Molsner Dich sah ich

Michael Molsner Dich sah ich Roman

Michael Molsner, geboren 1939 in Stuttgart, studierte zunächst einige Semester Germanistik und Anglistik in Heidelberg. Nach seiner Arbeit als Gerichtsreporter in München und redaktionellen sowie journalistischen Tätigkeiten in Dortmund, Hamburg und Hannover, arbeitet er seit 1968 als freier Schriftsteller. Vier seiner Kriminalromane landeten auf dem Treppchen des Deutschen Krimi-Preises. Molsner lieferte zahlreiche Drehbücher, u. a. zum »Tatort«.

© 2011 Oktober Verlag, Münster Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster www.oktoberverlag.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Britta Gerloff Umschlag: Thorsten Hartmann unter Verwendung eines Fotos von adiaphane/www.photocase.com Herstellung: Monsenstein und Vannerdat gedruckt in der EU ISBN: 978-3-941895-21-8

1 Inseln in der Zeit

Zuerst soll ich meinen Namen nennen. Das hat der Chefarzt mir eben noch empfohlen, bevor sie mich in einen grünen Kittel steckten, eine Art Ganzkörperschürze. Brüllen Sie nicht, sagte er, das ist unnötig. Entweder sie hat akustische Wahrnehmungen oder sie hat keine. Aber flüstern Sie auch nicht ehrfurchtsvoll, wie an einer Bahre. Die Frau lebt und wir alle hoffen, dass sie uns das demnächst vergnügt bestätigt. Sagen Sie in einem normalen Gesprächston, wie Sie ihn sonst auch anschlagen: Hallo meine Liebe! Oder wie immer Sie die Dame anreden. Und eines, das vor allem, brechen Sie nicht gleich in Panik aus, wenn zunächst keine Reaktion kommt. Alles klar? Ich bestätigte es, und sie drückten den Knopf, der die Tür zur Intensivstation öffnet. Ich trat ein und wartete, bis die Tür hinter mir zugefahren war. Und da bin ich nun endlich. Hat zwei Tage länger gedauert, als ich wollte. Deine Angehörigen waren vor mir da. Jetzt trinke ich erst mal einen Schluck Wasser. Flasche und Glas stehn ja wohl für Besucher da. Dass du noch bei uns bist, verdanken wir außer deinem Schutzengel dem spendablen ägyptischen Konsul. Er hat den lang vernachlässigten Gartenpavillon aus der Zeit um 1900 vor ein paar Jahren renovieren lassen. Unsichtbare Stahlträger statt maroder Stützmauern – ich zitiere die Kriminaltechniker. Vermutet wird, dass der Attentäter sich durch die Transparenz des kleinen Teekiosks täuschen ließ. Sieht ja wirklich aus – oder sah vor dem Anschlag aus – wie ein Glasgehäuse, das nichts abhält als bloß Wind und Regen. Er hat seinen Lieferwagen, vollgepackt mit dem explosiven Gemisch, ohne weiteres 5

durch die Glaswand fahren wollen. Dass er gegen einen feuerverzinkten Stahlträger geknallt und nicht erst im Innern des Kiosks hochgegangen ist, sondern davor, muss die letzte Überraschung seines Lebens gewesen sein. Für dich war es die Rettung, Charmaine. Von alledem soll ich nun aber keinesfalls reden, meint der Chefarzt. Ich saß in seinem Büro und hoffte, sie würden mich jede Minute zu dir lassen. Aber nein, es seien Stellungnahmen einzuholen. Die Kriminalämter, die Kommissariate ... Und während ich vor Ungeduld schier aus der Haut fuhr, wiederholte er wie ein Leierkasten: Erzählen Sie ihr was Schönes, Liebes, etwas Erfreuliches ... Die Frau ist mit dem Kopf gegen eine Stahlträgerfundierung geschleudert. Das wissen wir sicher. Nicht sicher wissen wir, ob wir nach psychischen Anteilen an der Bewusstlosigkeit forschen müssen! Ob da nicht ein Fluchtbedürfnis mitspielt und Bewusstsein abgedrängt wird. Sie wundern sich. Aber es ist so, kann ich Ihnen versichern, dass wir heutzutage nachfragen, wie sieht es mit der Widerstandskraft nicht nur, wie sieht es auch mit dem Widerstandswillen des Patienten aus? Er blickte mich groß an, als erwarte er Protest – während ich ganz im Gegenteil nur zustimmen konnte. Die Psyche verschärft die Lage!, hab ich mal irgendwo gelesen. Ich hab es mir ausgeschnitten und in meinem Büro an die Wand gepinnt. Stimmt es nicht oft, beinah immer? Und jetzt, setzte er die Lehrstunde fort, beginnen Sie zu verstehen, warum wir mit der Möglichkeit rechnen, dass Ihre Freundin außer der Prellung der Hirnmasse auch eine Eindellung ihres Lebensmuts erfahren hat. So etwas gibt es. Das glaubt uns nur keiner. Er schien nach wie vor auf Widerspruch zu warten. 6

Also bitte keine Anspielung auf Bomben. Wir verstehen uns? Vollständig, versicherte ich ihm. Verstanden hab ich vor allem, dass er deine Abwehrreaktion auf Angst zurückführt, Lebensangst womöglich. Er kennt dich nicht. Deine Verweigerung von Selbstkontrolle und Verantwortung muss andere Gründe haben. Mit Angst wirst du fertig, indem du gegen sie lebst – wie jemand gegen den Strom schwimmt. Schon bei unseren ersten Begegnungen hast du dich exponiert bis zur Waghalsigkeit. Es hätte diskretere Möglichkeiten für unsere Kontaktaufnahme gegeben; du hast sie ignoriert. Jetzt trinke ich noch ein Glas Wasser, mein Gaumen ist rau wie Sandpapier. Wird eigentlich deine Mundhöhle genügend oft gereinigt und befeuchtet? Du liegst Erster Klasse, und die Klinik ist gut, die beste – sie werden schon alles richtig machen. Trotzdem vergewissere ich mich beim Pflegepersonal. Gleich nachher. Du musstest dich nicht exponieren. Du warst unser, wie sagt man heute, Lady Boss? – unsere Lehrerin. Die heimlich bewunderte und begehrte, jedenfalls unangefochtene Chefin im Klassenraum der Abiturienten. Unser erstes Privatgespräch konntest du einleiten und gestalten, wie du wolltest. Du hast es öffentlich geführt. Ich suchte wie alle andern in der Klasse meine Sachen zusammen, um sie in der Schulmappe zu verstauen. Mein Banknachbar Rup, auch in der Freizeit oft mit mir zusammen, war schon auf den Füßen. Ich bemerkte, dass er höflich – Rup war ein höflicher junger Mann – beiseite trat, um jemandem Platz zu machen. 7

