Moderne Physik und Theologie

Moderne Physik und Theologie Voraussetzungen und Perspektiven eines Dialogs Matthias-Grünewald-Verlag. Mainr es engagement Der Matthias-ünincwaid~...
Author: Josef Hartmann
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Moderne Physik und Theologie Voraussetzungen und Perspektiven eines Dialogs

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Inhalt

Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Irritationen im gegenwärtigen Dialog von Theologie und Physik . . II. Absicht, Ausgangspunkt und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absicht der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgangspunkt der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Übersicht über die einzelnen Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erstes Kapitel: Umbruch von der klassischen zur modernen Physik . . . . . . . . . . . . . I. Emanzipation der neuzeitlichen Physik von Theologie und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Isaac Newtons „Principia“ und das Ideal mechanischer Erklärbarkeit III. Krise der klassischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel: Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Albert Einsteins neuer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . 1. Relativität der Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitdilatation und Längenkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Raum-Zeit-Kontinuum und beschränkter Kausalzusammenhang 4. Veränderlichkeit der Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die allgemeine Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel: Deutungen der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relativitätstheorie und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bedeutung der Relativitätstheorie im Rahmen der Physik . . . . III. Relativitätsprinzip oder Postulat der absoluten Welt? . . . . . . . . . . . IV. Relativitätstheorie und kantische Transzendentalphilosophie . . . . . 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kants Verhältnis zur Newtonschen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung . . . . . . . . . . . . . . 4. Fragen an Kants Ansatz aus Perspektive der Relativitätstheorie . 5. Gewißheit aus Anschauung und Unanschaulichkeit der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Relativitätstheorie und Logischer Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neue Brücken zwischen Physik und Philosophie . . . . . . . . . . . . 2. Charakteristika des Logischen Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Relativitätstheorie als empirische Philosophie . . . . . . . . . . . VI. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Kapitel: Theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . I. Die Relativitätstheorie als vermeintliche Bestätigung des Glaubens II. Neuscholastische Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangssituation in der katholischen Theologie . . . . . . . . . . . . 2. Erster Reflex: Polemische Zurückweisung der Relativitätstheorie 3. Tendenziöse Darstellung der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . 4. Bestreitung von Richtigkeit und experimenteller Verifizierbarkeit der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Substanzbegriff und Ätherphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Karl Heim: Neue Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangssituation in der protestantischen Theologie . . . . . . . . . 2. Naturwissenschaft und Theologie als zentrales Thema in Karl Heims Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Karl Heims Rezeption und Deutung der Relativitätstheorie . . . . 4. Motiv und Methode Karl Heims bei der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ansätze zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Physik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Kampf der Weltanschauungen“: Monistenbund und Keplerbund 2. Bernhard Bavink I (1920–1928): Forderungen für das Verhältnis von Naturwissenschaft und christlicher Weltanschauung . . . . . . 3. Vorläufiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bernhard Bavink II (1928–1933): Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bernhard Bavink III (1933–1945): Synthese von Realismus, Religion und Deutschtum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünftes Kapitel: Die Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung der Quantentheorie für die moderne Physik . . . . . . . . . II. Die naturphilosophische Grundfrage: Quantentheorie oder Theorie des Kontinuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorien des diskreten Aufbaus der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . 2. Theorien des kontinuierlichen Aufbaus der Wirklichkeit . . . . . .

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III. Zur Geschichte der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die ältere Quantentheorie (1900–1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die neuere Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der experimentelle Befund: Versuche am Doppelspalt . . . . . . . . . . 1. Der exemplarische Charakter der Doppelspaltexperimente . . . . . 2. Doppelspaltexperiment mit klassischen Teilchen . . . . . . . . . . . . 3. Doppelspaltexperiment mit klassischen Wellen . . . . . . . . . . . . . 4. Doppelspaltexperiment mit Licht und anderen Quantenobjekten Sechstes Kapitel: Aspekte der Quantentheorie und ihrer Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Welle-Teilchen-Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Unbestimmtheitsrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im Experiment gleichzeitig unbeobachtbare Größen . . . . . . . . . . 2. Begrenzte Anwendbarkeit anschaulicher Begriffe . . . . . . . . . . . . III. Quantenmechanischer Meßprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Indeterminismus der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reproduzierbarkeit und Determiniertheit innerhalb der klassischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen des Determinismus in der Quantentheorie . . . . . . . . . . . V. Diskussionen um die Vollständigkeit der Quantentheorie . . . . . . . . 1. Das EPR-Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestätigung der Nicht-Lokalität der Quantentheorie . . . . . . . . . . Siebtes Kapitel: Ausgangssituation für den gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gewandeltes Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik . . . . . II. Physiker des Umbruches zu Fragen der Religion . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Kein apologetischer Mißbrauch bedeutender Physiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Max Planck: Gott als naturgesetzliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . 3. Albert Einstein: Kosmische Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Werner Heisenberg: Gott als zentrale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . III. Moderne Physiker: Offen für Religion – herausfordernd für die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rückblick und Ausblick: Sechs Feststellungen zum Dialog von Theologie und moderner Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

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Für Monika und unsere Kinder Louisa, Lea und Judith

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Vorwort und Dank

Moderne Physik und Theologie zeigen gegenwärtig ein reges Interesse aneinander. Bei Symposien und Tagungen, die dem Dialog zwischen Theologie und Physik gewidmet sind, wiederholt sich freilich regelmäßig die schon von Karl Rahner beschriebene Erfahrung, daß dieser Dialog „sehr mühsam ist und meist steckenbleibt, bevor er genauere, klare und von beiden Seiten angenommene Resultate erzielt“1. Auch für den evangelischen Theologen Michael Welker, der sich seit vielen Jahren an Versuchen beteiligt, ein wissenschaftliches Gespräch zwischen Naturwissenschaftlern, Theologen und Philosophen in Gang zu bringen, sind „die Gesprächsergebnisse insgesamt leider eher enttäuschend: menschlich erfreulich, in den Details oft anregend, aber chronisch hinter den hochgesteckten Erwartungen aller Beteiligten zurückbleibend“2. Angesichts dieser Erfahrungen setzt sich die vorliegende Untersuchung das Ziel, die Ausgangssituation der Theologie für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik zu verbessern. Dies geschieht hier nicht im Rückblick auf den Galileikonflikt und seine nachhaltigen Folgen – dazu ist längst alles gesagt und geschrieben. Nach dem ersten Jahrhundert der modernen Physik – im Jahr 1900 gab Max Planck den Anstoß zur Entwicklung der Quantentheorie – soll vielmehr daran erinnert werden, daß die Dialogversuche zwischen moderner Physik und Theologie mittlerweile auf eine mehr als achtzigjährige Geschichte zurückblicken können. Doch insbesondere die frühen theologischen Reaktionen auf die neue Physik, die die vorliegende Arbeit ins Gedächtnis ruft und analysiert, sind heute in Vergessenheit geraten. Vergessen ist, daß maßgebliche katholische Theologen auf Einsteins Theorien kaum anders reagierten als zu Zeiten Galileis: sie polemisierten, ließen die Relativitätstheorien allenfalls als hypothetische, experimentell aber nicht nachprüfbare Konstruktion gelten und blockierten durch das Beharren auf ihrer neuscholastischen Ontologie jahrzehntelang das Gespräch zwischen katholischer Theologie und Physik. Vergessen ist aber genauso die nachgerade peinliche Aufgeregtheit vornehmlich evangelischer Theologen, die durch die Relativitätstheorie ihre Jenseitshoffnungen bestätigt sahen, vergessen ist die kläglich gescheiterte Anstrengung, die Relativitätstheorie als „Götzendämmerung“ zu interpretieren, als „gnädige Katastrophe“, die den Zugang zum Glauben an das einzig wahre Absolutum Gott eröffne. Im derzeitigen Dialog zwischen moderner Physik und Theologie sind allerdings auch die auf hohem Niveau geführten philosophischen Auseinandersetzungen um die Deutungen der modernen Physik nicht präsent. Die nach wie vor unterschiedlichen Interpretationen der grundlegenden physikalischen 1 2

K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 44. M. Welker, Was leistet die Metaphysik Whiteheads, 97.

