Neuner, Prof. Dr. Peter

Neuner, Prof. Dr. Peter Freitag, 16:30 Uhr Pressezentrum Sperrfrist: 30.05.2014; 16:30 Uhr Bereich: Zentrum Ökumene Veranstaltung: Martin Luther ...
Author: Hansi Bayer
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Neuner, Prof. Dr. Peter Freitag, 16:30 Uhr Pressezentrum Sperrfrist:

30.05.2014; 16:30 Uhr

Bereich:

Zentrum Ökumene

Veranstaltung:

Martin Luther für Katholiken

Referent/in:

Prof. Dr. Peter Neuner, Dogmatiker und Ökumeniker, Vaterstetten

Ort:

Kolpinghaus, Kolpingsaal, Adolph-Kolping-Str. 1

Programm Seite:

303

Dokument: 3884

Die Einstellung zu Luther hat sich im Laufe der Geschichte erheblich verändert, in der katholischen Theologie und Kirche wohl noch mehr als in der evangelischen. Das katholische Lutherbild war über Jahrhunderte hinweg geprägt durch das Werk des Cochläus aus dem Jahr 1549, also nur drei Jahre nach Luthers Tod entstanden. Darin zeichnet Cochläus Luther als "Zerstörer der Kircheneinheit, den skrupellosen Demagogen und frechen Revolutionär, der durch seine Häresien unzählige Seelen ins Verderben gestürzt, unendliches Leid über Deutschland und die ganze Christenheit gebracht hat"1. Kaum eine Verdächtigung und Beschuldigung blieb ihm erspart. Dieses Werk war über fast 400 Jahre hinweg die wichtigste Quelle für das katholische Lutherbild. Noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts suchte Heinrich Denifle2 in seinem umfangreichen und zweifellos kenntnisreichen Werk über den Reformator zu beweisen, dass Luther die Rechtfertigungslehre "nur zu dem Zweck erfunden habe, um desto sorgloser und sicherer sein ausschweifendes Leben führen zu können"3. Zahlreiche Zitate aus Luthers Predigten und Schriften, in denen er den Zustand der Christenheit kritisierte, dienten Denifle als Beleg für diese Wertung der Reformation. Mit ihr glaubte man auch den Erfolg der neuen Lehre erklären zu können, denn wer ließe sich nicht gerne sagen, dass er selbst gar nichts zu leisten habe und fröhlich sündigen könne, da die Sünde der eigentliche Stoff sei, auf den Gott wirke. Der Durchbruch zu einer neuen Sicht Luthers vollzog sich im 20. Jahrhundert in vielen Schritten. Wichtige Namen sind Sebastian Merkle, Joseph Lortz, Erwin Iserloh, Otto Hermann Pesch, viele andere wären zu nennen. Von besonderem Gewicht war die Aussage von Kardinal Willebrands, dem damaligen Präfekten des römischen Einheitssekretariats bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im Jahr 1970. Er sagte damals: Wir dürfen "mit Freude feststellen, dass in den letzten Jahrzehnten bei katholischen Gelehrten ein wissenschaftlich genaueres Verständnis für die Reformation und damit auch für die Gestalt Luthers und seiner Theologie gewachsen ist ... Der jahrelange Dialog hat mit vielen Missverständnissen aufgeräumt. Wer vermöchte heute ... zu leugnen, dass Martin Luther eine tief-religiöse Persönlichkeit war, dass er in Ehrlichkeit und Hingabe nach der Botschaft des Evangeliums forschte? ... Er mag uns darin gemeinsamer Lehrer sein, dass Gott stets Herr bleiben muss und dass unsere wichtigste menschliche Antwort absolutes Vertrauen und die Anbetung Gottes zu bleiben hat"4. Luther unser gemeinsamer Lehrer? Ganz so weit ist Papst Benedikt XVI. nicht gegangen, aber auch er hat Luther bei seinem Besuch im Augustinerkloster in Erfurt am 23. September 2011 gewürdigt, an dem Ort, wo Luther nicht Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.

