sprich!« »Ich bin in diesem Land doppelt fremd. Einerseits weil der Maghreb mein Geburtsort und meine eigentliche Heimat ist, andrerseits weil ich meine Altersgenossen und Freunde in Ägypten habe. Da ich mich nun unter Eurem Schutz befinde, möchte ich Euch fragen, was ich zur Verbesserung meiner Lage unternehmen kann.« »Sag mir, was du von mir erwartest.« »Das Leben als Fremder hat mich vergessen lassen, was ich eigentlich will. Vielleicht wißt Ihr ja, und Gott schütze Euch, was ich wollen kann.« »Verlaß die Stadt und komm zu mir ins Lager. So Gott will, kann ich deine innigsten Wünsche erfüllen.« »Könnte mir Euer Stellvertreter Schah Malik eine diesbezügliche Order ausstellen?« Er wies Schah Malik an, das Notwendige zu veranlassen. Ich dankte ihm und bat Gottes Segen auf ihn herab, und fuhr dann fort: »Nun bleibt mir noch etwas.« »Was ist es?« »All diese Männer, die der Sultan von Ägypten zurück­ gelassen hat – Koranleser, Sekretäre, Verwaltungsbeamte, Gouverneure –, sie alle stehen jetzt unter Eurer Herrschaft. Ein König kann ihresgleichen nicht übergehen. Nun ist Eure Macht gewaltig und Euer Reich ist riesig. Eure Herrschaft bedarf Per­sonen mit solchen Qualifikationen mehr als an­dere.« »Was willst Du für sie?«

Nach meinem Ausflug über die Stadtmauer hinab und meiner Begegnung mit Timur riet mir ein Freund, der sich mit den Tataren gut auskannte, weil er schon früher mit ihnen Bekanntschaft gemacht hatte, ihm ein Geschenk, und sei es nur eine Kleinigkeit, mitzubringen. Das gelte bei ihnen als unumstößliche Pflicht. Also ging ich auf den Büchermarkt und erwarb ein prächtiges, gebundenes Koranexemplar, einen hübschen Gebetsteppich und eine Abschrift des berühmten Gedichts al-Burda (deutsch Der Mantel) des Bu­ sairi zum Lobe des Propheten, Gott segne und beschütze ihn; ­außerdem noch vier Schachteln mit exquisiten ägyptischen Süßigkeiten. Beladen mit all diesem wurde ich bei ihm vorgelassen. Er saß im Thronsaal des Grauen Palasts. Als er meiner ansich89

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

»Ein schriftliches Sicherheitsversprechen, auf das sie sich verlassen können und das ihnen Schutz gewährt.« Da hieß er seinen Sekretär, ein solches Schriftstück anzufertigen, wofür ich ihm dankte und Gottes Segen auf ihn herabbat. Danach folgte ich dem Sekretär hinaus, damit er das Sicherheitsversprechen niederschrieb, das Schah Malik mit dem Siegel des Sultans versah. Dann ging ich nach Hause. Als dann der Zeitpunkt seiner Abreise näher rückte und beschlossen war, daß er Syrien verlassen sollte, suchte ich ihn eines Tages auf. Nachdem wir die üblichen Floskeln ausgetauscht hatten, fragte er mich, ob ich ein Maultier besäße, was ich bejahte. »Ein schönes?« »Ja.« »Verkaufst du es mir? Ich will es dir abkaufen.« »Gott schütze Euch«, erwiderte ich, »einer wie ich kann doch keinem wie Euch etwas verkaufen. Ich kann Euch höchstens damit Dienste leisten – oder mit anderem, wenn ich denn etwas besäße.« »Ich möchte dir dafür eine Wohltat erweisen.« »Gibt es denn noch eine weitere Wohltat nach allem, was Ihr schon für mich getan habt? Ihr habt mich Euch verpflichtet. Ihr habt mir in Euerm Kreis einen besonderen Platz zuer-

kannt. Ihr habt mir Ehre und Wohltat gezeigt. Ich bitte Gott, er möge Euch dafür belohnen.« Danach schwiegen wir beide. Man brachte ihm, während ich bei ihm war, das Maultier, das ich danach nie mehr sah. Als ich ihn ein weiteres Mal aufsuchte, fragte er mich, ob ich nach Ägypten reisen wolle. »Gott schütze Euch, Herr. Mein Wunsch ist der Eure. Ihr seid es, der mir Obdach und Auskommen gegeben hat. Sollte eine solche Reise in Eurem Dienste sein, dann ja. Wenn nicht, dann habe ich nicht den Wunsch wegzugehen.« »Nein, du wirst zu deiner Familie und den Deinen ­reisen.« Dann wandte er sich an seinen Sohn, der gerade nach Schaqhab aufbrechen wollte, um seine Reittiere zu weiden, und begann ein Gespräch mit ihm. Abd al-Gabbar, der uns als Dolmetsch diente, erklärte mir, der Sultan habe mich seinem Sohn ans Herz gelegt. Da bat ich Gottes Segen auf ihn herab. Danach wurde mir jedoch klar, daß die Reise mit dem Sohn keinem klaren Plan folgte, und es für mich günstiger wäre, nach Safad, dem nächstliegenden Hafen, zu reisen. Als ich Timur dies mitteilte, gab er seine Zustimmung und empfahl mich einem Boten, der von Ibn ad-Dawidari, dem Kämmerer von Safad, gekommen war. Daraufhin verabschiedete ich mich von ihm und reiste ab.

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1492

christoph kolumbus (cristóbal colón)

Um zwei Uhr morgens kam Land in Sicht Die Idee einer Westfahrt nach Indien hatten vor dem genuesischen Kapitän schon Aristoteles, ­ Strabo und Seneca erörtert. Dennoch: »Der Ruhm des Kolumbus bestand nicht darin, daß er ­angekommen ist, sondern darin, daß er abgefahren ist«, schrieb Jules Verne. Cristoforo Colombo, ­spanisch ­Cristóbal Colón (1451–1506), erlebte wenig bis nichts von der zwiespältigen Verwirklichung seiner ehrgeizigen Visionen. Noch hätte er auch nur als erster Seefahrer in iberischen Diensten tatsächlich Indien erreicht, wo er nie hinkam. Er starb in Ungnade und von seinen Zeitgenossen vergessen. nun einmal entschlossen sei, nach Indien zu gelangen und die Reise solange fortzusetzen, bis ich mit Gottes Hilfe dahin gelangt sein werde. donnerstag und freitag, den 11. und 12. oktober. – Ich blieb weiterhin auf west-südwestlichem Kurs. Wir hatten stark unter hohem Seegang zu leiden, mehr als jemals auf unserer ganzen Fahrt. Wir erblickten einige Sturmvögel und ein grünes Schilfrohr, das an der Bordwand des Schiffes vorbeistrich. Die Leute der Karavelle ›Pinta‹ erspähten ein Rohr und einen Stock, fischten dann noch einen zweiten Stock heraus, der anscheinend mit einem scharfen Eisen bearbeitet worden war; sie griffen noch ein Rohrstück auf und sahen ein kleines Brett und eine Grasart, die von der üblichen verschieden war und auf dem Lande wuchs. Auch die Mannschaft der ›Niña‹ sichtete Anzeichen nahen Landes und den Ast eines Dorn­ busches, der rote Früchte trug. Diese Vorboten versetzten alle in gehobene, freudvolle Stimmung. An diesem Tag legten wir bis zum Sonnenuntergang 108 Seemeilen zurück. Nach Sonnenuntergang kehrte ich wieder zur Westrichtung zurück. Wir kamen mit einer Stundengeschwindigkeit von 12 Seemeilen vorwärts und bis 2 Uhr morgens hatten wir 90 Seemeilen durchlaufen. Da die Karavelle ›Pinta‹ schneller war, so entdeckte man an Bord der ›Pinta‹ zuerst das Land und gab auch die angeordneten Signale.

»Diese Fahrt wird die größte Ehre bleiben, die jemals der Christenheit zugedacht war.« Kolumbus

»Ich halte es für gewiß, daß Columbus, wäre er nicht durch das große Unglück, das zuletzt über ihn hereinbrach, davon abgehalten worden, in kürzester Zeit mit den Bewohnern dieser Insel (Hispaniola) aufgeräumt hätte, da er entschlossen war, die von Kastilien und den Azoren kommenden Schiffe mit ihnen zu beladen, damit sie als Sklaven dort verkauft würden, wo Nachfrage bestand.« Bartolomé de Las Casas

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ittwoch, den 10. oktober. – Ich blieb weiterhin auf west-südwestlichem Kurs. Wir fuhren mit einer Stundengeschwindigkeit von 10 Seemeilen, stellenweise mit 12, dann wieder mit nur 7 Seemeilen. In Tag- und Nachtfahrt legten wir 236 Seemeilen zurück, allein ich verrechnete nur 176 Seemeilen. Zu diesem Zeitpunkte beklagten sich meine Leute über die lange Reisedauer, die ihnen unerträglich zu sein schien. Ich wußte sie jedoch aufzumuntern, so gut ich eben konnte, und stellte ihnen den Verdienst, den sie sich auf diese Weise verschaffen konnten, in nahe Aussicht. Dem fügte ich hinzu, daß es zwecklos wäre, darüber in Streit zu geraten, da ich 91

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

Als erster erspähte dieses Land ein Matrose, der Rodrigo da Triana hieß, wiewohl ich um 10 Uhr nachts vom Aufbau des Hinterschiffes aus ein Licht bemerkt hatte. Obzwar das schimmernde Licht so undeutlich war, daß ich es nicht wagte, es als Land zu bezeichnen, so rief ich dennoch Pietro Gutiérrez, den Truchseß des Königs, um ihm zu sagen, daß ich ein Licht zu sehen glaubte, und bat ihn, es sich anzusehen, was jener auch tat und es tatsächlich auch sah. Desgleichen benachrichtigte ich Rodrigo Sánchez di Segovia, den der König und die Königin als Beobachter der Armada zugeteilt hatten. Dieser vermochte aber nichts zu erblicken, da er von seinem Standpunkt aus nichts sehen konnte. Nachdem ich meine Beobachtung gemeldet hatte, sah man das Licht ein-, zweimal aufscheinen; es sah so aus, als würde man eine kleine Wachskerze auf- und niederbewegen, was wohl in den Augen der wenigsten als Anzeichen nahen Landes gegolten hätte – allein ich war fest davon überzeugt, mich in der Nähe des Landes zu befinden. Als dann die ganze Mannschaft das »Salve Regina« betete, das alle Seeleute auf ihre Art und Weise zu singen pflegen, und dann schweigend verharrte, gab ich meinen Leuten den guten Rat, auf dem Vorschiff gute Wache zu halten und auf das Insichtkommen des Landes wohl achtzugeben. Derjenige unter ihnen, der als erster melden würde, Land zu sehen, bekäme sofort eine seidene Jacke zum Geschenk, außer all den Belohnungen, die das Herrscherpaar versprochen hatte, nämlich die Auszahlung eines lebenslänglichen Ruhegehaltes von 10 000 Maravedis. Um zwei Uhr morgens kam das Land in Sicht, von dem wir etwa 8 Seemeilen entfernt waren. Wir holten alle Segel ein und fuhren nur mit einem Großsegel, ohne Nebensegel. Dann lagen wir bei und warteten bis zum Anbruch des Tages, der ein Freitag war, an welchem wir zu einer Insel gelangten, die in der Indianersprache ›Guanahaní‹ hieß. Dort erblickten wir allsogleich nackte Eingeborene. Ich begab mich, begleitet von Martin Alonso Pinzón und dessen Bruder Vicente Yánez, dem Kapitän der ›Niña‹, an Bord eines mit Waffen versehenen Bootes an Land. Dort entfaltete ich die königliche Flagge, während die beiden Schiffskapitäne zwei Fahnen mit einem grünen Kreuz im Felde schwangen, das an Bord aller Schiffe geführt wurde und welches rechts und links von den je mit einer Krone verzierten Buchstaben F und Y umgeben war. Unseren Blicken bot sich eine Landschaft dar, die mit grün leuchtenden Bäumen bepflanzt und reich an Gewässern und allerhand Früchten war. Ich rief die beiden Kapitäne und auch all die anderen, die an Land gegangen waren, ferner Rodrigo d’Escobedo, den

Notar der Armada, und Rodrigo Sánchez von Segovia, zu mir und sagte ihnen, durch ihre persönliche Gegenwart als Augenzeugen davon Kenntnis zu nehmen, daß ich im Namen des Königs und der Königin, meiner Herren, von der genannten Insel Besitz ergreife, und die rechtlichen Unterlagen zu schaffen, wie es sich aus den Urkunden ergibt, die dort schriftlich niedergelegt wurden. Sofort sammelten sich an jener Stelle zahlreiche Eingeborene der Insel an. In der Erkenntnis, daß es sich um Leute handle, die man weit besser durch Liebe als mit dem Schwerte retten und zu unserem Heiligen Glauben bekehren könnte, gedachte ich sie mir zu Freunden zu machen und schenkte also einigen unter ihnen rote Kappen und Halsketten aus Glas und noch andere Kleinigkeiten von geringem Werte, worüber sie sich ungemein erfreut zeigten. Sie wurden so gute Freunde, daß es eine helle Freude war. Sie erreichten schwimmend unsere Schiffe und brachten uns Papageien, Knäuel von Baumwollfaden, lange Wurfspieße und viele andere Dinge noch, die sie mit dem eintauschten, was wir ihnen gaben, wie Glasperlen und Glöckchen. Sie gaben und nahmen alles von Herzen gern – allein mir schien es, als litten sie Mangel an allen Dingen. Sie gehen nackend umher, so wie Gott sie erschaffen, Männer wie Frauen, von denen eine noch sehr jung war. Alle jene, die ich erblickte, waren jung an Jahren, denn ich sah niemand, der mehr als 30 Jahre alt war. Dabei sind sie alle sehr gut gewachsen, haben einen schön geformten Körper und gewinnende Gesichtszüge. Sie haben dichtes, struppiges Haar, das fast Pferdeschweifen gleicht, das über der Stirne kurz geschnitten ist bis auf einige Haarsträhnen, die sie nach hinten werfen und in voller Länge tragen, ohne sie jemals zu kürzen. Einige von ihnen bemalen sich mit grauer Farbe (sie gleichen den Bewohnern der Kanarischen Inseln, die weder eine schwarze, noch eine weiße Hautfarbe haben), andere wiederum mit roter, weißer oder einer anderen Farbe; einige bestreichen damit nur ihr Gesicht oder nur die Augengegend oder die Nase, noch andere bemalen ihren ganzen Körper. Manche von ihnen hatten Wundmale an ihren Körpern. Als ich sie unter Zuhilfenahme der Gebärdensprache fragte, was diese zu bedeuten hätten, gaben sie mir zu verstehen, daß ihr Land von den Bewohnern der umliegenden Inseln heimgesucht werde, die sie einfangen wollten und gegen die sie sich zur Wehr setzten. Ich war und bin auch heute noch der Ansicht, daß es Einwohner des Festlandes waren, die herkamen, um sie in die Sklaverei zu verschleppen. Sie müssen gewiß treue und kluge Diener sein, da ich die Erfahrung 92

1501 – amerigo vespucci – eine neue welt

machte, daß sie in Kürze alles, was ich sagte, zu wiederholen verstanden; überdies glaube ich, daß sie leicht zum Christentum übertreten können, da sie allem Anschein nach keiner Sekte angehören. Wenn es dem Allmächtigen gefällt, werde

ich bei meiner Rückfahr sechs dieser Männer mit mir nehmen, um sie Euren Hoheiten vorzuführen, damit sie die ­Sprache (Kastiliens) erlernen. Auf dieser Insel traf ich keine Tiere an, bis auf Papageie.

1501

amerigo vespucci Eine neue Welt – Brief an Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici Alberigo (Alberich) Vespucci (1451–1512), Sohn einer Florentiner Kaufmannsfamilie, reist im Auftrag der Medici. 1499 erreicht er die Küste des späteren Venezuela, und in der Folge besteht er als erster darauf, man habe nicht einige Inseln entdeckt, sondern eine neue Welt. Auf seiner Weltkarte von 1507 wird der deutsche Kartograph Martin Waldseemüller, inspiriert durch Vespuccis latinisierten Taufnamen Amerigo, dem Kontinent seinen Namen geben: America. An den Briefen Vespuccis von seinen vier Reisen von 1497 bis 1504 ist bis heute in der Forschung vieles umstritten. In ihrer Lebhaftigkeit für sich stehen die Beschreibungen einer ehedem ungesehenen Tier- und Pflanzenwelt.

IN

den letzten tagen habe ich Euch ausführ­ licher von meiner Rückreise aus jenen neuen Regionen berichtet, die wir mit der Flotte auf Kosten und im Auftrag des durchlauchtigsten Königs von Portugal (woher ich Euch nun schreibe) erkundeten und entdeckten, und die man als eine neue Welt bezeichnen könnte, wo doch die Alten von diesen Gebieten keine Kenntnis besaßen und deren Existenz allen, die davon hören, völlig neu ist. Denn in der Tat übersteigt dies die Vorstellungen der Menschen unserer Antike bei weitem, insofern der Großteil von ihnen meinte, es gäbe überhaupt kein Festland südlich des Äquators, sondern nur noch das Meer, welches sie Atlantik nannten; und selbst wenn einige wenige behaupteten, daß dort Festland läge, so erklärten sie doch mit vielen Argumenten, daß dieses Land nicht bewohnbar wäre. Daß aber diese ihre Vorstellung falsch ist und der Wahrheit in keiner Weise entspricht, hat diese meine letzte Seefahrt bewiesen, da ich in jenen südlichen Breiten einen Kontinent fand, der mit Völkern und Tieren dichter besiedelt ist als unser Europa oder Asien und Afrika, und darüber hinaus ein Klima, das gemäßigter und angenehmer ist als in irgendeiner anderen uns

bekannten Weltgegend, wie Ihr weiter unten noch hören werdet. Am 14. Mai 1501 liefen wir im Auftrag des genannten Königs bei günstigem Wind mit drei Schiffen aus Lissabon aus, um die neuen Gebiete der südlichen Halbkugel zu erkunden. Und so segelten wir zehn Monate lang ständig weiter nach Süden. Der Ablauf dieser Seefahrt ist folgender: Unsere ­Reise ging vorbei an den Inseln der Seligen (so wurden sie früher genannt; jetzt heißen sie jedoch Kanarische Inseln), welche in der dritten Klimazone und an der Westgrenze der ›Bewohnten Welt‹ liegen. Von da liefen wir auf Steuerbordbug die ge­samte maurische und einen Teil der schwarzafrikanischen Küste entlang bis zum Kap der Schwarzen, wie Ptolemäus es bezeichnete. Dieses wird heute von den Europäern Cabo Verde und von den Schwarzen Bezeguiche genannt, das Hinterland jedoch Mandinga. Das Kap liegt auf dem vierzehnten nördlichen Breitengrad in der verbrannten Zone. Das Hinterland wird von schwarzen Volksstämmen bewohnt. Nachdem wir uns dort erholt und alle für unsere Seefahrt notwendigen Vorräte aufgefüllt hatten, lichteten wir die Anker und setzten Segel. Und so steuerten wir über den weiten 93

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

Ozean in südliche Richtung, wobei wir aufgrund des sogenannten Schirokko ein wenig nach Westen abfielen. Und seit dem Tag, an dem wir von dem genannten Kap aufgebrochen waren, segelten wir einen Zeitraum von zwei Monaten und drei Tagen, ohne daß jemals Land gesichtet wurde. Was wir nun in dieser unendlichen Weite des Meeres durchlebt, was für Gefahren für das Schiff und was für Plagen für uns selbst wir ertragen und unter welchen Ängsten wir gelitten haben, überlasse ich der Einschätzung derer, die aus mannigfacher Erfahrung sehr wohl wissen, was es bedeutet, nach Ungewissem zu forschen, und sich ohne die Sicherheit dass es überhaupt existiert, danach auf die Suche zu machen. Und um das Ganze kurz zusammenzufassen, sollt Ihr folgendes erfahren: Von den siebenundsechzig Tagen, die wir auf See waren, hatten wir durchgehend vierundvierzig mit Regen, Donner und Blitz; und dies in solcher Finsternis, daß wir weder bei Tag die Sonne noch je bei Nacht den klaren Himmel sehen konnten. Aus diesem Grunde befiel uns so große Furcht, daß wir fast schon jede Hoffnung auf ein Überleben aufgegeben hatten. Doch inmitten all dieser gewaltigen Stürme des Meeres und des Himmels gefiel es dem Herrn, uns recht voraus Festland zu zeigen, neue Regionen und eine unbekannte Welt. Nach dieser Sichtung wurden wir von solcher Freude durchdrungen, wie sich jeder denken kann, daß sie Menschen widerfahren muß, die aus mancherlei Katastrophen, zumal aus einem schweren Seesturm, Rettung fanden. Am siebzehnten August 1501 gingen wir dann vor der Küste dieses Landes vor Anker und dankten unserem Gott mit einem feierlichen Gebet und einem Meßgesang unter großer Beteiligung der Mannschaft. Dort erkannten wir, daß dieses Land keine Insel, sondern ein Kontinent ist, da sich sowohl seine Küsten weithin erstrecken, ohne es jedoch zu umschließen, als auch das Land von unendlich vielen Einwohnern besiedelt ist. Denn wir fanden dort unzählige Stämme und Völker und alle Arten wilder Tiere, die auch in unseren Regionen vorkommen, aber auch viele andere, die wir noch nie gesehen hatten und über die im einzelnen zu berichten zu weit ginge. Gottes große Milde umstrahlte uns, als wir in jener Hemisphäre landeten. Denn das Holz war uns schon ausgegangen und ebenso das Wasser, und wir ­hätten nur noch wenige Tage auf dem Meer überleben können. Ehre, Lobpreis und Dank sei Gott. Wir faßten den Entschluß, die Küste dieses Kontinents in östliche Richtung entlangzusegeln, ohne sie dabei jemals aus der Sicht zu verlieren. Und so folgten wir ihr so lange, bis wir bald zu einem Kap gelangten, wo die Küste eine Wende nach Süden machte. Und von der Position, wo wir zum erstenmal Land berührt hatten, bis zu diesem Kap waren es ungefähr

300 Meilen. (…) Ich hatte vergessen, Euch zu schreiben, daß es vom Cabo Verde bis zu unserer ersten Landungsstelle auf jenem Kontinent ungefähr 700 Léguas sind, obwohl wir nach meiner Schätzung mehr als 1800 versegelt haben, teils wegen der Ungenauigkeit der Positionsbestimmung und der Ungewißheit des Navigators, teils weil die stürmischen Winde unseren geraden Kurs behinderten und uns zu zahlreichen Wenden zwangen. Und wenn sich die Gefährten nun nicht an mich gewendet hätten, der ich Kenntnisse in Kosmographie besaß, hätte es keinen Navigator oder Schiffsführer gegeben, der unsere Position auch nur auf 500 Léguas hätte bestimmen können. Denn wir waren vom Kurs abgekommen und irrten umher; und einzig die Instrumente (bekanntlich Quadrant und Astrolabium) lieferten uns exakt den Wert der Höhen der Himmelskörper. Dafür erwiesen mir dann der Reihe nach alle großen Respekt, denn ich führte ihnen vor, daß ich auch ohne die Kenntnis einer Seekarte mehr von Navigation verstand als alle Navigatoren der Welt. Denn diese können ihre Position nur dort bestimmen, wo sie schon oft gesegelt sind. Als uns nun das obengenannte Kap eine Wende der Küste nach Süden anzeigte, kamen wir überein, dieses zu passieren und zu erkunden, was es in jenen Gebieten gäbe. Und so segelten wir ungefähr 600 Léguas die Küste entlang und gingen oft an Land. Dabei unterhielten wir uns mit den Einwohnern dieser Länder und wurden von ihnen wie Brüder empfangen und wohnten so manches Mal auch vierzehn oder zwanzig Tage bei ihnen, durchwegs in freundschaft­ licher und gastlicher Atmosphäre, wie Ihr noch hören werdet. Ein Stück dieses neuen Kontinents liegt in der verbrannten Zone südlich des Äquators, denn sein von Europa aus gesehen erster Teil befindet sich auf dem achten südlichen Breitengrad. Wir segelten seine Küste so weit entlang, bis wir nach dem Passieren des Wendekreises des Steinbocks den südlichen Himmelspol in einer Höhe 50º über dem Horizont jener Hemisphäre sahen und also dem südlichen Polarkreis auf 17,5º nahe waren. Was ich nun dort gesehen und über das Wesen jener Menschen erfahren habe, über ihre Sitten und ihre Freundlichkeit, über die Fruchtbarkeit des Landes, die Reinheit der Luft, über die Konstellation, Himmelskörper und vor allem über die Fixsterne der achten Sphäre, welche die Alten weder jemals erblickt noch erforscht haben, will ich jetzt der Reihe nach berichten. Zunächst also zu den Menschen: Wir fanden in jenen Regionen eine so große Menge Menschen, die niemand zählen konnte (wie es in der Apokalypse heißt) – und zwar Menschen, die sanft und umgänglich sind. Alle, beiderlei Geschlechts, laufen nackt umher, ohne irgendeinen Kör94

1501 – amerigo vespucci – eine neue welt

perteil zu bedecken; und wie sie aus dem Leib der Mutter kommen, so gehen sie bis zu ihrem Tod. Ihre Leiber sind nämlich groß, athletisch, wohlproportioniert und neigen zu rötlicher Färbung. Dies geschieht ihnen – wie ich meine – darum, weil sie, während sie nackt umherlaufen, von der Sonne gerötet werden. Weiters haben sie langes und schwarzes Haar. Sie sind beim Laufen und bei Spielen flink und haben edle und anmutige Gesichtszüge, die sie sich allerdings selbst verunstalten. Denn sie durchbohren sich Wangen und Lippen sowie Nasen und Ohren. Und glaubt nicht, daß diese Löcher klein wären oder daß sie nur eines hätten! Ich sah nämlich einige, die allein schon im Gesicht sieben Löcher hatten, von denen jedes eine Pflaume fassen mochte. Sie verschließen diese Löcher mit blauen, marmornen und kristallenen Steinen sowie besonders schönen aus Alabaster und mit glänzend weißen Knochen und anderen nach ihrer Art kunstvoll gearbeiteten Stücken. Wenn Ihr nun diesen so ungewohnten und monströsen Brauch sehen könntet, nämlich daß ein Mensch allein in seinen Wangen und Lippen sieben Steine trägt, von denen einige eine halbe Handbreit lang sind, so würdet Ihr nicht wenig staunen. Außerdem habe ich oftmals geschätzt, daß sieben solche Steine ein Gewicht von sechzehn Unzen haben. Darüber hinaus tragen sie in jedem Ohr in je drei Löchern noch andere Steine, die an Ringen hängen. Aber dies ist nur der Brauch der Männer. Denn die Frauen durchbohren sich nicht das Gesicht, sondern bloß die Ohren. Es gibt bei ihnen noch einen weiteren recht abartigen Brauch, der alle menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Denn da ihre Frauen wollüstig sind, lassen sie das Gemächt ihrer Gatten zu solcher Dicke anschwellen, daß dieses entstellt und abscheulich aussieht; und dies bewirken die Frauen durch einen speziellen Trick, und zwar durch den Biß bestimmter giftiger Tiere. Und dadurch verlieren viele Männer dort ihr Gemächt, das ihnen in Ermangelung medizinischer Behandlung verkümmert, und so werden sie zu Eunuchen. Sie haben keine Tuche, weder aus Wolle noch aus Leinen noch aus Baumwolle (weil sie dieses auch nicht benötigen), und sie besitzen keine persönlichen Güter, sondern alles gehört der Gemeinschaft. Sie leben ohne König zusammen, ohne Staat, und jeder ist sein eigener Herr. Sie nehmen so viele Frauen, wie sie wollen. Und der Sohn beschläft die Mutter und der Bruder die Schwester und der Cousin die Cousine und jeder Mann jede Frau, die sich ihm bietet. Sie lösen die Ehe, sooft sie wollen, und beachten in diesen Dingen keine Regel. Dennoch sind sie keine Götzendiener. Was kann ich mehr sagen? Sie leben nach der Natur und sind eher als Epikureer denn als