Ich hob den Blick und sah dich vor uns stehen. Bitte, sagte Rup und wich einen Schritt zurück. Deine Hornbrille hattest du zum Zeichen, dass der Unterricht beendet war, bereits abgenommen. Ohne den Rahmen um deine Augen warst du Privatmensch. Ich muss rot geworden sein, als du neben mir Platz nahmst; noch heute spüre ich Blutandrang. Von unserer Schulbank aus, wo Rup sonst saß, hast du mich von unten herauf, denn ich stand ja schon halb, angelächelt. Darf ich?, hast du nachträglich gefragt. Wir waren sehr förmlich – suchten den Schutz der Förmlichkeiten. Denn die Situation war ungewohnt. Vergeblich grabe ich in meiner Erinnerung nach einem ähnlichen Vorfall – so etwas wie dein Verhalten kam damals einfach nicht vor. Du hast zwar so getan, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Doch das war es mitnichten. Die Distanz zwischen Lehrkörper und Schülern wurde nicht, wie heute, schon im Unterrichtsraum aufgehoben. Stühle im Kreis aufzustellen, Lerngruppen um Einzeltische zu bilden – das fiel niemandem ein. Frontalunterricht war noch selbstverständlich, er betonte die Autorität auf dem Podium. Das war beabsichtigt. Dass und wie ich um Fassung rang, ist mir so deutlich, als geschehe es jetzt. Und eben jetzt, Charmaine, während ich erzähle, geschieht es. Ich bin achtzehn und hab noch ein Jahr bis zum Abitur, und du bist die Studienreferendarin Ch. Bell, Vorname nicht ausgeschrieben. Kann eigentlich nur Charlotte heißen oder Christine, meint Rup. Was ich bestreite. Nein, sage ich, sie heißt anders. Wie dann?, fragt Rup. Keine Ahnung, anders. Da grinst er: Chérie etwa? 8

Ch. Bell, die neuerdings Deutsch und Englisch bei uns gibt. Deren Garderobe wir beachten und kommentieren – erlesene Stöffchen, sagt Rup, der so etwas weiß. Die an manchen Tagen von einem hellhäutigen, dünnen, hochgewachsenen blonden Mann in einem offenen englischen Sportwagen abgeholt wird, einem MG. Diese Ch. Bell hüllt mich in sachten Duft ein. Edles Parfum, wird Rup hinterher gutachten, er hat einen Hauch davon erschnuppert. Dass du anders geduftet hast als wir Schüler, brauche ich nicht zu betonen. Aber auch ganz anders als die gleichaltrigen Mädchen, mit denen wir auf unseren Partys – wir sagten nicht Feten damals – tanzten und schmusten. Es ist alles nah und deutlich. Deine Hände schmal neben meiner breiteren Hand liegend. Die Fingernägel hell glänzend. Deine Wangen rosig überhaucht. Dein Lächeln aufregend, überlegen auch ... mokant? Ein wenig mokant wird es schon gewesen sein. Ich hab mich nicht wohl gefühlt in meiner Haut. Ihr Aufsatz, fängst du nun an zu sprechen – hörst du deine Stimme so klar wie ich? – Ihr Aufsatz, ich bin beeindruckt, Ratys. Danke, Fräulein Professor. Es würde einer Abiturklasse der heutigen Zeit abwegig bis zum Lachanfall vorkommen, ihre Studienreferendarin mit einem akademischen Titel anzureden, der ihr nicht zusteht. Damals in München waren alle unsere Lehrer Herr oder Frau »Professor«, oder eben »Fräulein Professor«. Als Miss Bell redeten wir dich nur im Englischunterricht an, da akzeptiertest du es lächelnd; nicht in der Deutschstunde. Knapp dreißig Klassenkameraden stauen sich inzwischen an der Tür, alle drängen gleichzeitig hinaus auf den 9

Gang, der zum Musikzimmer oder Zeichensaal oder auf den Sportplatz führt. Sie werfen noch einen Blick zurück, sehen her zu dir. Zu dir, neben mir in der Schulbank. Sie bemerken meinen hochroten Kopf, und dass du kühl und beherrscht bleibst. Grinst jemand? Einige tun es, Freund Rup nicht. Was geschieht da, fragt er sich und spricht es hinterher aus: Was hat die von dir gewollt? Es war die Zeit, in der Präsident Kennedys Affären kein öffentliches Thema waren, Marilyn Monroes Depressionen keine Schlagzeile, und Elvis Presleys Liebe zu einem Kind kein Skandal. Die Medien waren diskret, sie nahmen Rücksicht. Man war – prüde?, taktvoll? Womöglich beides. Und unverheiratete Studienreferendarinnen nahmen zu Schülern der oberen Klassen keine anderen als berufliche Kontakte auf. Was du getan hast, ging also bereits bei unserem ersten Zusammensein in der Schulbank über das Übliche weit hinaus, und das wusstest du. Die Klassenkameraden mochten es für harmlos halten, weil du zu Beginn der Stunde, vor der Verteilung der benoteten Arbeiten, meinen Aufsatz gelobt hattest. Doch normal können sie unser Privatissimum nicht gefunden haben. Was dachten die sich? Dass keiner von ihnen seine Hand unter ihren Rock bringt, knurrte Rup auf dem Heimweg mit ungewohnter Derbheit. Um nach kurzem Nachdenken hinzuzufügen: Und von uns auch keiner. Ist mir klar, sagte ich, während mein Herzschlag Galopp lief. Übrigens, ich beschönige die Gespräche unter uns Schülern nicht. Four-letter-words, heute in allen Kreisen geläufig, auch den sogenannten besseren, waren unter uns Abiturien10

