SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Musik – Wort/Musik

Essay Autor: Redakteur: Regisseur:

Andreas Meyer Lydia Jeschke Lydia Jeschke

Dunkle Saiten Robert Schumanns Spätwerk für Streicher

Studiobelegung: Sendung am:

4. Oktober 2010 1. November 2010, 23.03 Uhr

Rollen: Sprecher 1:

Karl-Rudolf Menke

Sprecherin:

Veronika Spindler

Zitate:

Martin Ruthenberg

Technik:

Rudjard Hasel

Produktionsnummer: 1003246

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Dunkle Saiten Robert Schumanns Spätwerk für Streicher

[Sprecher 1:] Eine drängende, eine fordernde Musik. Die Bewegung gleichmäßig skandiert, aber ohne Ruhepunkte, gleiche und ähnliche Figuren federn weit durch die Oktavräume, schwer–leicht, geballte Energie in punktierten Achteln und sforzati, schnelle Sechzehntel aufwärts und abwärts. Die Phrasen sind in sich verschlungen, fügen sich zu einer düsteren, „trugschlüssigen“ Harmonik; die erste reguläre Kadenz wird nach 24 Takten erreicht. Eine grandios zerklüftete Musik ist dies, eine weite Landschaft, bewegte See, die vormals beschauliche Idylle des Klaviertrios, der gehobenen Hausmusik weit hinter sich lassend. Eine Musik, die zur Biedermeierzeit entstand, im Herbst 1851, und die doch das „möbellastige“ Ambiente vergessen lässt.

[Sprecherin:] Schumanns erster Biograph, der Geiger Wilhelm Joseph von Wasielewski, hörte darin, mit Bedauern, „eine verdüsterte Stimmung“ und – wie in allen Werken des Jahres 1851 – „eine gewisse Gereiztheit“.1 Das 3. Klaviertrio habe einen „grüblerischen, melancholischen Zug“ 1

Wilhelm Joseph von Wasielewski, Robert Schumann [1858], Leipzig 41906; ebd. die folgenden Zitate. – Wesentliche Anregungen (über die im Folgenden sehr provisorisch und lückenhaft aufgeführte Literatur hinaus) verdanke ich dem an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart veranstalteten Symposium Robert Schumann – Das Spätwerk für Streicher (14.–16.5.2010), insbesondere den Beiträgen der Kolleginnen und Kollegen Ute Bär, Siegfried Eipper, Hans Joachim Hinrichsen, Reinhard Kapp, Kolja Lessing, Heinz von Loesch, Tobias Pfleger, Christina Richter-Ibánez, Bernhard Schwarz, Thomas Seedorf, Michael Struck und

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und erreiche nicht mehr den „Gedankenschwung“ des d-Moll-, also des vier Jahre zuvor entstandenen 2. Klaviertrios. Erst im Finale suche „der Meister“ sich durch „an seine guten Tage erinnernde Weise“ von der Schwermut der vorangegangenen Sätze zu befreien. Das 3. Klaviertrio – ein Seelenporträt Schumanns am Rande der Umnachtung?

[Sprecher 1:] Nach allem, was wir wissen, war Wasielewski, den Schumann als Konzertmeister nach Düsseldorf geholt hatte, mit dieser Musik auch als Spieler überfordert. Dabei gehörte er zu den ersten und vermeintlich berufenen Interpreten der Partitur: Wasielewski, der Cellist Christian Reimers und Clara Schumann am Klavier hatten das g-Moll-Trio im Oktober 1851 im privaten Kreis bei Schumanns zuhause in Düsseldorf aus der Taufe gehoben. Aber erst nach weiteren Aufführungen in Leipzig im darauffolgenden Jahr – mit dem GewandhausKonzertmeister Ferdinand David und dem Cellisten Andreas Grabau – schrieb Schumann in sein Tagebuch: „Ganz vortrefflich.“ Und Clara Schumann notierte gar, „der Abstand zwischen [Davids] Kunst und dem guten Willen der Düsseldorfer Genossen [sei] wohltätig empfunden“2 worden. Dennoch steht Wasielewski mit seinem Unverständnis nicht alleine da. Nach dem versuchtem Suizid 1854, Schumanns Einlieferung in die Endenicher Heilanstalt und seinem Tod 1856 fiel in der öffentlichen Meinung ein Zweifel auf die späten Werke insgesamt. Waren nicht die Kompositionen schon seit geraumer Zeit weniger inspiriert als zuvor? Musste nicht die Vorahnung der „Umnachtung“ sich in einer entsprechenden Stimmung der Werke niederschlagen? Und war nicht manches darin so seltsam, so absonderlich und fern jeder musikalischen Erfahrung, dass es geradezu Ausdruck der Krankheit zu sein schien? Auf die Dauer konnte dieser Verdacht, der im Parteienstreit mit den „Neudeutschen“ gegen den Schumannkreis gewendet wurde und durch Wasielewskis Buch 1858 neue Nahrung erhielt, nicht ohne Folgen bleiben. Jedenfalls zögerte Clara Schumann, die im Nachlass verbliebenen Werke aufführen und drucken zu lassen. 1893 beschreibt Johannes Brahms eine Szenerie, bei der einem noch heute der Atem stockt:

Johannes Zimmermann; der Tagungsbericht ist in Vorbereitung. 2 Berthold Litzmann, Clara Schumann. Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen, 3 Bde. [1902–08], Hildesheim/Wiesbaden 1971. Vgl. auch Bodo Bischoffs Kommentar in Helmut Loos (Hrsg.), Robert Schumann. Interpretationen seiner Werke, 2 Bde., Laaber 2005.