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Theorien zeigen aber, daß die moderne Physik, mit der die Theologie ins Gespräch kommt, immer und notwendig schon philosophisch gedeutete Physik ist. Erst auf der Ebene der miteinander konkurrierenden philosophischen Deutungen der Physik ist ein konstruktiver Dialog zwischen Physik und Theologie möglich. Im Verlauf nachfolgender Darstellung ergibt sich, daß die Bemühungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, den Umbruch im Wirklichkeitsverständnis der Physik aus Sicht der Theologie einzuordnen und sachgerecht zu bewerten, fehlgeschlagen sind und mangels angemessener philosophischer Vermittlung zwischen Physik und Theologie auch fehlschlagen mußten. Solange diese frühen Dialogversuche zwischen Theologie und moderner Physik nicht aufgearbeitet sind, ist es nicht erstaunlich, wenn auch der gegenwärtige Dialog alte Fehler wiederholt und die Erwartungen der Beteiligten enttäuscht. – Vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1999 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurden geringfügige Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen. Vielen Menschen ist es zu danken, daß diese Arbeit verwirklicht werden konnte, einige seien genannt: Herzlicher Dank gebührt Prof. Dr. Alfons Auer, der die Entwicklung der Untersuchung von Anfang an verfolgte und seinen früheren Doktoranden immer wieder zu ihrer Fertigstellung ermunterte. Prof. Dr. Amand Fäßler und Prof. Dr. Hans Küng verdanke ich aufgrund des von ihnen im Sommersemester 1994 veranstalteten öffentlichen Tübinger Kolloquiums „Unser Kosmos – naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Aspekte“ wichtige Impulse. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Georg Wieland für seine hilfreiche Kritik und die Bereitschaft, diese Arbeit im Habilitationsverfahren zu begleiten. Danken will ich auch den drei Gutachtern der Universität Tübingen Prof. DDr. Michael Eckert (Abteilung für Fundamentaltheologie), Prof. Dr. Amand Fäßler (Institut für Theoretische Physik) und Prof. Dr. Georg Wieland (Abteilung für Philosophische Grundfragen der Theologie). Dank gebührt darüber hinaus allen, mit denen ich mich über einzelne Gebiete meines Themas in Gesprächen oder in gemeinsamen Veranstaltungen austauschen konnte, darunter Prof. Dr. Urs Baumann, Prof. Dr. Gerhard Büttner und Prof. Dr. Jörg Thierfelder. Nicht nur für zahlreiche Literaturhinweise, sondern auch für die jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg danke ich meiner Kollegin Prof. Dr. Hildegard Gollinger und meinen Kollegen Prof. Dr. Joachim Maier und Prof. Dr. Norbert Scholl. Bei Frau Veronika Fischer und Herrn Eugen Benk bedanke ich mich für die Lektüre und Korrektur des Manuskripts, bei Herrn Raphael Zimmerer für die Durchsicht der physikalischen Abschnitte. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Erzdiözese Freiburg und der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Einmal mehr gilt mein Dank schließlich Dr. med. Monika Benk – ihre Kritik und ihre Anregungen haben diese Arbeit maßgeblich geprägt. Steinsfurt, am 24. Februar 2000 10

Andreas Benk

Einführung

I. Irritationen im gegenwärtigen Dialog von Theologie und Physik Als Folge der Auseinandersetzungen um das heliozentrische Weltsystem im 17. Jahrhundert und um die Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert ist das Verhältnis zwischen Theologie und modernen Naturwissenschaften bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von Konfrontation geprägt. Galileo Galileis im Jahr 1632 gedruckter Dialogo dei Massimi Sistemi wird zuletzt in der Ausgabe des kirchlichen Index librorum prohibitorum von 1819 genannt,1 und noch im Jahr 1950 lehrt Papst Pius XII. in der Enzyklika Humani generis unter Berufung auf die biblische Schöpfungserzählung die Herkunft aller Menschen aus einem einzigen Paar.2 Erst das II. Vaticanum kann in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes wieder eine berechtigte Autonomie der irdischen Wirklichkeiten und damit auch eine „legitime Autonomie der Wissenschaft“3 akzeptieren. 1

Der Index des Jahres 1835 zählt dann die Werke von Kopernikus, Galilei, Foscarini und Kepler nicht mehr unter den verbotenen Büchern auf; vgl. dazu L. Bieberbach, Galilei und die Inquisition, 114–125. 2 Vgl. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 3897 (=DH 3897). Zeitgenössischen Äußerungen zufolge soll Humani generis insbesondere auch gegen den wachsenden Einfluß des Biologen und Theologen Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) geschrieben worden sein. Zwar konnte zu Lebzeiten Teilhards noch fast keine seiner theologischen Schriften veröffentlicht werden, aber sein Versuch einer Vermittlung zwischen Evolution und Heilsgeschichte beeinflußte dann maßgeblich die katholische Theologie nach dem II. Vaticanum (vgl. K. Schmitz-Moormann, Pierre Teilhard de Chardin, 12–19). 3 GS Art. 36, in: K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 482. Darüber hinaus deutet Art. 36 in Anm. 7 ein Bedauern über den „Fall Galilei“ an. K. Rahner und H. Vorgrimler, a.a.O., 431f, interpretieren diese Stelle als höchstamtliche Rehabilitation Galileis. – M. Seckler, Der christliche Glaube und die Wissenschaft, 4, nennt als Datum der Rehabilitation dagegen eine Ansprache Johannes Pauls II. vor der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften am 10. November 1979, und M. Vogt, Art. Galilei, Sp. 271, datiert die Rehabilitation Galileis auf eine noch spätere Ansprache des Papstes vor dieser Akademie am 31. Oktober 1992. Allerdings beruft sich Johannes Paul II. bei der zuletzt genannten Ansprache sogar auf A. Einstein und die moderne Kosmologie, um den Streit zwischen Helio- und Geozentrismus als Hinweis darauf zu interpretieren, „daß es jenseits zweier einseitiger und gegensätzlicher Ansichten eine umfassendere Sicht gibt, die beide Ansichten einschließt und überwindet“. Ohne das damalige „pastorale [sic] Urteil angesichts der Theorie des Kopernikus“ (10) rechtfertigen zu wollen, spricht Johannes Paul II. von einem „tragischen gegenseitigen Unverständnis“ (Johannes Paul II., Schmerzliches Mißverständnis [sic] im „Fall Galilei“ überwunden, in: L’Osservatore Romano [deutschsprachige Ausgabe] 22, Nr. 46 [Beilage XXXVIII] vom 13.11.1992, 1).

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Die Formulierungen des Konzils erschweren einerseits „künftige Übergriffe des kirchlichen Lehramtes in einen Bereich, in dem es nicht zuständig ist“4, und eröffnen andererseits die Möglichkeit einer neuen Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft. Karl Rahner bringt eine innerhalb der nachkonziliaren katholischen Theologie weithin akzeptierte Position zum Ausdruck, wenn er feststellt, daß „Theologie und Naturwissenschaft [...] grundsätzlich nicht in einen Widerspruch untereinander geraten [können], weil beide sich von vornherein in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Methode unterscheiden“5. Die Theologie macht nach Rahner eine Aussage von Gott als dem einen und absoluten Grund aller Wirklichkeiten, der selbst kein einzelnes Moment innerhalb der Welt sein kann. Die Naturwissenschaft hingegen kann, „weil immer beim einzelnen beginnend, grundsätzlich keine absolut alles umfassende Weltformel haben, von der aus alles Wirkliche schon von vornherein im Besitz und in der Voraussicht der Naturwissenschaft wäre“6. Einerseits sollen für Rahner die Naturwissenschaften methodologisch atheistisch sein, und andererseits dürfen Metaphysik und Theologie weder theologische Ausbeute von den Naturwissenschaften verlangen noch hängen sie von deren Zustimmung ab.7 Theologie und Naturwissenschaft sind damit zwei Größen, „die sich nicht grundsätzlich gegenseitig bedrohen oder verneinen“8. Rahner hält allenfalls noch lösbare „sekundäre Konflikte“9 bei illegitimen Grenzüberschreitungen in die jeweils andere Wissenschaft hinein für möglich. Eine ganz entsprechende Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft findet sich in der evangelischen Theologie schon im Jahr 1945 bei Karl Barth.10 Im Vorwort zu seiner Schöpfungslehre begründet Barth, warum er sich nicht mit den in diesem Zusammenhang naheliegenden Fragen der Naturwissenschaft auseinandergesetzt habe. Hinsichtlich dessen, was die Heilige Schrift und die christliche Kirche unter Gottes Schöpfungswerk verstehen, könne es schlechterdings keine naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfestellungen geben, schreibt Barth und fährt fort: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie darf und muß sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft, die nur das und nicht heimlich eine heidnische Gnosis und Religionslehre ist, ihre gegebene Grenze hat.“ 11 4

