Morgen auch in deiner Post?

Ground Zero in Manhattan: Nur der Auftakt? Morgen auch in deiner Post? Erst der Anschlag, jetzt die Angst: Der Terror hat New York im Griff – die Sta...
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Ground Zero in Manhattan: Nur der Auftakt?

Morgen auch in deiner Post? Erst der Anschlag, jetzt die Angst: Der Terror hat New York im Griff – die Stadt, die früher niemals schlafen wollte und es jetzt nicht mehr kann. Von Thomas Hüetlin und Alexander Osang „Dieser ganze Anthrax-Blödsinn ist doch nur dazu da, um mehr Zeitungen zu verkaufen. Erschrecke die Leser, und sie kommen. Altes Gesetz der Branche.“ Sagt Jimmy Breslin, 71 Jahre alt, 43 davon hat er als Reporter gearbeitet. Früher fuhren Busse in New York herum, auf denen Zeitungen mit seinem Namen warben. Der Schriftsteller Norman Mailer wollte mit Breslins Hilfe Anfang der siebziger Jahre Bürgermeister von New York werden, und wer wissen möchte, was Breslin für den modernen Journalismus be140

deutet, muss Tom Wolfe fragen: „Er war unser aller Vorbild.“ Heute sitzt Breslin in einem Penthouse am Central Park. Er könnte auf eine großartige Karriere und ein aufregendes Leben zurückblicken, auf 13 Bücher, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, auf zahllose Reportagen, die die New Yorker Geschichte der vergangenen Jahrzehnte erzählen. Aber nichts davon will er wissen. Noch immer schreibt er jede Woche drei Kolumnen, er arbeitet an seinem 14. Buch, und wenn man Breslin fragt, was er sonst d e r

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noch gern tut, fällt ihm nur ein: „Eigentlich trinken, an der Bar stehen und Lügen erzählen. Darf ich seit Jahren nicht mehr. Die Kopfschmerzen davon haben mich fast umgebracht. Heute schwimme ich. Ich stehe um 4.30 Uhr auf, und dann wird geschwommen. Eine Stunde lang. Jeden Tag. Auch an meinem Geburtstag. Und der ist heute.“ Breslin schrieb die Storys, die Leser lieben: Über Mafiosi, über Killer, und als im Sommer 1976 ein Wahnsinniger durch New York lief und junge, weiße Mädchen erschoss, rief der Serienmörder, bevor er zu-

schlug, bei Breslin an. Es waren die guten, alten bösen Zeiten: Die Killer hatten noch 44er Magnums und waren keine Stubenhocker, die weißes Gift in einen Umschlag stecken, in der Schrift eines Vorschülers kleine Druckbuchstaben draufkritzeln und zu feige sind, den Absender dazuzuschreiben. Breslin, graues Sweatshirt, abgeschnittene Ärmel, kann solche Typen nicht leiden. Und weil er sie nicht leiden kann, hat er beschlossen, keine Angst vor ihnen zu haben. „Ich bin nicht allein mit dieser Haltung“, sagt Breslin. „Jeder anständige New Yorker sagt: ‚Geht zur Hölle, ihr lächerlichen Anthrax-Punks.‘“ Noch lieber als jene, die keine Angst vor Anthrax haben, mag Breslin nur noch Leute, die gar nicht wissen wollen, was Anthrax überhaupt ist. Heute Morgen um 7 Uhr hat er zwei von ihnen getroffen. Breslin war in Queens, um den ersten großen Brand nach dem Anschlag zu beobachten. Er stand da mit seiner grünen

kon, die weißen Haare fliegen im Herbstwind, hinter ihm leuchtet der Central Park. „Anthrax mit der Post verschicken?“, fragt er. „Was für eine miese Idee.“ Post mochte er noch nie leiden. Es komme nichts Gutes in Briefumschlägen. Nur Rechnungen, Werbung. „Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen dicken, fetten Scheck mit der Post bekommen zu haben. Ich habe das Zeug einfach immer nur ungeöffnet weggeschmissen.“

Es gibt für Psychologen auf dieser Welt wenig Adressen, die sich zur Geldvermehrung besser eignen als die von Dr. Gail Saltz an der Park Avenue in der Upper East Side. Hier wohnen die meisten der rund 60 000 Millionäre Manhattans, hier gedeihen die Ängste, wenn man zu viel Geld hat, und auch die Ängste derer, die glauben, zu kurz gekommen zu sein, als der Jackpot des Lebens vergeben wurde, und hier sitzt Dr. Gail Saltz jeden Tag in ihrem blau bezogenen Louis-XIV.-Sessel, um sich solche Wohlstandssorgen anzuhören. 200 Dollar für 50 Minuten bei Dr. Saltz, einer Art Domina für New Yorks Stadtneurotiker, eine Mittdreißigerin im Minirock, die eine Frisur trägt, als fliege sie abends first class zum Wiener Opernball. Vor dem 11. September hießen die Sorgen in der Upper East Side: Kann ich mir die 90 000 Dollar im Jahr für die Privat-