ten verpönt. Wer sie gebrauchte, schloss sich aus der Gemeinschaft aus. Wir waren keine Stammtischrunde. Auf Kultur kam es uns an. Der entsprechende Lebensstandard würde sich dann schon einstellen. Haben Sie wirklich alle die Schriftsteller gelesen, die Sie in Ihrem Aufsatz erwähnen? Ehrlich, Ratys, Ihre Eins haben Sie und die bleibt Ihnen, auch wenn Sie geflunkert haben. Also ... Ich weiß jetzt nicht, was Sie genau meinen, wenn Sie von Flunkern sprechen. Ich beruhigte mich allmählich. Das Blut wich spürbar aus meinem Gesicht, und es gelang mir, meinen Ton ruhig zu halten und mich nicht allzu oft zu räuspern. Naja, also zum Beispiel die Erzählungen von Thomas Wolfe kennt kaum jemand. Noch dazu im Original. Gibts eine Übersetzung? Weiß ich gar nicht. Wie kommen Sie dran? Meine Mutter liest viel. Steht alles bei ihr im Bücherschrank. Auf Englisch? Sie war in ihrer Jugend Au-pair-Mädchen in England. So ist das. Ja, und Herman Melville! Die Bluse, die du anhattest, war weiß und schimmerte, das Licht brach sich darauf. Oben stand sie ein wenig offen, ich sah Spitzenbesatz darunter. Rup wartete vor der Schule auf mich, und wie immer gingen wir zusammen zur Straßenbahnhaltestelle. Sie dachte, es ist geflunkert, was ich im Aufsatz geschrieben hab. Hast du sie überzeugt? Die Eins hab ich jedenfalls noch. Sonst sagte ich wenig. Sollte er rätseln und mich bewundern. 11

Während wir auf die Tram warteten, kramte er eine Packung Astor heraus, rauchend stiegen wir jungen Herren ein. Das durfte man damals noch, erinnerst du dich? In der Straßenbahn rauchen. Vieles andere und besonders einiges von dem, was du tatest, durfte man aber ganz entschieden nicht! Umso strahlender der Glanz dieser Augenblicke, er ist nie verblasst. Unvergessen sicherlich auch für dich dein nahezu unglaubliches Verhalten im Jazzkeller, Ecke Leopold-Hohenzollernstraße. Ich ging dort gern mit Rup und dem einen oder andern Klassenkameraden hin, um bei einem Glas Wein und der Astor-Zigarette Musik zu hören. Schon beim Hereinkommen hatten wir unser Fräulein »Professor« entdeckt. Du warst in Begleitung eines Referendars, der in der Parallelklasse Geschichte gab. Ein netter Mensch mit rundem Gesicht, ich seh es noch vor mir – ein Eindruck fürs Leben ist das gewesen: der verblüffte und auch verletzte Ausdruck deines Kollegen. Du hast seinen Tisch verlassen, um dich zu uns Schülern zu setzen. Gut, du warst neu an unserer Schule und wirst ihm erklärt haben, es sei Kontaktpflege. Du konntest darauf hinweisen, dass von den jüngeren Referendaren, aber auch den Studienräten sich manch einer außerhalb des Unterrichts mit uns traf. Zum Beispiel um Gustaf Gründgens in seiner Paraderolle als Mephisto zu sehen; die Verfilmung des »Faust« galt als beispielhaft und lief wochenlang in großen Kinos. Oder man sah sich gemeinsam »Kinder des Olymp« mit Jean-Louis Barrault, dem berühmten Pantomimen, in einem Filmkunsttheater an; hinterher wurde dann lernwillig diskutiert. Das alles wirst du deinem Kollegen gesagt haben. Aber wie konnte er sich erklären, was danach geschah? 12

Etwas steif und unbeholfen haben dich meine Schulfreunde zum Tanz gebeten. Ich zögerte. Du hattest mich vor aller Augen und Ohren im Klassenraum ausgezeichnet. Ich wäre mir selbstgefällig vorgekommen. Als ob ich es ausnutzte und mich vordrängen wollte. Der sitzengelassene Referendar, Mitte der Zwanzig wie du und uns gegenüber ein Erwachsener, verließ das Lokal mit unsicherem Lächeln. Du hast ihm noch freundlich zugenickt, während auch ich endlich mit dir tanzte. Worüber sprachen wir nur? Ich hab es vergessen. Jazz? Wir Schüler verstanden was davon. Nicht vergessen hab ich, dass du mit uns gingst, als wir aufbrachen. Du hast uns zur Haltestelle der Tram begleitet, wo die Freunde einstiegen und wegfuhren – wir haben ihnen noch nachgewinkt – und bist mit mir zurückgeblieben. Es machte mich wieder sehr verlegen, auch weil ich blank war. Ich hatte eben noch mein Glas Wein bezahlen können. In ein Lokal durfte ich dich also nicht einladen, ohne zum Zechpreller zu werden. Und mich von dir, der Frau, einladen zu lassen, war undenkbar. Wohin also jetzt noch? Du fragtest aber nicht nach einem Lokal, das noch offen sein könnte, sondern nach meinem Heimweg. Und stelltest fest, es war auch deine Richtung. Unser Weg führte durch den nächtlichen Englischen Garten. Unterwegs setzten wir uns auf eine Bank: dein Vorschlag. Ich liebe die Nachtgeräusche, war deine Begründung. Mein respektvolles, sicher auch gehemmtes Schweigen hast du mit der plötzlichen Frage quittiert: Kommen Sie hier auch her, wenn Sie eine Freundin ausführen? Manchmal. 13