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[Zitat] „Schumann hat da allerlei hinterlassen, was keineswegs herausgebenswert war. [...] Frau Schumann hat erst vor ein paar Wochen ein Heft Cellostücke von Schumann verbrannt, da sie fürchtete, sie würden nach ihrem Tode herausgegeben werden. Mir hat das sehr imponiert.“3 [Sprecherin:] In Schumanns ohnehin umstrittenem Spätwerk ist eine ganze Werkgruppe in besonderer Weise von später und mangelhafter Veröffentlichung, biographischem Ressentiment oder gar Vernichtung betroffen: die späte Kammermusik und die konzertanten Werke für Streicher. Dass es sie als „Werkgruppe“ überhaupt gibt bzw. gegeben hat, bedarf heute der Rekonstruktion – einer Rekonstruktion, die Licht auf das Spätwerk wirft und die auch der schwierigen Frage nicht ausweicht, was Leben und Werk beim späten Schumann miteinander zu tun haben – jenseits der persönlichen Tragik und der biographischen Skandalisierung.

[Sprecher 1:] Hören Sie zunächst noch einen Ausschnitt, diesmal aus der 1. Sonate für Klavier und Violine, gleichfalls aus dem Jahr 1851, drei Jahre vor dem Zusammenbruch. Nach ihrer Komposition soll Schumann gesagt haben, sie habe ihm nicht gefallen; da habe er gleich „noch eine zweite gemacht, die hoffentlich besser geraten“4 sei. So berichtet jedenfalls Wasielewski – aber da ist dem guten Mann wohl eine gehörige Portion Selbstironie entgangen. Denn dies ist bester Schumann, gerade hat er für sich eine neue Gattung entdeckt; nach Art eines „Intermezzos“ experimentiert er mit einer Formstelle, die Scherzo und langsamen Satz zu verbinden erlaubt. Eine ungeheure Freiheit und Kraft der formalen Gestaltung spricht aus dem Verfahren, die Bewegungstypen und Charaktere auf so engem Raum miteinander zu konfrontieren. Schlicht und heiter, wie beiläufig betritt das Scherzo-Thema die Szenerie, hält dann inne, sich wendend, und weiter geht es wie auf spitzen Zehen; elegisch und schmerzlich hält das „langsame“ Thema dagegen. Einmal erscheinen an der Nahtstelle zwischen den Charakteren die Hornquinten, jene seit alters feststehende Formel der Volkstümlichkeit, aber auch des Fernwehs und der vergangenen Zeit.

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Richard Heuberger, Erinnerungen an Johannes Brahms, hrsg. von Kurt Hofmann, Tutzing 1971, S. 60. Wasielewski, Schumann, S. 469.

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[Sprecherin:] Schumann ist für die besondere Systematik bekannt, mit der er sich nacheinander verschiedene Gattungen und Instrumente erschlossen hat: von den Klavierwerken 1830–39 über die Liedkomposition 1840 und die Symphonik 1841 bis zu den repräsentativen, größer besetzten Gattungen der (Klavier-)Kammermusik 1842. Neben den oratorischen bzw. musikdramatischen Formen entstanden in der späteren Dresdner Zeit (bis 1850) unter anderem die A-cappella-Chormusik und die Kammermusik für ungewöhnliche Besetzungen, zum Beispiel unter Einbeziehung von Oboe und Horn. Eine ausgesprochene Streichermusik hat der Pianist und Dirigent Schumann dagegen tatsächlich erst in Düsseldorf ab 1850 geschrieben. Hier entstanden das Violoncellokonzert aMoll op. 129 und die beiden Violinsonaten a-Moll op. 105 (die mit dem Intermezzo) und dMoll op. 121, außerdem die Märchenbilder für Viola und Klavier op. 113 und das 3. Klaviertrio. Im Herbst 1853 komponierte er das Violinkonzert d-Moll und die Phantasie aMoll op. 131 für Violine und Orchester. Im November des Jahres, wenige Monate vor dem Zusammenbruch, entstand eine dritte, kaum bekannte Violinsonate a-Moll (hervorgegangen aus der sog. „F–A–E-Sonate“, einer Gemeinschaftskomposition mit Brahms und Schumanns Schüler Albert Dietrich). Hinzu kamen die – später von Clara Schumann verbrannten – Romanzen für Cello und Klavier und die Märchenerzählungen op. 132, eigentlich auch dies ein Klaviertrio für die ungewöhnliche Besetzung von Klarinette, Bratsche und Klavier. Schließlich verfasste er Klavierbegleitungen zu den Violin- bzw. Cellosolowerken von Bach sowie den Paganini-Capricen; diese entstanden sogar überwiegend erst in der Heilanstalt Endenich. Einen Teil dieser Werke hat Schumann selbst noch zum Druck bringen können, so die Kammermusik von 1851 und die Märchenerzählungen; tatsächlich war dies die letzte eigene Partitur, die Schumann im Februar 1854 vor der Einweisung nach Endenich gedruckt in Händen hielt. Auch die Violinphantasie, die Joseph Joachim gewidmet ist und von diesem oft und gerne gespielt wurde, erschien 1854. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass Schumann selbst -4-

