Naturalisierung des Geistes oder Natur und Geist? 1

„Naturalisierung des Geistes“ oder „Natur und Geist“? 1 Eduard Marbach Universität Bern Die im Titel gestellte Frage, ‚Naturalisierung des Geistes od...
Author: Ralf Albrecht
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„Naturalisierung des Geistes“ oder „Natur und Geist“? 1 Eduard Marbach Universität Bern

Die im Titel gestellte Frage, ‚Naturalisierung des Geistes oder Natur und Geist?’ möchte ich in folgender Weise zu klären versuchen (zu beantworten wäre vermessen). Der erste Teil im Titel, „Naturalisierung des Geistes“, steht für die hauptsächlich in der analytischen „Philosophie des Geistes“ in der zweiten Hälfte des 20. Jh. und immer noch in weiten Kreisen programmatisch verfolgte Zielsetzung im Umgang mit dem „bewussten Geist“, „the conscious mind“: Diesem die gemäss der sog. „Cartesianischen Tradition“ vermeintliche Sonderstellung als res cogitans abzusprechen und ihm einen Ort innerhalb der Gesamtheit der natürlichen Welt der res extensae zuzuweisen. Ich werde die Frage nach einer solchen Naturalisierung im Verlaufe meiner Überlegungen mit ‚ja und nein’ dahingehend verdeutlichen, dass zwar aufgrund des heutigen naturwissenschaftlichen Wissens vieles für eine Naturalisierung des Geistes spricht, dass aber der Versuch, den bewussten Geist restlos auf die eine physikalisch erkennbare Natur zu reduzieren, an der dem bewussten Geist eigentümlichen Natur, d.h. seinem Wesen, vorbeizielt bzw. nicht wirklich verständlich machen kann, worin dieses Wesen besteht. Dementsprechend ist das ‚oder’ im Titel nicht im starken Sinne eines exklusiven (entweder – oder; aut – aut), sondern im schwachen Sinn eines gleichstellenden ‚oder’ (vel) zu lesen. Anders gesagt, meine Überlegungen können auch als Argumentation zugunsten einer Anerkennung von ‚Natur und Geist’ gemäss ihrer jeweiligen Eigenartigkeit verstanden werden. „Natur und Geist“ im zweiten Teil des Titels markiert nun auch ein, wenn nicht gar das Hauptproblem der philosophischen Phänomenologie Edmund Husserls, jedenfalls in seinem späteren Werk: eine gegenüber der Naturwissenschaft eigenständige Wissenschaft und Philosophie des Geistes, des Bewusstseins, der Subjektivität und Personalität zu entwickeln, wie Iso Kern in seiner Besprechung von Husserls Vorlesungen über „Natur und Geist“ vom Sommersemester 1927 herausgestellt hat. 2 In der Einleitung der Vorlesung über „Natur und Geist“ von 1919 schrieb Husserl bereits, dass „die Regionen Natur und Geist [...] sich wechselseitig zu umgreifen und dann doch wieder radikal zu trennen scheinen“. Und er fügte hinzu: Das Merkwürdige ist aber, dass eine Vertiefung in die Probleme, die sich bei dem Versuch der Klärung dieser Regionen und ihrer Scheidung aufdrängen, sehr bald zur Erkenntnis führt, dass sie ganz nah mit den grossen Weltanschauungsproblemen zusammenhängen, dass es sich hier also nicht um interessante Spezialprobleme blosser Wissenschaftstheorie handelt, sondern um Probleme, mit deren Lösung auch für den ‚Standpunkt’ der philosophischen Welterkenntnis entschieden wird. 3

Husserls Denken hat mich schon seit den 1960er Jahren in den Bann gezogen und so stark geprägt, dass ich mir auch gegenwärtige Problemstellungen im Rückgang auf seine Begriffsschemata verständlich zu machen versuche. Dabei bin ich, auf das Thema von Natur und Geist bezogen, ziemlich vorbelastet durch die von Husserl sehr oft geäusserte Kritik an Vorhaben der Naturalisierung – oder, wie er auch sagt, 1 Öffentliche

Abschiedsvorlesung, 27. Mai 2008, Unitobler, Bern. Kern 2003. 3 Hua XXXII, 175. 2 Siehe

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der ‚Realisierung’ oder ‚Verdinglichung’ - von Geist und Bewusstsein. Zum Beispiel, in einem seiner Manuskripte aus dem Jahre 1910 heisst es gar: «Bewusstsein, das ist [...] keine Sache, kein Anhang (Zustand, Betätigung) an einem Naturobjekt. Wer errettet uns vor der Realisierung des Bewusstseins? Das wäre der Retter der Philosophie, ja der Schöpfer der Philosophie».4 In seinen Vorlesungen zur Einleitung in die Ethik (1920/24) mit einem Exkurs über „Natur und Geist“ ist zu lesen: Imitation führt immer zur Unechtheit, zur Verfälschung, und [das] in allen Kulturgebieten. Jedes hat seine eigene Sinnesstruktur, jedes daher seine eigenen Ziele, seine eigentümlichen Methoden. Die Imitation der Naturwissenschaft führte zur widersinnigen Naturalisierung des Geistes [...] So weit der Naturalismus reicht, so weit herrscht [...] die theoretische Blindheit für das Spezifische des Geistes [...].5