Und die küssen Sie dann? Ich war nicht verblödet. Die Bedeutung schien klar. Trotzdem wagte ich kaum zu atmen. Es war gar zu unwahrscheinlich. So etwas erlebte Gérard Philipe in Filmen mit Michèle Morgan oder Danielle Darrieux. Im Leben gab es das nicht, und schon gar nicht in meinem Leben. Doch es geschah tatsächlich. Du hast dich von mir küssen lassen und dabei sogar kurz die Lippen geöffnet. Hast mich deine kleine spitze Zunge fühlen lassen. Der erste Kuss meines Lebens war es nicht, aber der erste von einer Frau – statt wie bisher von einem Mädchen meines Alters. Mein Herzschlag hat ausgesetzt. Auch du wirst nicht angstfrei gewesen sein, Charmaine. Das Risiko muss dir bewusst gewesen sein. Du hattest die unsichtbare Schranke, die zwischen Lehrern und Schülern, und gar zwischen Lehrerinnen und Schülern selbstverständlich war, durchbrochen. Wäre ich mit meiner Eroberung hausieren gegangen, du wärst am nächsten Tag von der Schule geflogen. Wäre ich die Sorte Sohn gewesen, die zuhaus damit prahlt, und meine Mutter die Sorte Frau, die mit so etwas zum Schulleiter rennt und lamentiert – grauenvoll. Du musst das bedacht haben. Zugleich mit deinem Job hast du deinen Ruf aufs Spiel gesetzt. Wie hättest du es dem dünnen, blonden MG-Fahrer erklärt? Deinen Angehörigen in kirchenfrommer niedersächsischer Provinz? Es war ein Vorgang wie eine Explosion. Entschuldige das Wort, aber es ist angebracht und nicht übertrieben. Und doch setzten wir den Heimweg fort, als sei gar nichts geschehen. Was ich als nächstes lesen wolle, fragtest du. Den Felix Krull von Thomas Mann kannte ich noch nicht, hatte den Roman zwar in der Stadtbücherei vorbestellt – 14

doch die Warteliste war so lang wie mein Gesicht, als ich die Anwärter zählte. Deine Antwort erschien mir noch unglaublicher als der Kuss auf der Parkbank. Ich dürfe das Buch bei dir entleihen. Wie selbstverständlich hast du einen der nächsten Tage genannt und eine Uhrzeit am Nachmittag. Dritter Stock, bitte dreimal läuten – man wohnt da möbliert, und jeder Untermieter hat sein eigenes Klingelzeichen. Dreimal! Understood, Miss Bell. Wir standen vor der Tür eines großen Mietshauses in der Prinzregentenstraße, ungefähr gegenüber dem Schwimmbad. Du hast aufgeschlossen und gesagt: Also bis dann – und bist hineingegangen. Hast mich noch einmal angelächelt, dann fiel die Tür zu. Und ich stand da, mitten in der Nacht, denn es war schon spät, und kam mir vor wie geträumt. Jemand träumte mich. Vor kurzem hatte ich Singin’ in the Rain gesehen, unter dem deutschen Titel Du sollst mein Glücksstern sein – und nun fühlte ich mich als zweiter Gene Kelly: Ich lebte in einem Musical, einem Farbfilm. Der Gehsteig wurde zum Trampolin, ich federte so leicht ab und so hoch bei jedem Schritt, wie ich nur wollte. Ich ging nicht, ich tanzte nach Haus. Bis zum wichtigsten Tag meines Lebens, und das war er, der Tag unserer ersten Verabredung, war eine schwierige Frage zu beantworten. Was bringe ich ihr mit? Blumen? Konventionell. Pralinen? Spießig, außerdem hatte ich kein Geld. Ich entschied mich für ein kleines Bändchen von Ingeborg Bachmann, das ich nicht erst kaufen musste, ich hatte es von meiner Mutter zu Beginn des letzten Schuljahrs vor dem Abi bekommen. 15

Wieder Nervosität und Angst: Was tun, wenn sie von mir erwartet, dass ich aktiv werde, wie stelle ich das an? Wie verführt man seine Lehrerin? Du hast sehr taktvoll meine Befürchtungen gedämpft und allerdings auch meine Erwartung. Auf mein dreimaliges Klingelzeichen kamst du im Staubmantel zur Haustür und schlugst einen Spaziergang vor. Mein Mitbringsel hast du zunächst in der Hand behalten, dann im Briefkasten gleich neben der Haustür deponiert. Schau ich mir später in Ruhe an. Nach kurzem Zögern hast du deine Visitenkarte mit einer Nadel drangeheftet, um sicher zu sein, dass kein anderer Untermieter, dessen Post hier landete, es auspackte. Von der Prinzregentenstraße zu den Isaranlagen und von dort zum Englischen Garten ist es nicht weit. Ich hatte den Weg oft allein gemacht, nach den täglichen Hausarbeiten für die Schule – das Abitur rückte näher und näher, und unser Mathe-»Professor« musterte mich schon mit der Miene eines Krokodils, das einen nahrhaften Springbock zur Wasserstelle traben sieht. Wir hielten auf den Chinesischen Turm zu und gingen weiter Richtung Universität in die Maxvorstadt mit den Buchhandlungen und Antiquariaten. Es war meine übliche Route. Du bist widerspruchslos mitgegangen, hast dich von mir führen lassen. Du wolltest mich kennenlernen, glaub ich. Worüber wir unterwegs sprachen, weiß ich noch ganz genau, denn es war ein Thema, das ich seltsam fand. Deine Schuhe. Ob es mich störe, dass sie flach seien. Du hättest zu kleine Füße für hohe Absätze, mit kleinen Füßen könne man auf Stilettos nicht balancieren. Ob ich das bedauere, hohe Absätze seien nun einmal attraktiver. Ob ich es enttäuschend fände. 16