Stoiker zu bezeichnen. Es gibt unter ihnen weder Kaufleute noch irgendeinen Handel. Ihre Stämme führen untereinander Krieg ohne Technik, ohne Taktik. Die Ältesten lenken bei ihrer Art Versammlungen die jungen Männer zu dem, was sie selbst beabsichtigen, und feuern sie zu Kriegen an, in denen sie einander grausam abschlachten. Und wen sie im Kriege gefangennehmen, den behalten sie bei sich, freilich nicht um sein Leben zu schonen, sondern um ihn später zum Zwecke der eigenen Ernährung zu töten. Sie pflegen nämlich einander (und besonders die Sieger die Besiegten) aufzufressen, und Menschenfleisch ist bei ihnen eine allgemein übliche Speise. Auch mögt Ihr dieser Nachricht wohl Glauben schenken, denn man hat schon gesehen, daß ein Vater seine Kinder und sein Weib verspeiste; und ich selbst kenne einen Mann, mit dem ich auch gesprochen habe, über den man berichtete, er habe von mehr als dreihundert menschlichen Leibern gegessen. Weiters war ich einmal siebenundzwanzig Tage in einer Stadt, wo ich in den Häusern das Menschenfleisch eingesalzen an den Balken hängen sah, genauso wie man bei uns den Speck aufhängt und das Schweinefleisch. Mehr noch: Diese Menschen wundern sich ihrerseits, warum wir unsere Feinde nicht verspeisen und deren Fleisch nicht für unsere Gerichte verwenden, wo es doch überaus schmackhaft sein soll, wie sie sagen. Ihre Waffen sind Pfeil und Bogen, und selbst wenn sie in den Krieg stürmen, bedecken sie dennoch keinen Körperteil, um sich zu schützen. So weit geht auch darin ihre Ähnlichkeit mit den Tieren. Wir haben unsererseits, so gut wir konnten, versucht, sie umzustimmen und von ihren üblen Bräuchen abzubringen. Und sie haben uns auch versprochen, diese aufzugeben. Obwohl ihre Frauen, wie ich schon sagte, nackt umherlaufen und überaus wollüstig sind, ist ihr Körper dennoch recht wohlgeformt und sauber, und sie wirken auch nicht so schamlos, wie man vielleicht meinen könnte, denn da die Frauen drall sind, kommt ihre Scham, die ja zum größten Teil von ihren wohlgenährten Formen verdeckt wird, weniger zum Vorschein. Auffällig war, daß unter diesen Frauen keine einzige zu sehen war, die schlaffe Brüste gehabt hätte. Auch diejenigen, die schon geboren hatten, unterschieden sich weder durch Formung noch durch Falten des Bauches von den Jungfrauen. Ähnliches galt auch für andere Körperteile, von denen ich anstandshalber schweigen will. Wann immer diese Frauen Gelegenheit hatten, sich mit Christen einzulassen, verletzten sie – von maßloser Wollust getrieben – jegliches Schamgefühl und boten sich feil. Die Menschen dort können hundertfünfzig Jahre alt werden. Sie sind selten krank, und wenn sie über95

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

haupt noch einmal ein Leiden befällt, dann heilen sie sich mit bestimmten Kräuterwurzeln selbst. Dies sind die wichtigsten Dinge, die ich, als ich unter ihnen lebte, in Erfahrung gebracht habe. Das Klima ist dort sehr gemäßigt und gesund, und es gibt dort, wie ich aus den Berichten der Menschen erfahren konnte, niemals irgendeine Pest oder Epidemie, die von verseuchter Luft übertragen würde. Und so leben sie, wenn sie nicht eines gewaltsamen Todes sterben, ein langes Leben; und zwar, wie ich glaube, deshalb, weil dort immer südliche Winde wehen und besonders der, den wir Schirokko nennen. Und dieser Wind hat für jene dieselbe Bedeutung, wie für uns die Bora. Sie sind fleißige Fischer. Und jenes Meer ist auch wirklich fischreich und voll von Meerestieren jeder Art. Sie sind keine Jäger; und zwar, wie ich meine, darum, weil es dort viele Arten wilder Tiere gibt (besonders Löwen, Bären, zahlreiche Schlangen und noch andere grausige und häßliche Bestien), und auch weil sich die Wälder dort weithin in jede Richtung erstrecken mit Bäumen von gewaltiger Größe und sie deshalb nicht wagen, sich nackt, ungeschützt und ohne Waffen so großen Gefahren auszusetzen. Der Boden jener Gebiete ist sehr fruchtbar, und die Landschaft ist lieblich. Das Land ist überreich an Hügeln, Bergen, endlosen Tälern und gewaltigen Flüssen, es wird von gesunden Quellen bewässert und ist mit weiten, dichten und nahezu undurchdringlichen Wäldern gesegnet, die von Wild jeder Art voll sind. Die mächtigsten Bäume gedeihen dort ohne Pflege, und viele von ihnen bringen Früchte hervor, die sowohl köstlich im Geschmack als auch für den menschlichen Körper zuträglich sind. Für manche gilt allerdings das Gegenteil. Und es gibt dort keine Früchte, die den

unsrigen hier ähnlich wären. Dort wachsen auch unzählige Arten von Kräutern und Wurzeln, aus denen sie Brot und hervorragende Breie herstellen. Sie haben auch viele Sorten Körner, die von den unsrigen hier völlig verschieden sind. Metalle haben sie dort keine außer Gold, das in jenen Regionen im Überfluß vorhanden ist (auch wenn wir auf dieser ersten Erkundungsfahrt nichts mitgenommen haben). Davon haben uns die Einwohner in Kenntnis gesetzt, die behaupteten, daß es im Landesinneren eine große Menge Goldes gäbe, dieses aber von ihnen selbst in keiner Weise geschätzt oder für wertvoll erachtet werde. Perlen gibt es in Fülle, wie ich Euch an anderer Stelle schon geschrieben habe. Wenn ich im einzelnen alles, was es hier gibt, berichten und über die Tierarten und ihre unzählbare Menge schreiben wollte, wäre dies ein weitschweifiges und unabsehbares Unterfangen. Und ich glaube, daß unser Plinius sicher nicht einmal den tausendsten Teil von der Familie der Papageien sowie der übrigen Vögel und Tiere erfaßt hat, die alle in diesen Regionen in so großer Vielfalt an Formen und Farben vorkommen, so daß selbst ein vollendeter Meister der Malerei wie Polyklet bei dem Versuch, diese zu malen, scheitern müßte. Die Bäume dort sind alle wohlriechend und jeder einzelne bringt entweder ein Öl hervor oder sondert irgendeinen Balsam ab. Wenn uns deren Eigenschaften bekannt wären, so zweifle ich nicht, daß diese Substanzen der Gesundheit des Menschen dienen könnten. Und sollte es tatsächlich in irgendeinem Teil der Erde das irdische Paradies geben, so glaube ich, daß es sicher nicht weit von jenen Regionen entfernt ist; und diese liegen, wie ich schon sagte, auf der südlichen Halbkugel in einem derart gemäßigten Klima, daß man dort weder jemals eisige Winter noch glühende Sommer hat.

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1508

niccolò machiavelli Warum Deutsche nicht reich sein müssen Unter den Medici wird er Kanzler für innere und äußere Sicherheit der Republik Florenz. Diplomatische Missionen führen ihn zu König Ludwig XII. von Frankreich und zu Kaiser Maximilian I., zu Cesare Borgia und Papst Julius II. und auch in die von ihm geschätzten deutschen Lande. In seinen Gesandtschaftsberichten (Legazioni) tritt er als unvoreingenommener Beobachter und Analytiker der politischen Verhältnisse hervor. Erst in seinem erzwungenen frühen Ruhestand, ab 1513, wird der Politiker und praktische Denker Niccolò Machiavelli (1469–1527) zum Schriftsteller.

AN

der macht deutschlands darf niemand zweifeln; denn es hat Überfluß an Menschen, Reichtümern und Waffen. Was die Reichtümer betrifft, so gibt es keine Stadt, die nicht einen öffentlichen Schatz hätte; und jedermann sagt, Straßburg allein besäße einige Millionen Gulden. Dies kommt daher, daß sie keine anderen Ausgaben haben, die ihnen das Geld aus der Hand ziehen, als die für die Unterhaltung ihrer Verteidigungsmittel und Vorräte. Wenn aber die erste Anschaffung einmal gemacht ist, so kostet sie die Erneuerung nicht viel. Sie haben in dieser Hinsicht eine sehr schöne Einrichtung. Ihre öffentlichen Vorratskammern sind immer mit Lebensmitteln, Getränken und Brennholz für ein Jahr gefüllt; ebenso haben sie Rohstoffe zur Verarbeitung, um bei einer Belagerung die Menge, die von ihrer Hände Arbeit lebt, ein ganzes Jahr lang ohne Verlust der Stadt ernähren zu können. Die Soldaten kosten sie nichts, weil die Bürger bewaffnet und in Übung gehalten werden. An Festtagen übt sich die ganze männliche Bevölkerung, statt zu spielen, mit der Büchse, mit der Pike, mit dieser oder jener Waffe, wobei sie dem Geschicktesten Ehre erweisen und Preise austeilen, die sie dann miteinander verjubeln. Für Besoldung und dergleichen geben die Städte wenig aus. So ist heute jede Stadt als Gemeinwesen reich. Der Grund, warum die Einzelnen des Volkes reich sind, liegt darin, daß sie ärmlich leben. Sie bauen nicht, sie machen keinen Aufwand für Kleider, sie verwenden nichts auf Hausgeräte. Es genügt ihnen, Überfluß an Brot und Fleisch und eine geheizte Stube zu haben, wo sie sich vor der Kälte schüt-

zen können. Wer weiter nichts hat, lebt ohne die anderen Dinge und strebt nicht danach. Auf ihren Leib verwenden sie zwei Gulden in zehn Jahren. Jeder lebt nach seinem Rang in diesem Verhältnis, und keiner veranschlagt, was er entbehrt, sondern nur was er notwendig bedarf, und ihre Bedürfnisse sind viel geringer als die unsrigen. Die Folge dieser ihrer Sitten ist, daß kein Geld aus ihrem Land geht, da sie mit dem zufrieden sind, was es erzeugt. In ihr Land kommt immer Geld, das von denen dahin gebracht wird, die die Erzeugnisse ihres Kunstfleißes haben wollen, mit denen sie fast ganz Italien ver­sehen. Ihr Gewinn ist um so größer, weil der größte Teil dessen, was sie verkaufen, in Manufakturwaren besteht und durch die Handarbeit seinen Wert erhält, ohne daß sie irgendeines bedeutenden Kapitals als Auslage be­ dürfen. So erfreuen sie sich ihres rauhen Lebens und ihrer Freiheit, und wollen aus dieser Ursache nicht in den Krieg ziehen, wenn sie nicht überbezahlt werden. Auch dies würde sie noch nicht bewegen können, wenn sie nicht von ihren Städten dazu Befehl erhielten. Ein Kaiser bedarf daher viel größerer Summen als ein anderer Fürst; denn, wenn es den Menschen gutgeht, ziehen sie ungern in den Krieg. Überdies ist es nötig, daß sich die Städte mit den Fürsten vereinen, ihn bei seinen Unternehmungen zu unterstützen, oder, daß dies die Städte selbst tun wollen, da sie es wohl allein vermögen. Aber weder die einen noch die anderen wollen die Macht des Kaisers. Denn sooft er eigene Staaten besäße oder mächtig wäre, würde er die 97

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

Fürsten bezwingen und schwächen und sie so sehr zum Gehorsam bringen, daß er sich ihrer nach eigenem Belieben bedienen könnte, nicht wenn’s ihnen gut scheint; wie es heute der König von Frankreich macht, und wie es einst der König Ludwig XI. machte, der die französischen Fürsten mit Waffengewalt, und indem er einigen von ihnen das Leben raubte, zu dem Gehorsam gebracht hat, den man heute noch bei ihnen sieht. Dasselbe würde den Städten widerfahren; denn der Kaiser würde sie dahin bringen wollen, daß er sie nach seinem Willen lenken könnte und von ihnen erhielte, was er forderte, nicht was sie geben wollen. Die Ursache der Uneinigkeit der Fürsten und Städte liegt, wie ich erfahren habe, in dem vielfach entgegengesetzten Streben, das man in diesem Land findet. Zwei Hauptspaltungen, sagen sie, seien die, daß die Schweizer von ganz Deutschland angefeindet werden und die Fürsten vom Kaiser. Es scheint vielleicht sonderbar, daß ich sage, die Schweizer und die Städte seien Feinde, da doch beide nach demselben Ziel streben, ihre Freiheit zu erhalten und sich vor den Fürsten zu schützen. Doch diese ihre Uneinigkeit entsteht daraus, daß die Schweizer nicht nur Feinde der Fürsten sind, wie die Städte, sondern auch Feinde der Edelleute. Es gibt nämlich in ihrem Land weder Fürsten noch Adel, und sie erfreuen sich, ohne irgendeine Unterscheidung der Bürger außer der, die die Bekleidung der zur Obrigkeit gehörigen Ämter mit sich bringt, einer freien Freiheit. Dieses Beispiel der Schweizer fürchten die Edelleute, die noch in den Städten geblieben sind, und bestreben sich daher immer mit der größten Sorgfalt, die Uneinigkeit zu erhalten und Freundschaft zu verhindern. Feinde der Schweizer sind auch alle aus den Städten, welche Kriegsleute sind, und zwar aus einer natürlichen Eifersucht, da sie weniger geschätzt zu sein glauben als jene. Dies geht so weit, daß man weder so viel noch so wenig in einem Lager vereinigen kann, ohne daß es Zweikämpfe und Gefechte zwischen ihnen gibt. Was die Feindschaft der Fürsten gegen die Städte und die Schweizer betrifft, so ist es nicht nötig, ausführlicher darüber zu sprechen, da dies eine bekannte Sache ist, wie auch die Feindschaft zwischen dem Kaiser und den Fürsten. Zu bemerken ist, daß der Kaiser, der hauptsächlich die Fürsten haßt und sie nicht selbst demütigen konnte, sich hierzu der Unterstützung der Städte bedient hat. Aus demselben Grund hält er sich seit einiger Zeit mit den Schweizern, und es scheint schon einiges Vertrauen zwischen ihnen zu herrschen. Betrachtet man so alle diese allgemeinen Spaltungen und rechnet man die hinzu, die zwischen einem Fürsten und den anderen, zwischen einer Stadt und der anderen bestehen, so

wird man die Ursache finden, die die Einigkeit des Reiches schwer macht, die ein Kaiser nötig hätte, um Großes auszuführen. Wer daher der Meinung ist, die Unternehmungen Deutschlands seien kräftig und könnten leicht gelingen, bedenkt zwar, daß es in Deutschland jetzt keinen Fürsten gibt, der sich den Plänen des Kaisers zu widersetzen vermögen oder wagte, wie sie es früher zu tun pflegten; aber er bedenkt nicht, daß es für einen Kaiser Hindernis genug ist, wenn ihm die Fürsten in der Ausführung seiner Pläne nicht beistehen. Wer nämlich nicht wagt, mit ihm Krieg anzufangen, wagt, ihm Hilfsvölker abzuschlagen; und wer sie ihm nicht abzuschlagen wagt, hat, wenn er sie versprochen hat, Mut genug, sie nicht zu schicken; und wer auch das nicht wagt, wagt doch, die Absendung so zu verzögern, daß sie zu spät kommen, um etwas zu nützen; alle diese Dinge aber verhindern und ­stören die Ausführung der Pläne. Daß dies seine Richtigkeit hat, zeigte sich, als der Kaiser das erstemal gegen den Willen der Venezianer und Franzosen nach Italien gehen wollte. Auf dem damals in Konstanz gehaltenen Reichstag versprachen ihm die deutschen Städte 16 000 Mann Fußvolk und 3000 Pferde, und nie konnte er so viel zusammenbringen, daß ihre Zahl nur 5000 erreicht hätte. Dies kam daher, weil, wenn die Mannschaft der einen Stadt ankam, die der anderen abzog, weil ihre Zeit um war. Manche gaben auch statt Soldaten Geld, das bereitwillig angenommen wurde. So kamen aus diesen beiden Ursachen die Truppen nicht zusammen, und die Unternehmung mißlang. Es wird für gewiß gehalten, daß die Macht Deutschlands viel mehr in den Städten besteht als in den Fürsten. Es gibt nämlich zweierlei Gattungen von Fürsten, weltliche und geistliche. Die weltlichen sind zu einer großen Schwäche herabgedrückt, teils durch sich selbst, da wegen der bei ihnen eingeführten Erbteilung jedes Fürstentum unter mehrere Fürsten geteilt ist, teils weil sie der Kaiser mit Hilfe der Städte gedemütigt hat. Sie sind daher unnütze Verbündete. Was die geistlichen Fürsten betrifft, so hat sie zwar die Erbteilung nicht geschwächt, doch der Ehrgeiz ihrer Städte, vom Kaiser unterstützt, hat sie so sehr erniedrigt, daß die Erzbischöfe, Kurfürsten und die anderen Fürstenbischöfe in ihren eigenen großen Städten nichts sagen durften. Die Folge davon ist, daß sie, wegen der Entzweiung mit ihren Städten, den Kaiser bei seiner Unternehmung nicht unterstützen könnten, selbst wenn sie es wollten. Kommen wir aber zu den freien Reichsstädten, dem Nerv des Landes, wo Geld und Ordnung sind. Diese sind aus vielen Gründen in ihrer Freiheit zurückhaltend für die Eroberung eines ausgedehnten Gebietes, und was sie nicht für sich 98

1508 – niccolò machiavelli – warum deutsche nicht reich sein müssen

selbst begehren, das liegt ihnen auch nicht am Herzen, einen anderen zu erobern. Dann sind es auch so viele und jede ihr eigener Herr, daß ihre Bewaffnungen, wenn sie solche machen wollen, zu spät kommen und nicht soviel Nutzen bringen wie erforderlich wäre. Den Beweis davon sah man, als vor einigen Jahren die Schweizer die Staaten Maximilians und Schwaben angriffen: Se. Majestät schloß mit den Städten des schwäbischen Bundes zur Züchtigung der Schweizer einen Vertrag, und sie machten sich verbindlich, 14 000 Mann ins Feld zu schicken. Nie aber kam die Hälfte zusammen; denn, wenn die Mannschaft einer Stadt kam, ging die der anderen wieder fort. So schloß der Kaiser, an diesem Feldzug verzweifelnd, mit den Schweizern Frieden und ließ ihnen Basel. Nun kann man sich denken, was sie für fremde Unternehmungen tun werden, wenn sie es in ihren eigenen Angelegenheiten so machen. Alle diese Dinge zusammen aber bewirken, daß ihre Macht nicht viel bedeutet und dem Kaiser wenig nützt. Die Venezianer haben wegen ihres Umgangs mit den Kaufleuten der deutschen Städte immer am besten verstanden, mit dem Kaiser zu verhandeln und überhaupt zurechtzukommen, und immer behaupteten sie ihm gegenüber eine ehrenvolle Stellung. Denn hätten sie den Kaiser gefürchtet, so würden sie ihn durch Geld und Abtretung einer Stadt besänftigt haben, sie würden sich ihm nicht widersetzt haben, wenn sie geglaubt hätten, diese Macht könne sich vereinen. Da sie aber die Unmöglichkeit kannten, so blieben sie in der Hoffnung auf Zeit und Gelegenheit so fest. Man sieht schon, daß in einer Republik, innerhalb derselben Ringmauer, die Angelegenheiten, die viele betreffen, vernachlässigt werden; es muß dies in einer Provinz noch viel mehr der Fall sein. Überdies sehen auch die freien Reichsstädte, daß die Eroberungen, die man in Italien oder anderswo machen würde, für die Fürsten, nicht für sie sein würden, da sich die Fürsten persönlich dieser Eroberungen erfreuen könnten, was ein Gemeinwesen nicht kann. Wo aber der Gewinn nicht gleich ist, geben die Menschen ungern gleichen Einsatz. Die Macht Deutschlands ist deshalb groß, aber so, daß man sich ihrer nicht bedienen kann. Würden daher die, welche sie fürchten, die oben angeführten Dinge überlegen und das, was diese Macht seit vielen Jahren her ausgerichtet hat, so würden sie sehen, was von ihr zu er­warten ist. Die deutschen Schweren Reiter sind recht gut beritten, nur daß ihre Pferde schwer sind, und sie sind auch ganz gut bewaffnet, was die bei ihnen gebräuchlichen Waffen und Rüstung betrifft. Zu bemerken ist aber, daß sie in einem Gefecht gegen Italiener oder Franzosen nicht bestehen würden, nicht wegen der minderen Güte des Mannes, sondern weil für die

Pferde keine Art Rüstung gebräuchlich ist, weil die Sättel klein und schwach und ohne Sattelbögen sind, so daß der kleinste Stoß den Reiter in den Sand wirft. Ein anderer Umstand, der sie schwächer macht, ist der, daß sie vom Körper abwärts, das heißt an den Schenkeln und Beinen, gar keine Schutzwaffen haben. So können sie also dem ersten Anrennen, worin die Hauptkraft der Schweren Reiter besteht und worauf es im Gefecht der schweren Reiterei hauptsächlich ankommt, nicht widerstehen und können dann auch mit der kurzen Waffe diesen Nachteil nicht wiedergutmachen, da sie selbst sowohl als auch ihre Pferde an den von Schutzwaffen entblößten Teilen verwundet werden können. Es steht in der Gewalt eines jeden Fußknechtes, sie mit der Pike vom Pferd zu stoßen oder sie zu verwunden. Überdies erlaubt ihnen die Schwerfälligkeit ihrer Pferde nicht, diese im Handgemenge rasch herumzuwerfen. Das Fußvolk ist vortrefflich, und die Leute sind von schöner Statur, im Gegensatz zu den Schweizern, die klein und weder hübsch von Gesicht noch wohlgestaltet sind. Die Waffen der großen Mehrheit bestehen nur in der Pike und einem kurzen Degen, um gewandter, schneller und leichter zu sein. Sie pflegen zu sagen, daß sie deshalb keine Schutzwaffen trügen, weil sie keinen anderen Feind als das Geschütz hätten, wogegen sie ein Bruststück, Küraß oder Ringkragen doch nicht schützen würde. Die anderen Waffen fürchten sie nicht; denn ihre Schlachtordnung, sagen sie, sei so gut, daß es unmöglich sei, zwischen sie zu gelangen oder ihnen auf Pikenlänge nahe zu kommen. Sie sind die besten Truppen für die offene Feldschlacht, doch zum Angriff auf Festungen taugen sie nichts und zur Verteidigung derselben wenig; überhaupt sind sie, wo sie sich nicht in ihrer Schlachtordnung aufstellen können, nichts wert. Dies hat die Erfahrung bewiesen, als sie mit den Italienern zu tun hatten, und besonders, wo Festungen zu erobern waren, wie Padua und andere Plätze. Hier haben sie sich schlecht gehalten, dagegen im offenen Feld immer gut. Wenn in der Schlacht bei Ravenna, zwischen den Franzosen und Spaniern, die Franzosen nicht die Landsknechte gehabt hätten, so hätten sie die Schlacht verloren. Denn während die Reiterei beider Heere im Gefecht begriffen war, hatten die Spanier das französische und gascognische Fußvolk schon geschlagen; und wenn ihm die deutschen Regimenter nicht zu Hilfe gekommen wären, so wäre es bis auf den letzten Mann getötet und gefangengenommen worden. Ebenso sah man neulich, als der katholische König mit Frankreich in Guyenne Krieg anfing, daß die spanischen Truppen eine Schar von 10 000 Deutschen, die der König von Frankreich hatte, mehr fürchteten als das ganze übrige Fußvolk, und daß sie jede Gelegenheit vermieden, mit ihnen zusammenzutreffen. 99

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leo africanus Hospitäler, Bäder, Wirtshäuser in Fes Nach seinen Reisen durch den Maghreb, die Sahara und die westafrikanischen Sahelreiche wird er von genuesischen Korsaren gefangengenommen und als Sklave nach Italien verkauft, wo er die Protektion des Vatikans unter Papst Leo X. erlangt. Aus Al-Hassan ibn Mohammed al-Wassan (* um 1490 in Granada; † nach 1550 in Tunis) wird Johannes Leo Africanus. Seine in arabischer Sprache begonnene Beschreibung Afrikas führt er auf ­italienisch zu Ende. Ein Vierteljahrtausend später wird sein Bericht zum Reise­führer der westlichen Afrikaforscher des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

H

ospitäler und bäder – In Fes sind viele Hospitäler, und sie geben den vorerwähnten Kollegien an Schönheit nichts nach. Vor Zeiten wurden die Fremden drei Tage lang darin logiert. Vor den Toren sind viele dergleichen, die nicht weniger schön als die in der Stadt sind. Sie waren sehr reich, aber im Krieg gegen den Said wurde dem König, da er viel Geld nötig hatte, geraten, die Einkünfte und Güter derselben zu verkaufen. Das Volk wollte nicht einwilligen, bis ein königlicher Prokurator ihm vorstellte, die Hospitäler seien von den Geschenken der Vorfahren des jetzigen Königs gestiftet, es sei also ratsam, die Güter, um den Feind vertreiben zu können, zu verkaufen; nach geendigtem Krieg könne man sie leicht wieder einlösen. Der Verkauf ging also vor sich, aber der König starb, ehe die Einlösung geschehen konnte. So sind nun die Hospitäler arm und fast ohne Unterhalt. Man nimmt jetzt etwa einen fremden Gelehrten oder einen armen Edelmann aus der Stadt darin auf. Für die fremden Kranken ist gegenwärtig nur noch eins da. Sie bekommen aber keinen Arzt und keine Arznei, sondern nur Wohnung, Unterhalt und einen Aufwärter, bis sie genesen oder sterben. In diesem Spital sind einige Kammern für die Irren, jedenfalls solche, die öffentlich dafür gehalten werden, die andere mit Steinen bewerfen oder sonst beschädigen. Sie werden darin gefesselt und verschlossen aufbewahrt. Die Vorderseite dieser Kammern nach dem Gang zu ist mit sehr starken hölzernen Sparren verwahrt. Derjenige, der ihnen das Essen bringt, schlägt jeden, der unruhig ist, fürchterlich mit dem Stock, den er deswegen immer bei sich hat. Wenn ein 100