Und in Vorlesungen von 1923/24, einer „Kritischen Ideengeschichte“, spricht Husserl wiederum ausführlich über die «Verkehrtheit der Naturalisierung des Bewusstseins», die «nicht nur für das Ich, sondern für alles, was dem Bewusstsein als Bewusstsein wesenseigen ist, blind macht». 6 Lassen Sie mich nun zunächst exemplarisch belegen, wie sehr demgegenüber die Naturalisierung des Geistes zum Forschungsprogramm der heutigen (vorwiegend der analytischen, da und dort aber auch der phänomenologisch orientierten) Philosophie des Geistes gehört. In einem vor wenigen Monaten bei OUP erschienenen Buch Beyond Reduction. Philosophy of Mind and Post-reductionist Philosophy of Science (2007) hält der Autor Steven Horst gleich zu Beginn des I. Kapitels, “Varieties of Naturalism. What Is a Naturalistic Philosophy of Mind?” fest: Inmitten aller Meinungsverschiedenheiten der Beteiligten steche doch die Verpflichtung auf eine naturalistische Philosophie des Geistes als konsensfähig heraus. Seiner Feststellung, «almost everyone writing in philosophy of mind over the past several decades has described his or her theory as ‘naturalistic’»,7 ist sicherlich zuzustimmen, aber auch seinem Kommentar, dass sich hinter dem Etikett ‚naturalistisch’ subtile Differenzierungen verbergen, angesichts der Tatsache, dass sowohl reduktionistische wie nichtreduktiv-physikalistische, funktionalistische, informations- und evolutionstheoretische, aber auch Eigenschaftsdualistische Positionen, wie z.B. die von David Chalmers, als „naturalistic“ oder eben als „naturalistic dualism“ bezeichnet werden. Ich werde nicht in Einzelheiten eintreten. Hingegen möchte ich noch einige prägnante Aussagen zum Naturalismus und/oder Physikalismus prominenter Philosophen des Geistes kurz vorstellen. So beschreibt zum Beispiel Colin McGinn in seinem Aufsatz Consciousness and Content von 1988 die standardmässige zeitgenössische Auffassung von Naturalismus in der Philosophie des Geistes wie folgt: Naturalism in the philosophy of mind is the thesis that every property of mind can be explained in broadly physical terms. Nothing mental is physically mysterious. There are two main problems confronting a naturalistically inclined philosopher of mind. There is, first, the problem of explaining consciousness in broadly physical terms: in virtue of what does a physical organism come to have conscious states? And, second, there is the problem of explaining representational content – intentionality – in broadly physical terms: in virtue of what does a physical organism come to be intentionally directed towards the world? We want a naturalistic account of subjectivity and mental representation. Only then will the naturalist happily accept that there are such things as consciousness and content. 8 4 Ms.

A I 36, 193b. XXXVII, 122f. 6 Hua VII, 105f. 7 Horst 2007, 11. 8 McGinn 1988, 23. 5 Hua

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David Chalmers beginnt seinen Aufsatz Consciousness and its Place in Nature von 2002 wie folgt: Consciousness fits uneasily into our conception of the natural world. On the most common conception of nature, the natural world is the physical world. But on the most common conception of consciousness, it is not easy to see how it could be part of the physical world. So it seems that to find a place for consciousness within the natural order, we must either revise our conception of consciousness, or revise our conception of nature. 9

Galen Strawson eröffnet seinen Beitrag Realistic Monism. Why Physicalism Entails Panpsychism so: I take physicalism to be the view that every real, concrete phenomenon in the universe is ... physical. It is a view about the actual universe, and I am going to assume that it is true. [...] I will equate ‚concrete’ with ‚spatio-temporally (or at least temporally) located’, and I will use ‘phenomenon’ as a completely general word for any sort of existent. Plainly all mental goings on are concrete phenomena. [...] one thing is absolutely clear. You’re certainly not a realistic physicalist, you’re not a real physicalist, if you deny the existence of the phenomenon whose existence is more certain than the existence of anything else: experience, ‘consciousness’, conscious experience, ‘phenomenology’, experiential ‘what-it’s-likeness’, feeling, sensation, explicit conscious thought as we have it and know it at almost every waking moment. 10

Kennzeichnend für die vorherrschende objektivistische naturalistisch-physikalistische Geisteshaltung, welche sich durch beliebig viele weitere Zitate dokumentieren liesse, sind auch Titel von Büchern und Aufsätzen wie zum Beispiel Jaegwon Kim (1998), Mind in a Physical World, inspiriert von C.D. Broad’s Werk von 1925, The Mind and its Place in Nature; David Chalmers, Consciousness and its Place in Nature (2002), sowie A. Freeman (ed.), Consciousness and its Place in Nature. Does physicalism entail panpsychism? Sondernummer des Journal of Consciousnes Studies, 2006, mit Beiträgen von Galen Strawson et al.; ferner Jaegwon Kim’s (2005), Physicalism, or Something Near Enough. Es sei noch erwähnt, dass ,Physicalism’ nicht bei allen Autoren eine strenge Beschränkung auf das Vokabular und die (als vollendet und optimal gedachte) Theorie der Physik meint. Deshalb die Rede von „broadly physical terms“, womit durchaus auch Biologie und Neurowissenschaften mitbegriffen werden und z.B. Galen Strawson von ‚physicalism’ spricht, wenn er den engeren Sinn im Auge hat. Das Vokabular bei den Autoren ist ohnehin im Fluss. Strawson, zum Beispiel, gebraucht neuerdings ‚physicalism’, wo er früher von ‚materialism’ sprach; andere wiederum ziehen es vor, anstatt von ‚physicalism’ (wegen der nicht geteilten Einschränkung auf die eigentliche Physik) eher von ‚naturalism’ zu sprechen (z.B. Peter Simons, 2006). Wir können festhalten: In den heutigen Diskussionen in der Philosophie des Geistes und der Philosophie der Psychologie stehen Bestrebungen der Naturalisierung von Geist und Bewusstsein stark im Vordergrund. Namhafte Philosophen scheinen ernsthaft der Überzeugung zu sein, dass man dem Geistigen in unserer Welt nur dann Realität und kausale Wirksamkeit zusprechen könne, wenn es vollständig, oder doch so gut wie vollständig, naturalisiert werden kann. In Anbetracht des wissenschaftlichen Weltbildes, das seit langem auch philosophisches Fragen stark beeinflusst, kommt dieser Überzeugung auf den ersten Blick hohe Plausibilität zu. Soweit ich sehe, bezieht sich die Rede vom Geistigem in diesen Diskussionen nämlich auf geistige Zustände und 9 Chalmers 10 Strawson

2002, 247. 2006, 3.