die verbleibenden Werke nicht drucken oder noch erheblich überarbeiten wollte. Tatsächlich hat er sich noch von Endenich aus zum Beispiel um die Drucklegung der Klavierbegleitung zu den Bach-Cellosuiten bemüht. Aus den genannten Gründen unterblieben jedoch weitere Veröffentlichungen. Erst im 20. Jahrhundert erschienen sporadisch die erhaltenen, der Vernichtung entgangenen Notentexte im Druck. Das Violinkonzert wurde 1937 unter dubiosen Umständen uraufgeführt; die Paganini-Bearbeitungen erschienen 1941; eine (mangelhafte) Erstausgabe der Dritten Violinsonate kam 1956 heraus. Im Ganzen dominierten Unverständnis und Desinteresse. Erst in den achtziger Jahren setzte eine vorsichtige Rehabilitierung des späten Schumann ein, ausgelöst vor allem durch die bahnbrechenden Studien von Reinhard Kapp und Michael Struck. Auch einige Interpreten haben sich frühzeitig für Schumann eingesetzt, darunter nicht zuletzt bedeutende Geiger: Yehudi Menuhin, Eduard Melkus, Gidon Kremer oder heute Kolja Lessing. Im Zuge der Neuen Robert-Schumann-Gesamtausgabe entstehen mustergültige Notentexte, so die von Ute Bär betreute Ausgabe der Violinsonaten; weitere sind geplant.

[Sprecher 1:] Es steckt jedoch eine nicht geringe Gefahr darin, den späten Schumann im Zuge von Philologie und Wissenschaft zu „normalisieren“. Droht doch das Werk im Bemühen um philologischen Fortschritt und analytische Differenzierung unter den Fakten gleichsam verschüttet zu werden. Die Erfahrung der Provokation darin gerät aus dem Blick, wenn die Frage nach dem ästhetischen Anspruch, auch nach dem Rätselcharakter und möglichen inneren Widersprüchen gar nicht mehr gestellt wird. Besonders der biographische Kontext wird heute zum Teil regelrecht tabuisiert, die „Spätwerk“-Perspektive gilt als verfehlt. „Wer vom Spätwerk Robert Schumanns spricht, macht sich verdächtig“, heißt es in einer Verlagsmeldung der „edition text + kritik“ zu einem Schumann-Sammelband von 2006:

[Zitat:] „Zum einen lässt das Lebensalter allein die Rede vom Spätwerk problematisch erscheinen. Robert Schumann starb am 29. Juli 1856 im Alter von 46 Jahren, also in mittleren Jahren und für unsere Lebensverhältnisse relativ früh. Zum anderen läuft man Gefahr, Schumanns Spätwerk vor der Folie seiner Geisteskrankheit vorzuverurteilen, indem man das Spätwerk als psychopathologischen Reflex seiner letzten Lebens- und Leidensjahre begreift und damit einer überkommenen Musikästhetik aufsitzt.“5

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http://www.etk-muenchen.de [21.9.2010].

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[Sprecher 1:] Wer aber „Leben“ und „Werk“ strikt getrennt halten möchte, verstößt nicht nur gegen eine Grundüberzeugung Schumanns6, sondern verfehlt auch wesentliche Möglichkeiten der wissenschaftlichen Reflexion. Schumanns Spätwerk ist gewiss kein „Alterswerk“, und die hergebrachten Mystifikationen mahnen zur Zurückhaltung. Trotzdem besteht immerhin die Möglichkeit, dass Schumann selbst im Bewusstsein einer biographisch späten Situation gehandelt hat – über das Requiem von 1852 äußerte er mehrfach, er habe es für sich selbst geschrieben. Der „späte“ Schumann schrieb eine testamentarische Verfügung über die Herausgabe seiner Werke, katalogisierte seine Musikalien und redigierte seine Gesammelten Schriften, mit denen er ein „Andenken“ an sich7 zu hinterlassen gedachte. Auch von „Todesahnungen“ ist die Rede. Vor diesem Hintergrund ist sehr wohl eine Diskussion einschlägiger Merkmale möglich, ja geboten, auch der Vergleich mit anderen „Spätwerken“; ich nenne als Stichworte: hymnischer Ton, Bezug auf Bach, den „späten“ Beethoven. Das Hymnische allerdings findet sich zunächst – und besonders auffällig – in einer Komposition für Klavier, dem ersten Stück der Gesänge der Frühe aus dem so produktiven wie kritischen Herbst 1853. Die „Frühe“ ist ja ein zweischneidiger Begriff; wer in der Frühe singt, hält keine strahlende Feier, sondern muss der Erfahrung der Nacht noch standhalten. So wie der „Sonnenhymnus“ des Heiligen Franz von Assisi in einer dunklen Höhle entstanden sein soll, so beschwören auch Schumanns Gesänge eine noch ungewisse Erwartung vor Anbruch der Dämmerung oder in der Stunde des Zwielichts. Ursprünglich sollte das Werk einen Doppeltitel tragen: „Gesänge der Frühe / An Diotima“. Aber da selbst Joachim und Brahms nicht wussten, wer Diotima war, entfiel dieser Hölderlin-Bezug. Hölderlin war ja, wie Schumann sehr wohl wusste, selbst ein Grenzgänger hin zum „Irrsinn“ und hat noch im Tübinger Turm weitergedichtet. Schumann widmete seine Klavierstücke letztlich Bettina von Arnim, die mit ihrer Tochter Gisela zu Schumanns wenigen Besuchern in Endenich gehörte.