Fremder sich den Kammern nähert, so rufen ihn die Narren an und klagen ihm, daß sie, obgleich vom Wahnsinn geheilt, doch hier gefangengehalten würden und täglich von den Bediensteten tausenderlei Unannehmlichkeiten und Beleidigungen erdulden müßten. Wenn dann jemand ihnen glaubt und sich an das Fenster lehnt, so ergreifen sie ihn mit einer Hand am Kleid und schmieren ihm mit der anderen Kot ins Gesicht. Denn diese Narren, obwohl sie ihre Abtritte haben, entleeren sich ihres Unflates doch meistenteils in den Zimmern, weswegen die Spitalbedienten denselben immer wegschaffen müssen. Die Bedienten empfehlen auch den Fremden die Vorsicht, den Kammern nicht zu nahe zu kommen. Das Hospital hat übrigens alle nötigen Bedienten, Schreiber, Aufseher, Köche, Krankenwärter; jeder genießt eine ziemlich ansehnliche Besoldung. In meiner Jugend war ich bei demselben zwei Jahre hindurch Notar, zu welchem Amt, das monatlich drei Dukaten einträgt, man gewöhnlich studierende Jünglinge nimmt. Hier sind auch hundert wohlgebaute und verzierte Bäder, einige klein, andere groß, alle aber von einer Bauart. Jedes hat vier Säle. Außen sind ziemlich hohe Galerien, in denen man auf fünf bis sechs Stufen an Stellen gelangt, wo die Leute sich ausziehen und ihre Kleider niederlegen. In der Mitte sind Fontänen wie sehr große Wasserbehälter angelegt. Wenn jemand in ein solches Bad will, geht er durch das erste Tor und kommt in ein kaltes Zimmer, wo eine Fontäne zur Abkühlung des zu heißen Wassers sich befindet. Von da kommt er durch ein anderes Tor in das zweite, etwas heißere Zimmer,

1510 – leo africanus – hospitäler, bäder, wirtshäuser in fes

wo ihn die Diener waschen und reinigen. Daraus geht er in das dritte, das sehr heiß ist, wo er eine Zeitlang schwitzt. Da ist ein eingemauerter großer Kessel, worin man das Wasser wärmt und es geschickt in hölzerne Eimer gießt. Für jeden Menschen sind zwei Gefäße voll Wasser frei. Wer mehr haben oder gebadet sein will, muß dem Diener ein paar Pfennige geben. Das gleiche erhält der Herr des Bades. Das Wasser wird mit Tiermist heiß gemacht. Die Herren der Bäder halten viele Jungen, die mit Lasttieren in der Stadt herumgehen, den Mist bei den Ställen kaufen, vor die Stadt führen und da einen kleinen Berg daraus machen. Wenn er zwei bis drei Monate getrocknet ist, so vertritt er beim Heizen der Bäder und des Wassers die Stelle des Holzes. Das weibliche Geschlecht hat besondere Bäder, viele aber sind für beide Geschlechter, doch in verschiedenen Stunden. Drei bis vierzehn Stunden, mehr oder weniger nach der Tageslänge, sind für die Mannspersonen, die übrigen für die Frauenspersonen. Sobald die letzteren eingetreten sind, zieht man ein Seil vor den Eingang und dann geht kein Mann mehr hinein. Selbst mit seiner Frau darf ein Mann hier nicht sprechen, sondern muß ihr durch eine Dienerin seine Botschaft bringen lassen. Männer und Frauen aus der Stadt pflegen in diesen Bädern auch zu speisen, sich auf allerlei Art lustig zu machen und mit lauter Stimme zu singen. Alle Jünglinge gehen ganz nackt, ohne daß sich der eine vor dem anderen schämt. Aber die Männer von einigem Stand und Rang haben gewisse Schürze um sich geschlagen. Sie sitzen auch nicht in den allgemeinen Sälen, sondern machen es sich in kleinen Kämmerchen bequem, die allezeit für sie zurechtgemacht und geschmückt sind. Ich hätte beinahe vergessen anzuführen, daß die Diener im Bad die Person, die sie baden wollen, sich niederlegen lassen und sie bald mit stärkenden Salben, bald mit gewissen Instrumenten, die alle Unreinlichkeit wegnehmen, reiben. Einen vornehmen Herrn, den sie baden wollen, legen sie auf eine Filzdecke und mit dem Kopf auf Kissen von Brettern, die mit Filz überzogen sind. Bei jeder Badestube sind viele Barbiere, die dem Herrn des Bades etwas bezahlen, um ihre Instrumente da verwahren und ihre Kunst treiben zu dürfen. Die meisten Badestuben gehören zu den Moscheen und Kollegien und bezahlen an diese hohe Pachtgelder, z. B. 100 oder 150 Dukaten, auch mehr oder weniger nach dem Verhältnis der Größe. Die bei diesen Bädern als Domestiken angestellten Jungen pflegen jährlich einmal ein Fest zu begehen. Sie laden alle Freunde ein, ziehen mit Trompeten und Pfeifen vor die Stadt, graben da eine Meerzwiebel aus, legen sie in ein schönes mes-

singnes Gefäß, bedecken dasselbe mit einer reingewaschenen Serviette und ziehen so mit Musik durch die Stadt bis zum Tor des Bades. Alsdann tun sie die Zwiebel in einen Korb und hängen denselben am Tor auf. Das, sagen sie, werde dem Bad viele Kunden zuwenden. Mir kommt es vor, dieses sei eher eine Art Opfer, dergleichen bei den alten heidnischen Afrikanern Sitte waren und nachher Mode blieben. So wie auch noch einige Spuren von christlichen Festen und Gebräuchen in allen Städten übrig sind, ohne daß man die Ursachen anzugeben weiß. wirtshäuser. – Zu Fes sind ungefähr 100 wirklich sehr gut gebaute Wirtshäuser, einige sind sehr groß, z. B. die bei der Hauptmoschee, und alle haben drei Stockwerke. Einige haben 120, andere noch mehr Zimmer. Alle haben Springbrunnen und Abtritte mit kleinen Kanälen zur Wegschaffung des Unrats. Alle Türen der Zimmer gehen auf den Gang. Obgleich aber diese Wirtshäuser schön und groß sind, so logiert man doch äußerst schlecht darin. Da ist kein Bett und Bettgestell. Wer hineinkommt, erhält nur eine grobe Decke und eine Matte zum Schlafen, wer essen will, muß das Nötige selbst kaufen und kochen lassen. In diesen Wirtshäusern halten sich auch die armen Witwen aus der Stadt auf, die kein Obdach oder keinen Verwandten haben, der sie aufnähme. Einer jeden oder auch zweien wird eine Kammer zum Aufenthalt eingeräumt. Sie sorgen dann für die Betten und die Küche. Die Wirte, um auch davon etwas zu sagen, sind alle von der Menschengattung, die man el-Hiwa nennt. Sie sind wie Weiber gekleidet und geputzt, ihr Bart ist geschoren, und sie ahmen die Frauensperson in allem, selbst in der Stimme nach, ja sie spinnen sogar. Jeder von diesen Verworfenen hat seinen Beischläfer, dem er eben das, was eine Ehefrau ihrem Mann leistet, gewährt. Hier werden auch Frauenspersonen gehalten, die denen in den europäischen Bordellen gleichen. Die Wirte dürfen, ohne von den Polizeibedienten bestraft zu werden, Wein kaufen und verkaufen. Alle liederlichen Mannspersonen kommen allezeit hierher, teils um sich zu betrinken, teils um mit Buhldirnen ihre Lüste zu büßen, teils um andere unerlaubte und schändliche Dinge ohne Gefahr von den Gerichten zu treiben, welches zu verschweigen anständiger ist. Diese Wirte haben einen Vorsteher und erlegen den Stadtkommandanten einen gewissen Tribut. Sie müssen auch, wenn ein Krieg vorfällt, der Armee des Königs oder der Fürsten eine große Anzahl von ihrer Bande zur Besorgung der Küche für die ­Soldaten abgeben, weil wenige andere diesem Geschäft gewachsen wären.

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reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

Ich würde diesen Teil gern mit Stillschweigen übergangen haben, wenn nicht das Gesetz den Geschichtsschreiber zur Wahrheit verpflichtete, um nicht Schande der Stadt, worin ich erzogen und aufgewachsen bin, aufzudecken. Wenn man dieses Laster abrechnet, so enthält das Königreich Fes gewiß bessere Menschen als das übrige Afrika. Nur ruchlose Leute von schlechter Herkunft gehen mit diesen Wirten um. Kein Gelehrter, kein Kaufmann, kein ehr-

licher Handwerksmann redet mit ihnen, denen auch der Eingang in die Moscheen, die Plätze der Kaufleute und ihre Bäder und Häuser verboten ist. Noch weniger dürfen sie die Wirtshäuser bei der Moschee innehaben, worin die vornehmen Kaufleute logieren. Das ganze Volk wünscht ihnen den Tod. Weil aber die Herren sich ihrer, wie oben gesagt, im Krieg bedienen können, so läßt man sie ihr schändliches, gottloses Leben fortsetzen.

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hernán cortés Und Moctezuma richtete folgende Worte an mich Im ersten von drei Briefen an seinen »Allerhöchsten, Großmächtigsten, Sehr Katholischen Gebieter« schildert Hernán Cortés (1485–1547), der Eroberer Mexikos, Kaiser Karl V. den Empfang am Hofe Moctezumas. Im folgenden Stück ­dieser Sammlung kommen zur selben Begebenheit die Azteken zu Wort.

SO

zog ich denn meine strasse weiter. Eine halbe Meile von der Stadt Tenochtitlán erhebt sich zu Beginn eines anderen Dammes, der das feste Erdreich mit dieser verbindet, ein sehr festes Bollwerk, das von einer zwölf Fuß hohen und mit einer kannelierten Brustwehr versehenen Mauer mit zwei Türmen umgeben ist; nur zwei Tore sind in sie eingelassen, durch deren eines man die Stadt verläßt, durch deren anderes man sie betritt. Ich begegnete dort etwa tausend vornehmen Bewohnern der großen Stadt, die mich sehen wollten; alle trugen die nämliche Tracht, die nach der Sitte des Landes sehr prächtig war. Zu meiner Begrüßung berührte jeder von ihnen mit einer Hand die Erde und küßte sie – eine Zeremonie, die bei ihnen gebräuchlich ist; ich verweilte länger als eine Stunde dort und wartete, bis sich alle dieser ihrer Pflicht entledigt hatten. Nicht allzuweit von der Stadt befindet sich eine zehn Schritt breite Holzbrücke, unter der der Damm für den Zufluß und Abfluß des abwechselnd steigenden und fällenden Wassers, wie auch zur Verteidigung der Stadt geöffnet ist; denn die sehr großen Balken, aus denen die Brücke besteht, 102

können nach Belieben entfernt werden. In der Stadt gibt es gar viele solcher Brücken, wie ich Eurer Majestät später des Genaueren mitteilen werde. Nachdem ich diese Brücke überschritten hatte, kam mir der Kaiser Moctezuma entgegen mit einem Gefolge von ungefähr zweihundert vornehmen Herren, alle barfuß und in einer sehr reichen bei ihnen üblichen Tracht, durch die sie sich von allen andern unterschieden. Sie nahten sich langsamen Schritts und in feierlichem Zuge zu beiden Seiten der Straße, die sehr breit, sehr schön und so gerade ist, daß man bis an ihr Ende sehen kann, wie sie mit ihren großen Häusern und Tempeln daliegt. Moctezuma schritt mitten in der Straße einher, begleitet von zwei Vornehmen, einer zur Rechten, der andere zur Linken. In dem einen von ihnen erkannte ich denselben wieder, der mich im Gebirge aufgesucht, und der andere war Moctezumas Bruder, der Herr jener Stadt Iztapalapa, die ich am Abend vorher verlassen hatte; alle drei waren in der gleichen Weise gekleidet, nur daß der Kaiser eine Art Pantoffeln trug, während die andern barfuß gingen. Beide stützten ihn mit den Armen. Als wir

1519 – hernán cortés – und moctezuma richtete folgende worte an mich

einander begegnet waren, stieg ich vom Pferde, um ihn zu umarmen; allein die beiden Herren kamen dazwischen und hinderten mich daran, ihn zu berühren. Alle drei küßten nach der Sitte des Landes und mit vollendeter Höflichkeit die Erde und Moctezuma gab seinem Bruder den Befehl, mich zu geleiten und mich mit dem Arm zu unterstützen, während er mit den andern Vornehmen voranging. Nachdem er einige Worte an mich gerichtet hatte, sprachen nacheinander alle Herren, die den Zug bildeten, zu mir, um dann wieder, gemäß ihrem Range, ihren Platz einzunehmen. Während ich den Fürsten anredete, nahm ich mir ein Halsband von Perlen und Glasdiamanten ab und legte es ihm um den Hals, woraufhin einer seiner Diener sich mir mit zwei in Stoff eingewickelten Hummerhalsbändern aus roten, überaus wertvollen Muschelschalen nahte. An jedem Halsband hingen etwa acht vollendet schöne und nußgroße Goldperlen, und als der Diener sie brachte, wandte sich der Fürst zu mir und legte sie mir um den Hals. Dann schritt er in der gleichen Haltung wie vorher weiter, und wir folgten ihm bis zu einem großen und schönen Palast, den er zu unserm Empfange hatte herrichten lassen. Hier nahm er mich bei der Hand und führte mich in einen großen Saal, der auf den Hof hinausging, durch den wir eingetreten waren; dort ließ er mich auf einer sehr schönen Estrade, die für ihn angelegt worden war, Platz nehmen, bat mich, etwas zu warten und schritt dann langsam hinaus. Kurz darauf, nachdem meine Leute untergebracht waren, kam er mit allen möglichen goldenen und silbernen Schmucksachen und schimmernden Federn zurück und brachte uns zudem fünf- bis sechstausend sehr kostbare Stücke Baumwollstoff, wie auch mannigfaltige Gewebe und Stickereien. Nach Überreichung dieses Angebindes ließ er sich auf einem Sitz nieder, den man für ihn neben dem meinen hergerichtet hatte, und richtete folgende Worte an mich: »Schon seit langer Zeit wissen wir aus Urkunden unserer Ahnen, daß weder ich, noch ein anderer der augenblicklichen Bewohner dieses Landes uns Eingeborene nennen dürfen; wir sind Fremdlinge und aus fernen Ländern hergekommen. Uns ist auch bekannt, daß ein großer Herr uns in dieses Land gebracht hat, wo wir alle seine Vasallen waren; er kehrte dann später in seine Heimat zurück, von wo er erst nach langer Zeit zurückkam und es dann erleben mußte, daß sich seine Leute mit den Mädchen des Landes verheiratet und in den zahlreichen von ihnen angelegten Dörfern Familien gegründet hatten. Er wollte sie wieder mit sich nehmen, allein sie weigerten sich und wollten ihn nicht einmal mehr als ihren Herrn anerkennen.

So verließ er denn das Land. Wir aber haben seither immer geglaubt, daß eines Tages seine Nachkömmlinge wieder erscheinen würden, um uns zu unterjochen; und nach dem Teil der Welt zu urteilen, von dem Ihr gekommen sein wollt, dort wo die Sonne aufgeht, und nach allem, was Ihr mir von dem großen König, der Euch entsandt hat, erzählt, sind wir davon überzeugt, daß er unser wirklicher Herr ist, um so mehr als er Euch zufolge seit langem von unsern Angelegenheiten Kenntnis besitzt. Zweifelt also nicht daran, daß wir Euch gehorchen und Euch als Vertreter des großen Königs, von dem Ihr sprecht, als Herrn anerkennen werden.« Und er fügte hinzu: »Ihr könnt über das ganze Land, soweit es meinem Willen untersteht, gebieten; man wird Euch gehorchen, und Ihr könnt über meine Güter verfügen, wie wenn sie die Euren wären. Ihr seid hier in Eurem Palast. Ruht Euch also hier von den Beschwerden der Reise und den Kämpfen, die Ihr bestanden habt, aus. Ich weiß alles, was Euch zugestoßen ist, von Potunchan bis hier; ich weiß, daß die Leute von Cempoal und Tlaxcala Euch viel Böses über mich gesagt haben. Glaubt hinfort nur das, was Ihr selbst seht, und mißtraut Leuten, die meine Feinde sind, und von denen mehrere meine Vasallen waren und die Eure Ankunft benutzt haben, um sich aufzulehnen; jetzt aber verleumden sie mich, um sich bei Euch in gutes Ansehen zu bringen. Sicherlich hat man Euch auch gesagt, die Mauern meiner Paläste wie die in meinen Palästen liegenden Matten und manches andere Hausgerät wären aus Gold, auch ließe ich mich wie ein Gott anbeten, und andere Ungereimtheiten mehr. Die Paläste – da seht Ihr sie: sie sind aus Lehm, Stein und Schindeln gefügt.« Dann sein Gewand raffend, wies er auf seinen Körper und sagte: »Ihr seht, ich bestehe aus Knochen und Fleisch wie auch Ihr«, und mit seinen Händen auf Arme und Körper klopfend: »Ihr seht, ich bin sterblich und mit Händen betastbar: ermeßt daraus, wie diese Leute gelogen haben. Allerdings besitze ich von meinen Vorfahren her einige goldene Gegenstände; sie gehören Euch, wenn Ihr sie begehrt. Jetzt kehre ich in ein anderes Haus zurück, in dem ich wohne. Ihr werdet aber hier mit allem versehen werden, wessen Ihr und Eure Leute bedürfen. Befürchtet nichts; dieses Land wie auch dieser Palast gehören Euch.« Ich bemühte mich, aus meiner Antwort erkennen zu lassen, daß Eure Majestät in der Tat die Person wäre, auf die sie schon so lange gewartet hatten. Er nahm Abschied und schickte uns bald darauf Hühner, Brot, Früchte und andere für den Haushalt notwendige Dinge. Sechs Tage lebte ich dergestalt im Überfluß und konnte mich des Besuches einer Menge vornehmer Herrn aus der Stadt erfreuen.

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bernardino de sahagún Sie suchen nach dem Gold wie Schweine Bernardino de Sahagún schrieb in der Aztekensprache Nahuatl, als er die Berichte der Eingeborenen wiedergab. Der Franziskanermönch und erste Ethnologe der Neuen Welt, der zehn Jahre nach der Eroberung der Hauptstadt Moctezumas in Mexiko eintraf, hinterließ in einem zwölfbändigen Werk eine umfassende Beschreibung der aztekischen Kultur.

E

ines tages waren Leute am Ufer des Meeres angekommen, die auf Schiffen wohnten. Die Verwalter und andere Häuptlinge dieser Provinz fuhren mit Kanus zu dem Schiff, unter dem Vorwand, ihnen etwas zu verkaufen, aber sie gingen, um sie anzuschauen, sie auszuforschen. Sie brachten den Bewohnern des Schiffs kostbare Mäntel, Mäntel, die nur Motecuhçoma anlegen darf. Und als sie die Spanier sahen, dachten sie, das ist Quetzalcouatl, unser Fürst, der gekommen ist. Die Spanier riefen sie an: »Wer seid ihr? Woher seid ihr gekommen?« »Wir kommen aus Mexiko.« Sie gaben den Spaniern die Mäntel und erhielten als Gegengeschenk gelbe und grüne Perlen, Perlen wie Bergkristall. Und die Spanier befahlen ihnen: »Geht! Wir gehen jetzt noch einmal nach Spanien, dann kommen wir nach Mexiko.« Sie eilten Tag und Nacht nach Mexiko und sprachen zu Motecuhçoma: »O unser Herr, o unser Fürst, töte uns. Am Strand des Meeres haben wir unsere Herren gesehen, unsere Götter.« Und sie gaben ihm die Perlen und er gebot ihnen, über all das zu schweigen. Motecuhçoma ließ Wachen aufstellen, überall an den Ufern des Meeres und nahe dem Ende des Jahres Dreizehn Kaninchen [1518] wurden die Schiffe wieder gesehen. Motecuhçoma schickte Boten mit Geschenken und der Tracht Quetzalcouatls, denn er dachte: es ist unser Fürst Quetzalcouatl, der gekommen ist. Denn es war sein Wille wiederzukommen, wieder seinen Thron einzunehmen, als er nach Osten fortzog. Die Boten betraten das Schiff, sie brachten dem Kapitän die Tracht Quetzalcouatls und schmückten ihn damit. Sie legten vor ihn noch andere Göttertrachten, die von Tezcatlipoca, die des Regengottes, des Herrn von Tlalocan, und eine weitere Quetzalcouatls. Danach sprach der Kapitän zu ihnen: »Ist das euer ganzes Begrüßungsgeschenk?« Sie antworteten ihm: »Das ist alles, womit wir gekommen sind, o 104

unser Herr!« Drauf befahl der Kapitän, sie zu binden, ihnen Eisen an die Füße zu legen und an den Hals. Und danach schossen sie das große Geschütz ab. Und die Gesandten wurden herzschwach und ohnmächtig, fielen auf den Boden, waren ihrer Sinne nicht mehr mächtig. Die ­Spanier hoben sie vom Boden auf, ließen sie sich setzen, gaben ihnen Wein zu trinken und danach gaben sie ihnen zu essen. So schöpften sie wieder Atem. Dann entließ sie der Kapitän, ließ sie in ihre Kanus hinabsteigen, und sie fingen an, wie um die Wette zu rudern, und, an Land gekommen, eilten sie ohne Unterbrechung nach Mexiko. Motecuhçoma, der während der ganzen Wartezeit niedergeschlagen war, nichts mehr essen und keinen Schlaf finden konnte, befahl, zwei Gefangene mit weißer Farbe anzustreichen, zu opfern und mit ihrem Blut die Gesandten zu besprengen. Denn diese hatten einen sehr gefährlichen Weg gemacht, denn sie hatten den Göttern ins Angesicht geschaut, hatten zu ihnen gesprochen. Danach erstatteten die Gesandten Bericht von allem, was sie gesehen und gehört hatten: von den Speisen, von dem Geschütz, von dessen Ohnmacht erzeugendem Lärm, vom Feuerregen, vom stinkenden Rauch. Sie erzählten von ihrer Tracht, daß sie ganz aus Eisen sei und nur ihr Gesicht sichtbar, ganz weiß. Und die Waffen alle aus Eisen. Und sie erzählten von den Hirschen, auf denen sie säßen, und von den Hunden, sehr groß, jaguargefleckt und wild. Als Motecuhçoma dies hörte, fürchtete er sich sehr, fiel fast in Ohnmacht, war in großer Angst. Und er schickte die Zauberer, die Menscheneulen, die Hexenmeister aus, daß sie den Spaniern Unheil antäten. Er schickte Krieger und Häuptlinge, die für alles sorgen sollten, was an Speise nötig war, Hühner, Eier, weiße Tortillas und was sie verlangen würden.

1519 – bernardino de sahagún – sie suchen nach dem gold wie schweine

Aber nichts nützten die Zauberei, die Hexensprüche. Motecuhçoma verzweifelte, weinte, als er erfuhr, wie stark die Spanier seien. Und alle Leute in der Stadt verzweifelten, weinten, beweinten ihre Kinder: »Weh, o unsere Kinder, wie werdet ihr das überwinden, was über euch gekommen ist, was sich jetzt vorbereitet. Motecuhçoma wurde benachrichtigt, daß eine aus unserem Volk stammende Frau sie herbeiführe, ihnen als Dolmetsch diene, sie heiße Malintzin. Die Spanier fragten viel nach Motecuhçoma, ob er jung, reiferen Alters oder schon ein Greis sei. Als er hörte, daß die Götter ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen wünschten, fühlte er Todesangst und wollte sich vor ihnen verbergen. In seinem Inneren fragte er sich: »Soll ich in eine Höhle gehen?« Währenddessen entluden die Spanier ihre Schiffe, sie richteten sich auf dem Festland ein. Sie begannen ihren Marsch auf die Hauptstadt von Mexiko. Als die Spanier nach Tecoac kamen, traten ihnen die Einheimischen als Feinde gegenüber. Und die Spanier ritten sie nieder, erschossen sie mit den Geschützen. Sie vernichteten ganz Tecoac gründlich. Die Häuptlinge der Tlaxcalteken, die um das Ende von Tecoac wußten, beschlossen, die Spanier freundlich zu empfangen und sich mit ihnen zu verbünden. Sie versorgten sie mit Speisen und gaben ihnen ihre Töchter. Die Tlaxcalteken lebten im Streit mit den Leuten aus Cholula und sie hetzten die Spanier gegen diese auf. Sie führten die Spanier nach Cholula, wo sie im Tempelhofe empfangen wurden. Plötzlich begannen die Spanier den Kampf, die Chololteken wurden niedergeritten, getötet, erschlagen. Dies wurde Motecuhçoma gemeldet; ganz Mexiko lebte in hellem Entsetzen und allgemeiner Furcht. Motecuhçoma schickte einen seiner Stellvertreter und an­dere hohe Fürsten den Spaniern entgegen. Sie ­überreichten dem Kapitän das Goldbanner, das Quetzalfederbanner und die goldene Perlhalskette. Über das Gold freuten sich die Spanier sehr, sie griffen nach dem Gold wie Affen, denn sie hungern nach Gold, sie suchen das Gold wie Schweine. Die Spanier fragten: »Bist du Motecuhçoma?«, aber sie wußten von ihren Verbündeten, den Tlaxcalteken, daß es nur einer der Stellvertreter Motecuhçomas war. Als dieser bejahte, warfen sie ihm Betrug vor und schickten die Gesandtschaft weg. Motecuhçoma entsandte auch Zauberer und Wahrsager, damit diese den Spaniern schaden sollten. Aber sie taugten nichts mehr, sie konnten ihren Zweck nicht mehr erreichen. Unterwegs trafen sie einen, der wie ein Betrunkener war und der zu ihnen sprach: »Was wollt ihr jetzt noch hier? Was will Motecuhçoma jetzt noch tun? Ist er jetzt zur Besinnung ge-

kommen? Er hat einen Fehler gemacht, er hat das einfache Volk im Stich gelassen, er hat Leute umbringen lassen, er hat die Leute betrogen. Jetzt ist keine Zeit mehr, es wird kein Mexiko mehr geben, es ist ein für allemal aus. Schaut nach Mexiko, was dort geschieht!« Da schauten sie hin, was sie sahen, war: es brannten alle Tempel, die Gemeindetempel, die Priesterhäuser und alle Häuser Mexikos, und es sah so aus, als ob zum Krieg gerufen würde. Die Zauberer waren wie betäubt, sie sprachen: »Es ist nötig, daß Motecuhçoma erfahre, was wir gesehen haben. Denn das hier ist irgendwer, das ist der junge Tezcatlipoca.« Danach verschwand er, und sie kehrten sofort nach Mexiko zurück, um Bericht zu erstatten. Motecuhçoma hörte den Bericht, ließ den Kopf hängen, war ganz außer sich vor Verzweiflung: »Was sollen wir tun? Ist denn alles vergebens?« Und er befahl, den breiten Weg nach Mexiko zu versperren, ihn mit einer Wand von MagueyPflanzen unkenntlich zu machen. Aber die Spanier merkten es gleich, sie rissen die Maguey-Pflanzen heraus und warfen sie fort. Die Spanier marschierten voran, und eine Stadt nach der anderen empfing sie friedlich und unterwarf sich ihnen. Motecuhçoma befahl, daß niemand sie bekriege, daß sie mit allem versorgt würden. In dieser Zeit war es hier in Mexiko wie ausgestorben, leergefegt waren die Straßen. Das Volk sprach: »Bald werden wir sterben, bald werden wir zugrunde gehen.« Die Spanier aber machten sich fertig, um nunmehr nach Mexiko hineinzugehen. Sie legten ihre Panzer um, sie stellten sich in Ordnung auf. Vier Reiter gehen an der Spitze, sie sehen nach allen Seiten, sie blicken zwischen die Häuser, sie schauen auf die Dächer. Auch die Hunde laufen voran, sie verfolgen mit der Nase am Boden die Spur, sie keuchen, sie keuchen sehr. An der Spitze steht das Banner aus gewebtem Stoff. Der Träger hat es über der Schulter, er schwenkt es hin und her, schwenkt es im Kreise. Ihm folgen die mit Eisenschwertern Bewaffneten, blank gezogen ist ihr Eisenschwert. Die zweite Abteilung sind die Pferde mit den Reitern auf dem Rücken. Diese haben wattierte Panzer, Lanzen mit Eisenspitzen, an den Hüften der Pferde hängen ihre Eisenschwerter. Die Pferde, die ›Hirsche‹ wiehern, sie schwitzen sehr. Der Schaum von ihrem Mund tropft zur Erde wie ­Seifenschaum tropft. Beim Laufen machen sie großes Getrampel, sie ­machen Getöse, wie wenn einer mit Steinen wirft. Wo sie ihren Fuß aufheben, wird sogleich die Erde aufgewühlt. Die dritte Gruppe bilden die Armbrustschützen. Sie tragen die Armbrust, sie spannen sie. Andere tragen die Armbrust über der Schulter. Ihr Köcher hängt an ihrer Seite,