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deren Eigenschaften (des Bewusstseins, der Phänomenalität, der Intentionalität oder Repräsentation, und natürlich auch der Subjektivität), insofern sie sich in objektiver Betrachtungsweise oder „von aussen“ aufgrund des Verhaltens darbieten. In dieser Aussenperspektive oder, wie man heute oft sagt, Dritte-Person-Perspektive erscheint es nichts als konsequent, alles als real Geltende der Gesamtnatur einzuordnen, es naturalistisch zu reduzieren, und dies in einem starken Sinn struktureller Angleichung an die eine, natürliche, räumlich-zeitlich-kausale Ordnung der physikalischen Welt. Diese Ausseneinstellung oder Dritte-Person-Perspektive bildet jedenfalls so etwas wie die „default“-Position der meisten analytischen Philosophen des Geistes (vgl. D. Lewis, D. Dennett, F. Dretske, M. Tye, C. McGinn, J. Kim, D. Papineau, R. Millikan, P. und P. Churchland, usw.). Wenn man sich hingegen phänomenologisch in der Innenbetrachtung oder der Erlebnisperspektive reflektierend auf subjektives Bewusstseinsleben selbst einlässt und dieses in seinen, wie sich dann zeigt, eigentümlichen Strukturen zu artikulieren unternimmt, stösst man auf fundamentale Schwierigkeiten betreffs seiner naturalisierenden Einordnung oder Reduktion im starken Sinne struktureller Angleichung an die Gesamtnatur. Aufgrund methodologischer Überlegungen ist einer naturalistischen Betrachtung von Geist, Bewusstsein, Subjektivität zwar auch aus phänomenologischer Perspektive ein beschränktes Recht zuzugestehen, jedoch an einer Theoriebildung, die den Menschen und die Welt überhaupt nur als eine erweiterte Natur betrachtet, differenziert Kritik zu üben. Diese methodologischen Überlegungen sind für den nun folgenden Gedankengang bestimmend. Sie betreffen unterschiedliche Einstellungen oder Interessen, welche mit entsprechenden Erfahrungen einhergehen und auf das jeweilige Subjekt oder eine Subjektgemeinschaft hinweisen. Meine These lautet: Wenn man bereit ist, die phänomenologischen Gegebenheiten bezüglich des eigenen Wesens des subjektiven Bewusstseinslebens nicht einfach als Illusion abzutun, 11 sondern als auf Erfahrung gründende Einsicht in etwas, was es gibt, anzuerkennen, dann liegt es in der Konsequenz, auch die Antwort zu akzeptieren, dass sich eine Naturalisierung dieser subjektiven Phänomene im starken Sinne struktureller Angleichung an die Gesamtnatur nicht durchführen lässt. Ich werde zudem wenigstens andeuten, in welchem berechtigten Sinn auch in phänomenologischer Perspektive von einer Naturalisierung von Geist und Bewusstsein gesprochen werden kann, ja muss. Ich möchte diesbezüglich von einer Naturalisierung in einem schwachen Sinne von Einordnung in die natürliche Weltordnung- jedoch nicht struktureller Angleichung an sie - sprechen. Lenken wir nun die Aufmerksamkeit auf den allgemeinen methodologischen Punkt unterschiedlicher Einstellungen oder Interessen, dem in der philosophischen Phänomenologie grosse Bedeutung zukommt. 12 Ein Grundunterschied bzgl. der Einstellungen betrifft ganz allgemein die phänomenologische (oder philosophische) Einstellung gegenüber der natürlichen Einstellung. Die natürliche oder auch vor-phänomenologische Einstellung lässt viele weitere Differenzierungen zu, so in theoretisch-wissenschaftliche, speziell natur- oder geistes- und sozialwissenschaftliche, aber auch lebenspraktische, ästhetische, ethische Einstellungen oder Interessen. Hinter solcher Differenzierung verbirgt sich wohl, ganz allgemein gesprochen, die aristotelische Überzeugung, dass die Natur (im Sinne von Wesen) eines Untersuchungsgegenstandes und die diesem 11 Deutlich in Richtung Illusion oder Fiktion argumentiert, wenn ich ihn richtig verstehe, vgl. vor allem Metzinger 1996, 149ff. Wohl auch Dennett 1991. 12 Eine gute kurze Diskussion der Bedeutung von Husserls Lehre der Einstellungen bietet Sokolowski 2000, 4.

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entsprechende ursprüngliche Erfahrung die Methode vorschreibt. 13 Dementsprechend war Husserl jedenfalls einer Vielfalt von Erfahrungsweisen sowie diesen angemessenen Begriffen, Kategorien und Methoden gegenüber offen. Und vor allen Dingen war er sich deutlich dessen bewusst, dass die eine oder andere Einstellung jeweils im Sinne eines Thematisierens der einen oder anderen Seite dessen, was es gibt, zu verstehen ist. Jede solche thematische Einstellung bringt zugleich auch eine Art „Abstrahieren“ mit sich. Besonders im Falle wissenschaftlicher Einstellung, aber auch in der rein phänomenologischen, vollzieht sich solches Abstrahieren willentlich, unter bewusster Ausschaltung des nicht zum Thema Gehörigen. 14 Für unseren gegenwärtigen Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen naturalistischer und phänomenologischer Einstellung wegweisend. Es ist wohl wahr, wie eingangs angedeutet, dass nicht immer klar ist, was mit Naturalisierung in unserem Zusammenhang genau gemeint ist, 15 doch in erster Annäherung handelt es sich um folgendes. In methodologischer Hinsicht ist eine Hinwendung zu empirischer Theoriebildung bezüglich des Geistigen nach dem Modell der Naturwissenschaften gemeint, also eine Abwendung von jedweder an Übernatürliches appellierenden und in diesem Sinne „meta-physischen“ Betrachtung. In ontologischer Hinsicht – es sei denn, man sei Eliminativist – geht es bei den Naturalisierungsbestrebungen darum, auch geistige Zustände und ihre Eigenschaften als ganz natürliche Phänomene mit einer ganz und gar natürlichen Entwicklungsgeschichte aufzufassen und in die physikalische Welt einzuordnen; denn nur natürliche Gegenstände, Arten und Eigenschaften gelten als real. Unter mehr oder weniger expliziter Berufung auf den wissenschaftlichen Realismus liegt es dann nahe, das, was hier als natürlich gelten soll, dem gleich zu setzen, was durch die Naturwissenschaften anerkannt wird. 16 Massgebend ist die Annahme der ontologischen Einheit der Wissenschaft. Es ist die Annahme, dass die Gegenstände aller Theorien aus demselben Stoff aufgebaut sind, den zu entdecken letztlich Aufgabe der Physik sei. So auch für die subjektiven Bewusstseinserlebnisse: Als Hervorbringungen des Gehirns werden sie ihrem ontologischen Status nach letztlich durch Physik als Funktionszusammenhänge oder Komplexe von elementaren neuronalen Vorgängen erkennbar werden. Ich möchte nun diese Auffassungsweise, die Husserl als naturalistische Einstellung bezeichnete, nun kritisch aus der phänomenologischen Perspektive etwas näher beleuchten. Husserl hat die naturalistische Einstellung gelegentlich auch als eine „künstliche“ 17 Einstellung bezeichnet, und zwar in folgendem Sinne. Sie bewegt sich zwar durchaus selbst auf dem Boden der „natürlichen Einstellung“ und in der für diese charakteristischen Seinsgewissheit bezüglich ihres Themas, verfolgt jedoch ein spezielles, einseitig abstrahierendes Erkenntnisinteresse. Auf der Grundlage dieses Interesses ist im Zuge der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften ein ganz neuer Begriff von „Natur“ in Kraft getreten. Für diesen, gemäss Husserl vor allem durch Galileo Galilei entwickelten Begriff ist ein theoretisches Interesse leitend, das methodisch konsequent von allem Subjektiv-Relativen der uns sinnlich so und so erscheinenden Natur absieht und das sich zum Ziele setzt, die Natur mit Hilfe mathematischer Idealisierungen und diesen sich annähernder Messverfahren so zu erkennen, wie sie an sich, das heisst, wie sie rein objektiv betrachtet ist. 18 Oder – um 13 Vgl.