[Sprecherin:] Der choralartige, archaisierende Satz erinnert von Ferne an den „Heiligen Dankgesang eines Genesenen in der lydischen Tonart“ aus Beethovens spätem a-moll-Quartett, also wiederum ein Streicherwerk. Schumanns scheinbar schlichter Choral ist in Wahrheit höchst doppelbödig: die Akkorde enthalten, im Höreindruck unmerklich, eine strikte Imitation der 6

Vgl. zum Beispiel: „Mensch und Musiker suchten sich immer gleichzeitig bei mir auszusprechen“ (Schumann an Koßmaly, 5.5.1843, zit. nach Robert Schumann, Briefe – Neue Folge, hrsg. von F. Gustav Jansen, Leipzig 21904, S. 204). 7 Zit. nach Reinhard Appel (Hrsg.), Robert Schumann in Endenich (1854–1856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte (Schumann Forschungen 11), Mainz u.a. 2006, S. 28 (ebd. die anderen Nachweise).

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Melodie. Solche Verrätselung ist für den späten Schumann sehr bezeichnend – bezeichnend auch, dass sie nicht spektakulär in Szene gesetzt wird, sondern sich unterhalb einer scheinbaren Vereinfachung ereignet. Der gleiche Gestus der Verheimlichung – oder besser: Verunheimlichung – spricht auch aus einer berühmten Briefstelle an Joachim, aus dem letzten Brief an diesen vor Ausbruch der Psychose:

[Zitat] „… mit sympathetischer Tinte habe ich Euch oft geschrieben und auch zwischen diesen Zeilen steht eine Geheimschrift, die später hervorbrechen wird. […] Die Musik schweigt jetzt – wenigstens äußerlich.“8

[Sprecher 1:] Nicht wenige Komponisten der neuen Musik haben sich gerade vom späten Schumann faszinieren lassen. Allerdings bewegt man sich hier auf einem schmalen Grat. Wird hier die private Katastrophe, die einem aus den historischen Dokumenten, so aus den 2006 von Bernhard Appel veröffentlichten Krankenakten, förmlich anspringt, zum künstlerischen „Fatum“ stilisiert, ja mystifiziert? Der „wahnsinnige“ Dichter als Modellfall einer Existenz, die dem Künstler notwendig Scheitern und Verstummen auferlegt – das ist eine Denkfigur vornehmlich der siebziger und achtziger Jahre, die falsch und pompös erscheint angesichts dessen, was der späte Schumann in seinen besseren Monaten noch geleistet hat und ohne die Krankheit vielleicht hätte leisten können. Es gibt einen wohligen Grusel in der Idee, dass da jemand am Rande der „Umnachtung“ komponiert und wir ihm noch dabei zuhören können. Allerdings ist Schumanns Spätwerk nicht in gleicher Weise vereinnahmt worden wie – unter ähnlichen Vorzeichen – dasjenige Hölderlins. Der späte Schumann ist auch hier eine Person, an der sich die Geister scheiden. Maßgebliche Vertreter der Avantgarde wie Dieter Schnebel, der eine hellsichtige Studie über die rhythmischen Komplikationen bei Schumann verfasst hat9, haben an ihrem Unverständnis und ihrer Ablehnung des Spätwerks keinen Zweifel 8

Schumann an Joachim, 6.2.1854, zit. nach Robert Schumann: „Schlage nur eine Weltsaite an“. Briefe 1828– 1855, hrsg. von Karin Sousa, Frankfurt a.M./Leipzig 2006, S. 127 f. 9 Vgl. Dieter Schnebel, „Rückungen – Verrückungen“, in: Musik Konzepte Sonderband Robert Schumann I, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1981, S. 4–89; ders., „Postskriptum zu Schumanns

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gelassen. Dagegen haben Komponisten wie György Kurtág und Heinz Holliger, die stärker mit historischen Resonanzen gearbeitet haben, frühzeitig im späten Schumann einen Verbündeten erkannt. Holliger hat eine „Aschenmusik“ auf die von Clara Schumann vernichteten Celloromanzen geschrieben10, Kurtág rekurriert Anfang der siebziger Jahre gar auf die Märchenerzählungen – und damit auf eine geradezu hermetische Idylle. Auch Wolfgang Rihm und sein Schüler Jörg Widmann, von dem wir den Titel „Dunkle Saiten“ entlehnt haben, sind hier zu nennen. Rihm hat seine Sympathie und seine Affinität zum späten Schumann auch sprachlich thematisiert; dass der späte Schumann „anders“ sei, bildet ein Leitmotiv

eines

Vortrags,

den

Rihm

1984

anlässlich

der

Uraufführung

seines

„Charakterstücks“ für Klaviertrio Fremde Szene II gehalten hat11; im selben Programm wurde Schumanns 3. Klaviertrio gespielt. Im Scherzo bei Rihm ist die konkrete Referenz auf Schumanns insistierende, fort und fort strömende Musik deutlich vernehmbar.