-2nur seine erste Messe gefeiert, sondern auch seinen reformatorischen Durchbruch erfahren hatte. Durch seinen Besuch und in seiner Ansprache hat der Papst Luther nicht als Kirchenspalter kritisiert, sondern positiv über ihn gesagt: „Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist.“ Diese Grundentscheidung für Gott hat Benedikt als Leitmotiv für unsere Zeit hervorgehoben und damit Luther zumindest indirekt als Lehrer im Glauben gezeichnet. Nun: Was haben wir von ihm gelernt, was können wir heute noch gemeinsam von ihm lernen? Auf manches könnte man hier verweisen, etwa auf die Hochschätzung der Schrift, die Botschaft von der Würde aller Getauften, von der Freiheit eines Christenmenschen und seines Gewissens, vom Amt als Dienst am Volk Gottes, man könnte verweisen auf die Konzentration aller Glaubensaussagen auf die Botschaft vom Kreuz und auf das „was Christum treibet“. Ich möchte den Punkt herausgreifen, der im Zentrum von Luthers Glaubensbewusstsein stand und an dem das gemeinsame Lernen inzwischen auch kirchenamtlich Frucht getragen hat, nämlich die Botschaft von der Rechtfertigung aus Glauben. Luther war als Mönch umgetrieben von der Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott. Als Mönch im Kloster in Erfurt fühlte er sich als Sünder. Allein würde er einmal vor seinem Richter stehen. Was muss ich tun, so seine bange Frage, um in diesem Gericht bestehen zu können. Werden all meine Gebete, Messen, Beichten, frommen Übungen wirklich helfen? Werden sie genug sein, werde ich Genugtuung geleistet haben für meine Schuld? Die Antwort, die Luther im Römerbrief fand, lautete: Der Gerechte lebt aus dem Glauben. Luther selbst beschreibt später diese Entdeckung als Erleuchtung. Rechtfertigung, so seine Deutung, geschieht gar nicht durch unser Tun, unsere Werke, unsere Bußübungen, sondern sie wird uns zuteil im Glauben, ohne dass wir sie verdient hätten. Nicht was wir tun, rechtfertigt, sondern was Gott in Christus für uns getan hat. Anteil erhalten an der Gerechtigkeit Gottes können wir allein durch den Glauben erlangen, sola fide. Glaube, das ist hier offensichtlich, ist nach Luther primär nicht ein Für-Wahr-Halten von Sätzen, sondern eine Existenzweise, in der der Mensch in Gott gründet, so dass er nicht auf seine eigene Leistung vertraut, sondern auf Gott und auf ihn allein. Glaube ist also nicht menschliche Leistung, ein neues Werk, vielleicht einfacher zu vollziehen als manche schwere und belastende Bußübung, wie Luther sie in seiner Zeit im Kloster verrichtet hatte, sondern gerade der Verzicht darauf, auf eigene Leistung zu hoffen. Werke sind nicht schlecht, aber sie können nicht helfen, nicht gerecht machen, auf sie zu vertrauen ist Unglaube. Glaube entspricht der Existenz des Menschen vor Gott: Offen sein auf ihn, leben mit dem Schwerpunkt in ihm. Unglaube dagegen ist das Zurückgekrümmtsein des Menschen auf sich und die eigene Leistung, die Selbstverschließung und damit die Abwehr gegen Gott. In solcher Haltung verfehlt der Mensch Gott und damit zugleich auch sich selbst. Er bleibt in sich verkrüppelt. Erst im Glauben öffnet er sich auf Gott als sein Gegenüber und wird dadurch zum “Aufrechten Gang”. Der Glaube konstituiert den Menschen als Person. Glaube ist in diesem Verständnis primär nicht ein intellektuelles Für-Wahr-Halten von Dogmen und Katechismussätzen, sondern er ist die Gesamthaltung des Menschen gegenüber dem Gott, zu dem er sagt: Ich glaube Dir, ich glaube an Dich, ich vertraue Dir und vertraue mich Dir an. Diese Botschaft von der Rechtfertigung ist nun bei Luther nicht eine in sich stehende Glaubensaussage, sondern, wie es in lutherischer Tradition formuliert ist, der Punkt, mit dem Glaube und Kirche stehen und fallen. “Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden”5. Sie ist die Mitte des Glaubens, das, was Luther kurzgefasst als “das Evangelium” bezeichnet. Die Botschaft, dass Gott in Jesus das Heil gewirkt hat, wird zum systematischen Ansatz, von dem aus sich die ganze Glaubenslehre Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.