kohol wegknipsen wollen und trotzdem wach bleiben. Menschen, die in ihrem Büro im 52. Stock Turnschuhe und Fallschirm deponiert haben. Dr. Gail Saltz ist keine Psychologin, die diese Ängste durch jahrelanges Forschen nach verdrängten, ödipalen Kindheitsgeschichten kurieren will. Sie sucht den schnellen, pragmatischen Weg zur Besserung. Und der hat wenig mit Sigmund Freud zu tun und viel mit Common Sense. „Es ist“, sagt Saltz, „ein Feind, der uns nicht zur Ruhe kommen lässt, uns immer wieder aufschreckt mit neuen schlechten Nachrichten und suggeriert: Auch dich kann es treffen – morgen in deinem Briefkasten.“ Dazu die Angst, dass dies erst der Auftakt ist. Als Hausmittel empfiehlt sie: das Gespräch mit nichtpanischen Freunden, viel Sport, ehrenamtliche Sozialarbeit und, vor allem, wenig Medienkonsum. Nicht mehr den Schreckensszenarien drittklassiger Experten lauschen, sondern Zeitung lesen, Nachrichten sehen, aber nur zehn Minuten täglich. „Mehr“, sagt Saltz, „macht ängstliche Menschen verrückt.“ Traumatisierte gibt es genug in diesen Tagen. Gerade als die seelischen Wunden der World-Trade-Center-Attacke ein wenig zu heilen begannen, gab es aus der Poststelle neue Prügel für die Psyche. Viele New Yorker merkten erst, als sie die Apotheken leer kauften und nach Gasmasken fahndeten, wie angeschlagen sie wirklich

REUTERS (L.); RON FREHM / AP (R.)

FRANK SCHWERE / MATRIX

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Betende Feuerwehrleute, Briefkästen-Desinfektion in Manhattan: Neue Prügel für die Psyche

Polizeimarke um den Hals, wollte wissen, ob die Feuerwehrleute immer noch oldstyle-mäßig in das brennende Gebäude rennen oder von draußen Wasser in die Flammen spritzen. Sie rannten hinein. Breslin war glücklich. Besonders glücklich war er, als er später zwei von ihnen nach Anthrax fragte. „Anthrax“, sagten sie, „was soll das denn sein? Eine Fußballmannschaft?“ Dann riefen sie: „Yankees, Yankees, we will win the world series.“ Breslin läuft in Socken auf seinen Bal-

schule meiner drei Kinder noch leisten, jetzt, wo der Aktienmarkt runter geht? Habe ich Weihnachten noch einen Job, und woher nehme ich dann 12 000 Dollar Miete pro Monat? Warum reicht mein Jahresgehalt von einer Million Dollar nicht aus? Seit dem 11. September hört Gail Saltz das, was sie „neue Ängste“ nennt. Menschen, denen auf offener Straße der Schweiß ausbricht, wenn sie an einem Wolkenkratzer vorbei müssen. Menschen, die nicht mehr schlafen können, sich mit Ald e r

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sind. Ihr Lebensgefühl: „Apocalypse Now“ statt „Frühstück bei Tiffany’s“. „Wenn wir uns vor dem Terror verkriechen“, sagt Dr. Saltz, „werden wir uns bald so klein und kümmerlich fühlen, dass wir uns selbst nicht mehr erkennen.“

Von diesem Montag an müssen alle Beschäftigen der „New York Times“ ihre persönlichen Ausweiskarten sichtbar tragen. Das steht in einer schnell angefertigten Katastrophenrichtlinie der Zeitung. „Müs141

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Zertrümmerte Autos nach dem Anschlag: Kein Ort, um Kinder aufzuziehen

sen“ und „Tragen“ sind fett gedruckt. Anstecknadeln und Kettchen werden verteilt, an denen man seine ID-Karten befestigen kann, wie auf einem Urologenkongress. Die „New York Times“ ist zu einer eigenen journalistischen Geschichte geworden. Sie kann behaupten, wieder mal die erste Zeitung der Stadt gewesen zu sein. Vor einer guten Woche hat Judith Miller, eine „N.Y.T.“-Reporterin einen Brief aus Florida geöffnet, aus dem ein weißes Pulver rieselte. Es war ein Freitagmorgen, und während sie auf das Pulver sah, rief sie ein Informant an und fragte: „Weißt du, dass die Assistentin vom NBC-Nachrichtensprecher Tom Brokaw durch einen Brief aus Florida angesteckt wurde?“ In diesem Moment erkannte Judith Miller das Muster, sagt sie. Es ging gegen die Medien. Die Fälle in Florida gegen den Boulevardverlag, der NBC-Fall und nun sie, die zusammen mit zwei Kollegen gerade einen Bestseller über Biowaffen geschrieben hatte. Sie informierte die Sicherheitsabteilung der „N.Y.T.“ und war erleichtert, als sie mit Handschuhen und Plastiksäcken anrückten. „Es war ganz ruhig“, sagt Rick Gladstone aus der Business-Abteilung, der nicht weit von Judith Millers Schreibtisch saß. „Irgendwie waren alle ganz ruhig. Es wurde uns gesagt, dass niemand das Gebäude betreten oder verlassen darf. Die meisten haben noch zu Hause angerufen, um zu sagen, dass alles okay sei, und dann rückten auch schon die Jungs mit diesen Raumanzügen an. Erst hatte es ja diesen Zeitungskonzern in Florida erwischt, der den ‚National Enquirer‘ herausgibt. Und 142

jetzt uns. Da sind wir in guter Gesellschaft. Vielleicht hat das deswegen auch keiner so richtig ernst genommen. Am Anfang dachte ich, der ‚Enquirer‘ hat sich das ausgedacht, um eine Geschichte zu haben.“ Draußen vor den Drehtüren versammelten sich die Reporter von der Konkurrenz. Sie fotografierten nach drinnen und erinnerten die Kollegen in der Lobby an ihren eigenen Redaktionsschluss. Die „New York Times“ verlor an diesem Tag etwa drei Stunden, die Ausgabe sah ein wenig verwackelt aus. Die Titelgeschichte war der Anthrax-Fall bei NBC, ihr eigener Fall wurde erwähnt. Es schien niemand infiziert zu sein. Judith Miller wurde bis in die Abendstunden vom FBI befragt. Wen kennt sie in Florida? War sie dort kürzlich? Öffnet sie ihre Post immer selbst? „Wir sind darauf trainiert worden, kühl und professionell zu beobachten“, sagt Judith Miller. „Aber in diesem Augenblick lieferte ich keine Story. Ich war die Story.“ Also beschrieb sie am nächsten Tag, wie ihr das weiße Pulver auf die Hosen rieselte und sie dabei an Recherchen in russischen Militäreinrichtungen dachte. Am gleichen Tag, als ihr Text erschien, bauten sich Berichterstatter vor dem ABC-Gebäude in der 66. Straße auf. Auch der Fernsehsender war zu einer Geschichte geworden, der sieben Monate alte Sohn eines Nachrichtenproduzenten war an Milzbrand erkrankt. Bei Bloomberg TV ging ein verdächtiges Päckchen ein. Am Ende des Tages untersuchten die Spezialisten der GesundheitsRestaurant-Besitzer Noor