z. B., Hua IV, § 19, 90f. z. B., Hua VI, 308f. 15 Vgl. dazu kritisch Stich und Laurence in Stich 2007, Kap. 5. 16 Vgl. etwa Schmitt 1995, 343ff. ferner Metzinger 1996, 132. Und ganz neu und ausführlich Horst 2007. 17 Vgl. z.B. Hua IV. 18 Am ausführlichsten hat Husserl über diesen Weg zu den mathematisierten Naturwissenschaften 14 Vgl.

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eine oftmals wiederkehrende Ausdrucksweise zu erwähnen, die Husserl wohl von Kant oder von Bacon übernommen hat – , es ist das theoretische Interesse, die Natur so zu erforschen, wie sie als „sich selbst überlassene“ ist. 19 In der naturalistischen Einstellung wird die natürliche Welt, das objektive räumlichzeitlich-kausale Universum sozusagen als der Gesamtrahmen vorausgesetzt, innerhalb dessen alles und jedes geschieht und überhaupt geschehen kann. Auf unsere Problematik von bewusstem Geist und seinen Eigenschaften bezogen, lässt sich dann etwa folgendes sagen: Innerhalb dieses objektiven Gesamtrahmens, und zwar neben unzählig vielen anderen Dingen und Ereignissen, gibt es auch verschiedenartigste Wesen oder Kreaturen mit geistigen Zuständen. Wie spätestens seit Darwin die Evolutionstheorie überzeugend nachweist, sind diese Wesen als sehr späte Produkte der Gesamtevolution des Universums anzusehen, die sich über riesige Zeiträume sehr allmählich differenziert und insbesondere immer mehr auch kompliziert haben. Ferner gibt es physikalische Dinge und Ereignisse, die geeignet sind, bewusste geistige Zustände mittels der Leibkörper und insbesondere der Gehirne jener Wesen oder Kreaturen zu stimulieren. In dieser für die modernen Naturwissenschaften verbindlichen und, wie ich meine, für diese auch völlig legitimen Betrachtungsweise kommen die Natur und die objektive Zeit der Natur zuerst, und zwar wird der Ursprung des Universums nach heutigem kosmologischen Wissen vor etwa 13, 7 Millliarden Jahren angesetzt. Bewusste geistige Zustände jener evolutionären Spätprodukte gelten, wenn sie dieser Auffassung zufolge überhaupt im Kausalschema der Dinge bewahrt und nicht einem blossen Epiphänomenalismus oder geradezu einem Eliminativismus anheim gegeben werden, natürlicherweise als etwas in die Welt der Natur Eingefügtes, das irgendwann in der Vergangenheit aufgetreten ist. In diesem Sinne sind geistige Zustände und ihre Eigenschaften Bestandteile der einen Gesamtnatur, des Universums. Sie können so auch als etwas gesehen oder eventuell hypothetisch angenommen werden, was sich mit den Begriffen, Kategorien und Methoden der Naturwissenschaften über die alltägliche Vertrautheit hinaus tiefer erkennen lässt oder doch auf diesem Wege, soweit es nicht bereits befriedigend geschehen ist, erkennen lassen müsste. Dabei scheint mir noch speziell erwähnenswert, dass es in dieser naturalistischen, objektiven oder Dritte-Person-Perspektive im Grunde genommen irgendein Organismus ist, gleichgültig welcher im besonderen, der bewusste geistige Zustände hat oder dem solche zugeschrieben werden. Bisweilen wird spezieller das Bewusstsein irgendeines nicht-menschlichen oder aber irgendeines menschlichen Lebewesens dieser oder jener Alters- oder Entwicklungsstufe untersucht. Kurzum, in dieser naturalistischen Perspektive ist bewusstes Erleben, rätselhaft genug, irgendwie ein Vorkommnis „dort draussen“ in der Welt der Natur, in der objektiven Raum-Zeitlichkeit und in der objektiven Kausalität. In einem Text von Husserl aus dem Jahre 1934 wird die allgemeine Stossrichtung dieser naturalistischen Einstellung in einigen lapidaren Sätzen wie folgt umrissen: Die Welt sei als Kosmos betrachtet: als objektive raumzeitliche Welt, Sternenwelt mit in der postum veröffentlichten Krisis-Schrift von 1936 reflektiert. Vgl. darin besonders den grossen sog. „Galilei“-Paragraphen: Hua VI, § 9, 20-60. 19 Vgl. z.B. die in Anm. 6 erwähnte Abhandlung, Hua VI, 294, et passim. – Vgl. auch Ms. M III 3 XI, Zum Problem der Möglichkeit einer parallelistischen Psychologie (1921): «Eine Physik, die davon abstrahiert, dass wirkende Personen in der Welt sind, schafft die Idee einer sich selbst überlassenen und dann auch ohne Einwirken von Personen ihre Gesetzlichkeit bewährenden Natur. Sie experimentiert zwar in personaler Willkür, aber sie betrachtet das erwirkte Geschehen eben rein als ein in der Natur vorkommendes und fragt nur nach seinen naturalen Folgen [...]. Sie interessiert sich eben nur für naturale Zusammenhänge und die darin herrschende Gesetzlichkeit. Sie folgt dem Prinzip: alles was in der Natur möglich ist, ist in ihr als selbst überlassener Natur möglich, und darum glaubt sie nun, alles sei natural eindeutig bestimmt» ( 35f.).