Wir müssen auch andere Themen angeschnitten haben, es war ein langer Spaziergang. Aber dass du in flachen Schuhen gekommen warst und auch in der Schule meist halbhohe trugst, und dich nur abends zum Ausgehen in Schuhe mit dreiviertelhohen Absätzen trautest, weil man in einem Konzert oder im Lokal nicht viel stehen und gehen muss – das hat sich mir eingeprägt. Du hast von dir erzählt, das war es, was mich verwirrte. Nicht vom Unterricht oder den Kollegen oder deinem bevorstehenden zweiten Examen. Von dir hast du erzählt. Mir. Und ich weiß auch noch, dass ich meinem Entzücken in einer verrückten, schwärmerischen Art Luft machte. Ich muss ganz und gar außer mir und vor Aufregung kurz davor gewesen sein überzuschnappen. Ich hab, während du noch sprachst, dich einfach um Taille und Knie gefasst und aufgehoben und auf meinen Armen getragen. Sie sollen sich nicht weh tun und sich nicht anstrengen, sagte ich und ließ dich erst nach einigen hundert Metern auf eine Bank nieder. Während der ganzen Zeit, die wir bis zu der Bank brauchten – es können einige Minuten gewesen sein – hast du dich, ohne zu protestieren, von mir tragen lassen und mich dabei unentwegt angesehen. Mir tun die Füße nicht weh, Ihnen aber dafür die Arme, hast du gesagt, als wir nebeneinander auf der Bank saßen. Nein, log ich, so könnte ich Sie auch heimtragen ... Zumindest bis zum nächsten Taxistand, nahm ich die Übertreibung zurück. Du hast lächelnd deine Hand an meine Wange gelegt. Und dann haben wir uns auf den Rückweg gemacht. Da endlich werden wir auch über den Hochstapler Felix Krull 17

gesprochen haben, den Anlass – ach was, den Vorwand für unser Treffen. Die offizielle Entschuldigung, die vorgebracht werden konnte, falls wir zusammen gesehen wurden. Die Lehrerin will ihrem Schüler ein Buch leihen, um sein Interesse für Literatur zu unterstützen. Vorher gibt sie ihm Tipps, was er bei der Lektüre beachten soll, um Nutzen daraus zu ziehen. Ich musste nicht wieder vor dem Haus umkehren. Du hast den Schlüssel umgedreht und ich hab die schwere, übermannshohe, mit Schnitzereien verzierte Eichentür für dich aufgehalten. Und kam dir nach, als sei etwas anderes nicht vorgesehen. Du hast den Briefkasten geöffnet, an dem Ch. Bell stand – neben den Namen der anderen Untermieter – und hast mein Geschenk für dich, mein Mitbringsel, herausgenommen. Breite Stufen führten durch das hohe, helle Treppenhaus hinauf, wie sie in den üppig ausgestatteten Mietspalästen aus der Prinzregentenzeit üblich sind. Du hast deine Finger über den kühlen Handlauf aus marmoriertem Stein wandern lassen und lachend gesagt: Das mach ich oft so. Danach wasch ich mir dann jedes Mal die Pfoten. Ich ging davon aus, dass ich an der Wohnungstür stehen bleiben und darauf warten müsste, den Roman von dir zu bekommen. Du hast mich aber nicht verabschiedet, sondern innegehalten und aufmerksam in die Wohnung hineingehorcht. Abgestandene Luft und der Geruch nach Bohnerwachs kamen uns aus brunnentiefer Stille entgegen. Um die Zeit arbeiten alle, hast du gesagt. Kommt aber vor, dass einer mal früher Schluss macht. Hier sind die Bräuche streng. Ich verstand. »Herrenbesuch« war dir untersagt. Das Verbot wird Bestandteil des Mietvertrags gewesen sein. Des18

halb hast du dich vergewissert, dass niemand uns überraschen konnte. Du hättest Abmahnungen der beleidigendsten Art riskiert, Charmaine. Du hast sie riskiert, immer wieder! Denn du konntest nie sicher sein. Ich folgte dir durch den langen, dunklen Flur. Du hast eine Tür ohne Namensschild geöffnet. Licht, Wärme, Wohligkeit: dein Zimmer. Tee wär jetzt gut, trinken Sie eine Tasse mit? Wir siezten uns. Ich dich ohnehin, aber auch du mich, wie im Klassenraum – seit der Mittleren Reife wurden wir nicht mehr geduzt, mit »Herr« allerdings nur außerhalb der Schule angeredet, im Unterricht war ich »Ratys«. Und jetzt? Mein Herzklopfen meldete sich wieder. Dein Zimmer war winzig, eine Kammer eher. Stecktest du all dein Geld in Garderobe und spartest dafür an der Miete? Nein, es war anders, aber das hab ich erst später erfahren. Das Münchener Zimmer war nur Schlaf- und Arbeitsstelle, dein fester Wohnsitz noch die Adresse deiner Eltern im Niedersächsischen. Entsprechend bescheiden war die Ausstattung. Bücherbord überm Bett, kleiner Schreibtisch am Fenster, Tauchsieder für Teewasser. Du hast dieTür geöffnet, wieder kurz hinausgehorcht, und bist über den Flur ins Bad gelaufen, das gegenüber lag. Über dem Waschbecken hast du den Topf mit Wasser gefüllt, bist schnell zurückgekommen, hast beide Türen, die ins Bad und deine – unsere, hätte ich beinah gesagt – vorsichtig, ohne einen Laut, geschlossen, mich angelächelt und den Tauchsieder in den Topf gestellt. Aus einem Wandschränkchen nahmst du Kanne und Tassen, eine bunt lackierte Teedose und ein silbrig glänzen19