K. Rahner/H. Vorgrimler, a.a.O., 432. K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 37. H.-H. Peitz, Kriterien des Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Theologie, 28–126, zeigt, daß Rahner über mehrere Stationen zu seiner Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie gelangt ist. 6 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 38. 7 Vgl. a.a.O., 39f. 8 A.a.O., 42. 9 Ebd.; vgl. a.a.O., 37. 10 Vgl. dazu 4. Kap. III. 1. vorliegender Arbeit. 11 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Vorwort. Allerdings schreibt Barth an dieser Stelle auch, er sei der Meinung, „daß künftige Bearbeiter der christlichen Lehre von 5

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Die Theologie sieht sich durch diese scharfe Grenzziehung einer Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften enthoben und erspart sich fortan entsprechende „dilettantische Quälereien“12. Im Vergleich zu dem bis dahin verbreiteten „Konfliktmodell“, das der Theologie gegenüber den Naturwissenschaften nur die Aufgabe einer aussichtslosen Apologetik überließ, ist ein Modell, das die Argumentationsebenen von Theologie und Naturwissenschaft sorgfältig unterscheidet, die Eigenständigkeit beider Bereiche betont und dadurch Konflikte vermeidet, zweifellos ein Fortschritt.13 Aber in der Folge wird in dieser Grenzziehung auch der Grund für ein unzureichendes „schiedlich-friedliches Nebeneinander“14 von Theologie und Naturwissenschaft gesehen und deren Verhältnis als „friedliche Koexistenz auf der Basis der gegenseitigen Irrelevanz“ 15 kritisiert. „In einer Weltsituation, in der es heißt ‚Eine Welt oder keine Welt‘“, stellt Jürgen Moltmann im Jahr 1981 fest, „können sich Naturwissenschaften und Theologie keine Aufteilung der einen Wirklichkeit leisten. Theologie und Naturwissenschaften werden vielmehr gemeinsam zum ökologischen Weltbewußtsein kommen.“16 Dies zeigt, daß das Bewußtwerden der globalen ökologischen Krise einen wichtigen Anstoß bildet, das gegenwärtige Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft kritisch zu untersuchen. Da gegenseitige Nichteinmischung, so Moltmann weiter, die Probleme nur ausklammere, „muß die Theologie bei den früheren Versuchen einer Synthese wieder anknüpfen, um die Schöpfung und das Wirken Gottes in der Welt im Rahmen der heutigen Erkenntnisse der Natur und der Evolution neu zu begreifen und die Welt als Schöpfung und die Geschichte der Welt als Wirken Gottes auch der naturwissenschaftlichen Vernunft verständlich zu machen“17. Schon für Rahner kommt freilich dem gegenwärtigen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, das er mit einem „friedlich vereinbarten der Schöpfung in der Bestimmung des Wo und Wie dieser beiderseitigen Grenze noch dankbare Probleme finden werden“. 12 Ebd. 13 Vgl. J. Hübner, Art. Naturwissenschaft und Theologie, Sp. 654. 14 Ders., Die Welt als Gottes Schöpfung ehren, 9. 15 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 48. Zur Kritik an der schiedlich-friedlichen Trennung von Theologie und Naturwissenschaft vgl. auch J. Hübner, Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie heute, 9–28, insbes. 13ff, sowie G. Altner, Schöpfungsglaube und Entwicklungsgedanke in der protestantischen Theologie zwischen Ernst Haeckel und Teilhard de Chardin, 82–95. 16 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 48. – Vgl. dagegen J. Fischer, Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? 78 (Anm. 21), der dem Argument, Theologie und Naturwissenschaften bezögen sich auf die „eine Wirklichkeit“ nur eine vordergründige Plausibilität zugesteht. Entscheidend sei vielmehr, ob die ersichtlich unterschiedlichen Perspektiven von Theolgie und Naturwissenschaften auf diese Wirklichkeit ineinander überführbar und abbildbar seien oder nicht. 17 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 200. Moltmann bezieht sich hier namentlich auf die Bemühungen Karl Heims um eine „produktive Synthese zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungslehre“ (ebd.). – Zur kritischen Auseinandersetzung mit der „neuen Apologetik“ Heims vgl. 4. Kap. III. vorliegender Arbeit.

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Waffenstillstand“18 vergleicht, nur ein provisorischer Charakter zu, da eine „direkte Bereinigung der anstehenden Sachprobleme“19 ausstehe. Rahner hält es allerdings durchaus für denkbar, daß ein solcher Waffenstillstand legitim und der geistigen Situation des heutigen Menschen angemessen ist und „wenigstens im faktischen Bewußtsein des einzelnen praktisch weithin nicht durch einen eigentlichen ‚Friedensschluß‘ überboten werden kann“ 20. In den letzten Jahren erhielt der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft insbesondere von Seiten der Physik neue Impulse, in deren Folge manchen Theologen ein endgültiger „Friedensschluß“ nun doch in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint. Verschiedene renommierte Physiker überwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum traten mit einer Reihe zumeist allgemeinverständlicher Veröffentlichungen an die Öffentlichkeit, die ausdrücklich den Anspruch erhoben, in unmittelbarem Anschluß an die Physik Beiträge zu Fragestellungen zu leisten, die traditionell der Metaphysik und Theologie vorbehalten waren. Diesen Beiträgen und den entsprechenden theologischen Reaktionen kommt besondere Bedeutung zu, wenn man berücksichtigt, daß sich die Physik bis heute „als eine Art Leitwissenschaft der Naturwissenschaften“21 versteht; darüber hinaus geben Christian Link und Hanns Joachim Maul zu bedenken, daß zumindest für das öffentliche Bewußtsein die Physik im 20. Jahrhundert an die Stelle gerückt ist, die bis zu Hegels Tod der Philosophie zukam. „Die Gesprächssituation zwischen Theologie und Naturwissenschaft insgesamt und darüber hinaus ihre Gesprächsfähigkeit“, so folgern Link und Maul, „entscheiden sich daher in einer exemplarischen Weise an dem Dialog zwischen Theologie und Physik.“22 Auf Publikationen von drei Physikern, die besonders nachhaltig die gegenwärtige Gesprächssituation zwischen Theologie und Naturwissenschaft beeinflussen, soll im folgenden kurz hingewiesen werden.23 Der bekannte Mathematiker und Physiker Stephen W. Hawking schreibt es in dem im Jahr 1988 veröffentlichten Buch „A Brief History of Time: From the Big Bang to Black Holes“24 nur der Arbeitsüberlastung der Physiker zu, daß 18

K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 45. Ebd. 20 Ebd. 21 J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 16. 22 C. Link/H. J. Maul, Physik, 176. 23 Vgl. außerdem die Veröffentlichungen der Physiker und Mathematiker: P. W. Atkins, The Creation, Oxford 1981; F. Hoyle, The Intelligent Universe, London 1983; D. J. Bartholomew, God of Chance, London 1984; J. D. Barrow/F. J. Tipler, The Anthropic Cosmological Principle, Oxford 1986; F. Capra, Das Tao der Physik, München 1987; F. Capra/D. Steindl-Rast, Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie, Bern/München/Wien 1991; V. J. Stenger, The Origin of the Universe, 1988; J. C. Polkinghorne, The Way the World is, London 1983; ders., Science and Creation, London 1988; ders., Science and Providence, London 1989; ders., Belief in God in an Age of Science, New Haven/London 1998; ders., Science and Theology, Minneapolis/London 1998; G. Ewald, Die Physik und das Jenseits, Augsburg 1998; vgl. auch Anm. 47. 24 Deutsch: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Hamburg 1991. 19

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sie sich bislang nicht metaphysischen Fragen zuwenden konnten. Sein Ziel ist „die vollständige Beschreibung des Universums, in dem wir leben“25 und ein „vollständiges Verständnis der Ereignisse, die uns umgeben, und unserer Existenz“26. Hawking ist der Überzeugung, astrophysikalische Vorstellungen hätten „weitreichende Konsequenzen für die Rolle Gottes in den Geschicken des Universums“27, und er scheint der Auffassung zuzuneigen, daß bestimmte kosmologische Modelle keinen Raum mehr für einen Schöpfer lassen.28 Hawking will erklärtermaßen Antwort nicht nur auf die Frage, ob das Universum einen Schöpfer benötige und ob dieser noch in irgendeiner Weise auf das Universum einwirke, sondern auch auf die Frage „warum es uns und das Universum gibt“.29 „Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden“, so Hawking, „wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen“30. Der theoretische Physiker Paul Davies bezeichnet die Physik unumwunden als „die anmaßendste aller Wissenschaften“31, da sie das gesamte Universum zu ihrem Forschungsobjekt erkläre. Im Unterschied zu anderen Naturwissenschaftlern seien „Physiker ebensowenig wie Theologen geneigt zuzugeben, daß es auch Dinge gibt, die prinzipiell außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen“32. In seinem im Jahr 1983 erstmals veröffentlichten Buch „God and the New Physics“33 schreibt Davies, die Naturwissenschaft habe mittlerweile den Punkt erreicht, von dem aus ehedem religiöse Fragen auf wissenschaftlich haltbare Weise untersucht werden können. Die Naturwissenschaft bietet darüber hinaus seiner Auffassung nach „einen sichereren Weg zu Gott als die Religion“34. Der ausgewiesene Astrophysiker Frank J. Tipler überrascht im Jahr 1994 die Öffentlichkeit mit seinem Buch „The Physics of Immortality“35. Tipler entwickelt darin eine „Theorie der Auferstehung“ und eine „OmegapunktTheorie“, wobei der Omegapunkt „im wesentlichen dem Gott von Tillich und Pannenberg“36 entsprechen soll. Tipler beansprucht darzulegen, „daß die wesentlichen Glaubensvorstellungen der jüdisch-christlichen Theologie in der Tat wahr, daß diese Behauptungen direkte Ableitungen aus den Gesetzen der 25