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reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

kommt unter ihrer Achsel hervor. Er ist voll, ganz vollgestopft mit Eisenpfeilen. Die vierte Abteilung sind ebenfalls Armbrustschützen, sie sind gerüstet wie die Reiter vor ihnen. Und am Kopfschutz haben sie Quetzalfedern aufgesteckt. Die fünfte Abteilung bilden die Büchsenschützen, die die Handfeuerwaffen führen. Sie tragen die Büchsen auf der Schulter. Als sie in die großen Paläste, in die Königsstadt eingezogen waren, feuerten sie: es donnert, es blitzt, Rauch breitet sich aus, legt sich über das ganze Land, es stinkt nach Schwefel; es nimmt einem die Besinnung. Am Schluß reitet der Kriegshauptmann; er, der die Befehlsgewalt über all die Krieger ausübt. Sodann folgen die Häuptlinge und Bewohner der benachbarten Stämme, die sich den Spaniern verbündet haben. Sie kommen in Kriegsrüstung, sie erheben Kriegsgeschrei. Einige tragen Lasten auf dem Rücken, Lebensmittel und Gepäck. Andere schieben das auf hölzernen Rädern ruhende schwere Geschütz, sie bewegen es unter Geschrei vorwärts. Motecuhçoma ging den Spaniern entgegen, überreichte ihnen Geschenke und begrüßte Cortés: »O unser Herr! Jetzt ist es wahr geworden, du bist zurückgekehrt, mit Mühsal bist du nun angelangt. Die Könige haben nur eine kleine Weile den Thron für Dich gehütet, jetzt bist du zurückgekehrt, wie es uns die Vorfahren vorhergesagt haben.« Malintzin übersetzte die Worte Motecuhçomas, und Cortés antwortete in seiner fremden Sprache: »Motecuhçoma soll sich nicht fürchten, denn wir lieben ihn sehr. Jetzt, da wir in sein Haus gekommen sind, kann er unser Wort in Ruhe hören.« Dann packten sie ihn mit der Faust, so bezeigten sie ihm ihre Liebe und führten ihn als Gefangenen in seinen Palast. Ebenso nahmen sie Itzquauhtzin, den Statthalter von Tlatelolco, in Gewahrsam. Aber alle anderen fürstlichen Begleiter Motecuhçomas entflohen und versteckten sich. Die Spanier feuerten die Geschütze ab; Todesschrecken lag über der ganzen Stadt.

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Am Morgen wurde alles ausgerufen, was die Spanier benötigten: Tortillas, gebratene Truthühner, Eier, Wasser, Holz, alle Arten Tongeschirr. Die Fürsten, die Motecuhçoma zu sich rief, gehorchten ihm nicht mehr; dennoch wurde es nicht versäumt, die Spanier mit allem Nötigen zu versorgen. Die Spanier fragten Motecuhçoma nach allem aus, was mit dem Staatsschatz zu tun hatte. Sie umdrängten ihn, sie packten ihn an der Hand, sie erkundigten sich eifrig nach dem Gold. Motecuhçoma führte die Spanier zum Schatzhaus. Dort angelangt, wurden alle Schmucksachen, die Rangabzeichen, die Federschilde, die Götterbilder, die goldenen Nasenhalbmonde, die goldene Stirnbinde hervorgeholt. Danach rissen die Spanier das Gold ab, das an den Schilden und an all den Abzeichen befestigt war. Nachdem sie alles Gold abgerissen hatten, zündeten sie die verschiedenen Kostbarkeiten an; alles verbrannte. Das Gold schmolzen die Spanier in Barren, und die grünen Edelsteine, soviel ihnen gefielen, nahmen sie sich. Die anderen Edelsteine stahlen die Tlaxcalteken. Darauf drangen sie in das eigentliche Schatzhaus Motecuhçomas, wo sein Eigentum aufbewahrt wurde. Alle seine Kostbarkeiten holten sie heraus: die Halskette mit ­Gehängen, die mit Quetzalfedern geschmückten Oberarmringe, die Krone aus Türkismosaik, den Nasenstab aus ­Türkis, die ganze Königstracht. Sie rissen das Gold ab. Man sah sie stolz aufgerichtet gehen, wie Narren oder wie Tiere, sich die Beute gleichsam einander wegbeißend. Nachdem alles erreichbare Gold zusammengebracht war, ließ Cortés durch Malintzin alle Fürsten rufen. »Mexikaner, kommt herbei! Die Spanier leiden Not. Bringt Speise, frisches Wasser, alles, was nötig ist.« Die Mexikaner wagten nicht mehr hinzugehen, große Furcht lag über ihnen wie bei der Nähe eines Jaguars. Dennoch wurde gebracht, was die Spanier brauchten, wenn auch mit Furcht.

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antonio pigafetta Magellan-Straße Von fünf Schiffen mit über zweihundert Mann Besatzung kehrte nach drei Jahren eines mit achtzehn abgezehrten, kranken Seeleuten nach Andalusien zurück. Der italienische Mathematiker, Geograph und Astronom Antonio Pigafetta (* um 1480; nach †1534) war einer von ihnen. In den frühen Kopien, die von dem verlorenen Original erhalten blieben, behauptet sich dessen klare Sprache, die allein für die Authentizität des Berichts bürgen kann. Genauso wie ein Erzähler vom Format eines Cervantes läßt sich ein großer Reporter wie Pigafetta nicht kaputtübersetzen.

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atagonier. – Unser Kapitän gab diesem Volk wegen seiner großen Füße den Namen Patagonier.

tiere. – Der Hafen, in dem wir ankerten, war reich an Muscheln. Wir fanden eine Anzahl sogenannter Missiglioni, die kleine Perlen enthielten, aber nicht eßbar sind. Ferner fanden wir in diesem Lande Strauße, Füchse, Sperlinge und Kaninchen. Diese Kaninchen sind viel kleiner als die bei uns daheim. Die Bäume liefern Räucherwerk.

anschlag auf magellan. – In diesem Hafen verschworen sich die Kapitäne der vier anderen Schiffe, den Generalkapitän zu ermorden. Die Verräter waren Juan de Cartagena, Veedor der Armada, Luis de Mendoza, Schatzmeister, Antonio de Cosa, Contador, und Gaspar de Queseda. Ich hatte schon vorher mehrmals gesehen, daß die vier die Köpfe zusammensteckten und leise miteinander sprachen. Wahrscheinlich berieten sie, auf welche Weise sie den Generalkapitän aus der Welt schaffen könnten. Weshalb sie ihn töten wollten, weiß ich nicht. Ich vermute, daß sie entweder diese Fahrt nicht fortsetzen wollten oder daß sie ihr Haß dazu getrieben hatte. Aber die Heilige Jungfrau wollte, daß der Generalkapitän seine Fahrt fortsetzen und noch viele andere bisher unbekannte Eilande und Länder entdecken konnte. Die Verschwörung wurde entdeckt, und der Generalkapitän selbst sprach die Urteile. Juan de Cartagena wurde vor aller Augen gevierteilt, nachdem ihm die Gnade einer letzten Beichte er-

wiesen worden war, Luis de Mendoza entkam nur dadurch demselben Ende, daß er trotz seiner Fesseln zu flüchten versuchte und bei diesem Fluchtversuch erstochen wurde. Nur Gaspar de Queseda wurde vom Generalkapitän begnadigt. Dadurch zog sich der Generalkapitän den Haß aller jener zu, die heimliche Gefolgsleute der Hingerichteten gewesen waren. Unter ihnen war Esteban Gomez, ein Steuermann, der es als Schande empfand, daß er unter einem Portugiesen dienen mußte. Er weinte bitterlich, als Juan de Cartagena hingerichtet wurde, und versuchte, auch mich für die Verschwörer zu gewinnen. Ich wies ihn ab, aber ich unterließ es, dem Generalkapitän von diesem schnöden Versuch zu berichten. Es verstrich nicht viel Zeit, bis ich das bereute.

schiffbruch. – Das Schiff »Santiago« wurde nach Süden geschickt, um die Küste nach einer Durchfahrt abzusuchen. Es scheiterte zwischen Riffen, aber die ganze Mannschaft wurde wie durch ein Wunder gerettet. Zwei Matrosen schlugen sich zu Fuß nach dem Hafen durch, in dem wir ankerten, und berichteten uns von dem Unglück. Sofort schickte der Generalkapitän mehrere Mann mit einigen Säcken Zwieback ab. Die Mannschaft des gescheiterten Schiffes hielt sich volle zwei Monate an dem Ort auf, wo sie Schiffbruch erlitten hatte, um die Trümmer des Schiffes und die Waren zu sammeln, die das Meer nach und nach ans Land spülte. Während dieser Zeit mußte sie ständig mit Lebensmitteln versorgt werden, was nicht leicht 107

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fiel, da die Entfernung 25 Leghe [etwa 140 km] betrug und der Weg sehr beschwerlich und ermüdend war. Er führte durch dornige Sträucher, und wer ihn ging, mußte mehrere Nächte im Freien zubringen und hatte kein anderes ­Getränk als Eis, das in Stücke gebrochen und aufgelöst werden mußte.

führte, denn er hatte diese auf einer Karte gesehen, die von Martin Behaim, einem vortrefflichen Kosmographen, gezeichnet worden war und vom König von Portugal aufbewahrt wurde. Er sandte deshalb zwei Schiffe, die »San Antonio« und die »Concepcion« aus, um zu untersuchen, wie weit sich diese Bucht erstreckte. Die beiden anderen Schiffe, die »Trinidad« und die »Victoria«, warteten am Eingang der Bucht.

monte christo. – Wir errichteten auf dem Gipfel eines nahe gelegenen Berges, dem wir den Namen Monte Christo gaben, ein Kreuz und ergriffen von diesem Lande im Namen des Königs von Spanien Besitz. Als wir uns auf der Rückkehr zu den Schiffen befanden, stürzte unvermutet der Priester, der das Kreuz gesegnet hatte, auf den Generalkapitän los und versuchte, ihm ein Messer in die Brust zu stoßen. Er wurde von Magellans Getreuen ergriffen, in Ketten gelegt und auf der »San Antonio« einem peinlichen Verhör unterzogen. Nach langem Stillschweigen gestand er, von Gaspar de Queseda angestiftet worden zu sein, den Generalkapitän zu ermorden. Alle warteten nun darauf, daß auch Gaspar de Queseda ergriffen und später gevierteilt werden würde. Aber Magellan wagte es nicht, den Verräter hinrichten zu lassen, weil dieser vom Kaiser selbst zum Kapitän ernannt worden war. Er wies ihn und seinen Mitschuldigen, den Priester, vom Geschwader und ließ beide bei den Patagoniern zurück.

36 stunden sturm. – In der Nacht überfiel uns ein furcht-

río santa cruz, 14. september. – Auf der Weiterfahrt

die meerenge gefunden. – Zwei Tage waren inzwi-

fanden wir etwa 30 Leghe südwärts unter 50º40’ mittäglicher Breite den von Juan Serrano entdeckten Fluß Santa Cruz. Hier geriet die ganze Flotte infolge wütender Winde, die ­einen hohen Seegang verursachten, in Gefahr, Schiffbruch zu erleiden. Aber Gott und die heiligen Feuer kamen uns zu Hilfe und retteten uns. Hier blieben wir ungefähr zwei Monate, um die Schiffe mit Wasser und Holz zu versorgen. Auch Fische fingen wir, die ungefähr zwei Fuß lang, stark mit Schuppen bedeckt und gut zu essen sind. Aber es gelang uns nicht, so viele zu fangen, um unseren Hunger stillen zu können. Auf unserer Weiterfahrt in südlicher Richtung sichteten wir am 21. Oktober unter 52º südlicher Breite ein Vorgebirge, das wir Cabo de las 11 000 Virgines nannten, weil dieser Tag ihnen gewidmet war. Die ganze Schiffsmannschaft war so sicher, daß die hinter diesem Vorgebirge liegende Bucht keinen Ausweg nach Westen besitze, daß es niemanden außer dem Generalkapitän eingefallen wäre, einen solchen zu suchen. Magellan wußte jedoch, daß der Weg durch eine sehr verborgene Meerenge

schen verflossen, ohne daß wir diese zwei zur Untersuchung der Bucht ausgesandten Schiffe wieder erscheinen sahen. Daher nahmen wir an, daß sie Opfer des Sturmes geworden waren, den wir selber zu spüren bekommen hatten. Gegen Mittag sahen wir auf dem Lande Rauchsäulen, und daraus schlossen wir, daß sich ein Teil der Mannschaft hatte retten können und uns nun ein Zeichen gab. Während wir noch überlegten, wie wir den Überlebenden zu Hilfe kommen könnten, sahen wir die beiden Schiffe. Sie kamen mit vollen Segeln und wehenden Flaggen auf uns zu und gaben einige Kanonenschüsse ab. Die Mannschaft ließ ein Freudengeheul hören. Wir taten dasselbe und erfuhren, daß sie die Fortsetzung der Bucht oder vielmehr die Meerenge gefunden hätten. Nun sanken wir alle in die Knie und dankten Gott und der heiligen Maria.

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barer Sturm, der 36 Stunden dauerte und uns zwang, die Ankertaue zu kappen und die Schiffe der Willkür der Fluten und des Sturmes zu überlassen. Auch den beiden ausgesandten Schiffen erging es nicht besser als uns. Der Sturm machte es ihnen unmöglich, um das Kap herum zurückzukehren, und so mußten sie sich hilflos gegen das Innere der Gegend treiben lassen, das sie für eine Bucht hielten, gewärtig, jeden Augenblick zu scheitern. Gerade als sie sich für verloren ansahen, erblickten sie eine Öffnung, in die sie einlaufen konnten. Sie merkten, daß dieser Kanal nicht verschlossen war, und änderten deshalb ihre Richtung nicht. Dadurch gelangten sie in eine zweite Bucht, in der sich, sobald sich das Unwetter beruhigt hatte, weitersegelten, bis sie wiederum in eine Bucht gelangten, die größer als die beiden anderen war. Nun hielten sie es für notwendig, umzukehren, um dem Generalkapitän Nachricht von ihrer Entdeckung zu geben.

beratung. – Selbst jetzt noch, vor dem Ziel, hatte Magellan seine ganze Beharrlichkeit und Ausdauer nötig, um die anderen zu der Durchfahrt durch die Straße zu bewegen. Er berief in der Nähe des Vorgebirges der Jungfrauen seine Kapitäne, Piloten und Kosmographen zu sich, um sich mit ih-

1520 – antonio pigafetta – magellan-strasse

nen zu beraten. In dieser Versammlung wurde festgestellt, daß die Lebensmittel höchstens noch für drei Monate reichten. Dennoch waren die meisten, da sie den Generalkapitän so vertrauensvoll sahen, guten Mutes und zur Fortsetzung der Fahrt bereit. Einer der Piloten jedoch, ein Portugiese von dem Schiff »San Antonio«, der auf den Namen Esteban Gomez hörte, war der Meinung, daß die Lebensmittel nicht ausreichen würden, weil die Flotte nach dieser Straße vermutlich noch durch viele andere große Golfe segeln müsse, um zu dem ersehnten Ziel zu gelangen. Daher schlug er vor, nach Spanien zurückzukehren und mit einer besser ausgerüsteten Flotte und einer neuen Mannschaft die Fahrt zu unternehmen. Gomez’ Ansehen war groß, und seine Ansicht hatte bei den anderen viel Gewicht. Magellan aber erwiderte ihm, daß er durch diese Straße fahren werde, um sein dem König gegebenes Wort einzulösen, selbst dann, wenn er wüßte, daß er das Leder am Segelwerk der Schiffe verzehren müsse. Hierauf ließ der Generalkapitän durch einen Herold auf allen Schiffen verkünden, daß bei Todesstrafe niemand mehr von einer Umkehr oder dem Mangel an Lebensmitteln sprechen dürfe.

1. november. – Das ganze Geschwader fuhr in die Meeresstraße hinein. Hier wurden wir – im Südosten und im Südwesten – zweier Öffnungen oder Kanäle gewahr. Ein Boot wurde zur Küste geschickt, um diese rauhe und kalte Gegend zu ­erkunden. Unsere Matrosen fanden in der Nähe des Strandes eine Grabstätte mit mehr als zweihundert Gräbern und eine große Menge von Knochen toter Fische, was auf heftige und zahlreiche Stürme schließen ließ. Im Süden der Meerenge erblickten wir des Nachts viele Feuer, die den Generalkapitän ­veranlaßten, dem Lande den Namen Tierra de los fuegos zu ­geben.

Er hatte, kurz bevor letzterer nach Spanien gekommen war, den König um einige Karavellen gebeten, mit welchen er eine Entdeckungsreise unternehmen wollte. Da nun Magellan sein Vorhaben bekanntgegeben hatte, erhielt er keine Schiffe und wurde nur Steuermann, während er sich schon der Hoffnung hingegeben hatte, Kapitän zu werden. Er verband sich mit den Spaniern seiner Mannschaft, und sie legten den Kapitän der »San Antonio«, Alvaro de Mezquita, einen Neffen des Generalkapitäns, in Ketten, wobei sie ihn sogar verwundeten. Im Schutz der Nacht traten sie die Rückfahrt nach Spanien an. Auf ihrem Schiff befand sich einer der zwei gefangenen Riesen, der starb, als sie die heiße Zone erreichten.

sardinenfluss. – Die »Concepcion«, die außerstande war, der »San Antonio« zu folgen, kreuzte am Eingang des Kanals, auf die Rückkehr des anderen Schiffes wartend. Sie wartete umsonst, denn die »San Antonio« war in der Nacht durch die Straße, durch die wir gekommen waren, entflohen. Wir waren indes mit den beiden anderen Schiffen zu dem Kanal gesegelt, der sich nach Südwesten öffnete. Hier gelangten wir zu einem Fluß, den wir Fiume delle Sardine nannten, weil wir diese Fische überall im Meer in großen Scharen erblickten. Wir ankerten und warteten vier Tage lang auf die »Concepcion« und die »San ­Antonio«.

das ersehnte kap. – Während dieser Zeit schickten wir ein gut ausgerüstetes Boot ab, das Kap des anderen Meeres zu suchen. Es kehrte nach drei Tagen zurück, und die Matrosen berichteten uns, daß sie das Kap und ein großes Meer gesehen hätten. Der Generalkapitän weinte, als er das hörte, vor Freude und nannte das Kap El Cabo deseado. Er gab ihm den richtigen Namen, denn wir hatten lange genug darauf gewartet, dieses Kap endlich zu erreichen. Damit hatten wir eines der großen Ziele unserer Fahrt erreicht. Aber noch viele andere warteten auf uns.

8. november. – Der Generalkapitän schickte nun die beiden Schiffe »San Antonio« und »Concepcion« gegen Süden, damit sie erforschten, ob man durch einen der beiden Kanäle in ein Meer gelangen könne. Die »San Antonio« segelte jedoch sofort mit vollen Segeln ab, ohne auf die »Concepcion« zu warten. Sie trug sich, wie wir später erfuhren, mit der Absicht, die »Concepcion« zurückzulassen, denn der Steuermann wollte die Dunkelheit der Nacht nützen, um nach Spanien zurückzukehren.

esteban gomez. – Dieser Steuermann, Esteban Gomez, war, wie ich schon berichtet habe, Magellan feindlich gesinnt.

17. november. – Wir kehrten nun zurück, um uns mit den beiden anderen Schiffen zu vereinigen, fanden aber nur die »Concepcion« vor. Ihr Kapitän und Steuermann, Juan Serano, den wir fragten, was aus der »San Antonio« geworden sei, antwortete, daß er sie nicht wieder gesehen hätte, seit sie in den Kanal hineingesegelt wäre. Wir begannen sie nun zu suchen, durch die ganze Meerenge bis in den Golf. Der Generalkapitän schickte die »Victoria« sogar bis zum Eingang der Meerenge zurück, mit dem Befehl, auf einem Hügel eine Flagge anzubringen und darunter in einem Gefäß einen Brief zu hinterlegen, in dem der »San Antonio« Anweisung gege109

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

ben wurde, welchen Weg sie zu nehmen hatte, um sich dem Geschwader wieder anzuschließen. Außerdem wurden noch zwei weitere nicht zu übersehende Zeichen aufgepflanzt: das eine auf einer Felsnase in der ersten Bucht, das zweite auf einer kleinen Insel in der dritten Bucht, wo sich zahlreiche Seewölfe und Vögel aufhielten. Der Generalkapitän wartete mit der »Trinidad« und der »Concepcion« beim Fluß Isleo, der sich, von hohen, schneebedeckten Bergen herabkommend, beim Sardellenfluß ins Meer ergießt. Hier errichteten wir auf einer kleinen Insel ein hölzernes Kreuz, nachdem wir das Eiland für unseren Kaiser in Besitz genommen hatten.

Hätten wir diese Meerenge, die aus einem Ozean in den anderen führt, nicht entdeckt, wäre Magellan entschlossen gewesen, die Fahrt bis zum 75º südlicher Breite fortzusetzen, wo es im Sommer überhaupt keine oder eine nur sehr kurze Nacht gibt, während es im Winter nicht Tag wird. In der Meerenge selbst dauerte die Nacht im Oktober nur drei Stunden, und auch während dieser Zeit war sie so hell, daß man weithin sehen konnte. Auf unseren Schiffen waren nun alle wieder guten Mutes, wohl deshalb allein schon, weil wir eine Meeresstraße gefunden hatten, die vor uns von vielen vergeblich gesucht worden war. Auch mich, Eure Hochwohlgeboren, erfüllte es mit Stolz, unter jenen zu sein, welche diese ruhmreiche und bedeutungsvolle Tat vollbracht hatten. Nur das Ausbleiben der »San Antonio« erfüllte uns mit Sorge, obwohl wir nicht glaubten, daß sie auf ein Riff gestoßen und geborsten sei.

die meerenge. – Wir nannten die Meerenge Estrecho patagonico, der Generalkapitän taufte sie Canal de todos los Santos, da dieser Tag auf den 1. November fällt.

1526

bartolomé de las casas Die Christen in Yucatán Er galt als der erste Christ in der Neuen Welt – und auch schon als einer der ersten Sozialrevolutionäre: der in Santo Domingo zum Priester geweihte Dominikaner-Mönch Bartolomé de Las Casas (1484–1566). Sein 1541/42 niedergelegter kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder bestimmte in Europa weit herum das Bild der spanischen Politik in der Neuen Welt. In Spanien, wo die Konquistadoren stets gegen die Kirche das letzte Wort behielten, blieb er bis ins 20. Jahrhundert ein schizophrener Nestbeschmutzer.

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jahr eintausendfünfhundertsechs­ undzwanzig ward ein anderer boshafter

Mensch zum Gouverneur der Provinz Yucatán ernannt, weil er den König mit Unwahrheit berichtete und lügenhafte Vorschläge tat. So machten es gewöhnlich alle dortigen Tyrannen bis auf den heutigen Tag, damit sie zu Ämtern kamen und Aufträge erhielten, vermöge deren sie ungestraft rauben konnten. Das Königreich Yucatán war gepfropft voll Menschen; denn es ist ein großes gesundes Land, das Lebensmittel im Überfluß hat, und noch weit fruchtbarer ist, als Mexi110

co. Besonders gibt es so viel Wachs und Honig daselbst, als man bis jetzt noch in keiner Gegend Indiens angetroffen hat. Im Umkreise mag dies Reich ungefähr dreihundert Meilen enthalten. Seine Bewohner zeichnen sich vor allen andern Indianern durch Klugheit und politische Verfassung aus. Bei ihnen traf man noch weit weniger Sünden und Laster, als bei allen übrigen an. Sie waren vorbereitet und würdig, zur wahren Erkenntnis Gottes geführt zu werden. Hier hätten die Spanier große Städte erbauen, und wie im irdischen Paradiese leben können, wenn sie dessen wert gewesen wären.