-3entfaltet. Darum ist sie das Kriterium, an dem alle Lehraussagen und jede kirchliche Ordnung sich ausrichten müssen, sie ist “nicht lediglich ein Teilstück der Glaubenslehre, sondern deren kritischer und konstruktiver Inbegriff”6. In der konkreten Umsetzung dieses Programms werden in der Reformation alle Vorstellungen und Praktiken abgewiesen, durch die der Mensch aus eigener Kraft Heil verdienen, Verdienste erwerben und so sein Heil schaffen möchte. Der Ablasshandel war nur die auffälligste Form dieses Wunsches. Weil Luther in der römischen Kirche das so umschriebene Evangelium preisgegeben, der Werkerei und der Verfügung über Gott geopfert sah, musste er sich von ihr lossagen. Er war überzeugt, dass die römische Kirche im Ablasshandel, in der Forderung von guten Werken, in der Lehre von der Messe als Opfer und vom kirchlichen Amt, insbesondere vom Papstamt, die Botschaft von der Rechtfertigung und damit das Evangelium verraten habe. Aussagen über die als Opfer der Kirche verstandene Messe oder vom Papst als Antichrist sind insofern nicht verbale Entgleisungen aus der Konfliktsituation heraus, sondern sie sind theologisch ganz präzise gemeint. Luther war zutiefst überzeugt, dass in der römischen Kirche den Menschen das Evangelium und damit das Heil verschlossen werde, dass sie die Menschen also geradewegs ins Verderben führt. Das ist der Ernst der Reformation. Wer dies nicht mitbedenkt und die Reformation allein als Machtkampf, als Streit um ärgerliche Missstände, als Eitelkeit und Rechthaberei interpretiert, wird dem Geschehen in seiner Tiefe nicht gerecht. Natürlich haben all diese Dinge mitgespielt, in Rom und bei den Bischöfen ebenso wie bei den protestierenden Reichsständen. Aber die Auseinandersetzung war dort, wo sie auf den Punkt kam, die Frage um das Heil, um die ewige Seligkeit und um den rechten Weg dazu. Und dieses Problem steht auch dann, wenn Missstände – etwa des Ablasshandels – beseitigt sind. Wodurch wird uns das Heil zuteil: allein durch Christus oder auch durch unser Tun? Von dieser Frage herausgefordert hat die römische Kirche im Konzil von Trient ihre Botschaft von Erlösung und Rechtfertigung umschrieben. Auch dieses Konzil hat definiert, dass das Heil des Menschen nicht dessen Verdienst ist, sondern allein göttliches Geschenk, dass sich der Mensch aus eigener Kraft das Heil nicht verdienen kann, aber auch nicht verdienen muss, sondern dass es ihm geschenkt wird, aus Gnade, ohne unser Verdienst. So heißt es im Konzil: “Wer sagt, der Mensch könne durch seine Werke, die durch die Kräfte der menschlichen Natur oder vermittels der Lehre des Gesetzes getan werden, ohne die göttliche Gnade durch Christus Jesus vor Gott gerechtfertigt werden, der sei ausgeschlossen”7. Diese Aussage richtete sich gegen manche Position, die das Heil allzu sehr an menschliches Tun gebunden hatte und die Vorstellung erweckte, als könne sich der Mensch, jedenfalls in bestimmtem Umfang, selbst erlösen. Es ging das Wort um: “Wenn der Mensch leistet, was in seinen Kräften steht, versagt ihm Gott die Gnade nicht”. Es wurde die Lehrmeinung vertreten, Christus habe Genugtuung geleistet für die Erbsünde, für die individuellen Vergehen müsse jeder seine eigene Sühne erbringen. Solche Vorstellungen lieferten eine theoretische Begründung für den Ablass, und sie forderten den Widerspruch Luthers heraus. Es ist leider wenig bekannt, dass genau diese Vorstellungen auch durch das Konzil von Trient als mit dem katholischen Glauben unvereinbar zurückgewiesen wurden. Der berühmte Kirchenhistoriker Adolf von Harnack hat schon vor rund hundert Jahren festgestellt, wäre diese Aussage des Konzils von Trient nicht erst 1547, also ein Jahr nach Luthers Tod erfolgt, sondern bereits 1517 beim Thesenanschlag die offizielle kirchliche Lehre und Praxis gewesen, hätte die Reform der Kirche im 16. Jahrhundert einen anderen Verlauf genommen. Doch in den konkreten Ausführungen und in den Konsequenzen dieser Grundaussage gab es Differenzen zwischen Trient und der lutherischen Rechtfertigungslehre, und an ihnen entzündeten sich gegenseitige Lehrverwerfungen. Diese Verwerfungen richteten sich nicht gegen die Grundaussage der Rechtfertigungslehre, sondern gegen die aus ihr gezogenen unterschiedlichen Konsequenzen. Protestantischerseits sah man in der Betonung von guten Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.