A.a.O., 28. A.a.O., 212. 27 A.a.O., 179; vgl. 216. 28 Vgl. a.a.O., 179. 29 A.a.O., 218. 30 Ebd. 31 P. Davies/J. R. Brown (Hg.), Superstrings. Eine Allumfassende Theorie der Natur in der Diskussion, 11. 32 Ebd. 33 Deutsch: Gott und die moderne Physik, München 1986. 34 A.a.O., 15. 35 Deutsch: Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten“, München 1994. 36 A.a.O., 37. 26

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Physik, wie wir sie heute verstehen, sind“37. Die Zeit sei gekommen, so Tipler, die Theologie in der Physik aufgehen und den Himmel ebenso wirklich werden zu lassen wie ein Elektron.38 Tiplers Einführung gipfelt in der Zusage: „Dem Leser, der einen geliebten Menschen verloren oder Angst vor dem Sterben hat, verheißt die moderne Physik: ‚Sei getrost, du und sie, ihr werdet wieder leben.‘“39 Bewegen sich diese und eine Reihe ähnlicher populärwissenschaftlicher Publikationen, die leicht zu Bestsellern avancieren, wenn sie nur auf jeglichen mathematischen Apparat verzichten, noch innerhalb des Freiraumes, den die Theologie der Naturwissenschaft zu gewähren hat – oder überschreiten hier Physiker die ihrer Wissenschaft gezogene Grenze und bieten unversehens eine „heidnische Gnosis und Religionslehre“40? Kündigt sich in solchen „physikotheologischen“ Entwürfen wenn nicht die endgültige Kapitulation der Theologie, so vielleicht doch ein „Friedensschluß“ zwischen Naturwissenschaft und Theologie an – oder handelt es sich einmal mehr nur um einen lösbaren „sekundären Konflikt“, genauer um ein „sekundäres Mißverständnis“ aufgrund illegitimer Grenzüberschreitung diesmal von Seiten der Physik? Bei genauerem Zusehen können die im einzelnen sehr unterschiedlichen „metaphysikalischen“ Äußerungen der genannten Physiker ihrem eigenem Anspruch keinesfalls genügen und erweisen sich insbesondere im Fall von Tipler als haltlose, ja wirre pseudophysikalische Spekulationen.41 Darüber hinaus können die die Bestsellerlisten beherrschenden Autoren keineswegs als repräsentativ für die moderne Physik betrachtet werden, sondern werden auch von Fachkollegen als exzentrische Außenseiter eingestuft.42 Was Edgar Lüscher seinem Werk über die moderne Physik voranstellt, ist heute in der 37

A.a.O., 13. Vgl. a.a.O., 19. 39 A.a.O., 24. 40 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Vorwort. 41 Zur Kritik der genannten und weiterer Publikationen vgl. D. A. Wilkinson, Die Wiederkehr der Naturtheologie in der modernen Kosmologie, 2–15; W. B. Drees, Beyond the Big Bang: Quantum Cosmologies and God, 41–153; H.-D. Mutschler, Physik – Religion – New Age, 87–162, 183–200; R. Esterbauer, Metaphysische Physik? Zum Metaphysikbegriff in reduktionistischen Weltbildentwürfen moderner Physiker, 397–400; zu F. J. Tipler vgl. H. Römer, Physik der Unsterblichkeit? 118–122; H.-D. Mutschler, Rez. zu F. J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 619–621; sowie A. Benk, Keine Physik der Unsterblichkeit, 78f. 42 „Zu Beginn meiner Laufbahn als Physiker hätte ich mir nie träumen lassen“, schreibt F. J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 16, „ich würde eines Tages in meiner Eigenschaft als Physiker schreiben, daß es einen Himmel gibt und daß jeden, und zwar jeden einzelnen von uns ein Leben nach dem Tode erwartet. Und doch, hier stehe ich, und schreibe Dinge, die mein früheres Ich als wissenschaftlichen Unsinn abgetan hätte. Hier stehe ich, ein Physiker, und kann nicht anders“. In einem öffentlichen Kolloquium kommentierte dies der Tübinger Atomphysiker G. Staudt lapidar: „Ich stehe hier und kann anders.“ – Gefährlich werde Tiplers Veröffentlichung dadurch, so der theoretische Physiker H. Römer, Physik der Unsterblichkeit? 122, „daß unter der Benutzung der Autorität der Physik und eines anerkannten Physikers phantastische Behauptungen verbreitet und verstiegene Hoffnungen geweckt werden“. 38

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Physik von wenigen Ausnahmen abgesehen noch immer konsensfähig: „Sämtliche Aussagen des Physikers beziehen sich auf den physikalischen Raum. In diesem können Fragen nach Wechselwirkungen, die außerhalb der physikalischen Meßmöglichkeiten liegen, nicht sinnvoll beantwortet werden.“43 Keine Rede ist davon, daß derartige Fragen „sinnlos“ seien – aber die Physik ist der falsche Adressat für ihre Beantwortung. „Insbesondere ist das Problem der Existenz eines Gottes keine physikalische Fragestellung“, fährt Lüscher fort, „[...] vielleicht gibt es Größen, Wechselwirkungen, Ereignisse, die dem Naturwissenschaftler prinzipiell unzugänglich sind, von denen jedoch der Dichter, der Musiker, der bildende Künstler, der religiöse Mensch etwas ahnt und dieses in seinen Werken auszudrücken vermag; ein Etwas, das nie Gegenstand des physikalischen Raumes sein kann. Darüber eine physikalische Aussage zu formulieren, wäre eine Vermessenheit.“44 Selbst der Spekulationen gewiß nicht abgeneigte Astrophysiker John D. Barrow warnt vor falschen Erwartungen an die Physik und insbesondere an eine physikalische „Theorie für Alles“, die die vier physikalischen Grundkräfte in einer einzigen Theorie zusammenfassen und damit zu einer Vereinheitlichung der Physik führen würde. Barrow hält daran fest, daß es Dinge gibt, „die sich nicht in die Zwangsjacke der mathematisch faßbaren Welt der Naturwissenschaft fesseln lassen“45. Auch eine „Theorie für Alles“ kann keine vollständige Erkenntnis sein: „Es gibt keine Weltformeln, die alle Wahrheit, alle Harmonie, alle Einfachheit enthalten.“46 Dessen ungeachtet lösten die oben genannten, von Physikern vorgelegten populärwissenschaftlichen Entwürfe auf Seiten der Theologie nicht nur eine rege Diskussion aus, sondern fanden bei einigen Theologen auch eine erstaunlich entgegenkommende Aufnahme.47 Namentlich Wolfhart Pannenberg sieht 43

E. Lüscher, Moderne Physik, 10. Ebd. – In Übereinstimmung damit geht auch der theoretische Physiker J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 30f, von der Feststellung aus, „daß die empirisch-physikalisch erfaßte Realität nicht die ganze Wirklichkeit ist“. Wie für K. Barth und K. Rahner sind für J. Audretsch Widersprüche zwischen Physik und Glauben „nur dann möglich, wenn Glaubensinhalte physikalische Aussagen enthalten – das hat es historisch gegeben – oder wenn in der Physik unzulässig Aussagen über die jeweiligen Anwendungsbereiche der Theorien hinaus gemacht werden – das haben einzelne Physiker getan, dies ist ein Regelverstoß. Beides beruht also gewissermaßen auf Fehlverhalten und ist tatsächlich auch immer historisch im Laufe der Entwicklung korrigiert worden.“ 45 J. D. Barrow, Theorien für Alles. Die philosophischen Ansätze der modernen Physik, 14. 46 A.a.O., 268. 47 Vgl. dazu T. Peters (Hg.), Cosmos as Creation. Theology and Science in Consonance, Nashville/Tennessee 1989; M. Rae/H. Regan/J. Stenhouse (Hg.), Science and Theology. Questions at the Interface, Michigan 1994; J. F. Haught, Science and Religion. From Conflict to Conversation, New York/Mahwah, N. J. 1995; R. J. Russell/N. Murphy/A. R. Peacocke (Hg.), Chaos and Complexity. Scientific Perspectives on Divine Action, Vatican City 1995; L. Boff, Der Adler und das Huhn, Düsseldorf 1998. – F. J. Tipler konnte im übrigen schon im Jahr 1987 auf Einladung von Johannes Paul II. seine Konzeption einer „Omegapunkt-Theorie“ bei einem Symposium von Theologen und Naturwissenschaftlern in der päpstlichen Sommerresidenz äußern. Sein Beitrag wurde in einem vom Vatikanischen 44