1526 – bartolomé de las casas – die christen in yucatán

Allein ihres Geizes, ihrer Gefühllosigkeit und ihrer schweren Verbrechen wegen, verdienten sie es nicht, und waren dieses Landes ebensowenig als so vieler andern wert, die ihnen Gott in Indien zeigte. Dieser Barbar fing damit an, daß er die guten schuldlosen Leute, die friedlich in ihren Wohnungen lebten und niemand das geringste zuwidertaten, mit dreihundert Mann, die er bei sich hatte, auf die grausamste Art bekriegte, und eine große Anzahl von ihnen ermorden ließ. Da dies Land kein Gold enthielt – denn hätte er nur ein Stückchen Gold darin gefunden, so würde er sie in die Bergwerke geschickt haben, wo sie ohnedies umgekommen wären –, so beschloß er, diese Menschen, für welche Jesus Christus sein Leben gab, mit Leib und Seele in Gold zu verwandeln. Er machte demnach diejenigen, welche er nicht umbrachte, samt und sonders zu Sklaven; und da überall, wo man Sklaven witterte, eine Menge Schiffe bei der Hand waren, so ließ er dieselben schwer genug mit Menschen beladen, verhandelte sie gegen Wein, Öl, Weinessig, Speck, Kleidungsstücke, Pferde, kurz gegen alles, was entweder er oder seine Gefährten vonnöten hatten, und verfuhr hierbei nach Gutdünken. Er ließ jedem freie Wahl, unter fünfzig bis hundert Mädchen sich dasjenige auszusuchen, das ihm am besten gefiel, und nahm dann eine Arrobe Wein, Öl, Essig oder auch wohl eine Speckseite dafür. Um denselben Preis war ein hübscher Junge zu haben, der unter zwei- bis dreihundert andern ausgesucht ward; ein anderer aber kostete nur so und so viel. Es ereignete sich unter andern, daß man einen jungen Menschen, der eines Fürsten Sohn zu sein schien, um einen Käse weggab, hundert andere Personen aber gegen ein Pferd vertauschte. Mit solchen Dingen beschäftigte er sich vom Jahr eintausendfünfhundertsechsundzwanzig bis dreiunddreißig, also sieben volle Jahre. Während derselben verheerte und entvölkerte er jene Gegend unaufhörlich und opferte die darin befindlichen Menschen ohne Gnade und Barmherzigkeit auf. Endlich aber erscholl die Nachricht von den Schätzen Perus; und da alle Spanier, welche er bei sich hatte, dahin wollten, so ließen jene Höllenplagen einige Zeit nach. Gleich nachher begingen seine Untergebenen wieder andere große Missetaten, Diebstahl, Menschenraub und dergleichen schwere Verbrechen gegen Gott. Noch bis auf den heutigen Tag werden dergleichen begangen, so daß jener Bezirk von dreihundert Meilen, welcher ehedem, wie ich bereits sagte, so außerordentlich mit Menschen besetzt war, gegenwärtig fast ganz entvölkert ist. Es dürfte schwer sein, alle die einzelnen Grausamkeiten, die hier begangen wurden, zu beschreiben und Glauben zu finden. Ich will nur zwei oder drei derselben anführen, die

mir so eben beifallen. Die Spanier suchten die Indianer, sowohl Männer als Weiber, mit wilden Hunden auf, die ihrer Spur folgten. Da nun einst eine kranke Indianerin sah, daß sie diesen Hunden nicht entfliehen könne, und, gleich andern, von ihnen zerrissen werden würde; so nahm sie einen Strick, band sich ihr Kind, das nur erst ein Jahr alt war, an den einen Fuß, und erhing sich dann an einem Balken. Kaum war sie fertig damit, als die Hunde kamen und das Kind stückweise zerrissen; doch ward es noch vor seinem Ende von einem Ordensgeistlichen getauft. Als die Spanier sich aus diesem Reiche entfernten, sagte einer von ihnen zu dem Söhnchen eines vornehmen Herrn, dem ein gewisser Ort oder wohl gar eine große Provinz gehörte, er solle ihn begleiten. Der Knabe erwiderte: er wolle sein Vaterland nicht verlassen. Komm den Augenblick mit, sagte der Spanier, oder ich schneide dir die Ohren ab. Nein, sagte der Knabe. Darauf zog der Spanier seinen Dolch heraus, und schnitt ihm das erste Ohr ab, dann auch das andere. Da nun der Knabe noch immer sagte, er wolle sein Vaterland durchaus nicht verlassen; so schnitt er ihm auch die Nase ab, und lachte dann, daß man hätte sagen sollen, er habe ihm kein Härchen gekrümmt. Dieser nämliche Bösewicht rühmte sich einst gegen einen ehrwürdigen Geistlichen, und sagte unter andern auf die schamloseste Weise: er gehe recht darauf aus, so viele Indianerinnen zu schwängern, als er nur könne; denn wenn sie in andern Umständen wären, und er sie hernach als Sklavinnen verkaufte, so bekäme er desto mehr Geld dafür. In diesem Reiche, oder in dieser Provinz von Neu-Spanien, pflegte ein gewisser Spanier mit seinen Hunden zuweilen Kaninchen und anderes dergleichen Wildpret zu fangen. Eines Tages fand er nichts zu jagen, und es schien ihm, als hätten seine Hunde Hunger, da nahm er ein Knäbchen, welches er seiner Mutter entriß, hieb ihm mit seinem Dolch von Armen und Beinen ein Stück nach dem andern herunter, und gab jedem Hunde sein Teil davon. Als sie nun diese Stücke gefressen hatten, warf er das Körperchen auf die Erde, damit sie es zusammen verzehrten. Hieraus kann man sehen, wie unbarmherzig die Spanier in diesen Ländern hauseten; welchergestalt Gott sie ganz in verkehrtem Sinn dahin gab; wie wenig sie jene Menschen achteten, die Gott doch gegebenfalls nach seinem Bilde erschaffen, und für welche er sein Blut vergossen hatte. Weiter unten werden wir noch schrecklichere Dinge vernehmen. Ich übergehe unzählige andere unerhörte Grausamkeiten, welche die sogenannten Christen in diesem Reiche verübten; denn kein menschlicher Verstand würde sie alle fas111

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

sen können. Nur dies einzige führe ich zum Beschluß noch an. Als alle diese teuflischen Barbaren, welche die Schätze Perus verblendeten, in vollem Taumel abmarschiert waren, fand sich Pater Jacobo vom Franziskaner-Orden, nebst vier andern seiner Mitbrüder, bewogen, dies Reich zu besuchen. Sie sämtlich hatten die Absicht, die Überbleibsel jenes Volkes, welche nach einer so höllischen Weinlese, wie die Spanier gehalten, und nach so vielen Mordtaten, welche sie sieben Jahre nacheinander begangen hatten, noch vorhanden waren, zu sammeln, zu trösten, ihnen Jesum Christum zu predigen, und sie demselben zuzuführen. Ich glaube, daß dies die nämlichen Geistlichen waren, zu welchen gewisse Indianer der Provinz Mexico im Jahr eintausendfünfhundertvierunddreißig einige Abgeordnete schickten. Sie fanden nämlich für gut, besagte Geistliche in ihr Land zu berufen, damit sie ihnen richtige Begriffe von dem einzigen Gott beibringen möchten, welcher der wahre Gott und Herr des ganzen Weltalls sei. Lange beratschlagten sie sich untereinander, hielten häufige Zusammenkünfte, zogen zum öftern vorläufige Nachrichten ein, was das wohl für Menschen sein möchten, die sich Patres und Ordensgeistliche nennten, was sie eigentlich begehrten, und worin wohl der Unterschied zwischen ihnen und jenen Christen bestehe, von welchen sie so viele Ungerechtigkeiten und Elend erduldet hatten; endlich aber beschlossen sie, ihnen den Zutritt zu erstatten, doch unter der Bedingung, daß sie allein kommen und keine Spanier mitbringen sollten. Dies versprachen die Geistlichen; denn sie hatten vorher die Bewilligung des Vizekönigs von Neu-Spanien darüber eingeholt und den Auftrag erhalten, sie sollten versprechen, daß keine andere Spanier, als nur Geistliche, in ihr Land kommen würden, und daß ihnen überhaupt kein Leid widerfahren solle. Sie predigten ihnen hierauf, wie gewöhnlich, das Evangelium von Christo, und machten ihnen die heilsamen Absichten der Könige von Spanien in Rücksicht ihrer bekannt; die Indianer aber faßten eine solche Liebe für diese Geistlichen, fanden so viel Geschmack an ihrer Lehre, erbaueten sich dergestalt an ihrem Wandel, und freueten sich so sehr über die Nachricht von den Königen Castiliens – denn die Spanier hatten sie ganze sieben Jahre hindurch in dem Wahn gelassen, es sei kein anderer König, als nur der, welcher sie martern und umbringen lasse –, daß die Caziquen den Ordensgeistlichen, nachdem sie etwa vierzig Tage im Lande waren und gepredigt hatten, alle ihre Götzenbilder brachten und auslieferten, damit sie dieselben verbrennen möchten. Gleich nachher gaben sie ihnen ihre Kinder zu unterrichten, die sie wie das Licht ihrer Augen liebten, baueten ihnen

Bethäuser, Tempel und Wohnungen, und luden sie nach andern Provinzen ein, damit sie daselbst predigen, und ihnen Begriffe von Gott und demjenigen geben möchten, den sie den großen König von Castilien nannten. Auf Zureden der Geist­lichen taten sie nachmals etwas, dergleichen bis auf den heutigen Tag nicht wieder in Indien geschah. Denn alles was von verschiedenen Tyrannen ausgesprengt wurde, welche jene Länder und Reiche verwüsteten, ist unwahr und erlogen. Zwölf bis fünfzehn große Heere, die viel Land und Untertanen hatten, beriefen dieselben, jeder die seinigen besonders, zusammen, ließen sie votieren, unterwarfen sich hierauf der Oberherrschaft des Königs von Castilien aus freiem Triebe, erkannten den Kaiser, als König von Spanien, für ihren Oberherrn, und gaben darüber verschiedene Bestätigungszeichen, die ich, nebst dem schriftlichen Zeugnis der Geistlichen, in Händen habe. Während nun diese Geistlichen mit großer Freudigkeit und vielem Segen am Glaubenswerk arbeiteten, und die stärkste Hoffnung hatten, alle noch übrigen Einwohner dieses Reichs, welche von Krieg und Mord verschont worden waren, und deren Anzahl sich ziemlich hoch belief, zu Jesu Christo zu führen; langten in einer gewissen Provinz achtzehn spanische Barbaren zu Pferde und zwölf zu Fuße an, so daß ihrer zusammen dreißig waren. Sie hatten ganze Lasten Götzenbilder bei sich, die sie den Indianern in andern Provinzen weggenommen hatten. Der Anführer dieser dreißig Spanier ließ den Herrn des Landes, in welches sie eingefallen waren, zu sich kommen, und sagte zu ihm: er müsse diese Götter ihm abnehmen, sie in seinem ganze Lande verteilen, und für jeden derselben einen Indianer oder eine Indianerin als Sklaven verkaufen; wobei er ihm zugleich drohte, man werde widrigenfalls feindselig mit ihm verfahren. Aus Furcht sah also besagter Herr sich gezwungen, diese Götzen in seinem ganzen Lande zu verteilen. Er befahl seinen gesamten Untertanen, dergleichen zu nehmen, sie anzubeten, und ihm Indianer und Indianerinnen zu verschaffen, damit er sie den Spaniern als Sklaven überlassen könne. Die Indianer gerieten in Angst; wer zwei Söhne hatte, gab einen davon her, wer drei hatte, gab deren zwei; auf diese Art kam dies gotteslästerliche Geschäft zu Stande, und es gelang den Caziquen, die Spanier zu befriedigen. So waren sie Christen! Einer von diesen ruchlosen und höllischen Straßenräubern, namens Juan Gracia, welcher krank ward und am Tode lag, hatte zwei Lasten Götzenbilder unter seinem Bett stehen. Er befahl einer Indianerin, die ihn bediente, sie sollte ja recht sorgfältig damit umgehen, und sie nicht etwas auf dem Hühnermarkt verkaufen, denn sie wären sehr schön, und sie 112

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könne für jedes einen Sklaven bekommen. Nach diesem Vermächtnis, und mit solchen Gedanken beschäftigt, starb der unselige Mensch; und wer sollte wohl zweifeln, daß er geraden Weges zur Hölle gefahren sei? Hieraus kann man abermals ersehen und wahrnehmen, wie die Spanier, welche nach Indien gehen, das Beste der Religion befördern, und was für herrliche Beweise sie von ihrem Christentum geben; wie sehr ihnen die Ehre Gottes am Herzen liegt; wie besorgt sie sind, damit er von jenen Völkern erkannt und angebetet werde; wie eifrig sie darauf sehen, daß seine heilige Religion unter diesen Seelen sich immer weiter verbreite, und an Wachstum gewinne! Und nun entscheide man einmal, ob wohl dergleichen Sünden geringfügiger sind als die des Jerobeam, der ganz Israel zur Sünde verführte, da er die zwei goldenen Kälber verfertigte, damit das Volk sie anbeten sollte; oder ob sie nicht jener des Judas gleichkomme, und welche von beiden wohl das größte Ärgernis gaben. Dies sind endlich die guten Werke der Spanier, die sich nach Indien begaben, daß sie in Wahrheit Jesum Christum unzähligemal verkauften, verleugneten, und ihn noch täglich verkaufen und einmal über das andre verleugnen. Nun sahen die Indianer, daß dasjenige nicht wahr sei, was ihnen die Ordensgeistlichen versprochen hatten. Es sollten nämlich keine Spanier in diese Provinz kommen, und dennoch brachten ihnen diese nämlichen Spanier Götzen aus anderen Gegenden zum Verkauf. Gleichwohl hatten sie ihre eigenen Götzen samt und sonders den Geistlichen ausgeliefert, damit sie dieselben verbrannten, weil sie den einzigen wahren Gott anbeten wollten. Darüber geriet nunmehr das ganze Land in Aufruhr und Zorn gegen die Geistlichen. Die Indianer kamen haufenweise zu ihnen, und sagten: Warum habt ihr uns belogen? Warum gabt ihr fälschlich vor, es sollten in dies Land keine Christen kommen? Warum habt ihr uns unsere Götter verbrannt, da uns doch eure Christen andere Götter aus anderen Provinzen bringen, und uns zwingen, sie zu kaufen? Waren unsere Götter etwa nicht besser als die Götter der übrigen Völker? – die Ordensgeistlichen besänftigten sie, so gut sie konnten, wußten aber eigentlich selbst nicht, was sie antworten sollten. Sogleich aber suchten sie jene dreißig Spanier auf, erzählten ihnen,

welches Unheil sie angerichtet hätten und verlangten, sie sollten sich hinwegbegeben. Allein diese wollten nicht, sondern machten vielmehr den Indianern weis, diese nämlichen Geist­lichen hätten sie dorthin berufen; welches die abgefeimteste Bosheit war. Endlich beschlossen die Indianer, diese Mönche zu ermorden; sie entflohen aber bei Nachtzeit mit Beihilfe einiger Indianer, welche sie warnten. Als sie fort waren und die Indianer sowohl die Tugend und Unschuld dieser Geistlichen, als die Bosheit der Spanier einsahen, schickten sie ihnen Boten auf fünfzig Meilen nach, ließen sie bitten, zurückzukommen, und ihnen das Schrecken, welches man ihnen verursacht habe, zu verzeihen. Die Geistlichen, welche sehr eifrige Knechte Gottes und sehr besorgt um diese Seelen waren, glaubten ihnen, kamen wieder in ihr Land zurück, wurden von den Indianern wie Boten des Himmels empfangen, aufs beste bedient, und blieben nachher noch vier bis fünf Monate daselbst. Da nun aber erwähnte Christen dies Land durchaus nicht verlassen wollten, sie auch der Vizekönig, trotz allem, was er anwandte, und ungeachtet er sie für Landverräter erklärte, durchaus nicht vertreiben konnte, weil es zu weit von NeuSpanien lag; da sie hiernächst ihre gewöhnlichen Tücken gegen die Indianer nicht unterließen: so fürchteten die Geistlichen, die Indianer möchten dergleichen Bosheiten über kurz oder lang ahnden, und dann möchte vielleicht alle Schuld auf sie fallen. Da sie nun noch überdies den Indianern das Evangelium nicht in Ruhe und in seiner ganzen Kraft predigen konnten, sondern vielmehr durch die Freveltaten der Spanier unaufhörlich beunruhigt wurden; so beschlossen sie, aus diesem Reiche zu wandern. Mithin blieb es ohne Licht und ohne Beihilfe der Lehre; jene Seelen aber versanken wieder in die tiefste Ungewißheit und in das nämliche Elend, worin sie sich vorher befanden. Man wartete nunmehr auf einen bessern Zeitpunkt, sie durch die wahre Erkenntnis Gottes, welche sie schon mit der größten Begierde annahmen, zu erquicken und vom Verderben zu retten. Dies war gerade so, als wenn man Pflanzen, die erst seit wenig Tagen frisch getränkt wurden, das Wasser entzöge. Und alles dies geschah durch das unverzeihbare Verschulden und durch die grenzenlose Bosheit der Spanier.

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michel de montaigne Konquistadoren Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) gilt als der Begründer der Essayistik – oder, sagen wir besser, der modernen Essayistik, denn die Alte Welt war überreich an Essayisten aller Art. Von den Gegenständen, an denen Montaigne sich versucht, hat er oftmals erst noch zu berichten; so auch hier in seinem Konquistadoren-Fragment. Nicht jeder, aber mancher Essay ist zugleich eine Reportage, aber jede Reportage, die den Namen verdient und zu denken anfängt, ist zugleich ein Essay.

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nsere welt hat neulich eine andere entdeckt (und wer steht uns dafür, ob es die letzte ihrer

Schwestern ist, nachdem weder die Orakel, noch die Sibyllen, noch wir bis dahin von dieser gewußt haben?), die nicht weniger groß, reich und gegliedert ist als die unsere, indessen so neu und noch so in der Kindheit, daß man sie noch das Abc lehrt: es sind noch keine fünfzig Jahre her, daß sie weder von Buchstaben, von Gewicht, von Maß, noch von Kleidung, von Getreide und von Wein etwas wußte. Sie lag noch ganz nackt im Schoße und nährte sich nur von der Brust ihrer Nährmutter. Wenn wir recht auf unsern Untergang schließen, und jener Dichter recht auf die Jugend seines Zeitalters schloß, so wird für diese neue Welt der Tag beginnen, wenn über der unseren die Nacht anbricht. Die Welt wird in Krämpfe fallen; der eine Teil wird gelähmt sein, der andere in voller Kraft stehen. Ich fürchte gar sehr, daß wir ihren Verfall und Untergang durch unsere Ansteckung sehr stark beschleunigt und ihr unsere Lehren und unsere Künste überaus teuer verkauft haben werden. Es war eine kindliche Welt; doch wir haben sie nicht kraft des Vorrangs unserer Tapferkeit und natürlichen Stärke unter unsere Rute und Zucht genommen, haben sie nicht durch unsere Gerechtigkeit und Güte für uns gewonnen, noch sie durch unsere Großmut überwunden. Die meisten ihrer Bescheide und der mit ihnen geführten Verhandlungen bezeugen, daß sie uns an Witz und natürlicher Klarheit des Geistes um nichts nachstanden. Die ungeheure Pracht ihrer Städte Cuzco und Mexiko und, neben allerlei ähnlichen Dingen, der Garten jenes Königs, in dem alle Bäume, Früchte und Kräuter nach der Ordnung und Größe, die sie in einem Garten haben, meisterlich aus Gold nachgebildet waren, wie in seinem Kabinett aller Tiere, die in seinem 114

Reich und in seinen Gewässern vorkamen; und die Schönheit ihrer Arbeiten aus edlen Gesteinen, aus Federn, aus Baumwolle und ihrer Werke der Malerei zeigen, daß sie uns auch an Kunstfleiß nicht nachgaben. Was aber die Frömmigkeit, die Beobachtung der Gesetze, die Güte, Freigebigkeit, Treue und Offenheit betrifft, ist es uns sehr zustatten gekommen, daß wir davon nicht so viel besaßen wie sie; durch diese Tugenden haben sie sich ins Verderben gestürzt und haben sich selbst verkauft und verraten. In Hinsicht auf Herzhaftigkeit und Mut, auf Entschlossenheit, Ausdauer, Standhaftigkeit gegen Schmerzen, Hunger und Tod würde ich mich nicht scheuen, die Beispiele, die ich unter ihnen fände, den ruhmvollen Beispielen des Altertums zur Seite zu stellen, die wir in den Denkwürdigkeiten dieser unserer Alten Welt besitzen. Denn was ihre Besieger angeht, so nehme man nur die Listen und Blendwerke von ihnen, deren sie sich bedienten, um sie zu täuschen, und das berechtigte Staunen, mit dem diese Völkerschaften so unversehens bärtige Menschen von ganz anderer Sprache, anderem Glauben, Gehaben und Körperbau, aus einem so entlegenen Winkel der Welt ankommen sahen, wo sie nie irgendwelche bewohnte Gegenden vermutet hatten, reitend auf großen, unbemannten Ungeheuern, gegen sie, die nicht nur nie ein Pferd, sondern überhaupt noch nie ein Tier gesehen hatten, das dazu abgerichtet war, einen Menschen oder eine andere Last zu tragen; ausgestattet mit einer harten und blinkenden Haut und einer scharfen, blitzenden Waffe, gegen sie, die für das glänzende Wunder eines Spiegels oder eines Messers einen ganzen Schatz von Gold und Perlen zum Tausch hergaben, und die weder die Kenntnis noch ein Metall besaßen, mit dem sie, auch wenn sie alle Muße dazu gehabt hätten, unsern Stahl hätten durchdringen

1586 – michel de montaigne– konquistadoren

können; fügt dazu noch den Blitz und Donner unserer Geschütze und Büchsen, die selbst Caesar hätten aus der Fassung bringen können, wenn man ihn ebenso unvorbereitet damit überrumpelt hätte, und dies nun gegen nackte Volksstämme, außer wo die Erfindung einiger Baumwollgewebe zu ihnen gedrungen war, ohne andere Waffen als höchstens Bogen, Steine, Prügel und hölzerne Schilder; unter dem Deckmantel der Freundschaft und der Redlichkeit überlistet und durch die Neugier, so fremde und unerhörte Dinge zu sehen, verführt: Man nehme, sage ich, den Eroberern diese ungleichen Waffen ab, und man nimmt ihnen alle Voraussetzungen so vieler Siege. Wenn ich die unbezähmbare Verwegenheit ansehe, mit der so viele Tausende von Männern, Frauen und Kindern für die Verteidigung ihrer Götter und ihrer Freiheit immer wieder den unentrinnbaren Gefahren trotzten und sich hineinstürzten; diese hochgemute Unbeugsamkeit, mit der sie lieber das Äußerste und Schwerste und den Tod selbst erdulden wollten, als sich der Herrschaft derer zu unterwerfen, von denen sie so schändlich hintergangen wurden, und wie manche als Gefangene lieber an Hunger und Fasten dahinstarben, als ihre Speise aus den von so schmählichem Siege besudelten Händen ihrer Feinde anzunehmen, dann glaube ich, wer sie auf gleichem Fuße, gleich an Waffen, Zahl und Erfahrung angegriffen hätte, der hätte ein ebenso gefährliches, ja ein gefährlicheres Spiel gewagt als in irgendeinem der Kriege, die wir kennen. Warum ist eine so herrliche Eroberung nicht Alexander oder den alten Griechen und Römern zugefallen, und warum geschah eine derartige Erschütterung und Umwälzung so vieler Reiche und Völker nicht unter Händen, die mit Milde bezähmt und gerodet hätten, was da noch in Wildheit war, und die den guten Samen, den die Natur ausgestreut hatte, gepflegt und entwickelt und zum Ackerbau und zur Zier der Städte nicht nur die Kunstfertigkeiten von diesseits des Meeres, soweit sie dort mangelten, sondern auch die griechischen und römischen Tugenden zu den eingeborenen des Landes hinzugesellt hätten! Welche Wiedergeburt wäre dies gewesen, und welch ein Aufschwung für dieses ganze Weltgetriebe, wenn unser erstes Beispiel und Auftreten vor ihren Augen diese Völker zur Bewunderung und Nachahmung der Tugend entflammt und zwischen ihnen und uns eine brüderliche Gemeinschaft und Eintracht aufgerichtet hätte! Wie leicht wäre es gewesen, aus so unberührten, so lernbegierigen Seelen, die meistenteils schon von Natur so schön begonnen hatten, reiche Früchte zu ziehen. Wir haben uns im Gegenteil ihrer Unwissenheit und Unerfahrenheit bedient, um sie nach dem Beispiel und Vorbild unserer Sitten desto leichter zum

Verrat, zur Ausschweifung, zur Habsucht und zu jeder Art von Unmenschlichkeit und Grausamkeit abzurichten. Wer hat jemals den Vorteil des Handels und Schachers so hoch angeschlagen? So viele Städte sind dem Erdboden gleichgemacht, so viele Völker ausgerottet worden, soviel Tausende und aber Tausende von Menschen mußten über die Klinge springen, und die reichste und schönste Weltgegend ward verwüstet, um mit Perlen und Pfeffer Handel zu treiben: kalte und tote Siege. Noch nie hat der Ehrgeiz und der Völkerhaß die Menschen gegeneinander zu so scheußlichen Gewalttaten getrieben und solchen Jammer verbreitet. In ihrer Fahrt entlang der Meeresküste auf der Suche nach ihren Goldminen gingen einige Spanier in einer fruchtbaren, lieblichen und stark bevölkerten Gegend an Land und gaben den Einwohnern ihre gewohnte Erklärung kund: Sie seien friedliche Leute, die von weiten Fahrten im Auftrage des Königs von Kastilien kämen, des mächtigsten Fürsten der bewohnten Welt, dem der Papst, der Stellvertreter Gottes auf Erden, die Herrschaft über beide Indien verliehen habe; wenn sie ihm untertänig sein wollten, würden sie sehr milde behandelt werden; begehrten von ihnen Lebensmittel zu ihrem Unterhalt und Gold, das sie zur Herstellung einer gewissen Arznei nötig hätten; ermahnten sie im übrigen zum Glauben an einen einzigen Gott und an die Wahrheit unserer Religion und forderten sie auf, diese anzunehmen, wobei sie einige Drohungen fallenließen. Die Antwort, die ihnen zuteil ward, lautete: Was ihre friedliche Gesinnung betreffe, so sähen sie nicht danach aus, falls sie wirklich so gesinnt seien; was ihren König angehe, müsse er arm und bedürftig sein, da er um Geschenke bitte; und jener, der ihm dieses Reich zugeteilt habe, müsse ein zanksüchtiger Mann sein, da er einem dritten schenke, was nicht ihm gehöre, um ihn mit den alten Besitzern in Händel zu verwickeln; Lebensmittel wollten sie ihnen liefern; Gold hätten sie wenig und achteten es gering, zumal es für die Notdurft ihres Lebens, das glücklich und annehmlich hinzubringen das einzige Ziel ihres Trachtens sei, zu nichts diene; indessen sollten sie nur ruhig mitnehmen, soviel sie davon finden könnten, das ausgenommen, was zum Dienst ihrer Götter bestimmt sei; was sie von einem einzigen Gott gesagt hätten, gefalle ihnen wohl, doch wollten sie nicht ihren Glauben ändern, bei dem sie sich lange Zeit so gut befunden hätten, und sie seien gewohnt, nur von ihren Bekannten und Freunden Rat zu nehmen; was ihre Drohungen angehe, sei es ein Zeichen von geringem Verstande, andere zu bedrohen, deren Wesen und Mittel man nicht kenne; so möchten sie sich denn beeilen, unverzüglich ihr Land zu räumen, denn es sei hier nicht Brauch, die Höflichkeiten und 115