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den darunter seienden Erden. Auf unserer Erde ist der Mensch ein „unbedeutendes“ Vorkommnis. Ähnlich ist unsere Erde ein geringfügiger Himmelskörper, und so jede Erde im Sternenall. [...]. Es heisst nun aber: Der Mensch entwickelt sich auf der Erde, er ist als Spezies in der universalen Speziesgenese auf seiner Erde geworden, Speziesgeburt. Die menschliche Spezies war einmal nicht. Die Erde selbst war einmal nicht, und jedwede Erde. Kann man nun sagen: Das Sternenall, darin das Erdenall, war einmal nicht? Das ist eine zeitliche Rede. 20

Husserl selbst hat, wie gesagt, den abstrahierenden Charakter solchen Naturwissenschaftlichen Denkens, das sich systematisch und konsequent vollzogenen methodischen Entscheidungen verdankt, stark betont. Gleichzeitig hat er durch den Nachweis der fundamentalen Abhängigkeit naturwissenschaftlichen Forschens von solchen abstrahierenden Thematisierungen aber auch das wissenschaftliche Weltbild relativiert. Ich verstehe es so: Es ist verkehrt, das uns heute praktisch zur fraglosen Selbstverständlichkeit gewordene naturwissenschaftliche Weltbild als die ganze Wahrheit oder als die letzte, fundamentalste Wahrheit bezüglich dessen, was es gibt und wie es ist, anzusehen; denn dieses Weltbild selbst, bzw. die darauf gestützten wissenschaftlichen Erkenntnisse betreffen eben nur einen abstrakten Teil vom Ganzen, der in der naturalistischen Einstellung fälschlicherweise verabsolutiert wird. 21 Husserl sagte geradezu, die rein physische Betrachtung der Natur überhaupt und dann auch der biophysischen, organischen Natur sei eine Abstraktion, «deren verhängnisvolles Missverständnis die nahezu allgemeine Auffassung mit sich führte, dass die physische Natur ein in sich völlig abgeschlossener Zusammenhang eindeutig in sich bestimmten Geschehens sei». 22 Im Bewusstsein der Möglichkeiten und Grenzen entsprechender Einstellungen oder Erkenntnisinteressen kritisierte er die naturalistisch verdinglichende und verräumlichende Auffassung des Geistigen als grundverkehrte Konstruktionen, die ganz unmöglich gewesen wären, wenn man das eigene Wesen der Subjektivität zunächst einmal eidetisch-phänomenologisch studiert hätte und dann, wenn man das Wesen der ‚sich selbst überlassenen Natur’ und den Sinn naturwissenschaftlicher Forschungsweise, weiter das Wesen der Animalität und Humanität (nach den konstitutiven Sinngebungen) und die dadurch vorgezeichneten Strukturen und Forschungseinstellungen der so notwendigen gründlichen und wirklich wissenschaftlichen Forschung unterzogen hätte. 23

Im folgenden möchte ich mich nun der phänomenologischen Einstellung zuwenden. Die Spannung von Innen- und Aussenperspektive bei der Frage nach der Naturalisierung von Geist, Bewusstsein, Subjektivität kommt gut in einem Text Husserls wohl aus dem Jahre 1918 zum Ausdruck. Er betont hier einerseits, dass jedes seelische Erlebnis, jedes subjektive Bewusstseinserlebnis ‚seinem eigenen Sinn nach ein Irrelatives’ ist, ‚ein absolutes Selbst’. Gemeint ist, dass subjektives Bewusstseinsleben sich nicht wie etwas Raumdingliches von der Art der Dinge der Natur als ein von hier aus so, von dort anders Erscheinendes gibt, sondern dass es in seinem Erscheinen, z.B. als subjektives Erlebnis des Wahrnehmens, Erinnerns, Phantasierens von etwas es selbst ist, unangesehen seiner durch den Leib vermittelten Beziehung auf Natur. Andererseits räumt er ein, dass durchaus auch von einer berechtigten Naturalisierung von Geist, Bewusstsein, Subjektivität zu sprechen ist. Er spricht der «Naturalisierung des Geistes, 20 Hua

XV, Nr. 38 (1934). der mehrfach erwähnten Abhandlung (vgl. Anm. 6) sagt Husserl: «’Naturalistische Einstellung’ ist keine zur natürlichen Weltauffassung gehörige, konstitutiv vorgezeichnete universale Blickrichtung, sondern das naturalistische Vorurteil» (Hua VI, 294, Anm. 2). 22 Vgl. in dem in Anm. 15 zitierten Ms. M III 3 XI, 36f. 23 Vgl. das in Anm. 15 bereits zitierte Ms. M III 3 XI, 39f. 21 In