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sich zu der auf dem Klappentext von Tiplers „Physik der Unsterblichkeit“ zitierten Feststellung veranlaßt, hier rekonstruiere ein Physiker „mit physikalischen Argumenten fundamentale Glaubenssätze der Religionen“ und nähere sich „gerade der christlichen Zukunftshoffnung“.48 Zeichnet sich ein neues Mit- und Ineinander von Physik und Theologie ab, wenn Pannenberg andernorts feststellt, die „biblische Aussage über Gott als Geist [stehe] sachlich [...] den Feldvorstellungen der modernen Physik [nahe]“49? Ist eine Synthese von Theologie und Physik schon vollzogen, wenn es „aus rein innertheologischen Gründen“ möglich sein soll, „die Geistnatur Gottes im Sinne eines Kraftfeldes zu denken“50? Pannenberg will ausdrücklich die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Gottesbeweise nicht ausschließen51 und sieht im Hinblick auf die Entwicklung der physikalischen Kosmologie in den letzten Jahrzehnten sogar ein Zusammenstreben und eine Konvergenz von physikalischer Weltauffassung und christlich-jüdischem Schöpfungsglauben.52 In ähnlicher Weise äußert der französische Philosoph und Theologe Jean Guitton im Rahmen eines ausführlich dokumentierten Gespräches mit zwei Physikern, es gebe von nun an „eine wissenschaftliche Grundlage für die von der Religion vorgeschlagenen Auffassungen“53. Guitton entdeckt im quantenphysikalischen „Doppelspaltexperiment“54 nicht nur eine Möglichkeit der Lokalisation Gottes, sondern bietet sogar eine „theologische“ Lösung des physikalischen Phänomens an: „An den unsichtbaren Enden unserer Welt, unter und über unserer Realität, hält sich der Geist auf. Und vielleicht ist es so, daß dort unten, im Innern des seltsamen Reichs der Quanten, unser menschlicher Geist und der Geist jenes transzendenten Wesens, das wir Gott nennen, veranlaßt werden aufeinanderzutreffen.“55 Trifft also zu, daß Quantentheorie und Kosmologie „die Grenzen des Wissens immer weiter [vorschieben], bis sie das fundamentale Rätsel berühren, das dem menschlichen Geist gegenübertritt: die Existenz des transzendenten Seins“56? Findet Observatorium herausgegebenen Sammelband veröffentlicht (vgl. F. J. Tipler, The Omega Point Theory: A Model of an Evolving God, 313–331). 48 Vgl. auch W. Pannenberg, Rez. zu F. J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 25. 49 W. Pannenberg, Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens, 150. 50 A.a.O., 151; vgl. ders., The Doctrine of Creation and Modern Science, 162–176, insbes. 175: „The concept of a field of force could be used to make effective our understanding of the spiritual presence of God in natural phenomena.“ 51 Vgl. W. Pannenbergs Gesprächsbeitrag in: H.-P. Dürr u.a., Gott, der Mensch und die Wissenschaft, 30. 52 Vgl. a.a.O., 45. 53 J. Guitton/G. u. I. Bogdanov, Gott und die Wissenschaft, 23. 54 Zum Doppelspaltexperiment vgl. 5. Kap. IV. vorliegender Arbeit. 55 J. Guitton/G. u. I. Bogdanov, Gott und die Wissenschaft, 119. Guitton greift hier vermutlich Gedanken einer „neognostischen Physik“ auf, die meint, „Geist“ lasse sich schon in den Elementarteilchen physikalisch beweisen, vgl. z. B. J. E. Charon, Der Geist der Materie, Frankfurt 1988. Auch Pannenberg, Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens, 152, setzt die Schöpfertätigkeit Gottes im Naturgeschehen und die quantenphysikalische Unbestimmtheit in Beziehung zueinander. 56 A.a.O., 17.

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man tatsächlich „letztlich in der wissenschaftlichen Theorie [...] dasselbe wie im religiösen Glauben“57? Oder reden hier Physik und Theologie ihre unterschiedlichen Argumentationsebenen einmal mehr mißachtend in altbekannter Weise aneinander vorbei?58 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch eine Reihe neuer schöpfungstheologischer Entwürfe, die sich mit dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft befassen.59 Georg Kraus erkennt „seit dem 20. Jahrhundert zwischen der wissenschaftlichen Schöpfungstheologie und der Naturwissenschaft ein[en] wechselseitige[n] Prozess der Annäherung“60; dennoch bleibt für ihn die Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft eines der beiden großen Problemfelder, das gegenwärtig in der Schöpfungslehre zu klären ist.61 Alexandre Ganoczy unternimmt sogar den Versuch „eine[r] Schöpfungslehre ‚von unten‘ [...], die bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ansetzt“62. Gemeint sind damit „vor allem Erkenntnisse der modernen Physik nach der Wende der Relativitäts- und der Quantentheorie [...], die geeignet scheinen, ‚gemeinsame Plattformen‘ zu konstituieren, auf denen dann eine positive und kritische Auseinandersetzung zwischen beiden Wissensbereichen sinnvoll durchgeführt werden kann“63. Problematisch wird allerdings die Bestimmung solcher „Plattformen“, die moderner Physik und Schöpfungsglaube gemeinsam sein sollen: ist die „Offenheit der Materie auf Geist hin“64 eine gemeinsame Plattform? Kann man dann wie Georg Kraus feststellen, „aufgrund der Quantentheorie, die nur noch mit Wahrscheinlichkeiten [rechne], [sei] die Welt im elementaren Bereich ein Prozeß in Freiheit“65? Aber zeigt die Atomphysik tatsächlich, wie Kraus meint, „daß bereits in den Atomen Bindungs-, Ordnungs- und Bewegungskräfte wirksam sind, daß also schon in den Grundbausteinen der Materie eine geistgeprägte Struktur vorliegt“66? Ist weiter mit dem „anthropischen Prinzip“67, eine gemeinsame Gesprächsebene gefunden – oder liegt hier 57

Ebd. Vgl. etwa B. Bavinks theologische Deutung des quantenphysikalischen Indeterminismus, vgl. 4. Kap. IV. 4. vorliegender Arbeit. 59 Vgl. G. Kraus, Welt und Mensch. Lehrbuch zur Schöpfungslehre, Frankfurt a. M. 1997; L. Scheffczyk, Schöpfung als Heilseröffnung. Schöpfungslehre (L. Scheffczyk/A. Ziegenaus, Katholische Dogmatik, Bd. 3), Aachen 1997; A. Ganoczy, Schöpfungslehre, in: W. Beinert (Hg.), Lehrbuch der Katholischen Dogmatik, Bd. 1, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, 365–495; G. L. Müller, Katholische Dogmatik, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1995; D. Sattler/T. Schneider. Schöpfungslehre, in: T. Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, Düsseldorf 1992, 120–238. 60 G. Kraus, Welt und Mensch, 328. 61 Vgl. a.a.O., 26. 62 A. Ganoczy, Schöpfungslehre, 431. 63 Ebd. (Hervorhebung von A. Ganoczy). 64 A.a.O., 448. 65 G. Kraus, Die Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und Evolution, 119. 66 A.a.O., 123. 67 Wären die Bedingungen, unter denen sich das Universum entwickelte, nur geringfügig anders gewesen, dann hätte sich kein Leben entwickeln können („Feinabstimmung“ der 58