Musik 4: Wolfgang Rihm, Fremde Szene II Trio Jean Paul Ars Musici 232281, CD2, tr.6 Ausschnitt: 1‘

[Sprecher 1:] „Melancholie mit Wahn“ – so lautet Schumanns Diagnose im Aufnahmebuch der Heilanstalt. Auch Schumann selbst hat sich in schlechteren Zeiten als „melancholicus“ erlebt. Was aber ist das, die „Melancholie“, im medizinischen Verständnis des mittleren 19. Jahrhunderts? Schumanns Krankheitsbild lässt „ein breites Deutungsspektrum“12 zu; die seriöseren Deutungen stellen mal schizophrene Tendenzen, mal solche der „progressiven Paralyse“ als Spätstadium der Syphilis heraus. Jede heutige „Diagnose“ wäre nicht nur im wörtlichen Sinne eine Ferndiagnose, sondern hätte mit den wohl unlösbaren Schwierigkeiten des historischen Abstands zu tun, mit einer medizinischen Begrifflichkeit, die nicht mehr die unsere ist. Und was heißt schon „Medizin“ im Umgang mit psychischen Krankheiten zu einer Zeit, die solche weit stärker mit Schuld und Tabu belegte als (hoffentlich) unsere Gegenwart? „Melancholie“ Spätwerken“, in: Musik Konzepte Sonderband Robert Schumann II, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1982, S. 367. 10 Vgl. Roman Brotbeck, „Aschenmusik. Heinz Holligers Re-Dekonstruktion von Robert Schumanns Celloromanzen“, in: Dissonanz Nr. 103 (2008), S. 4–15. 11 Vgl. Wolfgang Rihm, „Fremde Blätter (über Robert Schumann)“, in: ders., ausgesprochen. Schriften und Gespräche, Bd. 1, hrsg. von Ulrich Mosch (Publikationen der Paul Sacher Stiftung 6,1), Winterthur 1997, S. 229–233.. 12 Appel (Hrsg.), Schumann in Endenich, S. 22; ebd., S. 18 f., über den Eintrag im Krankenbuch.

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war da noch eine erträgliche Vokabel, harmonierte gar mit dem hergebrachten Bild des Künstlers

als

„melancholicus“,

der

die

Tiefe

seiner

Einsicht

mit

Phasen

der

Niedergeschlagenheit und Leere zu bezahlen habe. Was aber „Melancholie“ für Schumann selbst bedeutete, das lässt sich durchaus in seiner Musik hören. Hier der Schluss des letzten Stückes der Märchenbilder von 1851, überschrieben „Langsam, mit melancholischem Ausdruck“:

Musik 5: Robert Schumann, Märchenbilder op. 113, Nr. 4 Andra Darzins, Viola, Andreas Kersten, Klavier Aufnahme von „Festival der Saiteninstrumente“, Musikhochschule Stuttgart (privat) Ausschnitt: 2‘10

[Sprecher 1:] So sehr diese Musik anrührt, so sehr ihre Verlorenheit Schumanns eigene zu sein scheint, so ist doch auch hier vor Verallgemeinerungen zu warnen. Neben den ernsten und melancholischen Tönen, die im übrigen die gleiche Ausdruckslage und die Vorliebe für „dunkle Saiten“ bei Johannes Brahms vorwegnehmen, gibt es beim späten Schumann auch eine ganz entgegengesetzte Tendenz. Viele, ja gegen Ende die meisten seiner Werke hat Schumann selbst als „heiter“ und „humorvoll“ gekennzeichnet, es seien „meistens fröhliche, mit guter Lust geschriebene Stücke“13, schreibt er im November 1853 an Breitkopf & Härtel. Dahinter steckt natürlich auch das Kalkül, den Verlegern gegenüber nicht allzu trübsinnig zu erscheinen. Der Zeitgeist hat sich gedreht, Einsamkeit und tiefes Leid der Romantik sind passé, nach der gescheiterten Revolution rüstet sich das Bürgertum zu neuen Aufbauleistungen. Die neuere Forschung hat klar herausgestellt, dass Schumann um 1850 publizistisch in die Defensive gerät, dass er nicht unter die „offenen, sogenannten fidelen Künstlernaturen“ gezählt wird, dass ihm „romantische Schwärmereien“ vorgehalten werden, die „Formlosigkeiten“ früherer Werke.14 Für Franz Brendel, der ihn als Schriftleiter der Neuen Zeitschrift für Musik beerbte, war die Romantik eine „Epoche der krankhaft in sich zurückgezogenen Subjectivität“15 – da sind wir mitten in dem für Schumann besonders