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wenn ihr eigentümlicher Sinn klar gehalten wird, ein begrenztes Recht» zu. Diesen berechtigten Sinn erläutert er dahingehend, dass «eine bestimmte Zuordnung der Seele zu dem räumlichen Leib besteht, und nicht nur im ganzen, sondern auch nach differenzierten besonderen Regelungen». Es sei vor allem klar, «dass das ganze Reich der Empfindungen und Phantasmen in sehr regelmässiger Abhängigkeit steht von Prozessen im Organismus». Husserl spricht von der «Korrespondenz zwischen dem Zeitstrom des Seelenlebens und der objektiven Raumzeit». Er plädiert dementsprechend dafür, die hier geltenden empirischen Abhängigkeiten «auch ganz analog wie physische Kausalitäten» zu studieren, «psychophysische Gesetze» aufzusuchen und zuzusehen, «wie weit diese Regelungen und in welche seelischen Tiefen sie reichen». 24 Ohne dies hier weiter verfolgen zu können, möchte ich wenigstens folgendes festhalten: Es ist auch aus phänomenologischer Perspektive klar, dass jedenfalls die elementaren Bewusstseinserlebnisse des Empfindens, Wahrnehmens und des Vorstellens im Sinne von Modifikationen des Wahrnehmens (z.B. im Erinnern und Phantasieren) faktisch von leiblich-organischen Gegebenheiten und Vorgängen konditioniert und insofern vom Leib und mit ihm von der Natur nicht unabhängig sind. Dementsprechend schreibt Husserl: «Soweit ist also eine psychophysische Psychologie, eine Psychologie als „Naturwissenschaft“ voll berechtigt und durchaus unentbehrlich». Er fügt aber sogleich bei: «Sie [scil. die Psychologie als Naturwissenschaft] artet nur in Verkehrtheiten aus, wenn sie sich wirklich für eine neue Naturwissenschaft ansieht mit gleichen Zielen und Methoden wie die physische». 25 Husserl argumentierte gegenüber der naturalistischen Psychologie und Psychophysik seiner Zeit zugunsten einer «anderen, radikaleren Psychologie». Auf die rhetorisch gestellte Frage, warum es einer solchen bedürfe, gibt er die entwaffnende Antwort: «Einfach darum, weil das Seelische in seiner irrelativen Absolutheit ein anschaulich gegebenes Eigenwesen hat, das wir also in der Anschauung auch studieren müssen». 26 Unser Problembestand kann also auch so formuliert werden: Die Natur selbst hat – über Milliarden von Jahren – etwas hervorgebracht – oder war es immer schon da? – , was innerhalb der räumlich-zeitlich-kausalen Gesamtnatur einzigartig, sui generis, ist, in dem Sinne, dass es sich allein mit den Methoden, den Begriffen und Gesetzen der objektiv eingestellten Naturwissenschaften, entgegen einer Plausibilität solchen Vorgehens auf den ersten Blick, nicht als solches in seiner Existenz erklären, noch auch als solches, seinem eigenen Wesen nach, erkennen lässt. Zur Begründung lässt sich anführen, dass die radikalere, nämlich die auf die phänomenologische Methodologie gegründete Psychologie, im Gegensatz zur Physik, sich gerade auf das Studium der phänomenalen Ebene des anschaulich gegebenen subjektiven Bewusstseinslebens einlassen muss. Dieser Punkt betrifft eine auch heute noch als zentral empfundene Frage beim Studium von Bewusstsein. 27 Husserl argumentierte, dass die Physik die sinnenanschaulichen Dingphänomene als solche – also die Dinge in ihrer Farbigkeit etc., kurz in ihren sekundären Eigenschaften – nicht zu untersuchen brauche, weil die so erscheinenden Dinge für die Physik „kein wahres Sein“ sind und ihr nur in ihrer Einstimmigkeit dazu dienen, «ein wahres Sein zu indizieren und methodische Zählungen und Messungen durchzuführen». Für die von Husserl anvisierte Psychologie dagegen «sind die subjektiven Phänomene Sachen an sich 24 Vgl. Ms. L II 15, 22a. – Vgl. auch grosse Teile in Ideen II (Hua IV), die den Fragen einer berechtigten Naturalisierung von Bewusstsein gewidmet sind. 25 Ms. L II 15, 22a. – Vgl. auch etwa die Abhandlung Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Einstellung. Naturalismus, Dualismus undpsychophysische Psychologie (vor 1930), in Hua VI, 294-313. 26 Ms. L II 15, 22b. 27 Vgl. z. B. McGinn 1991, Kap. 4: The Hidden Structure of Consciousness.

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selbst, die ihr absolutes Eigenwesen haben». Gemeint ist, dass im Falle von Bewusstsein die Ebene des Erscheinens, des so und so Zumuteseins, der ‚What-it-is-Likeness’, die Wirklichkeit der Sache selbst ist, dass ‚hinter’ dem bewussten Erleben nicht noch nach einer eigentlichen Wirklichkeit des Bewusstseins zu suchen wäre, im Unterschied eben zur naturwissenschaftlichen Betrachtung der so und so erscheinenden Aussenwelt. Und dieses sich selbst zeigende Bewusstseinsleben muss vor allem erforscht werden. Dazu bedarf es Methoden, die sich die Perspektive der ersten Person oder eben die Innenperspektive des erlebenden Subjektes zu eigen machen und die, auf das so erworbene Wissen gestützt, mittels Zuschreibung die Erfahrung Anderer interpretiert. Ich kann hier auf die entscheidende Arbeit reflexiver phänomenologischer Begriffsbildung nur hinweisen. In Husserls Worten: Es gilt da systematisch aus der Anschauung selbst geschöpfte deskriptive Begriffe, eigenwesentliche Begriffe für alle Grundtypen von Phänomenen und für ihre eigenwesentlichen Zusammenhangsarten herzustellen und da vor allem das ungeheure Feld der Wesensnotwendigkeiten, Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten apriorischer Art zu durchackern. 28