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nur ein Beispiel dafür vor, wie leicht unterschiedliche Ebenen miteinander verwechselt werden können?68 Eignet sich wenigstens die sogenannte „Urknalltheorie“ als ein möglicher Ausgangspunkt für eine Schöpfungstheologie „von unten“? Wenn schon der Physiker Günter Ewald meint, der Urknall sei eine Art „physikalische Version des geläufigen ersten Satzes der Bibel geworden“69, kann dann ein katholischer Dogmatiker schreiben, Gott schaffe „die Anfangsbedingungen der Evolution aus dem Nichts“, der „transzendente Gott [habe] den dichten Energieball geschaffen, der dann bei der Explosion die Materie hervorbringt, die wiederum durch die in sie hineingelegte Selbstorganisation alles weitere in der Welt aus sich heraus entwickelt“70, der „Schöpfergott des Glaubens [sei] also der energetische Urgrund und der kraftmäßige Beweggrund der Evolution“71? – oder wird damit nicht vielmehr verkannt, wie Max Seckler betont, „daß für den Schöpfundamentalen Naturkonstanten). In diesem Zusammenhang sprechen einige Physiker vom „anthropischen Prinzip“: Als „schwaches anthropische Prinzip“ bezeichnet dieses nichts weiter als ein methodisches Instrument der Astrophysik: Weil es nun einmal Leben gibt, müssen die Naturgesetze in unserem Kosmos auch so beschaffen sein, daß in ihm Leben entstehen kann. Das „starke anthropische Prinzip“ geht einen entscheidenden Schritt weiter, der freilich die „Plattform“ der Physik verläßt und tatsächlich auch nur von sehr wenigen Physikern nachvollzogen wird: Die Naturgesetze in unserem Kosmos sind so, wie sie sind, damit Leben und schließlich menschliches Leben ermöglicht wird. Der Mensch war demnach von Anfang an Zweck und Ziel der Naturgesetze. Dahinter verbirgt sich ein teleologisches Denken, wonach das Naturgeschehen durch „Zwecke“ bestimmt und geleitet wird. Demgegenüber hatte schon M. Planck, Vorträge und Erinnerungen, 99, festgestellt, daß die Physik ihre Erfolge seit Galilei gerade in der bewußten Abkehr jeder teleologischen Betrachtungsweise errungen habe. 68 Das aus naturwissenschaftlicher Perspektive nützliche schwache anthropische Prinzip kann man philosophisch oder theologisch als starkes anthropisches Prinzip deuten (vgl. H.-D. Mutschler, Weltentstehungstheorien, 30–32; D. Sattler/T. Schneider, Schöpfungslehre, 220; F. Gruber, Die kreative Natur und der Glaube an den Schöpfergott, 306). Doch bereits bei A. Ganoczy, Schöpfungslehre, 441, wird die hier notwendige Differenzierung verwischt, wenn es im beigefügten Glossar „naturwissenschaftlicher Fachbegriffe“ nur heißt, daß das anthropische Prinzip die Vorstellung meine „daß viele Eigenschaften des Kosmos darauf angelegt sind, die Existenz des Menschen zu ermöglichen“; vgl. die entsprechende Ungenauigkeit bei L. Scheffczyk, Schöpfung als Heilseröffnung, 29. – Ein völliges Mißverständnis liegt bei G. Kraus, Welt und Mensch, 360–366, vor, der das „anthropische Prinzip“ als eines der „naturwissenschaftliche[n] Grunddaten“ (360) aufführt und als „neue kosmische Gesamttheorie“ (364) ausgibt, die in der Physik vertreten werde und „die einzigartige Sonderstellung des Menschen in der Evolution [unterstreiche]“ (ebd.). Konkret heiße das, so Kraus weiter, „die Anfangsbedingungen des Universums und bestimmte Naturkonstanten waren von vorneherein darauf angelegt, am Ende der gesamten Evolution den Menschen als denkendes Wesen entstehen zu lassen“ (365f). 69 G. Ewald, Die Physik und das Jenseits, 2. 70 G. Kraus, Welt und Mensch, 356. 71 Ders., Die Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und Evolution, 116. – Auch für H.-J. Sander, Das Wort vom Anfang. Die Rede von Gott vor dem Urknall der Zeit 173, „ist der Urknall eine formale Basis für die Rede vom Schöpfer Gott“. Die Eckdaten der modernen Kosmologie geben für Sander „Merkmale ab, mit denen die Rede von Gott im Anfang des Universums arbeiten kann“ (169). Das Ursprungsproblem sei durch die moderne Kosmologie in einer nichtreligiösen Weise denkbar geworden (vgl. ebd.).

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fungsbegriff das Moment des absoluten Ursprungs, das außerhalb jeder zeitlichen Bestimmung liegt, wesentlich ist“72? Auch päpstliche Stellungnahmen zeigen, daß in den letzten Jahren neue Bewegung in den Dialog von Theologie und Physik gekommen ist. Allerdings fällt auf, daß die diesbezüglichen Äußerungen von Papst Johannes Paul II. sehr behutsam formuliert sind: einerseits zeichnen sie sich aus durch eine große Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen der modernen Physik und der uneingeschränkten Akzeptanz ihrer gesicherten Erkenntnisse; andererseits ist in diesem Zusammenhang aber von keiner sich abzeichnenden Konvergenz zwischen Naturwissenschaften und Theolgie die Rede, die zwangsläufig in eine harmonische Synthese beider einmünden würde, und es wird auch keinerlei Versuch unternommen, unmittelbar an naturwissenschaftliche Erkenntnisse irgendwelche theologischen Aussagen anzuschließen. Noch Papst Pius XII. hielt daran fest, daß die Existenz eines persönlichen Gottes mittels der menschlichen Vernunft bewiesen werden könne,73 und er erhoffte sich insbesondere im Anschluß an die „Urknalltheorie“ einen naturwissenschaftlichen Gottesbeweis.74 Papst Johannes Paul II. äußert sich in 72

M. Seckler, Was heißt eigentlich ‚Schöpfung‘? 198; weiter schreibt Seckler ebd.: „Die Vorstellung eines progressiven oder ‚gestuften‘ Schöpfungsprozesses, gemäß dem der evolutive kosmische Gesamtprozeß sozusagen die Art und Weise darstellt, in der Gott, das schöpferische Prinzip, wirkt, wird dem Schöpfungsbegriff in seiner Radikalität keineswegs gerecht.“ Vgl. dazu auch G. L. Müller, Katholische Dogmatik, 171, 215f. 73 Vgl. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 3890. 74 Vgl. Pius XII., Modern Science and the Existence of God. Address of the Holy Father to the Pontifical Academy of Science, November 22, 1951, 182–192. Nach dem Hinweis auf einige ausgewählte naturwissenschaftliche und insbesondere astrophysikalische Erkenntnisse und Theorien fragt Papst Pius XII. nach deren Bedeutung für die Frage nach der Existenz Gottes und kommt a.a.O., 191, zu dem Schluß: „By means of exact and detailed research into the macrocosm and the microcosm, it has considerably broadened and deepened the empirical foundation on which this argument [for the existence of God] rests, and from which it concludes to the existence of an Ens a se, immutable by His very nature. [...] Thus, with that concreteness which is characteristic of physical proofs, it [science] has confirmed the contingency of the universe and also the well-founded deduction as to the epoch when the cosmos came forth from the hands of the Creator. Hence, creation took place in time. Therefore, there is a Creator. Therefore, God exists! Although it is neither explicit nor complete, this is the reply we were awaiting from science, and which the present human generation is awaiting from it.“ – Im Bulletin of the Atomic Scientists wurde diese päpstliche Ansprache umgehend mit Erstaunen und kaum verhohlenem Amüsement dokumentiert und kommentiert: „In fact, it [the speech] praises modern astrophysics for having disclosed to mankind for the first time, the true story of the creation of the material world“ (Science and the Catholic Church. Two Documents, in: Bulletin of the Atomic Scientists 8 [1952], 142). Vgl. dazu auch S. L. Jaki, Cosmos and Creator, insbes. 18–21; T. Peters, Cosmos as Creation, 46f; sowie I. G. Barbour, Issues in Science and Religion, 366–368, der bestreitet, daß sich die „big bang theory“ besser als etwa die „steady-state theory“ mit der christlichen Schöpfungslehre vereinbaren läßt. Vgl. schließlich auch Q. Smith, Atheism, Theism and Big Bang Cosmology, 48–66, der umgekehrt wie Pius XII. sogar nachzuweisen versucht, daß die „Urknalltheorie“ unvereinbar mit der christlichen Schöpfungsvorstellung sei: „I shall argue that the nontheistic interpretation is not merely an alternative candidate to the theistic interpretation, but is better justified