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

Vorstellungen fremder und bewaffneter Leute gut aufzunehmen; ansonsten könnte es ihnen ergehen wie diesen andern, und dabei zeigten sie ihnen die Köpfe etlicher Leute, die vor ihrer Stadt enthauptet worden waren. Dies ist ein Beispiel des Gestammels dieser Kinder. Doch so viel steht fest, daß sich die Spanier weder hier noch an manchen andern Orten, wo sie die gesuchten Waren nicht fanden, lange aufhielten, noch irgendeine Niederlassung gründeten, so viele andere Reichtümer sich da auch finden mochten, wie meine Menschenfresser bezeugen können. Als sie den letzten der beiden mächtigsten Herrscher jener neuen und vielleicht auch der alten Welt vertrieben, dieser Könige so vieler Könige, nämlich den König von Peru, den sie in einer Schlacht gefangengenommen und von dem sie ein so ungeheuerliches Lösegeld erpreßten, daß es alle Vorstellung übersteigt, und da er es getreulich gezahlt und in seiner Rede und Antwort einen offenherzigen, freigebigen und standhaften Sinn und einen klaren, wohlgebildeten Verstand bezeugt hatte, überkam sie die Gier, nachdem sie ihm eine Million dreihundertfünfundzwanzigtausendfünfhundert Gewichte Goldes abgewuchert hatten, nicht gerechnet das Silber und andere Dinge, die sich ebenso hoch beliefen, so daß sie ihre Pferde nur noch mit gediegenem Golde beschlagen ließen, nun noch um den Preis gleich welcher Schändlichkeit in Erfahrung zu bringen, wie groß der Rest der Schätze dieses Königs sei, und auch das noch in ihre Gewalt zu bringen, was ihm verblieben war. Man belud ihn mit falschen Anklagen und Zeugnissen, daß er seine Provinzen aufzuwiegeln plane, um sich wieder zu befreien. Darauf verurteilte man ihn durch einen schönen Richterspruch derer, die ihm selbst diese Verräterei angedichtet hatten, öffentlich erhängt und erdrosselt zu werden, und erließ ihm die Qual des Feuertodes um den Preis der Taufe, die er auf dem Richtplatz selbst empfing. Ein entsetzliches und unerhörtes Geschick, das er indessen ohne ein Zeichen der Schwachheit in Wort und Würde erduldete. Und um danach das über diese höchst befremdliche Begebenheit bestürzte und aufgeschreckte Volk einzuschläfern, stellte man eine große Trauer über seinen Tod zur Schau und veranstaltete ihm ein prunkvolles Leichenbegängnis. Der andere, König von Mexiko, hatte seine belagerte Stadt lange verteidigt und in dieser Belagerung gezeigt, wie es nur je ein Fürst und ein Volk gezeigt haben, was Aufopferung und Beharrlichkeit vermögen, und sein Unglück lieferte ihn lebendig in die Hände seiner Feinde, doch unter der Übergabebedingung, daß er als König behandelt würde (und wirklich zeigte er sich in der Gefangenschaft nie dieses Titels unwürdig); da sie indessen nach diesem Siege nicht all die 116

goldenen Berge fanden, die sie sich davon versprochen hatten, und nachdem sie alles durchsucht und durchwühlt hatten, versuchten sie von den Gefangenen, die sie in Händen hatten, mit den scheußlichsten Foltern, die sie nur ersinnen konnten, Auskunft darüber zu erpressen. Als sie aber damit nichts ausrichteten, da die Herzen der Eingeborenen stärker als ihre Foltern waren, gerieten sie endlich in solche Wut, daß sie gegen ihr gegebenes Wort und gegen alles Völkerrecht den König selbst und einen höchsten Würdenträger seines Hofes verurteilten, einer in Gegenwart des andern gemartert zu werden. Als der Würdenträger dem Tode nahe war, von Schmerz überwältigt und umgeben von glühenden Kohlen, wandte er einen kläglichen Blick zu seinem Herrn, als wollte er ihn dafür um Vergebung bitten, daß er am Ende seiner Kräfte sei. Der König sah ihm stolz und streng in die Augen, und als Vorwurf seiner Feigheit und Kleinmütigkeit sprach er mit rauher und fester Stimme nur diese Worte zu ihm: Und ich, bin ich denn auf Rosen gebettet? Bin ich nicht weit besser daran als du? Gleich darauf erlag jener den Schmerzen und starb auf der Stelle. Der König ward halb versengt hinweggetragen, nicht so sehr aus Mitleid (denn welches Mitleid kann je diese Seelen gerührt haben, die um des ungewissen Bescheides über einen Topf voll Gold, den sie stehlen könnten, vor ihren Augen einen Menschen, und gar einen König von so hoher Geburt und so hohen Verdiensten, lebendigen Leibes brieten?), als weil seine Unbeugsamkeit ihre Grausamkeit mehr und mehr zuschanden machte. Sie haben ihn später erhängt, nachdem er den unerschrockenen Versuch gewagt hatte, sich mit Waffengewalt aus einer so langen Gefangenschaft und Unterjochung zu befreien, und sein Ende war eines hochgesinnten Fürsten würdig. Ein andermal ließen sie auf einen Schlag und im gleichen Feuerbrand vierhundertsechzig Menschen lebendig verbrennen, vierhundert aus dem gemeinen Volke und sechzig der vornehmsten Herren einer Provinz, die einfache Kriegsgefangene waren. Wir haben diese Berichte von ihnen selbst; denn sie gestehen diese Taten nicht nur ein, sie rühmen sich ihrer und posaunen sie aus. Wollen sie damit ihre Gerechtigkeit oder ihren Glaubenseifer bekunden? Wahrlich, das sind allzu widersprechende und unvereinbare Mittel zu einem so heiligen Zwecke. Wäre es ihr Vorsatz gewesen, unsern Glauben auszubreiten, so hätten sie bedacht, daß er nicht durch die Macht über Ländereien, sondern durch die Macht über Menschenseelen gemehrt wird, und hätten sich nur zu gern mit dem Blutvergießen begnügt, das die Notwendigkeit des Kriegs mit sich bringt, ohne dazu noch ungerührten Sinnes eine grenzenlose Schlächterei anzurichten, wie unter wilden

1630 – hans jakob christoffel von grimmelshausen – der soldaten böser brauch

Tieren, soviel sie nur mit Feuer und Schwert niederzumetzeln vermochten, und mit Vorbedacht nur so viele übrigzulassen, wie sie als elende Sklaven zur Fronarbeit in ihren Bergwerken verwenden wollten; dergestalt, daß mehrere ihrer Anführer auf Befehl der Könige von Kastilien, die sich mit Fug und Recht über die Greuel ihrer Schandtaten empörten, auf dem Schauplatz ihrer Eroberungen mit dem

Tode bestraft wurden, und fast alle mit Verachtung und Abscheu beladen. Gott hat in seiner Gerechtigkeit gewollt, daß die Beute dieser großen Raubzüge auf der Überfahrt vom Meere verschlungen oder von den inneren Fehden verzehrt wurde, in denen sie sich gegenseitig vertilgten, und daß die meisten am Ort ihrer Taten verscharrt liegen, ohne irgendeiner Frucht ihrer Siege teilhaftig geworden zu sein.

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hans jakob christoffel von grimmelshausen Der Soldaten böser Brauch Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1621–1676): Sein Erzähler mit Sicherheit schon einige Jahre früher, er selber ist spätestens seit 1634 in die Wirren des Dreißigjährigen Kriegs verwickelt, zuerst als kaiserlicher Dragoner, später als Regimentsschreiber und -sekretär. Steht sein Abentheuerlicher Simplicissimus von 1669, den wir noch immer in der Schule lesen, in der Vorgeschichte der amerikanischen Nonfiction Novel und des New Journalism oder nicht doch eher in der Tradition des spanischen Schelmenromans und seiner zeitgenössischen volkstümlichen Schwankliteratur, die sich der allzu garstigen Welt mit den Mitteln der moralischen Satire zu erwehren sucht? Bestimmt, aber das schließt nicht aus, daß er mit Passagen klassischer Reportage operiert.

B

is hierher und nicht weiter kam ich mit mei-

nem lieblichtönendem Gesang, dann ich ward gleichsam in einem Augenblick von einem Trupp Courassierer samt meiner Herde Schafen umgeben, welche im großen Wald verirrt gewesen und durch meine Musik und Hirtengeschrei wieder waren zurecht gebracht worden. ›Hoho‹, gedachte ich, ›dies seind die rechten Kauzen, dies seind die vierbeinigte Schelmen und Diebe, darvon dir dein Knän sagte‹: dann ich sahe anfänglich Roß und Mann, wie hiebevor die Americaner die spanische Cavallerie, vor eine einzige Kreatur an und vermeinte nicht anders, als es müßten Wölfe sein, wollte derowegen diesen schröcklichen Centauris den Hundssprung weisen und sie wieder abschaffen. Ich hatte aber zu solchem Ende meine Sackpfeife kaum aufgeblasen, da ertappte mich einer aus ihnen beim Flügel und schleuderte mich so ungestüm auf ein leer Bauernpferd, so sie neben

andern mehr erbeutet hatten, daß ich auf der andern Seite wieder herab auf meine liebe Sackpfeife fallen mußte, welche so erbärmlich anfing zu schreien und einen so kläg­lichen Laut von sich zu geben, als wann sie alle Welt zur Barmherzigkeit hätte bewegen wollen; aber es half nichts, wiewohl sie den letzten Atem nicht sparte, mein Ungefäll zu beklagen: ich mußte einmal wieder zu Pferd, Gott geb was meine Sackpfeife sang oder sagte. Und was mich zum meisten verdroß, war dieses, daß die Reuter vorgaben, ich hätte der Sackpfeife im Fallen weh getan, darum sie dann so ketzerlich geschrien hätte. Also ging meine Mähr mit mir dahin in einem stetigen Trab, wie das Primum mobile, bis in meins Knäns Hof. Wunderseltsame Tauben und kauderwelsche Grillen stiegen mir damals ins Hirn; dann ich bildete mir ein, weil ich auf einem solchen Tier säße, dergleichen ich niemals gesehen hatte, so würde ich auch in einen eisernen Kerl vermetamorphosiert 117

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

werden, indem ich diejenigen, die mich fortführten, auch ganz eisern sahe. Weil aber solche Verwandlung nicht folgte, kamen mir andre Grillen in meinen albernen Kopf; ich gedachte, diese fremde Dinger wären nur zu dem Ende da, mir die Schafe helfen heimzutreiben, sintemal keiner von ihnen keins hinwegfraß, sondern alle so einhellig und zwar des geraden Wegs in meines Knäns Hof zuteilten. Derowegen sahe ich mich fleißig nach meinem Knän um, ob er und meine Meuder uns nicht bald entgegengehen und uns willkommen sein heißen wollten; aber vergebens: er und meine Meuder samt unserm Ursele, welches meines Knäns einzige und liebste Tochter war, hatten die Hintertür getroffen, das Reißaus gespielt, und wollten dieser heillosen Gäste nicht erwarten. Wiewohl ich nicht bin gesinnt gewesen, den friedliebenden Leser mit dieser leichtfertigen Reuterbursch in meines Knäns Haus und Hof zu führen, weil es schlimm genug darin hergehen wird, so erfordert jedoch die Folge meiner Histori, daß ich der lieben Posterität hinterlasse, was vor abscheuliche und ganz unerhörte Grausamkeiten in diesem unserm teutschen Krieg hin und wieder verübt worden, zumalen mit meinem eignen Exempel zu bezeugen, daß alle solche Übel von der Güte des Allerhöchsten zu unserm Nutz oft notwendig haben verhängt werden müssen. Dann, liebe Leser, wer hätte mir gesagt, daß ein Gott im Himmel wäre, wann keine Krieger meines Knäns Haus zernichtet und mich durch solche Fahung unter die Leute gezwungen hätten, von denen ich gnugsamen Bericht empfangen? Kurz zuvor konnte ich nicht anders wissen noch mir einbilden, als daß mein Knän, Meuder, Ursele, ich und das übrige Hausgesind allein auf Erden sei, weil mir sonst kein Mensch noch einzige andre menschliche Wohnung bekannt war, als meines Knäns zuvor beschriebner adliger Sitz, darin ich täglich aus und ein ging. Aber bald hernach erfuhr ich die Herkunft der Menschen in diese Welt und daß sie keine bleibende Wohnung hätten, sondern oftermals, ehe sie sichs versähen, wieder daraus müßten. Ich war nur mit der Gestalt ein Mensch und mit dem Namen ein Christenkind, im übrigen aber nur eine Bestia! Aber der Allerhöchste sahe meine Unschuld mit barmherzigen Augen an und wollte mich beides zu seiner und meiner Erkanntnus bringen. Und wiewohl er tausenderlei Wege hierzu hatte, wollte er sich doch ohn Zweifel nur desjenigen bedienen, in welchem mein Knän und Meuder andern zum Exempel wegen ihrer liederlichen Auferziehung gestraft würden. Das Erste, das diese Reuter täten und in den schwarz gemalten Zimmern meines Knäns anfingen, war, daß sie ihre Pferde einställten; hernach hatte jeglicher seine sonderbare 118

Arbeit zu verrichten, deren jede lauter Untergang und Verderben anzeigte. Dann obzwar etliche anfingen zu metzgen, zu sieden und zu braten, daß es sahe, es sollte ein Pankett gehalten werden, so waren hingegen andre, die durchstürmten das Haus unten und oben; ja das heimliche Gemach war nicht sicher, gleichsam ob wäre das gölden Fell von Kolchis darin verborgen. Andre machten von Tuch, Kleidungen und allerlei Hausrat große Päck zusammen, als ob sie irgends einen Krempelmarkt anrichten wollten; was sie aber nicht mitzunehmen gedachten, ward zerschlagen und zu Grunde gerichtet; etliche durchstachen Heu und Stroh mit ihren Degen, als ob sie nicht Schaf und Schweine genug zu stechen gehabt hätten; etliche schütteten die Federn aus den Betten und füllten hingegen Speck, andere dürr Fleisch und sonst Gerät hinein, als ob alsdann besser darauf zu schlafen wäre. Andere schlugen Ofen und Fenster ein, gleichsam als hätten sie einen ewigen Sommer zu verkündigen; Kupfer und Zinngeschirr schlugen sie zusammen und packten die gebogenen und verderbten Stücken ein; Bettladen, Tische, Stühle und Bänke verbrannten sie, da doch viel Klafter dürr Holz im Hof lag; Häfen und Schüsseln mußte endlich alles entzwei, entweder weil sie lieber Gebraten aßen oder weil sie bedacht waren, nur eine einzige Mahlzeit allda zu halten. Unsre Magd ward im Stall dermaßen tractiert, daß sie nicht mehr daraus gehen konnte, welches zwar eine Schande ist zu melden! Den Knecht legten sie gebunden auf die Erde, steckten ihm ein Sperrholz ins Maul und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in Leib; das nannten sie einen schwedischen Trunk, der ihm aber gar nicht schmeckte, sondern in seinem Gesicht sehr wunderliche Mienen verursachte; wodurch sie ihn zwungen, eine Partei anderwärts zu führen, allda sie Menschen und Viehe hinwegnahmen und in unsern Hof brachten, unter welchen mein Knän, meine ­Meuder und unser Ursele auch waren. Da fing man erst an, die Steine von den Pistolen und hingegen anstatt deren der Bauern Daumen aufzuschrauben und die armen Schelmen so zu foltern, als wann man hätte Hexen brennen wollen; maßen sie auch einen von den gefangenen Bauern bereits in Backofen steckten und mit Feuer hinter ihm her waren, unangesehen er noch nichts bekannt hatte. Einem andern machten sie ein Seil um den Kopf und reitelten es mit einem Bengel zusammen, daß ihm das Blut zu Mund, Nase und Ohren heraussprang. In Summa, es hatte jeder seine eigne Invention, die Bauern zu peinigen, und also auch jeder Bauer seine sonderbare Marter. Allein mein Knän war meinem damaligen Bedünken nach der glücklichste, weil er mit lachendem Mund bekannte, was andere mit

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Schmerzen und mit jämmerlicher Weheklage sagen mußten, und solche Ehre widerfuhr ihm ohne Zweifel darum, weil er der Hausvater war; dann sie satzten ihn zu einem Feuer, banden ihn, daß er weder Hände noch Füße regen konnt, und rieben seine Fußsohlen mit angefeuchtem Salz, welches kitzeln mußte, daß er vor Lachen hätte zerbersten mögen. Das kam so artlich und mir so anmutig vor, weil ich meinen Knän niemals ein solches langwieriges Gelächter verführen gehört und gesehen, daß ich Gesellschaft halber oder weil ichs nicht besser verstund, von Herzen mit lachen mußte. In solchem Gelächter bekannte er seine Schuldigkeit und öffnete den verborgnen Schatz, welcher von Gold, Perlen und Kleinodien viel reicher war, als man hinter den Bauern hätte suchen mögen. Von den gefangnen Weibern, Mägden und Töchtern weiß ich sonderlich nichts zu sagen, weil mich die Krieger nicht zusehen ließen, wie sie mit ihnen umgingen. Das weiß ich noch wohl, daß man teils hin und wieder in den Winkeln erbärmlich schreien hörte; schätze wohl, es sei meiner Meuder und unserm Ursele nit besser gegangen als den andern. Mitten in diesem Elend wandte ich Braten und war um nichts bekümmert, weil ich noch nit recht verstunde, wie dieses alles gemeint wäre. Ich half auch Nachmittag die Pferde tränken, durch welches Mittel ich zu unsrer Magd im Stall kam, welche wunderwerklich zerstrobelt aussahe. Ich kannte sie nicht; sie aber sprach zu mir mit kränklicher Stimme: »O Bub, lauf weg, sonst werden dich die Reuter mitnehmen; guck, daß du davonkommst, du siehst wohl, wie es so übel.« Mehrers konnte sie nicht sagen. Da machte ich gleich den Anfang, meinen unglücklichen Zustand, den ich vor Augen sahe, zu betrachten und gedenken, wie ich mich forderlichst ausdrehen und davonlaufen möchte. Wohin aber? Dazu war mein Verstand viel zu gering, einen Vorschlag zu tun; doch hat es mir soweit gelungen, daß ich gegen Abend in Wald bin entsprungen und meine liebe Sackpfeife auch in diesem äußersten Elend nicht verlassen. Wo nun aber weiters hinaus, sintemal mir die Wege und der Wald so wenig bekannt waren, als die Straße durch das gefrorne Meer hinter Nova Zembla bis gen China hinein? Die stockfinstere Nacht bedeckte mich zwar zu meiner Versicherung, jedoch bedauchte sie meinen finstern Verstand nicht finster genug; dahero verbarg ich mich in ein dickes Gesträuch, da ich sowohl das Geschrei der getrillten Bauern als das Gesang der Nachtigallen hören konnte, welche Vöglein sie, die Bauern, von welchen man teils auch Vögel zu nennen pflegt, nicht angesehen hatten, mit ihnen Mitleid zu tragen oder ihres Un-

glücks halber das liebliche Gesang einzustellen; darum legte ich mich auch ohn alle Sorge auf ein Ohr und entschlief. Als aber der Morgenstern im Osten herfürflackerte, sahe ich meines Knäns Haus in voller Flamme stehen, aber niemand, der zu löschen begehrte. Ich begab mich herfür in Hoffnung, jemanden von meinem Knän anzutreffen, ward aber gleich von fünf Reutern erblickt und angeschrien: »Jung, kom heröfer, oder skallmy de Tüfel halen, ick schiete dick, dat di de Dampf thom Hals ut gaht.« Ich hingegen blieb ganz stockstill stehen und hatte das Maul offen, weil ich nicht wußte, was der Reuter wollte oder meinte, und indem ich sie so ansahe, wie die Katze ein neu Scheuntor, sie aber wegen eines Morastes nicht zu mir kommen konnten, welches sie ohn Zweifel rechtschaffen vexierte, löste der eine seinen Carabiner auf mich, von welchem urplötzlichen Feuer und unversehnlichem Klapf, den mir Echo durch vielfältige Verdoppelung grausamer machte, ich dermaßen erschreckt ward, weil ich dergleichen niemals gehört und gesehen hatte, daß ich alsobald zur Erde niederfiel und alle viere von mir streckte; ja ich regte vor Angst keine Ader mehr, und wiewohl die Reuter ihres Wegs fortritten und mich ohn Zweifel vor tot liegen ließen, so hatte ich jedoch denselbigen ganzen Tag das Herz nicht, mich aufzurichten noch mich nur ein wenig hin und wieder umzusehen. Als mich aber die Nacht wieder ergriff, stund ich auf und wanderte so lang im Wald fort, bis ich von fern einen faulen Baum schimmern sahe, welcher mir eine neue Forcht einjagte, kehrte derowegen spornstreichs wieder um und ging so lang, bis ich wieder einen andern dergleichen Baum erblickte, von dem ich mich gleichfalls wieder fortmachte und auf diese Weise die Nacht mit hin und wieder rennen von einem faulen Baum zum andern vertrieb. Zuletzt kam mir der liebe Tag zu Hülf, welcher den Bäumen gebot, mich in seiner Gegenwart unbetrübt zu lassen; aber hiermit war mir noch nichts geholfe, dann mein Herz stak voll Angst und Forcht, die Schenkel voll Müdigkeit, der leere Magen voll Hunger, das Maul voll Durst, das Hirn voll närrischer Einbildung und die Augen voll Schlaf. Ich ging dannoch fürder, wußte aber nicht, wohin. Je weiter ich aber ging, je tiefer ich von den Leuten hinweg in Wald kam. Damals stund ich aus und empfand, jedoch ganz unvermerkt, die Wirkung des Unverstandes und der Unwissenheit; wann ein unvernünftig Tier an meiner Stelle gewesen wäre, so hätte es besser gewußt, was es zu seiner Erhaltung hätte tun sollen, als ich. Doch war ich noch so witzig, als mich abermal die Nacht übereilte, daß ich in einen hohlen Baum kroch, meine werte liebe Sackpfeife fleißig in acht nahme und also mein Nachtlager zu halten gänzlich entschlossen war.

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1634 –1679

john aubrey Er dachte viel – Thomas Hobbes »Mit den Dingen der Vergangenheit«, notierte er, »verhält es sich wie mit dem Licht nach Sonnenuntergang: Zuerst ist es noch deutlich – allgemach kommt die Dämmerung – dann gänzliche Finsternis. Also versäumt man, sie aufzuschreiben... « Elias Canetti rühmte ihn, »der Menschen im 17. Jahrhundert so sah, wie der gerissenste Dichter heute«. Als Repräsentant der englischen Gentry, dessen eigene Ländereien ihm eine erkleckliche Sammlung von Pfandbriefen einbrachten, ging er in großen Häusern ein und aus und schrieb frühmorgens seine Brief Lives (gegen 200 Stück davon), während die portraitierten Gastgeber die Folgen des ausgedehnten Vorabends ausschliefen: John Aubrey (1626–1697), der größte Gesellschaftskolumnist seiner Zeit. »Ich habe ihn sagen hören, Aristoteles sei der schlechteste Lehrer, den es je gegeben, der schlechteste Politiker & Moralphilosoph – jeder Stenz vom Lande, der mit beiden Beinen auf der Erde stünde, wär ebenso gut – seine Rhetorik und seine Abhandlung von den Thieren indessen hätten schwerlich ihresgleichen.«

1634:

diesen sommer – ich entsinne mich, ’s

war in der Jagdsaison (Juli oder August) – kam Mr. T. H. in seine Heimat-Grafschaft, um seine Freunde zu besuchen, und kam dann unter anderem, um seinen alten Schulmeister zu sehen. Mr. Robert Latimer in Leighde-la-mer, wo ich als kleiner Junge in die Lateinschule ging und von diesem den ersten Sprachunterricht erhielt. Hier geschah’s zum erstenmal, daß mir die Ehre ward, dieses würdigen gelehrten Mannes ansichtig zu werden, der damals von mir Notiz zu nehmen geruhte und am folgenden Tag meine Verwandten besuchte. Damals war er ein rüstiger Mann, energisch, und in sehr gutem Habit. Sein Haar war noch ganz schwarz. Er weilte in Malmesbury und in der Nachbarschaft eine Woche oder länger. Zu jener Zeit rankte sich seine Konversation häufig um Ben. Johnson, Mr. Ayton et al.: das war das letztemal, daß er in Wilshire weilte. Der Geometrie wandte er sich nicht vor dem 40ten Lebensjahr zu: das geschah durch Zufall. Als er sich in eines Gentlemans Bibliothek aufhielt, lagen da aufgeschlagen Euklids Elements, und zwar 47 El. Libir I. Er las die Proposition. Bey G –, sagte er (dann & wann pflog er, qua emphasis, vehement zu flu120

chen), das ist unmöglich! Also liest er die Beweisführung, die ihn zu einer Proposition zurückführte. Welchselbige er las. Dies leitete ihn zu einer weiteren zurück, die er gleichfalls las. Et sic deinceps, so daß er zuletzt von jener Wahrheit qua demonstratione überzeuget ward. Also verliebte er sich in die Geometrie. Ich habe Mr. Hobbes sagen hören, daß er Linien auf seinen Schenkel und auf die Bettlaken zu zeichnen pflog, desgleichen im Bette multiplizierte & dividierte. Oft klagte er darob, daß die Algebra (obzwar von großem Nutzen) zu sehr verehrt und derart im Schwange sei, daß die Menschen nicht mehr recht fähig seien, das Wesen & Macht der Linie zu erwägen & zu betrachten: was für das Fortkommen der Geometrie ein großes Hindernis sei, denn ob die Algebra gleich extrem gut & rasch & leicht bei geraden Linien würke, habe sie bei der Körper-Geometrie nicht den rechten Biß (dünkt mich). Quod N. B. ’S war ein Jammer, daß Mr. Hobbes das Studium der Mathematik nicht früher begonnen: dann hätte er sich nicht so eine Blöße gegeben. Indes kann man von ihm das gleiche wie von Jos. Scaliger sagen: wo er irrt, irrt er so genial, daß man lieber mit ihm irren als mit Clavio ins Schwarze treffen möchte. Nachdem er begonnen, über das Interesse des Königs von England betreffs seiner Affairen zwischen ihm und dem Parlament nachzudenken, waren seine Gedanken in summa zehn Jahre gänzlich oder fast gänzlich von der Mathematik abgezogen, was für seine mathematischen Fortschritte ein großer Rückschlag war, denn bei 10 Jahren Unterbrechung