„Komisch gefühlt“ d e r

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behörde 120 verdächtige Postsendungen. 31 davon wurden von der Polizei getestet. Zu diesem Zeitpunkt saß Judith Miller bereits an einer nächsten Titelgeschichte. Sie beschrieb, wie hochgefährlich die Erreger waren, die im Brief an den demokratischen Mehrheitsführer im Senat, Tom Daschle, gefunden wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte sei offenbar eine hoch entwickelte Form von Anthrax als Waffe eingesetzt worden. Schon kleine Mengen würden genügen, um viele Menschen zu töten. Am Tag, als dies in der „New York Times“ stand, erfuhr Wissenschaftsredakteur Nicholas Wade, dass angeblich 4000 infizierte Postsendungen an Medien im ganzen Land verschickt würden. Jeden Tag werden die Nachrichten ein bisschen schrecklicher. Die Zeitungen pusten sie über die Stadt. Sie dringen in jeden

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TOMAS MUSCIONICO / CONTACT

perten der Gesundheitsbehörde noch einmal das gesamte Gebäude. Sie fanden keine Spuren von Anthrax. Wenn man so will, ist eigentlich gar nichts passiert.

Seine Hochhauskatastrophe fand bereits vor anderthalb Jahren statt. Am Abend des 24. Januar 2000 stieg er auf seiner Etage in den Fahrstuhl, in dem schon eine junge Frau stand. Nachdem sich die Türen schlossen, fiel die Kabine mit den beiden Passagieren in die Tiefe. Irgendein Seil war gerissen, der Fahrstuhl rauschte bis zum vierten Stockwerk, 120 Meter tief, wo er durch ein Bremssystem aufgefangen wurde. Es gibt keine Türen im Schacht, weil dieser Fahrstuhl nur zwischen 41. und 56. Etage hält. Sie wurden später von einem Rettungsteam befreit, das sich mit einem anderen Fahrstuhl zu ihnen abseilte. Sie schienen unverletzt. Die junge Frau kam nie zurück, Masoraca ging erst zu einem Arzt und dann zu einem Anwalt. Es war eine große Nummer damals, stand in allen Zeitungen auf der ersten Seite. Masoraca bekam Interviewanfragen aus aller Welt, für ein Gespräch forderte er 5000 Dollar. Er verklagte die Gesellschaft, die das Empire State Building betreibt. Die Untersuchungen zu der Fahrstuhlkatastrophe dauern an. Inzwischen kann er mit der Geschichte niemanden mehr beeindrucken. Es ist zu viel passiert. Insgesamt.

Joseph Masoraca sitzt in der 44. Etage des Empire State Building. Er trägt seine Juventus-Turin-Jacke, denn Juventus hat gestern Abend gegen Rosenborg Trondheim gewonnen. Masoraca ist ein Italo-Amerikaner aus Long Island. Er sitzt zwischen offenen Kartons, einem kaputten Wasserautomaten, zwei alten Schreibmaschinen und einem Computer, der lange nicht benutzt wurde. Er raucht und guckt CNN, er sitzt seine Zeit ab. Er hat eine Kiste mit etwa tausend Visitenkarten, die er nicht mehr braucht. In zwei Wochen zieht seine Firma aus dem Turm aus. Hinter Masoraca breitet sich der südliche Teil Manhattans aus. Die Skyline sieht immer noch aus wie gefälscht. Der Blick geht ungehindert raus aufs Meer. Das Empire State Building ist wieder das höchste Haus der Stadt. Es ist ein Symbol. Ein Ziel. Man kann sich ziemlich ungeschützt hier oben vorkommen. Joe Masoraca aber glaubt nicht, dass es noch schlimmer kommen kann.

MANHAT TAN 1,54 Millionen 58,5 km2

FLÄCHE BÜROFLÄCHE zerstört beschädigt

Central Park

1 235 000 m2 1 525 000 m2

ARBEITSPLÄTZE dauerhaft oder vorübergehend verloren

105 bis 120

BRUTTOINLANDSPRODUKT im Jahr 2000 in Milliarden Dollar

Ca

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Sperrgebiet

Telefonverkehr eingeschränkt

keine Gasversorgung keine Wasserversorgung Manhattan Bridge

Williamsburg Bridge

B R O O K LY N

Brooklyn Bridge

Brooklyn-BatteryTunnel geöffnet für Rettungsfahrzeuge und Busse

Ground Zero

QUEENS

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MANHATTAN

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NEW JERSEY

Queens Midtown Tunnel et

9872,9

Holland Tunnel geöffnet für Privatautos und Busse

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14.