-4Werken im Prozess der Rechtfertigung, wie sie das Konzil von Trient formulierte, den Versuch des Menschen, sich letztlich doch durch eigene Werke das Heil verdienen zu wollen, sich Gott gegenüber abzusichern und durch magische Praktiken über ihn zu verfügen. Katholischerseits sah man im evangelischen Verständnis eine Entwürdigung des Menschen, die Preisgabe seiner Verantwortung. Wegen der Kritik an der Forderung nach guten Werken erschien die Reformation als eine Brutstätte der Unmoral und als Ursache für den Zusammenbruch aller guten Sitten. Die Übereinstimmung in der Grundaussage der Rechtfertigung schloss also nicht aus, dass in der konkreten Ausgestaltung Differenzen blieben, von denen zumindest manche von beiden Seiten als kirchentrennend erachtet wurden. Intensive theologische Arbeit kam zu dem Ergebnis, dass die Lehrmeinungen und die Praktiken, gegen die sich die Verwerfungen des 16. Jahrhunderts im Rahmen der Lehre von der Rechtfertigung richteten, in den heutigen Kirchen nicht mehr vertreten werden, diese also nicht treffen. Bleibende Differenzen erwiesen sich angesichts des bestehenden Grundkonsenses als nicht mehr kirchentrennend. Was in den Verwerfungen des 16. Jahrhundert abgelehnt wurde, stellt nicht oder nicht mehr die offizielle Lehre der Partnerkirche dar. Unterschiede in den konkreten Ausgestaltungen bleiben, aber sie heben den Grundkonsens nicht wieder auf. So konnten der Lutherische Weltbund für die evangelischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche am 31. Oktober 1999 in Augsburg feierlich die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnen. Sie stellen fest, dass die überkommenen Verwerfungen in der Lehre von der Rechtfertigung den ökumenischen Partner nicht – oder nicht mehr – treffen und bleibende Unterschiede die Kirchen nicht von einander trennen. Darüber hinaus wurde in dieser Erklärung auch festgestellt, dass diese Botschaft von der Rechtfertigung Kriterium für die rechte Glaubenslehre und für die kirchliche Praxis darstellt, dass ihr also keine Lehraussage der Kirche und keine ihrer Praktiken und Frömmigkeitsformen widersprechen darf. Die zentrale Botschaft, wie sie Luther formulierte, trennt nicht die Kirchen, wie über Jahrhunderte hinweg gelehrt, sondern eint sie. Seitdem diese Botschaft von der Rechtfertigung im 16. Jahrhundert festgeschrieben wurde, hat sich in der Christenheit und in unserem Denken vieles geändert. Wir sind heute in aller Regel nicht mehr von dem Sündenbewusstsein erfüllt, das Luther die Frage nach dem barmherzigen Gott hat stellen lassen. Wie soll man diese Botschaft einem Menschen verkünden, der das Heil nicht von einem gnädigen Gott erwartet, sondern sich als seines Glücks eigener Schmied versteht? Die Klage darüber, wie schwierig es ist, diese Botschaft dem Menschen heute plausibel zu machen, ist auch in den lutherisch geprägten Kirchen weit verbreitet. Hat man in Luther einen Lehrer gefunden, der für beide Partner obsolet geworden ist und dessen zentrale Aussage nur auf allgemeines Unverständnis stößt? Mir scheint, dem ist nicht so. Es ist eine Grunderfahrung, die wir alle machen, dass wir die Dinge, die in unserem Leben am meisten zählen, nicht machen oder kaufen können, dass sie uns zuteil werden und wir sie als Geschenk empfangen: Dass wir sind, dass wir gesund sind, dass das Leben in Familie und mit den Kindern glücklich wird: all das ist nicht einfach unsere Leistung. Es wird uns als Geschenk zuteil – oder auch nicht. Die Botschaft von der Rechtfertigung sagt, dass das Glücken unseres Lebens im Ganzen, seine Sinnhaftigkeit, nicht einem blinden Zufall anheimgegeben ist, sondern dass es uns als Geschenk eines uns liebenden Gottes zugesagt und verheißen ist. Der Erfolg unseres Lebens hängt letztlich nicht an unserer Leistung und unserem Verdienst. Auch derjenige, der sich im Kampf und Wettbewerb nicht durchsetzen kann, steht unter der Verheißung, dass ihm umsonst zuteil wird, was ihm durch seine Leistung verschlossen bleiben müsste.