Hiermit kommt in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass das Studium von Bewusstseinsphänomenen, die im Zentrum einer phänomenologischen Betrachtung von Geist, Bewusstsein, Subjektivität aus der Innenperspektive stehen, sich nicht unbesehen an Begriffen oder Kategorien orientieren darf, die in anderen Zusammenhängen mit anderen Methoden gebildet wurden. Vielmehr geht es darum, in geduldiger, reflexiv-orientierter Forschung, freilich im Ausgang von alltagssprachlichintersubjektiv verfügbaren Termini, Schritt für Schritt eine den Bewusstseinsstrukturen angemessene Begrifflichkeit systematisch zu entwickeln. Logisch gesprochen, bevor irgendwelche objektiv-wissenschaftlichen Theorien über Geist, Bewusstsein, Subjektivität etc. mit dem Anspruch der Sachangemessenheit auftreten können, müssen die subjektiven Strukturen analytisch in ihrer ihnen eigenen Beschaffenheit erfasst und mit einer entsprechenden Sprache beschrieben werden. Es scheint mir erhellend, an dieser Stelle ganz kurz den Grundgedanken des insbesondere in den Naturwissenschaften erfolgreichen Verfahrens des Reduktionismus als ‚Teil-Ganzes-Erklärung’ in Erinnerung zu bringen. Im Unterschied dazu will ich dann Husserls analytischen Umgang mit den subjektiven Bewusstseinserlebnissen kennzeichnen. Aus dem Vergleich sollte die Schwierigkeit erkenntlich werden, subjektives Bewusstseinsleben in struktureller Angleichung an die eine natürliche, räumlich-zeitlichkausale Ordnung der physikalischen Welt begreifen und entsprechend in einem starken Sinne naturalistisch reduzieren zu wollen. Reduktionistische Teil-Ganzes-Erklärungen können aufgefasst werden als 1. Erklärungen von Merkmalen eines ganzen Systems in Begriffen der Eigenschaften und Relationen seiner massgebenden Teile (proper parts), oder in Begriffen von Elementen, welche auf einer ontologischen Ebene liegen, die nicht komplexer ist als die ontologische Ebene der massgebenden Teile des Systems. 2. bottom-up Erklärungen ohne Rest. Dahinter steht die Auffassung, dass ein Ganzes als eine Funktion (im mathematischen Sinne) seiner konstituierenden Teile dargestellt werden kann, wobei die Funktionen mit der räumlichen und zeitlichen Anordnung der Teile und mit der genauen Art, in der sie interagieren, zu tun haben. 29 28 Ms.

L II 15, 22b, meine Hervorhebung. Medawar und J. Medawar 1983, 227.

29 Vgl.P.

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Eine reduktive Erklärung des Geistes würde demgemäss zuerst den Geist als aus Teilen zusammengesetzt auffassen (etwa, aus Netzwerken von neuronalen Zellen) und dann die Eigenschaften des Geistes in Begriffen des Verhaltens dieser Teile erklären. 30 Wenn man dann von der Annahme der ontologischen Einheit der Wissenschaft, auf die ich bereits hingewiesen habe, ausgeht, also von der Annahme, dass die Gegenstände aller Theorien aus demselben ‚Stoff’ aufgebaut sind, den zu entdecken letztlich Aufgabe der Physik ist, dann müssten auch die Bewusstseinserlebnisse als Hervorbringungen des Gehirns ihrem ontologischen Status nach letztlich durch Physik als Funktionszusammenhänge oder Komplexe von elementaren neuronalen Geschehnissen erkennbar werden. Dieser zunächst wohl plausiblen Annahme steht nun eine Schwierigkeit entgegen, die sich beim Versuch einstellt, subjektive Bewusstseinserlebnisse ohne Rest auf neuronale Gegebenheiten zurückzuführen und insofern auch strukturell den Gegebenheiten der natürlichen Ordnung der physikalischen Welt anzugleichen. Diese Schwierigkeit, die ich für unüberwindlich halte, empfinde ich aufgrund von Einsichten, welche Husserls Phänomenologie schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bereit gestellt hat. Wahrscheinlich ganz unabhängig von Husserl hat in unserer Zeit zum Beispiel auch Colin McGinn (1991) mehrfach auf den hier entscheidenden Punkt hingewiesen. Prägnant schreibt McGinn: A point whose significance it would be hard to overstress here is this: the property of consciousness itself (or specific conscious states) is not an observable or perceptible property of the brain. You can stare into a living conscious brain, your own or someone else’s, and see there a wide variety of instantiated properties – its shape, colour, texture, etc. – but you will not thereby see what the subject is experiencing, the conscious state itself. 31

Zur Erklärung, warum dem so sei, führt McGinn aus, dass die Sinne darauf eingestellt seien, eine räumliche Welt vorzustellen; dass sie wesentlich Dinge im Raum mit räumlich definierten Eigenschaften präsentierten. Bewusstsein lasse sich jedoch nicht kraft räumlicher Eigenschaften des Gehirns mit dem Gehirn verbinden. Das Gehirn ist ein im Raum ausgelegter Wahrnehmungsgegenstand; es enthält räumlich verteilte Prozesse, «aber Bewusstsein spottet der Erklärung in solchen Begriffen»: «Consciousness does not seem made up out of smaller spatial processes». Die weiterführende Leistung Husserls und der von ihm ausgehenden Phänomenologie besteht gerade darin, diese von McGinn eindringlich namhaft gemachte Schwierigkeit nicht bloss zu nennen. Vielmehr finden wir in der philosophischen Phänomenologie eine Fülle bewusstseinsanalytischer Spezifizierungen, in denen – mit einem emphatischen mutatis mutandis sei es gesagt – , im Geiste reduktiver Analyse innerhalb der thematisch reflexiv vorgegebenen Ebene der Bewusstseinserlebnisse in sich selbst in ihrer Reinheit oder Eigenwesentlichkeit versucht wird, diese Erlebnisse als Ganze oder als Einheiten von sie konstituierenden Mannigfaltigkeiten des Bewusstseins selbst zu artikulieren und so ihre unterschiedlichen intentionalen Leistungen verständlich zu machen. Wie Husserl oft sagt, «Bewusstsein ist durch und durch Bewusstsein». In einem Rückblick auf seine eigene Entwicklung des von Franz Brentano in ihm geweckten Gedankens der Intentionalität des Bewusstseins, den Husserl in Vorlesungen über Phänomenologische Psychologie im Sommer 1925 entwarf, bringt er die aus dem Text von McGinn vorhin angeführte Schwierigkeit klar zum Ausdruck. In einer meiner ‚Lieblingsstellen’ in Husserls Werk heisst es: 30 Vgl.