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dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender. In einem im Jahr 1988 veröffentlichten Schreiben an den Direktor des Vatikanischen astronomischen Observatoriums, George V. Coyne, bedauert der Papst zunächst die fehlende Fachkenntnis der meisten Theologen im Gespräch mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft, denn „eine derartige Fachkenntnis würde sie davon abhalten, zu apologetischen Zwecken unkritischen und übereilten Gebrauch von solch neueren Theorien wie dem ‚Urknall‘ in der Kosmologie zu machen“75. Das Christentum besitze die Quelle seiner Rechtfertigung in sich selbst und erwarte nicht von der Wissenschaft, daß sie seiner grundlegenden Verteidigung diene. In aller Deutlichkeit betont der Papst in diesem Zusammenhang die schon in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes zum Ausdruck kommende Einsicht: „Sowohl die Religion als auch die Wissenschaft müssen ihre Autonomie bewahren. Die Religion gründet nicht in der Wissenschaft, und die Wissenschaft ist keine Weiterführung der Religion.“76 Insbesondere warnt er davor, daß die Theologie zur Pseudowissenschaft und die Wissenschaft zu einer unbewußten Theologie werde.77 Gleichwohl sieht auch Johannes Paul II. die Theologie durch die gegenwärtige Physik herausgefordert und einen Austausch beider für dringend geboten: „Zuerst und zuvörderst sollten sie dahin gelangen, einander zu verstehen. Allzu lange haben sie sich gegenseitig vom Leibe gehalten.“78 Im Verlauf des Dialogs werde das wechselseitige Verstehen wachsen und schrittweise gemeinsame Belange aufdecken, die die Grundlage für weitere Forschung und Diskussion liefern werden. Zuversichtlicher sogar als die meisten Physiker beurteilt der Papst deren Suche nach Vereinigung der vier physikalischen Grundkräfte, die Licht werfen könnte „sowohl auf den Ursprung des Universums als auch letztlich auf den Ursprung der Gesetze und Konstanten [...], die seine Evolution steuern“79. Reichlich verunsichert und ratlos klingt es dann freilich, wenn Johannes Paul II. im Hinblick auf die moderne Kosmologie fragt: „Welches sind, wenn es sie gibt, die eschatologischen Implikationen der zeitgenössischen Kosmologie, insbesondere im Lichte der gewaltigen Zukunft unseres Universums?“80 Sollte der Papst ungeachtet der zuvor betonten Eigenständigkeit von Theologie und Naturwissenschaft theologische Implikationen kosmologischer Theorien für denkbar halten? Bedeutet für Johannes Paul II. beispielsweise die astrophysikalische Prognose, daß in rund vier Milliarden Jahren auf unserem Planeten kein Leben mehr möglich sein wird, zugleich auch ein eschatologisches Datum, das die christliche Hoffnung tangiert? Ist es für die christliche Eschatologie wichtig zu wissen, ob unser Universum than the theistic interpretation. In fact, I will argue for the strong claim that big bang cosmology is actually inconsistent with theism“ (a.a.O., 48). 75 Johannes Paul II., Schreiben an George V. Coyne, 158. 76 A.a.O., 155. 77 Vgl. a.a.O., 159. 78 A.a.O., 156. 79 A.a.O., 153. 80 A.a.O., 157.

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fortgesetzt expandieren oder irgendwann einmal vielleicht wieder kollabieren wird?81 Überblickt man die Veröffentlichungen der vergangenen Jahre zum Verhältnis von Theologie und Physik, so gilt ganz besonders, was Jürgen Hübner allgemein für die einschlägige Literatur zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft feststellt: Es „begegnet einem ein ziemliches Gestrüpp von Vorstellungen, Positionen, Lehrmeinungen und Denkweisen“82. Der Naturphilosoph und Physiker Hans-Dieter Mutschler weist darauf hin, daß Karl Rahner schon Anfang der siebziger Jahre beklagt habe, daß sich die Theologie nicht genügend mit der Naturwissenschaft auseinandersetze. „Was würde er heute sagen“, fragt Mutschler im Jahr 1994, „wo im Verhältnis viel weniger zu diesem Spannungsfeld veröffentlicht wird, und wo das Wenige dann auch noch so schlecht ist?“83 Zwar hat die Anzahl der einschlägigen Publikationen in den zurückliegenden fünf Jahren deutlich zugenommen, doch auch wer Mutschlers Urteil nicht für alle oben erwähnten Veröffentlichungen uneingeschränkt gelten lassen will, muß einräumen, daß derzeit ein kontinuierlicher und institutionell abgesicherter Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft fast nur bezüglich ethischer Fragen geführt wird.84 Dabei fällt zudem auf, daß in den verschiedenen Ethikkommissionen zwar regelmäßig Biologen und Mediziner, aber nur selten Physiker vertreten sind. Eine Ethik in den Wissenschaften und der diesbezügliche interdisziplinäre Dialog sind zweifellos notwendig und verdienstvoll. Aber gemäß dem Selbstverständnis heutiger theologischer Ethik als autonom ansetzender Moral im christlichen Kontext müssen zumindest im interdisziplinären ethischen Diskurs religiöse und metaphysische Fragen ausgeklammert bleiben.85 Unter den Bedingungen moderner Lebenswelt und entsprechender natur- und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich sittliche Richtigkeiten mit Bibel und Offenbarung nicht unmittelbar begründen.86 Allein schon um willen der Kommunikabilität und Rationalität ethischer Argumentation muß theologische Ethik darum im Gespräch mit den Naturwissenschaften darauf verzichten, unmittelbar auf religiöse und weltanschauliche Überzeugungen 81

Zur Diskussion des päpstlichen Schreibens vgl. die Stellungnahmen von 19 internationalen Wissenschaftlern in: R. J. Russell/W. R. Stoeger S.J./G. V. Coyne S.J. (Hg.), John Paul II. on Science and Religion. Reflections on the New View from Rome, Vatican City 1990. 82 J. Hübner, Der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 3. 83 H.-D. Mutschler, Karl Rahner und die Naturwissenschaft, 101. 84 So weist der Physiker J. Audretsch, Die andere Hälfte der Wahrheit, 9, darauf hin, daß „für viele Theologen [...] Technik und Naturwissenschaften nur noch unter ethischen Aspekten im Hinblick auf mögliche Folgewirkungen von Interesse [sind]“. Ansonsten sieht er das „inner[e] Wechselverhältnis zwischen Christentum und Technologie sowie den sie begründenden Naturwissenschaften [...] durch wechselseitige Nichtbeachtung, ja völlige Gleichgültigkeit charakterisiert“. 85 Vgl. H. Hirschi, Autonome Moral und christliche Anthropologie, 105, sowie A. Benk, Skeptische Anthropologie und Ethik, 133f, 202–206. 86 Vgl. dazu z. B. D. Mieth, Die Moralenzyklika, die Fundamentalmoral und die Kommunikation in der Kirche, 9–12.

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zurückzugreifen.87 Damit bleiben aber auch Fragen nach dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft und nach der Zuordnung von naturwissenschaftlicher und theologischer Perspektive im interdisziplinären ethischen Diskurs in der Regel ausgespart. Im Hinblick auf diese Fragen gehen sich an den Universitäten die theologischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten nach wie vor aus dem Weg und beschränken sich bei gelegentlichen diesbezüglichen Kolloquien und Symposien auf den Austausch von Freundlichkeiten und gegenseitig oft unverstandenen Informationen. Kommt es dann da und dort doch zu einem intensiveren Gespräch, so wird dies von den beteiligten Gesprächspartnern jedesmal aufs Neue – und zurecht – als Pionierleistung empfunden.88 Nach wie vor trifft dabei Rahners Beobachtung zu, daß der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft „sehr mühsam ist und meist steckenbleibt, bevor er genauere, klare und von beiden Seiten angenommene Resultate erzielt hat“89. Darüber hinaus muß die Situation in unseren Schulen als eindeutiger Hinweis gewertet werden, daß Theologie und Naturwissenschaft dringend eines kompetenten Dialogs auf breiter Basis bedürfen, um ihr Verhältnis zueinander zu klären. Anders als in den Universitäten sind in den Schulen (und in Baden87