479,5

New York City USA

NEW YORK

Broadway

87 000

SCHADENSSUMME in Milliarden Dollar

Queensboro Bridge

Times Square

East R iver

EINWOHNER im Jahr 2000

Hud

Winkel. Vielleicht kann man die Milzbrandbakterien noch nicht optimal verteilen, die Panik schon. Die Medien sind die perfekten Ziele. Sie sind nicht die Story, wie Judith Miller denkt, sie sind der Verteiler. Das ist das Muster. Wade blinzelt und denkt darüber nach, ob er das mit den 4000 Briefen lieber nicht gesagt hätte. Er ist ein stiller Engländer, der seit Jahrzehnten für die „New York Times“ schreibt. Er hat gerade ein Buch über Bakterien auf dem Markt. „Diese Meldung ist noch nicht verifiziert“, sagt er schnell. „Deswegen kann ich Ihnen nicht sagen, ob wir sie morgen drucken. Wir haben ja auch eine Verantwortung, nicht wahr?“ Wade versucht Ordnung in die Nachrichten zu bringen, er ist Wissenschaftler, aber irgendwie scheint jede Nachricht eine schlechte Nachricht zu sein. Auch die guten. „Sehen Sie, sogar wenn die Anthrax-Erreger von so hoher Qualität sind, wie sie sagen, ist es immer noch schwer, sie zu verteilen. Wenn sie zum Beispiel durch die Stadt fliegen und gegen eine Häuserwand treffen, fallen sie runter und bleiben dort liegen. Es ist dann schwer, sie wieder hochzubekommen“, sagt Wade, aber allein die Vorstellung, dass Anthrax-Wolken durch die Stadt schweben, treibt einen in die Flucht. „Es hat auch keinen Sinn, Cipro im Voraus einzunehmen“, sagt er. „Es hat üble Nebenwirkungen, und um einen vorbeugenden Schutz zu entwickeln, muss man es mindestens 60 Tage einnehmen. Das steht in keinem Verhältnis zur wirklichen Gefahr. Ich zum Beispiel nehme auch nichts.“ Er sieht blass aus. Krank beinahe. Wade ist Biologe, Giuliani Bürgermeister. Wenn jemand in seinen Pressekonferenzen niest, ruft er fröhlich: „Schon getestet?“ „Es gibt eine schmale Linie zwischen Vorsicht und Panik“, heißt es in der Katastrophenanleitung. Sie bittet alle Mitarbeiter, einen klaren Kopf zu behalten. Vor dem Gebäude dürfen keine Autos mehr anhalten, die Klimaanlagenräume müssen ständig verschlossen sein. Der riesige Nachrichtenraum der „N.Y.T.“ liegt ruhig da. Eine Wand ist voll mit Postfächern. Eine Zeitung lebt von dem, was von draußen kommt. Wade zeigt auf Judith Millers Schreibtisch, ein kleiner Platz zwischen all den anderen kleinen Plätzen. Alle glucken eng zusammen. Insofern ist die „New York Times“ genau wie ihre Stadt. Das macht ihren Erfolg aus, und das macht sie jetzt verletzlich. „Wir sitzen alle in einem Boot“, heißt der letzte Satz der internen Katastrophenanleitung. Am vorigen Dienstag und Mittwoch durchsuchten Ex-

1 km

Zone mit eingeschränktem Zugang für Anwohner und Passanten; Busse, Taxen, Lieferfahrzeuge und Durchgangsverkehr nur teilweise erlaubt

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BRÜCKEN und TUNNEL zwischen 6.00 und 10.00 Uhr nur Fahrzeuge mit mehr als einem Insassen erlaubt