des Tee-Ei. Viele Handreichungen waren nötig für den alltäglichen Vorgang. Ich hab jede mit schmerzlicher Faszination und aufgeregter Vorfreude auf mich wirken lassen. Dass magisches Geschehen bevorstand, war nun klar. Ein Wunder wie im Märchen. Seitlich des Fensters stand ein leichter Korbsessel. Den hast du mir zugewiesen und dich an den Arbeitstisch gesetzt – Tisch auch für die Teetafel. Hab ich Tafel gesagt? Fast hätte ich es vergessen: Du hast eine Schale mit Plätzchen gefüllt und mir hingeschoben. Mein Mitbringsel war in irgendein Packpapier eingeschlagen, nicht als Schmuck, es sollte nur den Einband schützen. Du hast es zur Hand genommen und ausgepackt und den Titel halblaut ausgesprochen. Die gestundete Zeit. Von Ingeborg Bachmann. Du blicktest auf. Hatte phantastische Rezensionen überall. Sie haben mir das doch nicht gekauft? Geschenkt bekommen. Na, dann kann ich es annehmen. Du schlugst das Buch auf. Die Widmung, die meine Mutter für mich reingeschrieben hatte, ließ dich noch einmal aufblicken. Das ist doch aber von großer Bedeutung für Sie! Drum geb ich es Ihnen. Es durfte nicht irgendwas sein. Du hast Luft geholt, die Stirn gerunzelt, die Lippen zusammengepresst. Ich machte mich auf Einwände gefasst. Was kam, hatte ich nicht erwartet: Meine Monatsmiete kann ich stunden lassen – am Fünfzehnten ist sie fällig, und wenn ich mein Geld für einen tollen Pulli ausgegeben hab, dann bitte ich um Stundung bis zum Ersten. Aber die Zeit? Wie wird die gestundet, was heißt das? 20

Ich hab es erlebt. Mit Ihnen. Seither weiß ich es. Ich war selbst über meine Bemerkung erschrocken – keine Frechheit, und auch nicht als Zudringlichkeit empfand ich sie, aber Tollkühnheit war es. Du schienst innezuhalten. Aber du hast mir nicht verboten weiterzusprechen! Ich wagte mich vor: Neulich auf der Parkbank, als wir nachts vom Jazzkeller kamen. Es ist alles noch da. Die Kastanie über uns. Die Blütenkerzen im gelben Licht, obwohl die Laterne weit weg ist. Der Duft dieser Kastanie. Auch nach gemähtem Gras riecht es und nach Erde. Eine Blüte fällt auf Ihr Haar. Eine andere streift Ihr Gesicht, und Sie berühren die Stelle mit dem Finger. Sie meinen wohl, es ist ein Insekt, aber es ist ein kleines weißrotes Blättchen. Ich tupfe es weg und fürchte, Sie werden böse. Und dann ... Das alles vergeht nicht mit der Zeit. Das Wasser kochte. Du nahmst den Tauchsieder heraus, hast die Schwarzteeblättchen aus der lackierten Dose ins Tee-Ei gelöffelt und hängtest es in die Kanne. Dann hast du das Wasser aufgegossen. Die Zeit fließt vorbei, beharrte ich. Auch jetzt wieder, an uns. Ein Raum in der Zeit, hast du halblaut vor dich hingesagt. Und zu mir: Von Raumzeit reden die Physiker, aber die meinen es anders, oder? In Physik bin ich leider ’ne Niete, gab ich zu. Sie müssen sich nicht entschuldigen, Michael. Es war das erste Mal, dass du mich beim Vornamen nanntest. Ich muss sofort aus dem Korbsessel aufgesprungen sein. Das Wunder geschah. Du kamst in meine Arme.

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2 Glück

Und damit begann die Reihe unserer paradiesischen Nachmittage. Die willst du nicht vergessen, Charmaine. Schau in die Räume, an denen die Zeit vorbeigeglitten ist. Einer davon ist dein Zimmer. Du findest es gleich. Du trittst zu mir. Jetzt. Jetzt ziehe ich dich an mich. Du legst deine Arme um meinen Hals. Schiebst deine Hand unter mein Hemd. Der Stoff leistet Widerstand, du öffnest einen Knopf über meiner Brust. Sanfte Berührungen, wortlos. Ich dagegen stelle mich ungeschickt an, will deine Bluse endlich aufbekommen, verheddere mich, wie kann ich dich festhalten und gleichzeitig ausziehen? Lach nur. Der Schüler ist willig, sollte aber gelegentlich seinen Übereifer zügeln. Dich auszupacken wie ein Geschenk, die durchsichtigen hauchdünnen Gewebe sacht beiseitezuschieben, jede kleinste Enthüllung zu genießen und auszukosten – das muss ich noch lernen. Jetzt, beim ersten Mal, will ich dich sofort haben, will alles auf einmal. Ich lauf dir nicht weg!, ermahnst du mich – und nimmst dem Vorwurf mit einem Lächeln die Schärfe. Ich verstehe und hole erst einmal Luft. Du schiebst meine Arme sanft weg und gehst zum Fenster. Es steht einen Spalt offen. Nicht gut?, fragt mein Blick. Du drückst das Fenster zu und ziehst einen seitlichen Hebel herunter. Oberhalb der zwei senkrechten Fensterflügel klappt eine querstehende Scheibe auf. 23

Wir wollen frische Luft haben, ohne dass man uns draußen auf den Balkons hört. Die Vorhänge ziehst du bis auf einen Spalt zu. Nun kann uns auch niemand beobachten, sagst du, während du deine Bluse mit schnellen, geschickten Handgriffen aufknöpfst. Du kommst zu mir, küsst mich und wendest mir den Rücken zu. Ich verstehe und ziehe die Bluse von deinen Schultern ab wie ein Kavalier das Cape seiner Begleiterin. Und wieder drehst du dich um, schaust mich an. Du wartest – ich begreife nicht gleich, worauf. Du lächelst. Öffnest ein Häkchen am Bund deines Rocks, ziehst den Reißverschluss auf. Ich begreife und streife den Rock von deinen Beinen. Er fällt als Ring um deine Füße. Du steigst aus dem Ring heraus. Nimmst meine Hand und ziehst mich zu deinem Bett. Was du jetzt noch anhast, sieht anders aus als die Unterwäsche, die ich von zuhaus kenne, von meiner Mutter, den Halbschwestern, einer Cousine. Die tragen gerippte Baumwolle, praktisch und preiswert. Du hast Dessous angelegt, unpraktisch und teuer. Hast du denn nicht gefroren unterwegs?, frage ich. Dass du daran denkst. Es ist mir eingefallen! Ein langer Blick trifft mich. Nein, mir war warm. Bevor ich dich küsse, schiebe ich meine Fingerspitzen über deine nun nackten Arme von der Handwurzel aus durch die Ellbogenbeuge zur Schulter hinauf. Und von da zum Spitzenbesatz über deinem Busen – den Ansatz davon hab ich neulich in der Schule erkannt. Unter meinen Fingerspitzen baut sich Spannung auf. 24