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-5Ein zweiter Punkt: Der Mensch geht nicht auf in dem was er tut, weder in seinen guten noch in seinen schlechten Taten. Er ist als Person immer mehr als das, was er geleistet oder verfehlt hat, er ist mehr als die Summe seiner Taten. Auch dort, wo er nichts oder als kranker und alter Mensch nichts mehr zu leisten vermag, hat er seinen Wert in sich. Das gilt vor allem in Grenzsituationen, wo der Mensch nichts erbringen kann, wo er vielleicht auch gar nicht liebenswert ist, wo sich das Empfinden und die Gesellschaft gegen ihn stellen. Er ist eben nicht nur der “Kranke”, der sich und anderen nur Mühe bereitet, oder der “Verbrecher”, der durch seine Taten definiert wäre. Oder allgemeiner: Auch derjenige, der sich selbst keine Heilschance auszurechnen vermag, bei dem vieles oder alles schief gelaufen ist, steht unter der Verheißung, die gerade dem Sünder gilt. Ich darf Ja zu mir sagen, weil Gott schon Ja zu mir gesagt hat, unabhängig von Kontostand und Zeugnisnoten. Damit hängt die Überzeugung zusammen, dass der Mensch als Person einen absoluten Wert darstellt. Dieser ist ihm nicht durch die Gesellschaft verliehen, auch nicht durch seinen Verstand oder sein Bewusstsein, sondern durch eine Wirklichkeit, die unbedingt und nicht verfügbar ist, und die den Menschen der Verfügbarkeit enthebt. Er darf nie Mittel zum Zweck werden. Glaubende sagen zu dieser Wirklichkeit Gott. Wo diese Fundierung des Menschen entfällt, ist letztlich kaum noch zu begründen, warum die Gesellschaft Wert und Würde nicht auch einmal absprechen kann, wenn sich jemand so richtig “menschenunwürdig” erweist und verhält. Ein letzter Aspekt, der mir besonders wichtig geworden ist: Auch unser Tun steht unter der Verheißung der Rechtfertigung. Darum können und dürfen wir tun, was uns möglich ist, selbst wenn wir in konkreten Situationen vorhersehen, dass wir nicht Erfolg haben werden, dass wir hinter dem zurückbleiben, was wir anstreben. Aber weil ich Fehler machen darf, darum kann ich überhaupt erst handeln. Wenn das Perfekte, das Ganze, das Heil von mir gefordert wäre, würde das jedes Tun unmöglich machen. Aber weil auch Fehler vergeben werden, kann ich getrost tun, was in meiner Macht steht und zwar so gut, wie ich es mit meinen begrenzten Möglichkeiten eben vermag. So gesehen führt die Botschaft von der Rechtfertigung nicht zur Passivität, sondern sie befreit zum Tun, weil sie von einem mich stets überfordernden Leistungsdruck befreit. Die Botschaft von der Rechtfertigung kann sehr wohl eine Ethik begründen. Diese Botschaft von den befreienden Konsequenzen der Rechtfertigung in der Kirche und in der Gesellschaft zu verkünden, ist eine Aufgabe, die heute der Christenheit als Ganzer aufgetragen ist. Nur gemeinsam und sicher nicht gegen einander können wir diesem Auftrag gerecht werden. Luther ist eine der großen Gestalten der christlichen Tradition und er steht als solcher neben Augustinus und Thomas von Aquin und Newman, um nur einige Namen zu nennen. Auch katholische Theologen dürfen sich auf ihn berufen. Zusammen mit ungezählten anderen ist er Zeuge des Glaubens. Keiner, auch keiner der Großen, hat die Sache, um die es geht, ausgeschöpft, aber alle haben darum gerungen, die Botschaft den Menschen ihrer Zeit getreu zu verkünden. Und schließlich hat jeder das Recht, nicht von seinen Grenzen und Schwächen, sondern von seinen Stärken, von seiner besten Seite her beurteilt zu werden. Ich sehe Luther als einen Repräsentanten der christlichen Botschaft und damit als Lehrer im Glauben. Gott sei Dank: Die Berufung auf ihn führt zusammen, nicht mehr auseinander.

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1

Zitiert bei H. Jedin, Wandlungen des Lutherbildes in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, in: Wandlungen des Lutherbildes (Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, Heft 36), Würzburg 1966, S.80. 2

H. Denifle, Luther und Luthertum in ihrer ersten Entwicklung, 2 Bde., Mainz 1904/1909.

3

B. Lohse, M. Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 2. Aufl. 1982, S. 241.

4

Die Rede ist dokumentiert in: Lutherische Rundschau 20 (1970) S. 447-460.

5

So Luther in den Schmalkaldischen Artikeln II,1, BSLK, S. 415.

6

G. Wenz, Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre?, in: Una Sancta 52 (1997) 242.

7

DH 1552

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