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MATT CAMPBELL / AFP / DPA

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„Es ist nicht so, dass sich das Geschäft achtziger Jahren über den Khyber-Pass die Tür, in dem die Treue der Wirte zum verschlechtert hat“, sagt Masoraca. „Es nach Pakistan flüchteten, gab es auch eine amerikanische Volk erklärt wird. passende Geschichte zu dem Namen. Noor Das ging Ahmad zu weit. gibt kein Geschäft mehr.“ Er will nicht auf die Knie fallen wie ein An den Wänden hängen vergilbte Reise- erreichte Amerika 1990, da war er 20, und plakate aus Rom, Florenz und Neapel. An das Land im Westen der Welt bedeutete Sünder, aber er kann auch nur bedingt der Glastür steht in breiten Buchstaben nichts für ihn. Bis dahin hatte er indische nachvollziehen, was zu Hause passiert. Sie „Jolly International Tours & Transportation Musik und indische Filme gemocht, der bombardieren sein Land, aber er kennt Inc.“, aber die Jalousie zum Flur ist her- Feind kam aus dem Norden und sprach dort niemanden mehr. Er war 18, als er untergelassen. Die Leute sollen nicht zu- Russisch. Er war Mudschahidin, hat aber wegging. Er sagt, dass er nicht mehr poligucken können, wie sich hier alles auflöst. nie gekämpft, sagt er. Er gewöhnte sich tisch engagiert sei, aber er liebe sein Land. Es ist weit weg, er war nie wieder da. Er Am Tag, als das World Trade Center zu- langsam an Amerika. Ahmad Noor ging aufs College in mag die Taliban nicht, die Terroristen nicht, sammenstürzte, musste Masoraca sein Büro verlassen, das Empire State Building wur- Queens, wo die meisten der etwa 10 000 die Pakistaner nicht. Er lebt in Queens, er de wie viele andere Hochhäuser evakuiert. New Yorker Afghanen leben. Vor fünf Jah- arbeitet im East Village. Die Perspektiven werden schief. Es verAuch an den folgenden zwei Tagen blieb es ren wurde er amerikanischer Staatsbürger, geschlossen. Dann durften sie zurück. Es ein Freund habe ihn überredet, sagt er. Da- mischt sich alles. In New York wird man gab noch zwei Bombendrohungen und zwei mals wechselte er in die Gastronomie. Es nicht von einem Redneck umgelegt. Hier Evakuierungen, aber das ist alles nicht so gibt acht afghanische Restaurants in Man- wird man höchstens geschnitten. „Wir haben uns nie unterkriegen lasschlimm. Schlimm ist, dass die Touristen hattan, im Village waren sie die Einzigen, sen“, sagt er. „Niemals hat jemand Afghawegbleiben. Masoraca hat ein kleines Bus- es lief gut, sagt er. Nach dem Anschlag aber kam überhaupt nistan einnehmen können. Man lässt uns unternehmen, das für europäische Reiseanbieter Fahrten durch New York, nach niemand mehr. In den ersten beiden Wo- nicht zur Ruhe kommen. Seit 25 Jahren Philadelphia, Atlantic City und auch zu den chen war es total leer, jetzt sind abends leidet mein Volk.“ In nur einer halben Niagarafällen anbietet. Seine Kunden ka- ein Viertel der 65 Plätze belegt. Es reicht Stunde verstrickt er sich in der bockigen men aus Italien, Deutschland, Skandinavi- nicht. Er hat schon den Küchenchef und Geschichte seines stolzen, unbezwingbaren Volkes. Er hat wohl dieselben Feinde en und England. Er hatte sechs Luxusvans, zwei Kellner nach Hause geschickt. sechs Fahrer und drei Büroangestellte. Jetzt sind es noch zwei Fahrer, die Sekretärin und er. Eigentlich braucht er auch die Sekretärin nicht mehr. Am ersten November ziehen sie hier aus. Er will sich an einer Firma in New Jersey beteiligen, die Global Plus Tours heißt. Vielleicht bringt der neue Name was oder Weihnachten. Er will sich auch mehr um seine drei Kinder kümmern, sagt er. Er hat noch kistenweise Hochglanzprospekte, vorn ist einer der Meisterschaftsspiel der New York Yankees, Familie Fawcett: Bereit für den nächsten Angriff schicken Jolly-Busse abgeDie Touristen bleiben weg, klar, aber wie seine Gäste. Letztlich gibt es viele bildet, im Hintergrund funkeln die Twin Tower. Masoraca trägt die Juventus-Jacke, auch die Amerikaner. Es ist schwer, Zu- Gründe, warum ein gutes Restaurant nicht Trainingshosen, weiße Socken und Bade- sammenhänge herzustellen. Er ist ja auch läuft. Meistens sind es Missverständnisse. latschen. So sitzt er hier seit drei Wochen, überrascht worden, er war auf dem besten Draußen schlendern laute Menschen so wird er zwei weitere Wochen sitzen. Er Weg, ein Amerikaner zu werden. Er saß über die Straße. Ahmad hat wieder Kerzen ist seit zehn Jahren im Reisebusiness, er ist am 11. September in Queens vorm Fernse- auf allen Tischen angezündet, in den Fensjetzt 38. Die schlimmste Geschichte seines her und dachte wie alle, dass es ein Unfall tern hängen die guten Besprechungen aus war. Bald schon liefen die ersten Bilder aus der „New York Times“ und der StadtilluLebens ist nichts mehr wert. Kabul. Seiner Heimatstadt. Er hat keine Angst mehr. strierten „New York“. Die „Daily News“ „Es passte alles nicht zusammen, dieser gab ihm im vergangenen Jahr noch vier Khyber-Pass klingt nach Verzweiflung gewaltige Anschlag und dieses arme Volk“, von fünf Sternen. Er zahlt 9000 Dollar Mieund Staub. Es ist der Flüchtlingsweg durchs sagt Ahmad. „Ich habe mich natürlich ko- te im Monat. Noch einen Monat können sie Grenzgebirge zwischen Afghanistan und misch gefühlt. Ich bin Afghane, ich bin Mus- überleben, sagt er. Am nächsten Abend lässt er sich mit eiPakistan, zwischen Jalalabad und Pescha- lim, und ich habe schon gemerkt, dass da im war, von dem CNN ab und zu wacklige ersten Moment nicht so sehr viel differen- ner alten afghanischen Flinte für diesen Bilder sendet. Am Fuß des Passes soll sich ziert wurde. Aber ich fühlte mich von An- Artikel fotografieren. Es ist nur ein einzieines der Lager Bin Ladens befinden. Es fang an ziemlich sicher in meiner Haut, denn ger Gast da, ein betrunkener alter Amerigibt sicher bessere Namen für ein Restau- man sieht mir nicht an, dass ich aus Afgha- kaner, der am Tisch eingeschlafen ist. Irnistan komme. Ich könnte auch ein Italiener gendwann wacht er auf und wankt aus dem rant im East Village als „Khyber Pass“. sein, ein Russe, ein Kaukasier.“ Es ist eine Lokal, ohne zu bezahlen. Ahmad verfolgt Aber was soll man machen? Als Ahmad Noor das Restaurant vor vier traurige Erklärung. Und sie half auch nicht. ihn mit dem alten Gewehr in der Hand. Er Jahren übernahm, hieß es schon „Khyber Ein afghanisches Restaurant in Midtown stellt ihn auf dem St. Marks Place. Er bePass“. Es hatte einen guten Ruf, und weil tapezierte sein Schaufenster mit amerika- droht seinen letzten Gast. Aber was soll Ahmad Noor und seine Familie in den nischen Fahnen und hängte einen Brief in man machen? 144