1634–1679 – john aubrey – thomas hobbes

(oder mehr) in (zumal) solchen Studien wird einem die Mathematik reichlich rostig. Als das Parlament zusammentrat – die ersten Sitzungen im April 1640 – und im folgenden Mai aufgelöst wurde, wobei etliche Aspekte der Königlichen Gewalten, die für den Frieden des Königtums und die Sicherheit der Person Seiner Majestät vonnöten seien, disputiert & abgelehnt wurden, verfaßte Mr. Hobbes einen kleinen Traktat auf Englisch, in dem er ausführte & demonstrierte, daß besagte Gewalten & Rechte untrennbar mit der Souveränität verbunden seien, welche sie damals dem König nicht absprachen – allein wie’s scheint, begriffen sie diese Untrennbarkeit nicht und wollten sie nicht begreifen. Von diesem Traktat, wiewohl er ungedruckt blieb, hatten viele Gentlemen Abschriften, was zu allerlei Reden über den Autor Anlaß gab; und hätte Seine Majestät nicht das Parlament aufgelöst, hätt‘s ihn in Gefahr um sein Leben gebracht. Bp Manwaring (von St. Davids) predigte seine Doktrin: wofür er, nebst anderen, im Tower inhaftiert ward. Da dünkte Mr. Hobbes, ’s ist itzt an der Zeit, daß ich mich absentiere, und entschwand nach Frankreich, und nahm Logis in Paris. Aus diesem Traktätchen erwuchs ein Buch De Cive, und daraus erwuchs zuletzt der so furchtbare LEVIATHAN ; die Art der Niederschrift dieses Buches (erzählte er mir) war also: er sagte, beizeiten würd’ er seine Gedanken auf Nachforschung & Nachsinnen setzen, immer mit dieser Regel: daß nur Eines zu seiner Zeit ganz tief & scharf durchdächte (silicet, eine Woche oder mitunter vierzehn Tage lang). Dann spazierte er viel, und dächte nach, und habe im Knauf seines Stockes Feder & Tintenhorn, trüge stets ein Notizbuch in der Tasche, und sobald ein Gedanke angeflogen käme, gäbe er ihn augenblicks in sein Büchlein, andernfalls er ihn leicht verlöre. Den Plan des Buches habe er in Kapiteln etc. vorgezeichnet, also wüßt er wo’s etwa hingehörte. Derart ward dieses Buch geschaffen. Er schrieb und publizierte den LEVIATHAN gewiß nicht mit der Absicht, Seiner Majestät zu schaden oder Oliver zu schmeicheln (der erst drei oder vier Jahre später Lord Protektor wurde) zum Behuf, seine Heimkehr zu leichtern, denn es gibt schwerlich eine Seite darin, auf der er ihn nicht kritisiert. Seine Majestät war mit ihm (in Paris) eine Weile, aber nicht sehr lange, ungnädig, da jemand über seine Schriften Klage geführt und sie falsch ausgelegt hatte. Aber Seine Majestät hielt viel auf ihn, und sagte öffentlich, Er glaube, Mr. Hobbes habe nie die Absicht gehabt, ihm wehe zu tun. Anno 1650 oder 1651 kehrte er nach England zurück und lebte meistenteils in Fetter-lane, wo er sein Buch de

Corpore schrieb bzw. kompletierte, auf Lateinisch und dann auf Englisch. Bis zur Wiedereinsetzung Seiner Majestät war er häufig in London, da er hier die Konvenienz nicht nur von Büchern, sondern auch von gelehrten Gesprächen hatte. Ich hab ihn sagen hören, in seines Lords Hause auf dem Lande gab’s eine gute Bibliothek, und Bücher in Fülle für ihn, Seine Lordschaft stocke die Bibliothek mit so viel Büchern auf wie er nur zu kaufen im Stande; er sagte aber auch, der Mangel an gelehrter Konversation sei eine beträchtliche Inkonvenienz, und obwohl er glaube, er könne sein Denken vielleicht eben so gut in Ordnung halten als irgendeiner sonst, fänd er darin ein großes Hemmnis. Mich dünkt, auf dem Land setzt eines Mannes Witz aus Mangel an guter Konversation Schimmel an. 1660. Die Winterszeit von 1659 verbrachte er in Derbyshire. Im folgenden März war die Morgendämmerung der Ankunft unseres gnädigen Souveräns, und im April die Morgenröte. Damals sandte ich ihm aufs Land einen Brief, ihm die Ankunft seines Herrn des Königs zu melden, und bat ihn, um Himmelswillen vor dessen Eintreffen in London zu sein; und da ich Seine Majestät als großen Liebhaber guter Malerei kannte, müsse ich präsumieren, er käme nicht umhin, Mr. Cowpers curieuse Werke zu sehen, von dessen Ruhm er im Ausland viel gehört und manch Stück von ihm gesehen, und item, daß er ihm Portrait säße, bei welcher Gelegenheit er die beste Konvenienz haben würde, sich aufs neue der Gnade Seiner Majestät zu versichern. Er erwiderte seinen Dank für meinen freundlichen Hinweis, und kam im folgenden Mai nach London. Es geschah nun, etwa zwei oder drei Tage nach Seiner Majestät glücklicher Heimkehr, daß Mr. Hobbes, als jener in seiner Kutsche durch den Strand fuhr, beim Little Salisbury-House Tor stund (wo sein Lor d residierte). Der König erspähte ihn, zog vor ihm leutselig den Hut, und frug nach seinem Ergehen. Etwa eine Woche später hatt er bei Mr. S. Cowper eine mündliche Unterredung mit Seiner Majestät, wo sich dieser, dieweil er dem Maler saß, an Mr. Hobbes gefälliger Unterhaltung ergötzte. Indeme wurde Seiner Majestät Huld ihm wieder erneut, und Ordre gegeben, daß er zu Seiner Majestät freien Zutritt haben sollte, der von seinem Witz und seinen schlagfertigen Antworten stets entzückt war. Gewöhnlich leimten ihn die Witzlinge bei Hofe. Aber er fürchtete keinen von ihnen, und hielt stich. Der König nannte ihn den Bär: Hier tappt der Bär auf den Leim (: ein Witz, zu flau um publiziert zu werden). Er hatte wunderbare Geschicklichkeit & Fertigkeit im Replizieren, und dann ohne Rancune (es sei denn, sie wäre 121

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

provoziert worden) – doch jezo spreche ich von seiner Schlagfertigkeit in geistreichen & komischen Entgegnungen. Er würde sagen, es sei ihm einerlei, auch sei er nicht behende genug, auf ein ernstes quaere eine sofortige Antwort zu geben – genau so gut hätte man von ihm die ex-tempore-Lösung eines arithmetischen Problems erwarten können, denn in Philosophie, Politik etc. drehte & wandt & verschlang er sich, als hätt er’s mit einer Analysis zu tun. Er vermied stets, so gut er konnte, das übereilte concludere. 1665. In diesem Jahr sagte er mir, er wolle für die Stadt, in der er geboren, etwas Gutes tun; seine Majestät sei ihm wohlgesonnen, und wenn ich etwas für unseren Landstrich fände, das er geben könne, dann – glaubte er – könne er’s von seiner Majestät erbitten; und angesichts daß er ein Gelehrter geworden, hielte er es für das passendste, dort eine Freischule zu stiften, an welcher es itzo gebräche (denn vor der Reformation hatten die Klöster große Schulen, zB Magdaleen-School oder die New College School). Ich erkundigte mich, und fand ein Stückchen Landes in Bradon-forest (ca. 25 £ p.a. wert), das zum Schenkungsbesitz Seiner Majestät zählte, und das er um das Salär eines Schulmeisters von Seiner Majestät zu bekommen plante – allein die Pfaffen der Königin erschnüffelten den Plan, und da sie seine Feinde waren, machten sie diesem publiquen & karitativen Vorhaben den Garaus. Mr. Samuel Cowper (letzthin ein Fürst der Malerey und mein ewig geehrter Freund, ein – von seiner Kunst abgesehen – ingeniöser Mann, und von großer Menschlichkeit) malte sein Bildnis so treffend wie Kunst es nur vermag, und es ward eins der besten Stücke so er je gemalt: welches seine Majestät bei seiner Rückkehr von ihm erwarb und als eine seiner Raritäten in seinem Kabinettzimmer zu Whithall hütet. Sein Lord, der ein Verschwender war, schickte ihn die kreuz & die quer, um Geld zu borgen und Gentlemen aufzutreiben, die ihm ein Darlehen gäben, da er sich schämte, selbst mit ihnen zu sprechen. In seiner Jugend kränkelte er; hatte einen ungesunden (gelblichen Teint): zog sich Erkältungen zu, da er nasse Füße hatte (damals gab’s noch keine Mietkutschen auf den Straßen) und ging in beiderseits ausgetretenen Schuhen. Ansonsten war er sehr beliebt: man mochte seine Gesellschaft um seiner angenehmen Liebenswürdigkeit & Gutherzigkeit willen. Ab vierzig, oder darüber hinaus, wurde er gesünder und hatte dann eine frische, gerötete Gesichtsfarbe. Er war ein Sanguineo-melancholicus: was, wie die Physiologen sagen, die geistreiche Säftemischung ist. Er würd sagen: in jeglichem Temperamente gäbe es gute Köpfe – unmöglich aber gute Charaktere.

Im Alter war er zur Gänze kahlköpfig (was Ehrfurcht heischte), doch in seinen vier Wänden pflog er barhäuptig zu sitzen & zu studieren, und sagte, er verkühle sich nimmer den Kopf; die größte Mühe sei es nur, die Fliegen von seinem Kahlschädel fortzuscheuchen. Das Gesicht nicht sehr groß; die Stirn breit; der Schnauzbart gelblich-rötlich, sich in natürlichem Schwunge aufwärts zwirbelnd: was ein Zeichen für lebhaften Witz ist. Am Kinn war er glatt rasiert, bis auf ein kleines Bärtchen unter der Unterlippe. Nicht, als hätte Natur ihm nicht einen venerablen Bart gönnen wollen! – allein da er im Wesen von heiterem & gefälligem Gemüt war, wollte er nicht Würde & Gravität ausstrahlen, um streng zu scheinen. Seine Reputation von Weisheit wollte er nicht am Schnitt seines Bartes erkenntlich machen, sondern an seinem Verstand. Er hatte ein gutes Auge, u. zw. von haselbrauner Farb, welches bis zuletzt voller Leben & Geist war. War er in lebhaftem Diskurs, dann leuchtete (gleichsam) ein glühender Kohlenschein darin. Er hatte zwei Arten zu blicken: lachte er, war er witzig, in lustiger Laune, konnte man seine Augen kaum sehen – nach und nach, wenn er ernst & eindringlich wurde, öffnete er die Augen rund (i. e. die Augenlider). Er hatte mittelgroße Augen, nicht sehr groß, nicht sehr klein. Beim Earl of Devonshire in Derbyshire gab es einen guten Maler, nicht lange bevor Mr. Hobbes starb, der konterfeite ihn mit allen Anzeichen des Verfalls im Alter. Obwohl er seine Heimatregion mit 14 verlassen hatte, und so lange lebte, mochte man gelegentlich doch einen Anflug unseres Dialekts bei ihm finden. – Der alte Sir Thomas Malette, einer der Richter vom King’s Bench, kannte Sir Walter Raleigh und sagte, daß ungeachtet seiner weiten Reisen, Konversation, Bildung etc. dieser bis an seinen Sterbetag ein breites Devonshire gesprochen. Er hatte sehr wenig Bücher. Weder Sir William Petty noch ich sahen mehr denn ein halb Dutzend um ihn in seinem Zimmer. Gewöhnlich lagen Homer & Virgil auf dem Tisch; manchmal Xenophon oder ein glaubwürdiges Geschichtswerk, und das Griechische Testament oder dergleichen. Er hatte viel gelesen, erwägt man sein langes Leben; aber sein Contemplatio überstieg seine Lektüre bei weitem. Er pflog zu sagen, hätte er so viel gelesen wie andere Menschen, hätte er nicht mehr wissen können als sie. Wiederholt sagte er, lieber seien ihm der Rat & die Medizin einer Alten Frau, die schon an vieler Kranker Bettstatt gesessen, denn die des gelehrtesten aber unerfahrenen Arztes. Es verträgt sich nicht mit einer harmonischen Seele, ein Frauenhasser zu sein, auch hatte er nie eine Abhorreszenz 122

1642 – abel janszoon tasman – unfreundlicher empfang vor neuseeland

von gutem Wein, doch war er sogar in seiner Jugend (im allgemeinen) mit Wein und Weib enthaltsam. Ich hab ihn sagen hören, er gläube, er habe in seinem Leben hundertmal einen Exzess gehabt, was, wenn man sein hohes Alter bedenkt, auf nicht mehr denn einmal-im-Jahr hinausliefe. Wenn er denn tränke, dann tränk er bis zum Exzess, um die Wohltat des Erbrechens zu genießen – was ihm leicht gelänge: durch welche Leichterung sein Witz nicht länger verwirrt sei als er tränke, noch sein Magen beschwert; aber er war nie, und hätt’s auch nicht gelitten, ein habitueller good fellow, i. e. jeden Tag in

Gesellschaft zu trinken, was, ob es gleich nicht zur Trunkenheit führt, das Hirn verwüstet. Seine letzten 30+ Jahre über war seine Ernährung etc. ganz frugal & regelmäßig. Er stand um etwa sieben Uhr auf, nahm ein Frühstück mit Brot & Butter; und ging spazieren, wobei er bis zehn seinen Gedanken nachhing; dann machte er von seinen Gedanken Notizen, die er am Nachmittag niederschrieb. Er dachte viel, und mit ausgezeichneter Systematik & Kontinuität, was ihn selten zu einem falschen Schritt verführte.

1642

abel janszoon tasman Unfreundlicher Empfang vor Neuseeland In aller Regel verlaufen erste Begegnungen zwischen sogenannten Entdeckern und Eingeborenen freundlich, ja oft enthusiastisch und in ausnehmender Höflichkeit. Nicht so, als Abel Janszoon Tasman (1603–1659) und seine Mannschaft sich im Auftrag der niederländischen Ostindien-Kompanie der Südinsel Neuseelands und den dort ansässigen Maori näherten. »Kommt nur an Land, und wir werden euch alle töten und essen«, so sollen sie noch 1769 James Cook zugerufen haben.

AM

19. dezember, früh am morgen, kam ein

Boot mit dreizehn Eingeborenen bis auf einen Steinwurf Entfernung an unser Schiff heran. Sie riefen mehrere Male etwas, das wir nicht verstanden, denn die Sprache hat keinerlei Ähnlichkeit mit der des Wörterverzeichnisses, das uns der verehrte Herr Generalgouverneur und die Ratsherren der Ostindien-Kompanie mitgegeben hatten – was nicht verwunderlich ist, denn das Verzeichnis beruht auf der Sprache der Salomon-Inseln usw. Soviel wir sehen konnten, waren die Leute im Boot von durchschnittlicher Größe, aber sie hatten rauhe Stimmen, und ihr Körperbau war grob, ihre Hautfarbe braun bis gelb. Sie hatten ihr schwarzes Haar oben auf dem Kopf zusammengebunden, wie es die Japaner am Hinterkopf zu tragen pflegen, aber es war länger und dicker, und im Haarbüschel steckte eine große, dicke weiße Feder. Ihr Boot bestand aus

zwei langen, schmalen, miteinander verbundenen Kanus, über die sie mehrere Planken als eine Art von Sitz gelegt hatten, und zwar so, daß sie von der Wasseroberfläche aus unter das Boot sehen konnten. Ihre Paddel waren etwa einen Faden lang, schmal und mit spitzen Enden. Sie manövrierten diese Boote sehr geschickt. Ihre Kleidung bestand bei einigen von ihnen anscheinend aus Bastmatten, bei anderen aus Baumwolle; alle hatten nackte Oberkörper. Wir machten ihnen Zeichen, an Bord zu kommen, und zeigten ihnen weißes Leinen und ein paar Messer, die wir in unserer Fracht mitführten. Aber sie kamen nicht näher, sondern ruderten schließlich zurück. Inzwischen waren die Offiziere der Zeehaen, im Anschluß an unsere Besprechung vom gestrigen Abend, an Bord unseres Schiffs gekommen, und wir setzten uns zur Beratung zusammen. Es wurde beschlossen, unsere Schiffe so nah wie 123

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

möglich an das Ufer heranzubringen, da der Ankerboden gut war und die Leute dort (wie es uns schien) Freundschaft erstrebten. Kurz nachdem wir unseren Beschluß gefaßt hatten, sahen wir weitere sieben Boote vom Land abstoßen; eins davon – vorne hoch, nach hinten scharf abfallend und mit siebzehn Mann besetzt – paddelte um das Heck der Zeehaen; ein anderes, mit dreizehn robusten Männern, kam bis auf einen halben Steinwurf Entfernung an unseren Bug heran. Die Leute in beiden Booten riefen einander häufig etwas zu. Wir zeigten ihnen wieder, wie beim vorigen Boot, weißes Leinen u. a., aber sie blieben, wo sie waren. Der Kapitän der Zeehaen schickte im kleinen, mit sechs Ruderern bemannten Boot seinen Steuermann von unserem Schiff zu dem seinen zurück mit dem Auftrag, den Unteroffizieren anzuraten, nicht zu viele dieser Leute an Bord zu lassen, falls sie kommen wollten, und vorsichtig und recht wachsam zu sein. Als sich das kleine Boot auf halbem Weg zwischen unseren beiden Schiffen befand, riefen die Leute in dem vor unserem Bug liegenden Kanu den anderen hinter der Zeehaen etwas zu und winkten mit ihren Paddeln, aber wir verstanden nicht, was sie damit meinten. Daraufhin begannen die Leute in dem Kanu vor uns so schnell dem andern entgegenzurudern, daß sie das kleine Boot der Zeehaen mit ihrem Vordersteven trafen – so stark, daß das Boot ungeheuer schwankte. Dann hieb der vorderste Mann im Kanu der Eingeborenen mit seinem langen, stumpfen Spieß den Steuermann Cornelis Joppen mehrere Male in den Nacken, so gewaltsam, daß Joppen über Bord fiel. Daraufhin griffen die anderen Kanuleute die Bootsmannschaft mit kurzen, dicken hölzernen Keulen (die wir zuerst für schwere, stumpfe Parangs hielten) und mit ihren Paddeln an und überwältigten sie. Bei diesem Angriff blieben drei Mann von der Zeehaen tot liegen; ein vierter wurde von den schweren Schlägen lebensgefährlich verwundet. Der Steuermann und zwei Seeleute schwammen auf unser Schiff zu, und wir schickten die Schaluppe aus, um sie zu holen; sie gelangten lebend an Bord. Nach diesem schrecklichen Vorfall, dieser abscheulichen Untat, ließen die Mörder das kleine Boot weiter treiben; einen der Toten hatten sie in ihr Kanu geholt, einen anderen ins Wasser geworfen. Wir und die Leute auf der Zeehaen, die

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alles mitangesehen hatten, eröffneten ein heftiges Feuer mit Musketen und Kanonen; doch obwohl wir sie nicht trafen, zogen sie sich zurück und ruderten zum Ufer außer Schußweite. Wir feuerten viele Schüsse aus unseren Vorder-, Bugund oberen Kanonen ab, erzielten jedoch keinen Volltreffer auf die Kanus. Unser Kapitän fuhr in unserer Schaluppe, mit gut bewaffneten Leuten besetzt, zum Boot der Zeehaen (das diese verfluchten Kerle glücklicherweise hatten treiben lassen) und brachten es zum Schiff zurück. Wir fanden darin einen der Toten und den Schwerverletzten. Wir lichteten den Anker und gingen unter Segel, denn wir waren überzeugt, daß man mit diesen Leuten keine Freundschaft schließen und dort weder Wasser noch Proviant holen konnte. Kurz darauf sahen wir vor dem Ufer zweiundzwanzig Kanus, von denen elf, voll bemannt, auf uns zuruderten. Wir verhielten uns still bis zu dem Zeitpunkt, da wir die vordersten Boote in Schußweite hatten, und feuerten dann ein oder zwei Schüsse aus unseren Kanonen ab, aber ohne Erfolg. Auch die Mannschaft der Zeehaen feuerte und traf einen Mann im vordersten Boot (er stand aufrecht mit einer kleinen weißen Fahne), so daß er umfiel. Wir hörten auch, wie eine Kartätsche das Kanu traf, aber welchen Schaden sie anrichtete, konnten wir nicht feststellen. Sobald die Leute diesen Schuß erhalten hatten, drehten sie schnell ab zurück zum Ufer; zwei Mann hißten eine Art Kleinsegel. Sie blieben dicht vor dem Ufer, ohne uns weiter zu belästigen. Gegen Mittag kam der Kapitän der Zeehaen mit Herrn Gilsemans wieder an Bord unseres Schiffs; wir ließen auch unseren Ersten Offizier kommen und beriefen eine Beratungsversammlung ein. Dabei wurde beschlossen: da uns die scheußliche Untat der Eingeborenen, die sie am Morgen gegen vier Mann der Zeehaen-Besatzung verübt hatten, eine Lektion erteilt hatte, betrachteten wir die Eingeborenen dieses Landes als Feinde; und daher würden wir nun an der Küste entlang nach Osten fahren, um zu sehen, ob wir geeignete Stellen finden könnten, wo Wasser und Proviant zu holen wären. Vor dieser Mordstelle – der wir den Namen ›Bucht der Mörder‹ beilegten – gingen wir vor Anker, um unseren weiteren Kurs zu beschließen, und drehten nach Nordnordosten, wie unsere Offiziere es rieten.

1648

der münsterische postreuter Westfälische Friedensbotschaft Der Westfälische Frieden von Münster und Osnabrück, abgeschlossen am 24. Oktober 1648, setzte den Endpunkt des Dreißigjährigen Krieges, der mit seinen Zerstörungen und Bevölkerungsverlusten zu einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe geführt hatte. Der »Freud- und Friedenbringende Postreuther« stammt von einer Flugschrift, die am folgenden Tag diesen Friedensschluß verkündete. Auß Münster vom 25. des Weinmonats im Jahr 1648 ab­ gefertigter Freud und Friedensbringender Postreuther. Ich kam von Münster her gleich Sporenstreich geritten, und habe nun das meist deß Weges überschritten. Ich bringe gute Post und neue Friedenszweit, der Friede ist gemacht, geendet alles Leid. Man bläst ihn freudig auß mit hellen Feldtrommeten, mit Kesselpauken Hall, mit klaren Clarnetten. Mercur fleugt in der Lufft, und auch der Friede. Jo, Gantz Munster, Ossnabrugg und alle Welt ist froh, die Glocken tönen starck, die Orgeln lieblich klingen, Herr Gott wir loben dich, die frohen Leute singen, die Stücke donnern und sausen in der Lufft, die Fahnen fliegen schön, und alles jauchtzend rufft:

N

achricht aus münster 1649 Wahrhaff­tiger

und eigentlicher Bericht / Welcher Gestalt / Der zu Münster und Oßnabrugk zuvor geschlossene Frieden / Nunmehr gäntzlich zu Münster vollzogen … Geschehen zu Münster 12./22. Februar 1649 – Verschienenen Sonntag seynd allhier zu Münster offentlich und solleniter nachfolgende Freudenzeichen celebrirt und vollzogen worden. Als 1. Ist vormittag in allen Kirchen / wie auch bey den Herrn Schwedischen / Chur Brandenburgischen / und anderen Herren zuforderst eine Christliche Dancksagung / zu Gott dem Allmächigen geschehen / darauff das Tedeum laudamus allenthalben gesungen worden. 2. Haben die sämmtliche Catholische Herren in ansehnlicher und grosser Menge eine überauß grosse Procession

der Höchste sey gelobt, der Friede ist getroffen, fortan hat männiglich ein bestes Jahr zu hoffen, der Priester und das Buch, der Rathherr und das Schwerdt, der Bauer und der Pflug, der Ochse und das Pferd. Die Kirchen werden fort in voller Blüte stehen, Man wird zum Hauß des Herrn in vollen Sprüngen gehen, und hören Gottes Wort: Kunst wird seyn hochgeachtet, die Jugend wird studiren bei Tag und auch bey Nacht, Man wird deß Herren Ruhm auff Psalter und auff Seiten, im Osten und in West, in Sud und Nord außbreiten; die Saine und Paris, die Donau und ihr Wien, der Behlt und sein Stockholm sind friedlich, frisch und grün. Es dancke alles Gott, es danck Ihm frü und spat Was kreucht, flugt, lebt und schwebt, und was nur Odem hat.

durch die gantze Stadt gehalten / unter wärender solcher Procession seynd mit allen Glocken durch die ganze Stadt geleutet worden. 3. So Seynd auff dem Thumbhoff 12. Kammer-Stücke gepflantzet gewesen / und mit denselben ist zu dreyen malen Salven geschossen worden. 4. Denselben Nachmittag umb 2. Uhren ist die sämtliche Bürgerschaft / in 18. Fahnen starck bestehend / neben denen / denn noch drey Fahnen Soldaten seynd beygefügt worden / in der Rüstung gestanden / so gleichfalls zu vier unterschiedenen malen mit ihren Mußqueden Salve gegeben / dabey dann jedesmals auß obigen 12. Kammerstücken / wie ingleichen alles Geschütz auff den Wällen / umb die Stadt herumb loßgebrandt worden / welches biß abends umb 5. Uhr gewäret. 5. Denselben Abend umb 7. Uhr hat man das überauß schön und köstlich Feuerwerk gesehen. Da dann erstlich vor 125

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

dem Rathauß ein zimblich groß Gebäu / einem Castel gleich / gesetzt worden / welches mit Feuer auffgegangen / darbey dann unter schiedliche / von allerhand Gattung / Raqueten und Schwärmer / welche an einem Sail lauffend und in die Luft gestiegen / so den Lufft und Wasser-Kugeln mituntergemenget gesehen worden / item ist von dem hohen Lamperts Thurn ein Sail biß an das Castel gezogen / daran ein feuriger Drachen hat sollen herunterfliehen / und Castel anzünden / ist aber im herunterfahren am Sail verhindert worden / also / daß derselbige widerumb hinauffgeschossen / und auff dem Thurn vollends gantz verbranndt / so hat man auch überzwerch der Gassen vom Rathhauß auß eine Linien gezogen / daran diese Wort gehangen / Vivat Pax / und zwischen selbigen Worten der Stadt Münster Wappen gestanden / welches

von Pech zugerichtet gewesen / so auch angezündet worden / und bey einer Viertel Stunden lang einen gar schönen und lustigen Schein von sich gegeben / welches dann überauß hell geleuchtet / worbei auch von vielen tausent Menschen / so demselben zugesehen / Vivat Pax, geruffen und geschrien worden. Darnach 6. Ist auf dem Thumb ein überauß grosser schwartzer gedoppelter Adler fest in die Erden auff ein Pfaal gesetzt gewesen / gestanden / so seine Flügel außgebreitet / und in einer Klau ein Schwert / und in der andern ein Scepter geführet / welcher oben an derselben Crone gleichfals angzündet / und sehr schön und wol operirt gehabt / welches dann biß eillf Uhr in der Nacht also gewäret hat / mit welchem denn die Solennitäten und Freuden für dieses mal also allerseits geendigt haben.

1665

daniel defoe Die Pest zu London Als ersten realistischen Roman hat man sein Journal of the Plague Year gefeiert. Und der Philosoph und Systemtheoretiker Niklas Luhmann sah das Buch immerhin als Ausgangspunkt, von dem aus der moderne Roman dem Journalismus entwachsen würde. Zwar schrieb er, der im Pestjahr ­gerade fünf Jahre alt war, über fünfzig Jahre später. Aber ob deshalb das strikt aus Augenzeugen­berichten und Schätzen städtischer Archive gewonnene Ergebnis ein Roman ist? Wir können die Frage getrost offenlassen: Daniel Defoe (1660–1731), in Deutschland mehr als Schöpfer Robinsons und weniger als ­überragender Journalist bekannt, verdanken wir dieses monumentale Manifest der modernen Reportage.