Plötzlich zuckst du, spürst auch selbst die Elektrik! Ich ziehe die Hand zurück. Nein, bleib! Du greifst nach meiner Hand und holst sie dir wieder. Das ist schön. Doch die Geduldsprobe überfordert mich. Ich verliere die zwischendurch gewonnene Beherrschung diesmal vollends und falle über dich her. Schiebe dein Hemdchen hoch, zieh es oder vielmehr reiße es dir über den Kopf, drehe dich auf dem Bett gewalttätig um, nestle mit zitternden Fingern – dauert das lange! – an dem elend schwierigen Verschluss herum, der die zwei zierlich bebänderten sogenannten Körbchen festhält, kann das mit zwei Großbuchstaben allzu nüchtern bezeichnete, fast gewichtlose Ding endlich beiseitewerfen, drehe dich noch einmal um, greife unter das Gummiband des seidenen Dreiecks, das dich noch bedeckt. Du wehrst mich nicht ab, reckst dich auf, kommst mir entgegen! Niemandem bin ich je so nahe gewesen. Nie hat ein Mensch sich für mich geöffnet. In deinen Körper einzudringen ist meine Premiere. Das Neue. Das Große. Das Schöne. Das Glück. Dass ich es achtsam tun kann, uns Zeit lassend, den Genuss verlängernd, hab ich später gelernt. Jetzt aber, Charmaine, beim ersten Mal, bin ich überwältigt von der Entgrenzung all meiner Sinne gleichzeitig. Ungekannte Sensationen sind das, jenseits aller Begriffe, die mir geläufig sind. Warm und weich – köstlich. Kein Gefühl, das sich damit vergleichen ließe, ist mir seither eingefallen. Es ist anders. Anders als was?, höre ich dich im Innern deiner Fluchtburg fragen. Als alles, was ich bis dahin gekannt hatte. 25

Einsamer Sex, mit dem junge Männer sich entspannen, um nicht sich selbst und fremden Frauen lästig zu fallen, ist keine Erfahrung, die auf so etwas vorbereitet. Der Dorfweiher war mir bekannt, man planscht darin und kühlt sich ab, und hinterher ist es vergessen. Das Meer, aufsteigend aus großer Tiefe und mich mitnehmend, so hoch hinauf wie die höchste Woge, war eine neue Welt. Du hast es geahnt. Ich bin deine erste, ja? Ich fühle mich ertappt und protestiere, doch die Lüge beschämt mich mehr als die Wahrheit, die ich nicht zugeben will. Aber das macht mich doch glücklich! Entzücken lässt deinen Blick schmelzen wie dich selbst. An manchem unserer Nachmittage sind wir danach noch durch das Studentenviertel spaziert, die Maxvorstadt zwischen der Innenstadt und dem bunteren Schwabing. Wir standen an der Straßenkreuzung, wo unsere Großeltern das Künstlerlokal Café Stefanie gefunden haben. Zu den Stammgästen gehörte die schöne Gräfin Reventlow. Sie sei erosdurchleuchtet – hat sie von sich gesagt. Das Wort borge ich mir. Jetzt ungeschützt und aus weit geöffneten Augen in mein Innerstes blickend, Seligkeit ausstrahlend – noch so ein Wort, das ich der Gräfin entleihe – jetzt, sage ich, bist es auch du: erosdurchleuchtet, wie sie es gemeint hat, und selig. Nein, bleib!, höre ich deinen Aufschrei. Hatte ich mich zurückziehen wollen? Dein Körper krampft sich um den Eindringling zusammen und badet ihn heiß, während aus deinem Mund nie gehörte Laute dringen, Röcheln, Ächzen. Du hältst mich wie mit Eisenklammern auf dir fest. Der hochwillkommene Gast 26

wird zum Gefangenen. Bekommt beinah Angst. Und reißt sich doch noch los. Gönnst du mir denn nichts?, fragst du, in dich zusammenfallend. Wir müssen aber doch aufpassen!, rechtfertige ich mich. Allmählich findest du wieder zu dir. Richtest dich auf. Horchst in die Wohnung hinein. Ist jemand gekommen? Ich war ziemlich laut, ja? Daran dachte ich weniger. Ach so ... Das meinst du! Nein, du musst dich nicht vorsehen. Erst wenn die gefährlichen Tage kommen. Das sage ich dir dann schon. Vorher bitte nicht!, fügst du in einem Ton hinzu, der etwas Klägliches hat. Was du mit gefährlichen oder ungefährlichen Tagen meinst, begreife ich selbstverständlich. Aber wie du sie unterscheidest, davon habe ich nur eine blasse Ahnung. Du stehst auf, offenbar enttäuscht von meinem allzu plötzlichen Entkommen. Ziehst deinen weißen Frotteemantel über und nimmst einen Schluck aus der Teetasse. Verziehst das Gesicht. Lauwarm bis kalt, ich mach neuen. Während du draußen bist, schaue ich mich um. Von der Ablage am Kopfende deines Betts nehme ich den Roman vom Hochstapler Felix Krull – er liegt quer, weil du ihn für mich herausgesucht hattest – und schlage ihn auf. Auf dem Vorsatzblatt steht in deiner Handschrift, die ich aus der Schule kenne: Charmaine Bell. Du kommst mit dem im Bad gefüllten Wassertopf herein. I wonder why you keep me waiting, Charmaine, zitiere ich, halblaut singend, einen Hit aus dem Radio. Na, jetzt weißt du es. Erzähl es nur niemandem. Was meinst du? 27