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schwer zu sagen, wer wirklich wichtig ist in Manhattan. Es gibt zu viele. Giuliani natürlich, weil er half, dass keine Panik ausbrach, und weil er den New Yorkern neuen Mut gab. Die Feuerwehrleute, klar, und all jene, die halfen und ihr Leben riskierten oder sogar opferten. Die Mütter sowieso, die wie selbstverständlich ihre Kinderwagen durch diese verwüstete Stadt schieben. Und dann gibt es da noch David Letterman, den Late-Night-Moderator. Nach dem Attentat war er für eine Woche verschwunden, und er kam nur zurück, weil Giuliani ihn darum bat. Sein erster Auftritt war unglaublich. Er sprach frei, er bat um Verzeihung, er trauerte, er machte keine Witze, er zeigte Anteilnahme, er war mutig. Seinem ersten Gast, dem CBS-Anchorman Dan Rather, hielt Letterman die Hand, als der zu weinen begann. Die New Yorker waren begeistert. Letterman ist ein Held. Weil er Witz hat und Selbstironie, weil er schnell ist und schlau, weil er Herz zeigt, wenn es darauf ankommt, und weil er eine Art Woody Allen ist, aber mit Baseballschläger. Es war eine große Freude, als Letterman in den Tagen danach wieder diesen Baseballschläger herausholte. Er trug weiße Socken und seinen blauen Zweireiher, am Revers die amerikanische Flagge, und er fand Worte für den Zorn der New Yorker auf Bin Laden. „Weißt du, Paul“, sagte er zu Paul Schaffer, seinem Bandleader, „mir geht der Typ auf die Nerven. Ich habe genug von ihm. Ich habe keine Angst mehr. Dieser Stecknadelkopf lebt in einer Höhle. Am Arm trägt er eine Timex. Wert: vier Dollar.“ Das mit der Höhle wurde sein Running-Gag an diesem Abend. Es war ein primitiver Witz, ein Witz wie ein Baseballschläger. Aber er hatte Wucht, das Publikum trampelte vor Vergnügen. Die Woche darauf kam der Milzbrand über die Stadt, und Letterman fing an, mit seinem Baseballschläger zu jonglieren. „Ah, es wird Herbst in New York, die Eichhörnchen im Central Park horten Cipro.“ „Ich fühle mich heute ein wenig merkwürdig. Wahrscheinlich habe ich statt Cipro heute mein Viagra genommen.“ „Anthrax ist jetzt auch im Kongress gefunden worden. Waren das noch Zeiten, als der Kongress sich nur vor neuen Praktikantinnen fürchten musste.“ Ende vergangener Woche entdeckte man Anthrax auch bei CBS, wenige Tage nach den Funden bei den Konkurrenzsendern NBC und ABC. „Wie immer sind wir von CBS weit abgeschlagen. Nummer drei.“ Letterman erinnert die Leute Abend für Abend daran, wer sie einmal waren, bevor sie die Angst gefangen nahm. Dazu gehört, dass er sich selbst seiner Angst nicht schämt. Amerikaner haben immer gelacht. Auch über Hitler. Und am Ende haben sie ihn besiegt.

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In diesen Tagen des Terrors ist es

Wolkenkratzer am Ground Zero: Amerikaner haben immer gelacht

Die vergangene Woche beschloss Senator John McCain, Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen im Vorjahr, ein Kriegsheld. Sie redeten über Baseball, den Krieg, und dann fragte McCain Letterman, ob er wisse, in welcher Verkleidung Bin Laden Halloween feiern würde. „Keine Ahnung“, sagte Letterman. „Als Toter“, sagte McCain.

Im Sommer hatte Sally Fawcett das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Aufgewachsen war sie in einem Vorort von Philadelphia, danach ein paar Jahre Los Angeles, schließlich New York, wo sie an der Börse arbeitete und ihren Mann Keith kennen lernte, ein Trader bei Merrill Lynch. Als es Sally an der Börse zu bunt wurde, fragte sie ihn, was er eigentlich von Kindern halte. „Ich liebe Kinder“, sagte Keith. Jetzt haben die Fawcetts drei davon: Elizabeth, 8, Rebecca, 5 und Sam, 6. Drei Kinder in New York aufzuziehen ist ziemlich anstrengend, und dass Rebecca unter Asthma leidet und Sam autistisch ist, d e r

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macht die Sache für Sally Fawcett nicht unbedingt leichter. Der Junge spricht kein Wort, und wenn er seinen Willen nicht bekommt, kriegt er einen Wutanfall. „Die anderen beiden“, sagt sie, „werden sich entwickeln, erwachsen werden, irgendwann ausziehen. Sam nie. Er braucht unsere Liebe und Hilfe. Er wird immer bei uns bleiben müssen.“ Sally Fawcett sieht aus wie eine Schwester von Meg Ryan, sie ist eine Frau, die sich nicht beklagt, sondern lieber ein paar Scherze macht. Sie jammerte auch nicht, als ihre Kinder mit Freunden über die Möbel in der kleinen Dreizimmerwohnung rannten, als seien sie Hindernisse auf einem Abenteuerspielplatz. „Würden wir irgendwo in der Vorstadt wohnen, hätten die Kinder vielleicht Fahrräder und einen Garten. Hier aber haben sie das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Sie lernen, keine Angst zu haben in schwierigen Situationen, sie lernen, miteinander auszukommen, sie lernen Toleranz.“ 145