IN

stadt und vororten wurde so mustergültig

Ordnung gehalten, daß London allen Städten der Welt ein Vorbild sein kann für die gute Regierung und die ausgezeichnete Ordnung, die überall aufrechterhalten wurde, auch zu der Zeit des heftigsten Wütens der Seuche und als die Leute in der äußersten Bedrängnis und Bestürzung waren. Aber hierüber werde ich an gegebener Stelle sprechen. Eines, das muß bemerkt werden, war hauptsächlich der Klugheit der Behörden zu verdanken und sollte zu ihren Ehren erwähnt werden, nämlich die Mäßigung, die sie bei der 126

großen und schwierigen Aufgabe des Absperrens der Häuser übten. Es ist wahr, das Absperren der Häuser war, wie ich schon sagte, ein Gegenstand großen Unmuts, und ich kann sagen, zu der Zeit der einzige Gegenstand des Unmuts unter den Leuten, denn das Einschließen der Gesunden im gleichen Haus mit den Kranken wurde als eine fürchterliche Maßnahme angesehen, und die Klagen der so Eingeschlossenen waren sehr belastend. Man konnte sie bis auf die Straße hören, und manchmal waren sie so, daß sie Empörung auslösten, wenn auch häufiger Mitgefühl. Es gab für sie keine andere Möglichkeit, mit einem ihrer Freunde zu sprechen, als

1665 – daniel defoe – die pest zu london

vom Fenster aus, und dort erhoben sie dann ein so eindringliches Wehklagen, daß sie denen, mit denen sie sprachen, oft das Herz bewegten, und auch anderen, die im Vorbeigehen von ihrem Leid hörten; und da diese Klagen sich oft gegen die Starrköpfigkeit und oft Unverschämtheit der Wachmänner richteten, die vor ihrer Tür postiert waren, so fiel die Antwort dieser Wachmänner anzüglich genug aus, und die Leute, die von der Straße zu den besagten Familien sprachen, konnten auf Beleidigungen gefaßt sein; dafür und für ihre Schikanen gegen die Familien sind sieben oder acht von ihnen, glaube ich, an verschiedenen Orten umgebracht worden; ich weiß nicht, ob ich sagen soll: ermordet worden oder nicht, denn ich kann auf die einzelnen Fälle nicht eingehen. Zwar waren diese Wachmänner im Dienst und versahen den Posten, auf den sie von einer gesetzlichen Autorität gestellt worden waren; und einen öffentlichen Ordnungsbeamten bei der Ausübung seines Dienstes zu töten, wird, in der Sprache des Rechtes, immer Mord genannt. Aber sie waren ja durch die obrigkeitliche Bestallung oder durch den Auftrag, unter dem sie handelten, nicht berechtigt, zu den Leuten, die unter ihrer Bewachung standen, oder zu irgend jemand, der sich um sie kümmerte, beleidigend und ausfällig zu sein; so konnte man, wenn sie das taten, sagen, das waren sie selbst und nicht ihr Amt, sie handelten als private Personen, nicht als öffentliche Bedienstete; und, folgerichtig, wenn sie sich durch so ungehöriges Benehmen etwas zuschulden kommen ließen, so fiel diese Schuld auf ihr eigenes Haupt; und sie hatten in der Tat so sehr die empörten Flüche des Volkes auf sich geladen, ob verdient oder nicht, daß, was immer ihnen zustieß, sie niemand bemitleidete und jedermann geneigt war zu sagen, es geschehe ihnen recht, was es auch war. Auch kann ich mich nicht entsinnen, daß je einer für das, was den Wachmännern bei den Häusern angetan wurde, bestraft worden wäre, jedenfalls nicht so, daß es der Rede wert war. Welch eine Vielfalt von Listen man anwandte, um aus den gesperrten Häusern zu entweichen und hinauszugelangen, auf welche Weise man die Wachmänner täuschte oder überwältigte und dann davonkam, habe ich bereits aufgezeichnet und werde nichts mehr darüber sagen. Aber das muß ich sagen, die Behörden haben wirklich in vielen Fällen etwas für die Familien getan und sich ihrer angenommen, und besonders dadurch, daß sie aus solchen Häusern die Kranken, wenn sie einverstanden waren, entweder in das Pesthaus oder sonst an einen Ort wegschaffen ließen oder dafür die Erlaubnis gaben; manchmal willigten sie auch ein, daß die nichtkranken Personen einer Familie, wenn die Auskunft über sie lautete, sie seien gesund, weg-

zogen; sie mußten dann nur in dem Haus, zu dem sie sich begaben, so lange in Quarantäne bleiben, wie man es von ihnen verlangte. Auch die Mühe, die man sich bei den Behörden gab, arme Familien, die befallen waren, zu versorgen – mit dem Notwendigen zu versorgen, sage ich, mit Arznei sowohl wie Nahrung –, war groß, und man begnügte sich dabei nicht damit, den dafür bestellten Beamten die erforderlichen Anordnungen zu geben, sondern die Stadträte kamen in Person und zu Pferde häufig zu solchen Häusern geritten und ließen die Leute an den Fenstern fragen, ob man ihnen gebührlich zu Diensten sei oder nicht; und auch, ob sie etwas Dringendes bräuchten und ob die Dienstleute immer ihre Botschaften überbrachten und eingeholt hätten, was sie wünschten, oder nicht. Und wenn sie mit Ja antworteten, war alles in Ordnung; aber wenn sie sich beklagten, sie würden schlecht versorgt und die Dienstleute täten nicht ihre Pflicht oder behandelten sie unhöflich, dann wurden sie (die Dienstleute) meistens entfernt und andere an ihre Stelle gesetzt. Zwar mochten solche Beschwerden ungerechtfertigt sein, und wenn der Dienstmann Beweise zur Hand hatte, um den Obrigkeitsvertreter zu überzeugen, daß er im Recht war und die Leute ihm Unrecht getan hatten, dann blieb er im Amt, und sie wurden zurückgewiesen. Aber eine genaue Untersuchung war hier nicht gut möglich, denn die Parteien konnten auf der Straße und vom Fenster aus nur sehr schlecht Rede und Antwort stehen, so wie die Dinge nun einmal lagen. Die Obrigkeitsvertreter entschieden sich deshalb dafür, im allgemeinen eher den Leuten recht zu geben und den Dienstmann abzusetzen, weil das immer noch das geringere Übel war und die weniger schlimmen Folgen hatte; wenn man sah, daß dem Dienstmann Unrecht geschehen war, konnte man ihn leicht dafür entschädigen, indem man ihm einen anderen ­Posten der gleichen Art gab; wenn hingegen die Familie zu leiden ­hatte, gab es nichts, um es wiedergutzumachen, und der ­Schaden war vielleicht nicht mehr zu beheben, da es ja um ihr­ Le­ben ging. Die verschiedensten solcher Fälle ereigneten sich immer wieder zwischen den Wachmännern und den eingesperrten Leuten, abgesehen davon, was ich vorher über das Entweichen erwähnte. Da waren die Wachmänner manchmal abwesend, manchmal betrunken, manchmal eingeschlafen, wenn die Leute sie brauchten, und so etwas wurde immer unweigerlich schwer bestraft, wie es auch recht war. Aber trotz allem, was in diesen Fällen geschah oder hätte geschehen können, brachte das Absperren der Häuser – so daß, wer gesund war, mit denen, die krank waren, zu127

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

sammen festgesetzt wurde – große Unzuträglichkeiten mit sich, von denen man manche wahrhaft tragisch nennen muß und die der näheren Betrachtung wert gewesen wären, hätte der Raum dafür ausgereicht. Aber das Gesetz hatte es so bestimmt, es hatte als seinen hauptsächlichen Zweck das öffentliche Wohl im Auge, und all das Unrecht, das bei seiner Ausführung den einzelnen zugefügt wurde, muß auf Rechnung des öffentlichen Wohlergehens gesetzt werden. Es ist bis auf den heutigen Tag zweifelhaft, ob dies, im ganzen gesehen, irgend etwas dazu beigetragen hat, die Infektion aufzuhalten, und ich kann allerdings nicht sagen, daß es das getan hätte, denn nichts glich der Wut und der Raserei, mit der die Infektion zu der Zeit um sich griff, wo sie am heftigsten war, und das, obwohl die befallenen Häuser so zuverlässig und so wirksam abgesperrt waren, wie es nur möglich war. Sicher ist, daß wenn alle befallenen Personen wirklich eingeschlossen worden wären, kein Gesunder hätte von ihnen angesteckt werden können, weil sie ihm gar nicht ­nahegekommen wären. Aber die Sache war so, und ich will das hier nur erwähnen, nämlich, daß die Infektion sich unmerklich fortpflanzte, und zwar durch solche Personen, die nicht sichtbarlich befallen waren und die weder wußten, wen sie ansteckten, noch von wem sie angesteckt worden waren. Ein Haus im Whitechapel war um einer erkrankten Magd willen geschlossen worden, die nur Flecken hatte, die Anzeichen waren bei ihr noch nicht hervorgetreten, und sie wurde gesund; doch diese Leute erhielten nicht die Erlaubnis, sich hinauszurühren, weder um Luft zu schöpfen, noch um sich Bewegung zu verschaffen, vierzig Tage lang. Mangel an frischer Luft, Furcht, Zorn, Streitereien und all die anderen kummervollen Begleiterscheinungen solch einer ärgerlichen Behandlung stürzten die Dame des Hauses in ein Fieber, und Visitatoren kamen ins Haus und sagten, es sei die Pest, obwohl die Ärzte erklärten, sie sei es nicht. Jedoch die Familie wurde gezwungen, ihre Quarantäne von neuem zu beginnen, nur auf den Bericht des Visitators oder Gesundheitsinspektors hin, obwohl an ihrer vorigen Quarantäne nur noch wenige Tage bis zum Ende fehlten. Dies bedrückte sie mit Zorn und Gram und schränkte sie räumlich so sehr, wie auch schon vorher, ein, und dazu dieser Mangel an frischer Luft zum Atmen, daß die ­meisten der Familie krank wurden, der eine an diesem Gebrechen, der andere an jenem, in der Hauptsache an SkorbutKrankheiten; nur einer bekam eine heftige Kolik; bis, nach mehreren Verlängerungen ihrer Quarantäne, irgend jemand, der mit den Visitatoren, als sie die Kranken inspizieren kamen, mitging, in der Hoffnung, ihre Freigabe zu erwirken, die Pest ins Haus mitbrachte und sie alle ansteckte, und die meisten von 128

ihnen starben, nicht als hätten sie schon vorher die Pest gehabt, sondern weil ihnen Menschen die Pest ins Haus brachten. Und so etwas geschah häufig, und es war in der Tat eine der schlimmsten Folgen des Absperrens von Häusern. Ich habe hier noch kein Wort über die Arzneien und Präparate gesagt, die wir gewöhnlich bei dieser schrecklichen Gelegenheit gebrauchten – ich meine uns, die wir häufig hinaus über die Straßen gingen, so wie ich es tat; hierüber wurde in den Büchern und Handzetteln unserer Quacksalber viel Gerede gemacht, wie ich es ja schon zur Genüge geschildert habe. Es mag jedoch noch hinzugefügt werden, daß das Kollegium der Ärzte täglich mehrere Rezepte veröffentlichte, die sie im Laufe ihrer Praxis erprobt hatten; aber das kann man ja gedruckt finden, und aus dem Grunde möchte ich nicht wieder davon sprechen. Etwas, was sich meiner Beobachtung aufdrängte, war das Schicksal eines Quacksalbers, der öffentlich kundgetan hatte, er besitze ein ausgezeichnetes Vorbeugungsmittel gegen die Pest, das man nur bei sich zu haben brauche, um nie infiziert zu werden oder in Ansteckungsgefahr zu kommen. Dieser Mann, von dem wir wohl mit Grund annehmen können, daß er nie sein Haus verließ, ohne etwas von seinem ausgezeichneten Vorbeugungsmittel mit sich in der Tasche zu führen, wurde dennoch von der Pest ergriffen und in zwei oder drei Tagen dahingerafft. Ich gehöre nicht zu den Arznei-Gegnern oder Arznei-Verächtern; im Gegenteil, ich habe oft erwähnt, welche Achtung ich vor den Verordnungen meines besonderen Freundes Dr. Heath hatte; aber ich muß gestehen, ich gebrauchte wenig oder gar nichts, außer daß ich, wie ich schon berichtete, ein Präparat von starkem Duft in Bereitschaft hielt, für den Fall, daß mir etwas mit lästigem Geruch begegnete oder ich zu nahe an einem Friedhof oder einer Leiche vorbeikam. Auch tat ich nicht, was andere, wie ich weiß, taten, nämlich sich immerfort in gehobener und angeregter Stimmung zu halten, indem man Herztränke oder Wein oder dergleichen zu sich nahm; dieses, so habe ich erfahren, hatte sich ein gelehrter Arzt so sehr angewöhnt, daß er nicht mehr davon loskam, als die Seuche schon längst vorbei war, und auf diese Weise für sein ganzes Leben ein Trunkenbold wurde. Ich erinnere mich, wie mein Freund, der Doktor, immer sagte, es gebe eine bestimmte Anzahl von Drogen und Medikamenten, die sicherlich im Falle einer Seuche alle gut und nützlich seien und aus denen oder mit denen die Ärzte eine unendliche Vielfalt von Medizinen mischen könnten, so wie die Glockenspieler durch die wechselnde Anordnung des

1665 – daniel defoe – die pest zu london

Tons von nur sechs Glocken mehrere hundert verschiedene Melodien machen könnten; und all diese Medizinen seien tatsächlich sehr gut. »Deshalb wundere ich mich nicht«, sagte er, »daß eine so große Menge von Medizinen in der gegenwärtigen Pestzeit angeboten wird und daß beinahe jeder Arzt etwas anderes verschreibt oder zusammenstellt, je nachdem sein Wissen oder seine Erfahrung ihn anleitet; aber«, sagte mein Freund, »lassen wir einmal alle Rezepte aller Ärzte in London untersuchen, so werden wir feststellen, daß sie alle aus den gleichen Bestandteilen bestehen, mit so geringen Abwandlungen, wie sie die Phantasie den einzelnen Doktoren eingegeben hat; und deshalb kann jedermann, wenn er ein wenig seine Konstitution und Lebensart und die möglichen Umstände seiner Ansteckung in Betracht zieht, sich aus den üblichen Drogen und Medikamenten seine eigene Medizin verschreiben. Nur daß die einen eben dies als das wichtigste ansehen, die anderen jenes. Einige meinen, daß pill. ruff., was als die Antipestpille schlechthin gilt, das beste Präparat ist, das man machen kann; andere glauben, daß Venetianischer Sirup schon allein ausreichend sei, der Ansteckung Widerstand zu leisten; und ich«, so schloß er, »halte es mit beiden, nämlich ich glaube, das letzte ist gut, um es im vornhinein als Vorbeugung zu nehmen, und das erste, um die Krankheit, wenn sie einen befallen hat, auszutreiben.« Dieser Meinung folgend, nahm ich mehrere Male Venetianischen Sirup ein, machte eine kräftige Schwitzkur hinterher und fühlte mich so gefeit gegen die Ansteckung, wie man sich durch die Macht der Arzneien nur gefeit machen kann. Was die Quacksalber und Marktschreier angeht, von denen die Stadt so voll war, so hörte ich auf keinen von ihnen, und ich habe es immer wieder mit Verwunderung bemerkt, daß zwei Jahre lang nach der Pest kaum einer von ihnen in der Stadt zu sehen oder zu hören war. Einige waren des Glaubens, sie seien alle bis auf den letzten von der Seuche hinweggerafft worden und darin müsse man ein besonderes Zeichen göttlicher Rache erblicken, dafür, daß sie das Volk in die Grube der Vernichtung geführt hätten, nur um des kleinen Geldgewinns willen, den sie dabei ergatterten; aber ich kann wieder nicht so weit gehen. Daß mehr als genug von ihnen starben, ist sicher; viele davon kamen zu meiner eigenen Kenntnis; aber daß sie alle hinweggefegt wurden, möchte ich sehr bezweifeln. Ich glaube eher, sie sind aufs Land geflüchtet und haben ihre Tricks an den Leuten dort versucht, die ja in banger Furcht lebten, bevor die Pest zu ihnen kam. Das jedoch ist gewiß: Keiner von ihnen ließ sich eine ganze Weile lang in oder bei London sehen. Es gab zwar einige Ärzte, die auf gedruckten Handzetteln ihre verschiedenen

medizinischen Präparate anpriesen, um den Körper, wie sie es nannten, zu entschlacken; das sei, so behaupteten sie, nach der Pest für solche Leute, die heimgesucht und gesund geworden waren, notwendig; hingegen war es, glaube ich, die Meinung der hervorragendsten Ärzte der damaligen Zeit, daß die Pest schon selbst eine ausreichende Entschlackungskur war und daß alle, die lebend durchgekommen waren, keine Medizin zur weiteren innern Körperreinigung benötigten, da die eiternden Wunden und die Geschwüre, die auf Anordnung der Ärzte zum Aufgehen gebracht und offengehalten wurden, das zur Genüge besorgt hätten; und daß alle anderen Krankheiten und Krankheitsstoffe auf diese Art wirksam entfernt worden seien; und da die Ärzte dies überall, wo sie hinkamen, als ihre Meinung kundtaten, blieb den Quacksalbern wenig Geschäft zu machen. Es ereigneten sich da allerdings einige kleine Aufregungen nach dem Abklingen der Pest; ob man es mit Absicht darauf angelegt hatte, die Bevölkerung in Schrecken und Aufruhr zu versetzen, wie einige es vermeinten, kann ich nicht sagen; aber man kündigte uns des öfteren an, die Pest werde um die und die Zeit zurückkehren. Der berühmte Solomon Eagle, der nackte Quäker, von dem ich schon sprach, prophezeite jeden Tag neue Übel; und verschiedene andere erklärten uns, London sei noch nicht genügend gezüchtigt worden und schlimmere und heftigere Schläge stünden noch bevor. Hätten sie es damit genug sein lassen oder hätten sie sich zu Einzelheiten herabgelassen und uns gesagt, die Stadt werde im nächsten Jahr durch Feuer vernichtet werden, dann hätte man es uns nicht verdenken können, wenn wir ihren prophetischen Geistern dann, als wir die Erfüllung der Vorraussagen erlebten, mehr als gewöhnliche Achtung erwiesen hätten; auf jeden Fall hätten wir mehr aufhorchen und ernsthafter nachforschen sollen, was sie wohl meinten und woher sie ihr Vorauswissen hatten. Aber da sie uns nur immer wieder von einem Rückfall in die Pest sprachen, haben wir seither nicht viel mit ihnen im Sinn; dennoch hielten sie uns mit ihrem häufigen Geschrei in einem Zustand ständiger Besorgnis, und wenn jemand plötzlich starb oder irgendwann einmal das Fleckfieber zunahm, gerieten wir sogleich in Schrecken; noch mehr freilich, wenn die Zahl der Pestfälle wieder anstieg, denn bis zum Ende des Jahres gab es noch in der ­Woche 200 bis 300 Pesttote. Bei jeder solchen Gelegenheit, sage ich, fielen wir von neuem in Angst. Diejenigen, die sich noch an die Londoner City vor dem Brande erinnern, müssen auch noch wissen, daß es damals den Platz, der jetzt Newgate Market heißt, nicht gab, sondern daß in der Mitte der Straße, die jetzt Blowbladder Stra129

reportagen und augenzeugenberichte aus 2500 jahren

ße heißt (sie erhielt ihren Namen von den Metzgern, die dort immer ihre Hammel schlachteten und ausnahmen und dabei, so scheint es, die Gewohnheit hatten, ihr Fleisch mit Schläuchen aufzublasen, um es dicker und fetter aussehen zu lassen als es war, und dort dafür vom Lordbürgermeister bestraft wurden) – ich sage, von dem Ende dieser Straße bis zum Newgate hin standen zwei lange Reihen von Buden, in denen Fleisch verkauft wurde. Es war in diesen Verkaufsbuden, daß zwei Personen beim Einkauf von Fleisch tot zu Boden fielen und damit Anlaß für das Gerücht gaben, daß alles Fleisch infiziert sei. Obwohl dies den Leuten einen Schrecken eingejagt haben mochte und das Marktgeschäft für zwei oder drei Tage verdarb, so stellte sich doch hinterher ganz klar heraus, daß an dem Gerede kein wahres Wort war. Aber wer kann etwas dafür, wenn ihn die Furcht so ergriffen hat, daß sein Geist ganz davon besessen ist! Es gefiel jedoch Gott, das Winterwetter anhalten zu lassen und die Gesundheit der Stadt so weit wiederherzustellen, daß wir vom folgenden Februar an die Pest als vollends überstanden betrachteten, und dann ließen wir uns nicht leicht mehr in Furcht versetzen. Es war nun noch eine Frage unter den Gelehrten, und den Leuten bereitete es anfangs ein wenig Kopfzerbrechen, nämlich wie man die Häuser, wo die Pest gewesen war, und ihr Inventar desinfizieren sollte und wie man wieder bewohnbar machen sollte, was während der Pest leergestanden hatte. Eine Vielfalt von Zerstäubungsmitteln und anderen Präparaten wurde von den Ärzten verschrieben, der eine empfahl dies, der andere jenes, und wenn die Leute darauf hörten, dann stürzten sie sich in große und, meiner Meinung nach, freilich unnötige Kosten, und die ärmeren Leute, die einfach Tag und Nacht ihre Fenster offenstehen ließen und Schwefel, Pech, Schießpulver oder dergleichen in ihren Stuben abbrannten, erreichten den gleichen Zweck; freilich die Leute, die, wie ich oben schilderte, so übereilt und unvorsichtig heimgekommen waren, fanden ihre Häuser und ihre Einrichtung keineswegs unbewohnbar, und sie taten kaum etwas daran. Jedoch wer klug und bedachtsam war, der ergriff im allgemeinen irgendeine Maßnahme, um sein Haus auszuräuchern

und zu entgiften, und brannte Riechwerk, Weihrauch, Harz oder Schwefel bei geschlossenen Fenstern ab und entfachte dann eine Pulverexplosion, damit der Windzug alles hinauswehe; andere ließen mehrere Tage und Nächte lang ununterbrochen große Feuer brennen; einige besorgten das so gründlich, daß dabei die Häuser Feuer fingen, und das war freilich eine wirksame Desinfektion, sie bis auf den Grund abzubrennen; so kam es einmal in Ratcliff vor, einmal in Holborn und einmal in Westminster, neben zweien oder dreien, die ebenfalls in Brand gerieten, aber glücklicherweise noch gelöscht werden konnten, bevor das Feuer so stark wurde, daß die Häuser verloren gewesen wären; und irgendwo, ich glaube es war in der Themse Straße, nahm ein Diener so viel Pulver, um das Haus seines Herrn von der Seuche zu reinigen, und er handhabte es so ungeschickt, daß er zum Teufel das Dach hochgehen ließ. Aber noch war die Zeit eben nicht gekommen, in der die Stadt durch Feuer gereinigt werden sollte, sie war allerdings auch nicht fern; und dann erst, so behaupten einige unserer QuackPhilosophen, seien die Keime der Pest endgültig zerstört worden, nicht aber vorher; ein Gedanke, der zu lächerlich ist, um ihn hier zu erörtern; denn wären die Keime der Pest immer noch in den Häusern und nur durch Feuer zerstörbar gewesen, wie kam es dann, daß die Pest nicht später wiederum ausgebrochen ist, da doch all die Häuser in den Vororten und der Stadtfreiheit, in den großen Pfarren Stepney, Whitechapel, Aldgate, Bishopsgate, Shoreditch, Cripplegate und St. Giles, wo das Feuer nicht hindrang und wo die Pest mit der äußersten Heftigkeit gewütet hatte, immer noch so stehen, wie sie vordem immer gestanden hatten.? Aber um mich mit diesen Dingen nicht weiter aufzuhalten, sicher ist, daß jene Leute, denen mit mehr als gewöhnlicher Vorsicht um ihre Gesundheit zu tun war, sich besondere Anleitungen geben ließen, um ihre Häuser, wie sie es nannten, zu »würzen«, und Unmengen kostspieliger Dinge wurden aus diesem Grunde verbrannt, und ich muß sagen, sie würzten nicht nur die Häuser derer, die das wünschten, sondern erfüllten die ganze Luft mit sehr angenehmen und herzhaften Düften, deren andere sich teilnehmend ebenso erfreuen konnten wie die, die die Kosten dafür trugen.

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Beschädigtes Leben Photographiert von Jean Chung

Sich angesichts der wirren Frontverläufe, der wechselnden Allianzen und der Vielzahl der involvierten Parteien ein klares Bild von der Lage zu machen, fällt schwer. Seit 1994 dauert jetzt der Ressourcenkrieg im Kongo, und ein Ende ist nicht in Sicht. Machtpolitische Ambitionen, ethnischer Haß, die Bedürfnisse des Weltmarkts sowie nationale Interessen sorgen dafür, daß der Konflikt in Gang gehalten wird. Zu den Akteuren zählen multinationale Konzerne, Staaten wie Südafrika und Angola, ­Warlords, die Armee des Nachbarlandes Ruanda, marodierende Milizen und Todesschwadronen sowie die internationale ­Friedenstruppe. Den Preis für den Wahn der anderen hat die Zivilbevölkerung zu zahlen. Über fünf Millionen Menschen hat der Krieg bisher das Leben gekostet. Die Reportage der koreanischen Fotografin Jean Chung (*1970) aus der Provinz ­Nord-Kivu im Ostkongo widmet sich einem Thema, das in allen Konflikten mit ethnischem Hintergrund gegenwärtig ist:­ der massen­haften und systematischen Vergewaltigung von Frauen und Kindern.

aufmacherbild: Patientin im Africa-Heal-Krankenhaus in Goma kurz vor der Operation. Vor zwei Jahren ist sie von sechs ­Soldaten in einem Dorf im Distrikt Katanga ver­ gewaltigt worden. Die Männer führten dabei einen schneidenden Gegenstand in ihre Vagina ein, der schlimme Verletzungen hinterlassen hat.

18 000 Opfer von sexueller Gewalt nennt die Statistik für das Jahr 2006. Mehr als die Hälfte davon waren unter achtzehn Jahre alt. Wie hoch die wirklichen Zahlen sind, weiß niemand. Provinz Nord-Kivu, Kongo, Februar 2008

aussen:

innen:

Spielende Kinder in Bunagana. Die Stadt an der Grenze zu Uganda untersteht zu diesem Zeitpunkt der Kontrolle der Tutsi-Milizen von Laurent Nkunda.

Auf der Wiese hinter dem Keshero-Krankenhaus breiten Frauen ihre Wäsche zum Trocknen aus. Vor kurzem ist ein ­neuer Waffenstillstand zwischen Regierungstruppen und den aufständischen Tutsi-Milizen ausgehandelt worden. Auch Tage danach treffen täglich neue Opfer sexueller Gewalt in der Provinzhauptstadt ein. Einige von ihnen haben tagelange Reisen hinter sich.

Provinz Nord-Kivu, Kongo, März 2008

Goma, Provinz Nord-Kivu, Kongo, 2008

Spezialabteilung für die Opfer sexueller Gewalt im ­GESOM-Krankenhaus von Goma. Eine ältere Frau verbirgt ihr ­Gesicht. Kurz zuvor ist sie an einer Fistel operiert worden. Sexuelle Gewalt wird in diesem Krieg vorsätzlich gegen die ­Zugehörigen anderer Ethnien ausgeübt. Neben dem unsäglichen Leid, das sie über die Opfer selbst

bringt, zerschlägt sie natürlich ­ge­wachsene Bande und zielt auf die Verkrüppelung der ganzen Gemeinschaft ab. Viele Frauen werden nach der ­­Vergewaltigung wegen der Schande von ihren Ehemännern verlassen. Goma, Provinz Nord-Kivu, Kongo, 2008