Wie ich heiße. Christa, Christine, Christel – hat Rup vermutet. Oder vielleicht Charlotte. Ich hab gesagt: Nein, und auch nicht Chérie – das hat Rup noch als letzte Möglichkeit vorgeschlagen. Ich fand Chérie aber auch – ich weiß nicht – vulgär. Mein Bekannter nennt mich Charmy. Nicht mit Ell wie Charly Brown. Mit Emm wie Mich laust der Affe. Der im MG? Ja, da kriegt ihr Stielaugen, wenn ihr den Wagen seht. Plötzlich warst du böse. Lang hat Charmaine dich nicht warten lassen. Wenn ich denke, dass es mein erstes Jahr bei euch ist, und es hat noch kaum angefangen. Was meinst du? Du hättest nicht schwach werden sollen? Oder nicht so bald? Ich mach was falsch, befürchte ich. Warum bist du nicht bei mir geblieben? Es dauert einen Moment, bevor ich begreife. Eben jetzt? Aus Vorsicht! Vielleicht magst du mich gar nicht! Du schlägst die Bettdecke zurück. Er mag mich!, widerlegst du dich selbst. Das klingt nun erfreut. Sogar selbstzufrieden. Ich bin einigermaßen beruhigt. Und wen mag sie? Du weist auf den großen Flecken Feuchtigkeit, der sich unter dir auf dem Laken ausgebreitet hatte. Ist das keine Antwort? Ich hol uns ein Handtuch. Es gibt in dem Zimmerchen einen kleinen Schrank – ein Spind eher –, aus dem du ein frisches Frottiertuch nimmst. Du kommst zum Bett, lächelst mich an und wartest ... worauf? Ich begreife und rücke beiseite. 28

Du breitest das Handtuch sorgsam über dem Laken aus, bevor du dich zu mir setzt. Ob sie ihn mag, fragt er. Hast du es nicht gemerkt? Und wie ich es gemerkt hab. Und willst es trotzdem auch noch hören? Ich sag es dir aber nicht, du wirst mir sonst arrogant. Das Wasser brodelt im Topf. Du stehst wieder auf, nimmst den Tauchsieder heraus, ich beobachte alle die kleinen Verrichtungen von vorhin. Was würdest du eigentlich den andern Mietern sagen, wenn dich wirklich jemand gehört hätte? Dass es eine Radiosendung war. Während der Tee zieht, legst du dich zu mir, zupfst das Handtuch unter dir glatt. Bereit zu neuen Taten? Auch diese Kanne Tee ist kalt geworden, bevor du mir den Abschiedskuss gabst. Durch den langen Flur hast du mich hinaus zur Wohnungstür begleitet: mucksmäuschenstill, denn inzwischen hatten wir tatsächlich Stimmen aus einem der Zimmer gehört. Ich weiß noch, wie ich mich gefühlt hab, als ich ins Abendlicht der Straße trat. Ich war ein erneuerter Mensch. Verzaubert. Was will man mehr? Gott hat mir zugelächelt, als er uns zusammenführte. Und wem er sein Lächeln einmal zeigt, dem bleibt er gewogen. Mein Leben konnte nicht mehr misslingen. Ich war nun vom Glück geprägt. Auch in bösen Momenten, an denen es in vielen Jahren nicht fehlte, hab ich es nie ganz vergessen, hat es mich nie ganz verlassen! Und das war erst der Anfang! In der langen Reihe unserer paradiesischen Nachmittage hast du mich ein Deutsch gelehrt, das in keinem Schul29

buch steht. Es war deine eigene, von dir erfundene Sprache für Liebe. Sie hatte mit dem Wortschatz, der geläufig ist, nichts gemeinsam. Wenn ich heutigentags eine Frau sagen höre: Wir haben noch Zeit für einen Quickie, oder: Das wird ein nettes Nümmerchen – dann ist von Nachmittagen wie unseren jedenfalls nicht die Rede. In mein Leben trat eine Prinzessin mit Zofe. Wenn ich das so hinsage, begreifst du vielleicht, dass ich befremdet war. Gestanden hab ich dir das damals nicht. Ich wollte dich nicht abkühlen. Denn gegen das, was gemeint war, hatte ich keinerlei Einwände! Die Zofe entschied, ob die Prinzessin besucht werden durfte. Es war eine reizende Zofe, keck und vorwitzig. Sie hieß Perlchen. Die Vormittage verschlief sie. Wenn aber am Nachmittag der Prinz sich bei ihr meldete, wurde erwartet, dass er sie wachküsste. All dieses Herzen und Küssen weckte allmählich, und manchmal auch rasch, die Prinzessin. Sie konnte sehr plötzlich ungeduldig werden und verbat sich den Egoismus der Zofe. Der Prinz durfte, sollte, musste sich endlich bequemen!, hieß es dann. Wer war eigentlich die Hauptperson im Palast, die Kleine vom Personal nicht! War die Prinzessin hellwach geworden, dann sehnte sie sich nach dem Prinzen und konnte es nicht erwarten, bis der Gast endlich in ihre Gemächer vordrang. Dort wurde er überglücklich und sehr ausführlich willkommen geheißen. Es gab außerdem eine Verwaltung. Sie hatte Küche und Keller zu betreuen. Dieser Abteilung stand Rosetta vor, im Rang etwa einer Hofmeisterin. Meist war sie durch ihr wichtiges Geschäft aufgehalten und kümmerte sich nicht um den Besuch. Aber es kam vor, dass sie Zuwendung brauchte. Dann nannte sie sich Rosettchen und wollte ihrerseits geherzt, 30