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„Wir sind Bin Ladens Alptraum“ Der amerikanische Erfolgsautor Kurt Andersen über Anthrax-Angst, arabische Taxifahrer und das Ende der Ironie ben die schon nicht mehr! Furchtbar, wie man in diesen Zeiten darüber nachdenkt, wie das Leben nach so einer Katastrophe aussehen würde. SPIEGEL: Und Atomwaffen? Andersen: Ein Freund aus dem Pentagon rief mich vor ein paar Tagen an und sagte mir, dass vier russische Raketensprengköpfe abhanden gekommen seien. Er versuchte mich damit zu beruhigen, dass diese Sprengköpfe nur aus taktischen Atomwaffen stammten und in Iran vermutet würden, nicht im Irak. Darüber muss man sich schon freuen. SPIEGEL: Mr. Andersen, Sie sind einer der SPIEGEL: Liegt die Angst, die die New Yorbekanntesten Autoren in den USA. Öff- ker ergreift, auch daran, dass viele Katanen Sie Ihre Post noch? strophenfilme uns die mögliche Zukunft Andersen: Ich sehe sie mir sehr genau an. schon haben sehen lassen? Zum Beispiel, Und alles, was ich nicht identifizieren dass bei Ausbruch einer Seuche die Stadt könnte, würde ich weglegen. Allerdings vom Militär abgesperrt wird? glaube ich nicht, dass ein paar Gummi- Andersen: Natürlich, und die Terroristen handschuhe und eine Plastikbrille mich haben diese Filme auch gesehen. Warum vor Anthrax schützen würden. Eine Be- spielen diese Filme fast alle in New York? kannte sieht sich nach einem Landhaus Weil diese Umgebung das Spektakel aufin Upstate New York um. Die Makler dort regender und Angst einflößender macht. oben werden förmlich belagert. SPIEGEL: Fürchten Sie, dass New York SPIEGEL: Die Anthrax-Briefe sind vor al- noch einmal Ziel einer großen Attacke lem ein Angriff auf die kollektive Psy- sein könnte? che. Unsichtbar, geruchlos Andersen: Man hofft na– das Gift könnte überall türlich, dass der Blitz sein. nicht zweimal an derselben Stelle einschlägt. Es Andersen: Und solche ist schrecklich, dies zu saAttacken machen die Leugen, aber wenn diese Leute verrückt, verunsichern te möglichst viel Angst in sie mehr als ein Flugzeug, Amerika verbreiten wolldas in ein Gebäude fliegt. ten, dann müssten sie jetzt Jetzt leben wir eine WoChicago oder Omaha anche lang mit der Anthraxgreifen. Wenn sie es noch Furcht. Unsere Erfahruneinmal in New York vergen beruhen auf dieser eisuchen, sagen doch die nen Woche. Was aber, anderen nur: „Aha, die wenn diese Typen einen sind ja nur hinter New Weg finden, das Zeug York her.“ Das hat schon besser zu verteilen, und mein 14-jähriger Neffe erauf einmal Tausende von kannt, er wohnt in einer Menschen erkranken? Wo Autor Andersen kleinen Stadt in Upstate bekomme ich mein Cipro „Wir feiern Exzesse“ New York. Er sagte: her? SPIEGEL: Was ist mit Pocken? Die „New „Mommie, weißt du was? Als nächstes York Times“ schrieb vor zwei Wochen, es sollten sie unsere Stadt kaputtmachen. sei zwar sehr schwierig für Terroristen, Dann würde sich in ganz Amerika niedas Pocken-Virus zu bekommen. Aber mand mehr sicher fühlen.“ eine Infektion sei verheerend und für SPIEGEL: Warum dieser Hass der TerrorisUngeimpfte oft tödlich. ten auf New York? Andersen: Ich vertraue da noch auf eine Andersen: Wir sind Bin Ladens schlimmsuralte Impfung. Aber meine Kinder ha- ter Alptraum. Wir sind reich. Wir zeigen TOMAS MUSCIONICO / CONTACT

In den USA wurde Kurt Andersens 1999 erschienener Roman „Turn of the Century“ („Tollhaus der Möglichkeiten“) zum Couchtisch-Wälzer der Info-Elite: eine Story über die Helden der Medien- und Computerbranche an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Zuvor hatte Andersen, 47, die New Yorker Satire-Zeitschrift „Spy“ mitbegründet, anschließend war er Herausgeber des Wochenmagazins „New York“ und beteiligte sich am Aufbau einer großen Medien-Website namens „Inside. com“ – spezialisiert auf Medienklatsch.

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unsere Kraft. Wir sind vergnügt. Wir sind säkularisiert, westlich, antitheokratisch. Wir feiern Exzesse, den freien Markt, die Emanzipation der Frauen, wir feiern das Jüdischsein. Wenn Sie eine Liste der Top Ten machen würden von den Dingen, die die Taliban und Bin Laden am meisten hassen, dann finden Sie die in ihrer Anhäufung am ehesten in New York. SPIEGEL: Viele Altlinke in Europa begründen den Hass der Terroristen ökonomisch, und manche freuen sich klammheimlich, dass die „Phalli des Kapitalismus“ abgeschnitten wurden. Können Sie da noch folgen? Andersen: Diese Haltung, mit der viele dieser Vulgärmarxisten seit Jahrzehnten sagen: „Lass sie doch Amerikaner töten – sie verdienen es nicht besser“, macht mich wütend. Für niemanden in New York war das World Trade Center das Herzstück des amerikanischen Kapitalismus. Ja, die Türme standen da. Aber das war auch schon alles. SPIEGEL: Arabisch aussehende Taxifahrer müssen ihre Autos mit amerikanischen Flaggen schmücken, um überhaupt noch Fahrgäste zu bekommen. Zieht die Gefahr eines neuen Rassismus auf? Andersen: Ehrlich gesagt frage ich mich zurzeit, wenn ich ein arabisches Taxi ohne amerikanische Flagge sehe, ob der Typ am Steuer ein ernstes Problem hat. Natürlich ist es schrecklich, sollten jetzt arabisch aussehende Menschen beschimpft oder verprügelt werden. Aber die Angst, dass einer von 500 Arab-Americans mit Terroristen in irgendeiner Form in Verbindung steht, entbehrt vielleicht nicht jeglicher Grundlage. SPIEGEL: Wie wird die Angst die Kultur der Stadt beeinflussen: Ist das Zeitalter der Ironie zu Ende? Andersen: Man sollte diese Sätze aus den ersten Wochen nach der Katastrophe nicht allzu ernst nehmen. Natürlich, es gibt viel echte Emotion, aber auch jede Menge scheinheiligen Opportunismus. Selbstverständlich wird der 11. September unsere Kultur verändern, aber darf man danach nicht mehr komisch sein? Und wird das Lachen verboten? Ich glaube nicht. Aber die Ironiehölle hat ja schon lange genervt. Ich habe immer gesagt: Wir kommen da nur mit einer Rezession oder einem Krieg raus. Jetzt haben wir beides.