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Zit. nach Reinhard Kapp, „Schumann nach der Revolution. Vorüberlegungen, Statements, Hinweise, Materialien, Fragen“, in: Bernhard R. Appel (Hrsg.), Schumann in Düsseldorf. Werke – Texte – Interpretationen (Schumann Forschungen 3), Mainz u.a. 1993, S. 315–409, hier S. 363; vgl. ebd. Kapps Interpretation. 14 Ulrich Tadday, „Abschied von der Romantik?“, in: ders. (Hrsg.), Der späte Schumann (Musik-Konzepte Sonderband), München 2006, S. 5–18, hier S. 9 (nach einem anonymen Aufsatz im Grenzboten 1850). 15 Franz Brendel, Geschichte der Musik [...], Leipzig 1852, zit. nach Tadday, „Abschied von der Romantik?“, S. 9.

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gefährlichen Diskurs um Gesundheit und Krankheit. Andererseits hat die „Heiterkeit“, ja die Euphorie beim späten Schumann nichts Aufgesetztes – und dies lässt sich sogar biographisch belegen (obwohl ein Komponist gewiss nicht „heiter“ sein muss, um eine heitere Musik zu schreiben). Der Herbst 1853 jedenfalls, jenes – wie Eduard Melkus sagt – „letzte, unerhört schöne Blühen“ des Komponisten Schumann, ist nach allem, was wir wissen, eine glückliche Zeit gewesen, auch im Haushaltsbuch mehren sich die Einträge „fröhlicher“, „freudiger“ und „vergnügter“ Stimmungen. Es ist die Zeit der Bekanntschaft mit Joachim und Brahms, gemeinsames Musizieren, Geselligkeit und kompositorischer Höhenflug gehen ineins. Es ist die Urszene aller Kammermusik, der Musik unter Freunden oder solchen, die beim Musizieren zu Freunden werden, die Utopie einer gelingenden künstlerischen und menschlichen Existenz – hier einige wenige Ausschnitte aus Schumanns Haushaltsbuch in der ersten Oktoberhälfte:

[Zitat] „4. [Oktober] Clavierauszug d. Concerts. – Nachmittag um 5 [Uhr] Musik bei uns. Phantasie v. Brahms“ „5. [Oktober] Lieder v. Brahms u. Sonate f. Viol.[ine] u. P[iano]f[or]te. Den Titan [von Jean Paul] mit Kl.[ara] zu Ende gelesen.“ „8. [Oktober] Lustiger Brief an Joachim. – F moll Sonate v. mir von Kl.[ara] Brahms vorgespielt. –“ „9. [Oktober] Aufsatz üb.[er] Brahms angefangen, auch Mährchen“ [Sprecher 1:] – gemeint sind die Märchenerzählungen op. 132 –

[Zitat] „12. [Oktober] Fleißig. – Nachmittag Musik bei uns. F moll Sonate. – Brahms spielt besonders schön. - 10 -

14. [Oktober] Früh zur Ueberraschung Joachim. […] Nachmittag Musik. Wunderschön“16

[Sprecher 1:] Zu den Stücken, die an diesem Tag gemeinsam musiziert wurden – in diesem Fall von Clara Schumann und Joachim – gehörte Schumanns 2. Violinsonate17; hier der Anfang des zweiten Satzes:

Musik 6: Robert Schumann, 2. Violinsonate, 2. Satz Carolin Widmann, Violine, Dénes Várjon, Klavier ECM 2047 4766744 Ausschnitt. 1‘34

[Sprecher 1:] Da wird eine trivialbiographische Erwartung massiv gebrochen – die Vorstellung, dass Schumann im Schatten der bevorstehenden Katastrophe, wenige Monate vor dem „Sprung in den Rhein“, nur noch eine düstere, allenfalls eine verrätselt-hymnische Musik nach Art der Gesänge der Frühe um sich gehabt haben könnte. Stattdessen lauter Freude, Überschwang und Einvernehmen.

[Sprecherin:] Die eben gespielte zweite, „Große Sonate für Violine und Klavier“ ist zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre alt. Aber die 3. Violinsonate, die Schumann just in jenen Tagen komponiert, fügt sich ins Bild. Ihre Entstehung geht sogar auf einen geselligen Spaß zurück, eine Geburtstagsüberraschung für Joachim: Schumann, Dietrich und Brahms hatten gemeinsam die sogenannte „F-A-E-Sonate“ für den „verehrten und geliebten Freund“ komponiert, der sie von Gisela von Arnim in einem Blumenkorb überreicht bekam. Man munkelte in diesen Tagen von einer Verlobung Joachims mit Bettinas Tochter – die Töne F, A und E, die in der ein oder anderen Form das motivische Fundament des Werkes bilden, hätten dann tonsymbolisch „Für alle Ewigkeit“ bedeutet (nicht etwa, nach Joachims späterer Erläuterung: „Frei, aber einsam“). 16

Robert Schumann, Tagebücher. Band III, Haushaltbücher, Teil 2: 1847–1856, hrsg. von Gerd Nauhaus, Basel/Frankfurt a.M. 1982, S. 638. 17 Vgl. Litzmann, Clara Schumann, Bd. II, S. 283.