Horst 2007, 31 et passim. 1991, 10 f.

31 McGinn

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„Naturalisierung des Geistes“ oder „Natur und Geist“?

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In der ganzen naturwissenschaftlich orientierten Psychologie (ist) eine Auffassung des Seelenlebens herrschend, die es, wie selbstverständlich, als ein Analogon physischen Naturgeschehens ansah, als immer neu sich wandelnde Komplexion von Elementen. [...] Demgegenüber stellte sich nun heraus, dass diese ganze Auffassung sinnlos sei, dass Synthesis des Bewusstseins total anders ist als äussere Verbindung naturaler Elemente, dass es zum Wesen des Bewusstseinslebens gehört, an Stelle des räumlichen Aussereinander, Ineinander und Durcheinander und [anstelle] räumlicher Ganzheit ein intentionales Verflochtensein, Motiviertsein, ineinander meinend Beschlossensein in sich zu bergen und in einer Weise, die nach Form und Prinzip im Physischen überhaupt kein Analogon hat. Noch Brentano war im angegebenen Sinne Naturalist: so etwas wie intentionale Implikation und Intentionalanalyse als Analyse eventuell kontinuierlich ineinander gewickelter Sinngebung hat er noch nicht gekannt. 32

Wie Iso Kern in einer Neubesinnung auf die phänomenologische Methodologie ausführlich gezeigt hat, kann die reflexive Analyse die Bewusstseinserlebnisse in sich selbst in ihren Strukturen als ‚analytische Einheiten’ nachweisen, als Ganze oder Einheiten, deren Teile oder Viele bloss Momente ihrer selbst sind. 33 Diese Ganzen oder Einheiten sind nicht in objektiv-räumliche und objektiv-zeitliche Teile oder Konstituentien ausser-einander zu nehmen oder in partes-extra-partes Strukturen analysierbar, als welche demgegenüber irgendwelche unterscheidbaren Teile im Ganzen des Gehirns prinzipiell herausgestellt werden können – selbst die ständig sich erneuernden reziproken Verknüpfungen innerhalb des thalamokortikalen Kerns, wenn ich zum Beispiel Gerald M. Edelman’s (2006) darwinistisch inspiriertes Modell nicht völlig falsch verstehe. 34 Es sind die Befunde bezüglich Bewusstseinserlebnissen aufgrund der besonderen reflexiven Einstellung oder des besonderen reflexiven Erkennisinteresses, welche mir als Begründung dienen, die reduktive Naturalisierung von Geist, Bewusstsein, Subjektivität im starken Sinne struktureller Angleichung an die physikalische Natur abzulehnen. Zwar möchte ich dem Neurowissenschaftler Gerald M. Edelman (2006) zustimmen, der übrigens selbst festhält, „Subjectivity is irreducible“,35 wenn er schreibt: «Irreducible or not, we can agree that all these events [scil. the remainder of individual and historical events] are scientifically grounded in the natural order. The evolution of brains and conscious minds occurred by natural selection within the framework of physical laws». 36 Es bleibt aber meines Erachtens offen, wie letztlich subjektives Bewusstseinsleben in seinen intentionalen Implikationen aus den objektiven Strukturen des Aussereinander von Gehirnvorgängen resultieren kann. Oder anders formuliert: Es bleibt meines Erachtens eine unaufhebbare Schranke zwischen Bewusstseinserlebnissen und Gehirnvorgängen insofern, als die Erste-Person-Perspektive oder die Inneneinstellung nicht restlos mit der Dritte-Person-Perspektive oder der Ausseinstellung zur Deckung gebracht werden kann: was sich in der einen Perspektive zeigt, zeigt sich in der anderen gerade nicht, und umgekehrt. Stets noch hege ich indessen die Hoffnung, es komme allmählich zu gezielterer Zusammenarbeit zwischen Phänomenologen mit ihren Erkenntnissen aufgrund der Reflexion in der Inneneinstellung und Naturwissenschaftlern, vor allem Neurowissenschaftlern, mit ihren Erkenntnissen aufgrund von Forschungen in der Ausseneinstellung, unter Zuhilfenahme bildgebender und anderer Techniken. Noch steht hier 32 Vgl.

Hua IX, 36f.; meine Hervorhebung. Kern 1975, §§ 48-50. 34 Edelman 2006, 29, Fig. 2. 35 Edelman 2006, 84. 36 Edelman 2006, 85. 33 Vgl.

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ein langer Weg der Zusammenarbeit bevor, wenn das Eigenwesentliche von Geist, Bewusstsein, Subjektivität – nämlich als subjektiv-intentionales Bewusstseinsleben – ernstgenommen werden soll. Und damit meine ich, wenn es bei der Erforschung wirklich um Erklären und Verständlichmachen des bewussten Geistes, der Subjektivität als Subjektivität in der Natur gehen soll. Um mit Husserl zu schliessen: Der Sinn der naturwissenschaftlichen Objektivität bzw. der naturwissenschaftlichen Aufgabe und Methode [ist] ein grundwesentlich anderer als der der geisteswissenschaftlichen. Das gilt sowohl für die sogenannten konkreten Geisteswissenschaften als für die Psychologie. Man hat der Psychologie die gleiche Objektivität zugemutet wie der Physik, und eben damit ist eine Psychologie im vollen und eigentlichen Sinn ganz unmöglich gewesen; denn für die Seele, für die Subjektivität als individuelle, als Einzelperson und Einzelleben, ebenso wie als gesellschaftlich geschichtliche, als soziale im weitesten Sinne, ist eine Objektivität nach Art der naturwissenschaftlichen geradezu ein Widersinn. 37

Also, es bleibt noch viel zu tun! Als junger Gymnasiast in Willisau rezitierte ich einst vor Werner Bergengruen eines seiner Gedichte (Die himmlische Rechenkunst); darin hiess es: «Immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn» – das möchte ich eigentlich in dieser Stunde mir selber wünschen.

37 Hua

VI, 271.

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„Naturalisierung des Geistes“ oder „Natur und Geist“?

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