FRANK SCHWERE / MATRIX

nächsten Angriff. Am nächsten Morgen nahm sie ihre Kinder, fuhr zu ihrer Mutter in jenen Vorort von Philadelphia. Als beim Abendessen ein Jet über das Haus flog, bekam sie fast einen Nervenzusammenbruch. In New York findet sie alles seltsam, und dieser Strom schlechter Nachrichten und apokalyptischer Szenarien aus Anthrax, Pocken und Nuklearkatastrophen trägt nicht unbedingt dazu bei, dass sich ihr Seelenzustand wieder normalisiert. Neulich deutete ihr Mann beim Abendessen zum Fenster und sagte: „Siehst du dieses Flugzeug? Es fliegt so tief.“ „Honey“, antwortete sie, „dies könnte unser letztes gemeinsames Dinner sein.“ Keith lächelte nicht einmal. Später fand ihn Sally im Schlafzimmer, im Sessel eingeschlafen, ein Fernglas auf dem Schoß. Der starke, stoische Keith. Der Mann, der eine Lungenentzündung vor zwei Jahren so lang ignoriert hatte, bis er seine Frau mitten in der Nacht weckte und sagte: „Honey, ich gehe mal rüber ins Krankenhaus, ich kriege keine Luft mehr.“ Sich die Socken anzog, zusammenbrach und von einem Notarzt zurück ins Leben geholt werden musste. Beide hängen an New York, immer noch, aber

SPIEGEL: Die Schriftstellerin Susan Sontag wurde für einen Text, in dem sie darauf hinwies, dass die Selbstmordattentäter nicht unbedingt Feiglinge gewesen seien, in den Medien geprügelt. Warum ist die amerikanische Öffentlichkeit seit dem 11. September so wenig selbstkritisch? Andersen: Susan Sontags Text hatte einen kalten Ton, der wenige Tage nach dem Attentat einfach falsch klang. Außerdem war die Sache mit den Feiglingen nicht mehr als eine semantische Spitzfindigkeit. Okay, die Typen sind tapferer als ich, weil sie zu sterben bereit waren. Na und? Sontags Haltung besagt, dass wir dies alles verdient hätten, nur weil wir groß und kräftig sind. Das ist nicht akzeptabel. Inzwischen aber gibt es genügend Berichte, in denen untersucht wird, warum uns in der arabischen Welt so viele hassen. Fein. Nur in der ersten Woche wollten wir nichts davon wissen. Das war so, als würden Sie auf der Beerdigung eines guten Freundes, gestorben an Lungenkrebs, rufen: „Dieser verdammte Idiot. Geschieht ihm gerade recht. Er hätte eben nicht rauchen sollen.“ SPIEGEL: Sind Sie dafür, das World Trade Center wieder aufzubauen? Andersen: Nein, das ist so, als würden Sie Ihre verstorbene Mutter nach ihrem Tod ausstopfen und sich ins Wohnzimmer setzen. Aber ein neues Gebäude – groß, heroisch und wunderbar –, ich bin dafür. Interview: Thomas Hüetlin

Diesen Sommer haben die Fawcetts sich ein viel größeres und sehr teures Apartment gekauft. Ihre Unterschriften unter dem Kaufvertrag waren so eine Art Glaubensbekenntnis für New York. Auch wenn Keith jetzt täglich 14 Stunden arbeitet und auch das halbe Wochenende. Die Ereignisse seit dem 11. September lassen sie an ihrem Glauben zweifeln. Sie sind nicht allein. Wenn Sally vom 16. Stock nach unten in den Wäscheraum fährt, stehen dort oft Leute mit 25 Jahren New York auf dem Buckel, 100-prozentige Großstadtkrieger, die flüstern: „Wir müssen weg. Dies ist kein Ort mehr, um Kinder aufzuziehen.“ „Wo wollt ihr hin“, scherzt Sally dann, „nach Florida?“ Dort, wo die ersten Milzbrandbriefe auftauchten? An jenem 11. September ist bei Sally mehr kaputtgegangen, als sie mit ein wenig Humor wieder zusammenleimen könnte. Sally hatte gerade Rebecca und Elizabeth in die Schule gebracht, als das erste Flugzeug einschlug. Wie gelähmt stand sie in der Aula, umspült von immer neuen apokalyptischen Gerüchten. „Sie haben noch 20 Flugzeuge mehr entführt“, rief einer. „Es ist Krieg“, rief ein anderer. Den Rest des Tages verbrachte Sally mit einer Freundin und sieben Kindern in deren kleiner Wohnung. Abends ging sie nach Hause. Der Rauch der Ruinen wehte in ihr Apartment. Rebecca bekam einen Asthmaanfall. Sally packte die Schuhe der Kinder vor die Tür, legte sich mit einer Taschenlampe vor den Fernseher. Bereit für den * Am 15. Oktober. d e r

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MARIO TAMA / GETTY IMAGES

Zerstörter Lebensmittelladen: Eine miese Idee

Eislaufbahn-Eröffnung am Rockefeller Center*

Rückkehr in die Normalität?

in einer Stadt zu leben, die Terroristen zu ihrem Hauptangriffsziel erklärt haben, nagt an ihren Seelen. „Wir werden uns an diese Unsicherheit gewöhnen müssen. New York war immer ein Laboratorium moderner Zeiten. Dazu gehört jetzt eben auch die Bedrohung durch Typen, die in Tarnanzügen vor Felsenhöhlen herumhocken.“ Sie geht zum Fenster und starrt einem Flugzeug nach, das gerade den Hudson River überquert. ™ 147