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Da Joachim die Sonate offenbar mehr oder weniger abspielen und dabei die Komponisten der einzelnen Sätze erraten sollte, gehört es zu diesem privaten Spaß, dass der letzte Satz – einer von zweien, die Schumann beisteuerte – zum Ende hin rasend schwierig wird: mit Passagen über zwei und mehr Oktaven, Zweiunddreißigstel- und noch schnelleren Notenwerten, oft in „irrationaler“ Teilung, d.h. mit 7, 9 oder 11 Noten auf den Schlag:

Musik 7: Robert Schumann, 3. Violinsonate, Finale Carolin Widmann, Violine, Dénes Várjon, Klavier ECM 2047 4766744, tr.7 Ausschnitt. 1‘35

[Sprecher 1:] Schon am Tag nach der „sonatenüberraschung“18 für Joachim begann Schumann damit, die zwei Sätze von Dietrich und Brahms durch Eigenkompositionen zu ersetzen; so entstand seine 3. Violinsonate, die bis heute den Philologen Rätsel aufgibt. Schumann war jedenfalls der Überzeugung, dass diese Musik auch ohne Joachim und ohne den „sportiven“ Aspekt des Prima-vista-Spiels funktionieren würde. Worin liegt aber dann der kompositorische Sinn dieser Schlussbildung?

[Sprecherin:] Wieder fällt ein hymnischer Ton ins Ohr; die abenteuerlichen Figurationen der Geige umspielen eine breit angelegte Coda-Melodie im Klavierpart. Die Figurationen selbst geben weniger eine Gegenstimme als einen flirrenden Farbwert (auch der gezielte Einsatz von Trillern und Tremoli spielt dabei eine Rolle). Diese „Produktion von Klang“ zeigt eindrücklich, wie genau Schumann in diesem Stadium mit der Idiomatik von Streichinstrumenten arbeitet, und widerlegt die These, alle Instrumente seien ihm letztlich nur Platzhalter für den Klaviersatz, das heißt eine primär pianistische Vorstellung gewesen. Zugleich ist dieser „Schumannsche Extremismus“ (Reinhard Kapp) das letzte, was man in einer Violinsonate erwarten würde. Eher hätte diese Art Virtuosität in der Solopartie eines Konzerts ihren Ort.

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Schumann, Tagebücher III-2, S. 640 (Eintrag vom 28.10.1853).

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[Sprecher 1:] Dies ist ein wichtiger Hinweis, wenn man der Verrätselung und der Introspektion beim späten Schumann auf die Spur zu kommen will – weit über die Frage nach „traurigen“ oder „heiteren“ Ausdruckslagen hinaus. Schumann verstößt gegen die Erwartungen, die mit bestimmten Gattungen verbunden sind, und hier vor allem gegen den Sozialcharakter der Gattungen, die Rücksichtnahme auf ein wirkliches oder gedachtes Publikum: Ein Klaviertrio gerät ihm ernst und abgründig wie zuvor allenfalls ein Streichquartett, ein Klavierstück zum hymnischen Gesang, eine Violinsonate zum verkappten Konzert. Machen wir die Gegenprobe und stellen die gleiche Frage von seiten der konzertanten Werke. Selbst das Cellokonzert von 1851, eines der heute anerkannten „Highlights“ der Düsseldorfer Zeit, ist von Zweifeln an seinem Wert, ja vom Verdacht, Spuren der Krankheit zu tragen, nicht verschont geblieben. Der von Schumann für die Uraufführung vorgesehene Cellist Robert Bockmühl geizte nicht mit Verbesserungsvorschlägen; sie gipfelten in dem Vorschlag, doch den letzten Satz vollständig neu zu komponieren. Auch hier kam es erst nach Schumanns Tod zu einer ersten Aufführung, nämlich 1860 – ohne Bockmühl. Namentlich in der Durchführung des ersten Satzes hat man den „Ausbruch“ der Krankheit hören wollen; und zwar in einer Passage, in der sich der Solist in einen quasi kammermusikalischen Dialog verstrickt. Wieder wird eine gattungsspezifische „soziale“ Erwartung verletzt, nämlich die der unangefochtenen Regentschaft des Solisten im Konzert.

Musik 8: Robert Schumann, Cellokonzert, 1. Satz Heinrich Schiff, Violoncello, Berliner Philharmoniker, Leitung: Bernhard Haitink Philips 422414-2, tr.1 Ausschnitt: 1‘

[Sprecher 1:] Prüfstein jeder Spätwerk-Theorie im Falle Schumanns ist das Violinkonzert. Alle bisherigen Feststellungen, alle Widrigkeiten der Rezeption von Schumanns Spätwerk treffen hier aufeinander: die zurückgehaltene Veröffentlichung, massive Zweifel am kompositorischen Wert, Verrätselung und Introspektion, aber auch heitere, auftrumpfende Töne, der Querstand zur Gattungsästhetik.

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Vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen Quellen bei Michael Struck, Die umstrittenen späten Instrumentalwerke Schumanns. Untersuchungen zur Entstehung, Struktur und Rezeption (Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 29), Hamburg 1984, zum Violinkonzert S. 291–423, hier S. 302. 20 „Eugenie Schumann über das letzte Werk ihres Vaters Robert Schumann“, in: Schweizerische Musikzeitung 78 (1938), H. 1, S. 8–10, zit. nach Struck, Die umstrittenen späten Instrumentalwerke Schumanns, S. 356. 21 Robert Pessenlehner, „Eugenie Schumann und das letzte Werk ihres Vaters. Eine Antwort“, in: NZfM 105 (1938), H. 3, S. 241–243, zit. nach Struck, Die umstrittenen Instrumentalwerke Schumanns, S. 360. 22 Nach dem Zeugnis von Willi Strecker, zit. ebd., S. 334.

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[Sprecherin:]

sich über weite Strecken geradezu blockhaft gegenüber. Dies widerspricht der um 1850 allenthalben geforderten Durchdringung der Parts im Konzert, dem wechselvollen Dialog von Solist und Orchester oft schon zu Beginn der Sätze wie bei Mendelssohn oder in früheren Schumann-Konzerten. Auch die Ausdruckscharaktere sind verschieden; gegenüber dem ouvertürenhaft-düsteren Pomp der Orchesterexposition verlegt sich der Solist eher auf den träumerisch-elegischen Seitensatz:

[Sprecher 1:] Ein einziges Instrument gibt, neben einem sparsamen Streichersatz, der Sologeige das Geleit, nämlich das Horn – das magische Instrument der Romantik. Hier wie stets in Schumanns Konzert erscheint es in Verbindung - 15 -

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[Sprecher 1:] Während der zweite Satz wiederum ganz der Innerlichkeit, der Romantik, der „Traumzeit“ zugehört, ist der dritte Satz schließlich einer von Schumanns „heiteren“ Sätzen – so heiter, dass Clara Schumann ihn später als geradezu makaber empfunden haben mag „angesichts der 23

Joseph Kerman, „The Concertos“, in: Beate Perrey (Hrsg.), The Cambridge Companion to Schumann, Cambridge u.a. 2007, S. 173–194, hier S. 191. 24 Joachim an Moser, 5.8.1898, zit. nach Briefe von und an Joseph Joachim, hrsg. von Johannes Joachim und Andreas Moser, Berlin 1913, Bd. 3, S. 468 ff.

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miterlebten geistigen und gesundheitlichen Katastrophe“.25 Auch später stand er geradezu im Brennpunkt der Kritik am Violinkonzert. Diese hat sich nicht zuletzt an der langsamen Metronomzahl, Viertel = 63, entzündet. Es ist das epochale Verdienst von Gidon Kremer und Nikolaus Harnoncourt, in einer seither unerreichten Einspielung von 1994 gezeigt zu haben, dass diese Musik im Originaltempo nicht nur „geht“, sondern geradezu prächtig geraten kann – getreu einer Kennzeichnung Joachims, es handle sich um den „stattlichen“ ¾-Takt einer Polonaise:

[Sprecher 1:] Der erwartete „Rausschmeißer“ ist dies gewiss nicht, und nicht nur des langsamen Tempos halber. Die Geige als Tanzmeister – wie später – ist im Ganzen eine Enttäuschung; schon gegen Ende der gehörten Passage gibt sie die Initiative wieder ab. Wieder verstößt Schumann gegen eine Gattungsnorm – ein Verstoß, den wir heute auf CD oder im Radio wohl leichter ertragen und goutieren können als in der konkreten Konzertsituation. Dort musste ein solcher Satz vom Podium aus vor der großen Öffentlichkeit „funktionieren“. 1853 ist der junge Wieniawski in Berlin schon vor 1600 Zuhörern aufgetreten (nicht mit Schumanns Konzert, wohlgemerkt).

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Michael Struck, Robert Schumann: Violinkonzert d-Moll (WoO 23) (Meisterwerke der Musik 47), München 1990, S. 16.

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[Sprecherin:] Es fällt nicht schwer, im ästhetischen Modell das soziale, ja indirekt ein politisches zu erkennen. 26

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[Zitat:] „Kunstwerke können bis zum todten Mechanismus oder zum Ausdrucke der Verrücktheit herabsinken, dies ist dasselbe […]. Wenn das gesammte gesellschaftliche Leben der Menschen einen Aufschwung erreicht haben wird, dann läßt sich ein gesünderer Zustand des Gemüthes in dem Einzelnen erwarten, der auch der Kunst zu Gute kommen wird.“28 [Sprecher 1:]

26

Wilhelm Joseph von Wasielewski, Aus siebzig Jahren. Lebenserinnerungen, Stuttgart/Leipzig 1897, zit. nach Kapp, „Schumann nach der Revolution“, S. 330. 27 Schumann an C.A. Mangold, 2.12.1849, zit. ebd., S. 328. 28 August Kahlert, „Ueber den Begriff von klassischer und romantischer Musik“, in: AMZ 50 (1848), Sp. 295, zit. nach Tadday, „Abschied von der Romantik?“, S. 5.

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Joachim an W. Bargiel, 6.3.1854, zit. nach Appel (Hrsg.), Schumann in Endenich, S. 27.

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