Vgl. A. Auer, Zur Theologie der Ethik. Das Weltethos im theologischen Diskurs, 208. Beispiele dafür sind: Vortragsreihen im Rahmen des Studium generale an der Universität Konstanz im Wintersemester 1987/88 (vgl. J. Audretsch/K. Mainzer [Hg.], Vom Anfang der Welt: Wissenschaft, Philosophie, Religion, Mythos) und im Wintersemester 1990/91 (vgl. J. Audretsch [Hg.], Die andere Hälfte der Wahrheit: Naturwissenschaft, Philosophie, Religion); interdisziplinäre Seminare des Physikers Hartmann Römer und des Theologen Helmut Riedlinger von 1986 bis 1990 an der Universität Freiburg (vgl. T. Becker, Der interdisziplinäre Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie an der Universität Freiburg, 624f); Symposien der Specola Vaticana in Castel Gandolfo, wo im Laufe des letzten Jahrzehnts auf Einladung von Papst Johannes Paul II. Naturwissenschaftler und Theologen wiederholt zu gemeinsamen Diskussionen zusammenkamen (vgl. dazu insbes. R. J. Russell/W. R. Stoeger S.J./G. V. Coyne S.J. [Hg.], Physics, Philosophy and Theology: A Common Quest for Understanding); von Carsten Bresch und Helmut Riedlinger in den vergangenen Jahren initiierte interdisziplinäre Tagungen zur Frage einer „neuen natürlichen Theologie“ (vgl. C. Bresch/S. M. Daecke/H. Riedlinger [Hg.], Kann man Gott aus der Natur erkennen? Evolution als Offenbarung); das öffentliche Kolloquium „Unser Kosmos. Naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Aspekte“, das im Sommersemester 1994 gemeinsam von Hans Küng (Institut für Ökumenische Forschung) und Amand Fäßler (Institut für Theoretische Physik) an der Universität Tübingen durchgeführt wurde; der Gesprächskreis an der Katholischen Akademie in Bayern „Kirche und Wissenschaft“, an dem sich auch Physiker beteiligen (vgl. J. Dorschner [Hg.], Der Kosmos als Schöpfung); Jahrestagungen des Institutes der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (s. u. S. 113, Anm. 59). 89 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 44. Vgl. auch die Beurteilung des Physikers H. Gärtner, Nicht-lokale Realität oder was ist Wirklichkeit? 63: „Der Versuch, Theologen und Naturwissenschaftler miteinander ins Gespräch zu bringen, ist schon oft unternommen worden. In der Regel bilden sich Arbeitskreise, die über eine gewisse Zeit zusammenbleiben, oder es werden gemeinsame Vortragsreihen [...] veranstaltet, beides mit dem Ziel, zur Überwindung der von Snow [...] konstatierten Aufteilung in ‚zwei Kulturen‘ beizutragen. Leider müssen diese Bemühungen, von partiellen Erfolgen abgesehen, im großen und ganzen bisher als gescheitert betrachtet werden.“ 88

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Württemberg auch in den Pädagogischen Hochschulen) die naturwissenschaftlichen Fächer und das Fach Religionslehre noch einmal unter einem Dach vereint. Hier lassen sich Kontroversen, Unvereinbarkeiten und Spannungen nicht so einfach überspielen und verschleiern. Zumindest die Schüler und Studenten – wenn nicht die Lehrer und Dozenten – begegnen aufgrund ihres Stundenplanes auf Jahre hinaus naturwissenschaftlicher und theologischer Denkweise. Welche Antwort sollen sie erhalten auf die naheliegende Frage, wie sich beide Denkweisen zueinander verhalten? Doch gerade im schulischen Religionsunterricht spiegelt sich die gegenwärtige Verunsicherung im Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft ganz besonders. In ihrem Studium werden die späteren Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Regel nicht auf eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema „Glaube und Naturwissenschaft“ vorbereitet. Gleichwohl müssen sie dann entsprechende Unterrichtseinheiten in der Grundschule oder in den Sekundarstufen I und II gestalten, weil an der Lehrplangestaltung mitwirkende Religionspädagogen die Bedeutung dieses Themas für die religiöse Entwicklung von Kindern und Jugendlichen inzwischen erkannt haben. Aus Sicht des Religionspädagogen, so schreibt Albert Biesinger, sei der Dialog zwischen Glaube und Naturwissenschaft elementar: „Soll es in der religiösen Erziehung um die Befähigung zur Bewältigung gegenwärtiger und künftiger Lebenssituationen gehen, dann ist es offensichtlich notwendig, sich mit der naturwissenschaftlichen Denkweise kompetent 90 auseinanderzusetzen.“ In Anbetracht der stiefmütterlichen Behandlung des Themas „Theologie und Naturwissenschaft“ in den gegenwärtigen Studienund Prüfungsordnungen für Lehramtstudierende muß allerdings bezweifelt werden, ob für den in den Schulen erteilten Religionsunterricht die notwendige Kompetenz vorausgesetzt werden kann, um den von Biesinger geforderten „konstruktiven Dialog zwischen der religiösen Gottesbeziehung und naturwissenschaftlichem Denken zu initiieren“91. Wenn aber die Fragen der Kinder und Jugendlichen über das Verhältnis von theologischen und naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen übergangen oder nur ungenügend aufgearbeitet werden, wenn ihnen keine akzeptablen und sowohl theologisch als auch naturwissenschaftlich verantwortbare Lösungsmöglichkeiten angeboten werden können, sehen sich viele Schülerinnen und Schüler nur vor die radikale, aber weder theologisch noch naturwissenschaftlich haltbare Alternative gestellt: Naturwissenschaft oder Glaube, Evolution oder Schöpfung, naturwissenschaftlicher Monismus oder biblischer Fundamentalismus.92 Auch die verschiedenen Religionsbücher sind zu diesem Thema keine große Hilfe, sondern tragen eher noch zur weiteren Verwirrung bei. Eine von VeitJakobus Dieterich im Jahr 1990 veröffentlichte Studie untersucht, wie in 90

A. Biesinger/H.-B. Strack, Gott, der Urknall und das Leben, 9. Ebd. 92 Vgl. dazu A. Benk, „Warum steht in der Bibel nichts vom Urknall?“ Der Religionsunterricht als Indikator einer vernachlässigten theologischen Auseinandersetzung, 150–159. 91

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evangelischen und katholischen Religionsbüchern das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft dargestellt wird. Dieterich zeigt, daß hier auch noch nach 1968 völlig unterschiedliche Modelle der Zuordnung von Glaube und Naturwissenschaft präsentiert werden, ohne daß in der Regel andere Zuordnungsmöglichkeiten diskutiert werden oder auch nur der jeweils eigene Standpunkt als solcher thematisiert und reflektiert wird. 93 Wie die genannten populärwissenschaftlichen Publikationen von Physikern mit theologischem Anspruch und die durch sie ausgelösten theologischen Reaktionen, verweist auch das Ungenügen des schulischen Religionsunterrichts beim Thema „Glaube und Naturwissenschaft“ auf die Notwendigkeit des gründlichen Dialoges zwischen Theologie und Naturwissenschaft und insbesondere zwischen Theologie und Physik.

II. Absicht, Ausgangspunkt und Aufbau der Arbeit 1. Absicht der Arbeit Angesichts der gegenwärtigen Irritationen und der wiederholten frustrierenden Erfahrung, daß der mühsame Dialog zwischen Physik und Theologie meist abbricht, ehe er vorweisbare Ergebnisse erzielen kann, setzt sich vorliegende Arbeit nur ein bescheidenes Ziel: Sie wendet sich an Theologinnen und Theologen und versucht die Ausgangssituation der Theologie für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik zu verbessern. Dazu wird im folgenden aber keine neue Klassifikation der Wissenschaften präsentiert, von der her der Physik aus theologischer und philosophischer Perspektive Ort und Grenze zugewiesen werden könnte.94 Zurecht stellt Georg Wieland fest, daß derartige Klassifikationen entweder „lediglich die Heterogenität und grundlegende Verschiedenartigkeit der durch sie bezeichneten Wissenschaftsbereiche [fixieren]“ oder „Ausdruck eines systematischen Ordnungswillens [bleiben], der den Abstand zur historischen Bewegung nicht zu überbrücken vermag“95. Ersteres gilt insbesondere für das radikale 93

Vgl. V.-J. Dieterich, Glaube und Naturwissenschaft im Religionsbuch, 166–176, insbes. 171. Zwar findet sich nach Dieterich in den neueren themenzentrierten Unterrichtsmaterialien verstärkt das „dialogische Modell“, aber insgesamt überwiegen nach 1968 noch immer verschiedene „nicht-kommunikative Modelle“ (vgl. a.a.O., 168f). 94 Zusammenstellungen und Bewertungen von verschiedenen Modellen der Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft finden sich beispielsweise bei V. Mortensen, Theologie und Naturwissenschaft, 27–78, oder bei R. Esterbauer, Verlorene Zeit – wider eine Einheitswissenschaft von Natur und Gott, 25–98. 95 G. Wieland, Commercium scientiarum. Interdisziplinarität und andere Versuche, 179f. Darum versucht vorliegende Arbeit Wielands Empfehlung zu folgen und (bezüglich moderner Physik und Theologie) „an ausgewählten Beispielen der Wissenschaftsgeschichte die Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen verschiedener Disziplinen zu beobachten und ihre

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„Trennungsmodell“ von Naturwissenschaft und Theologie im Anschluß an Karl Barth; letzteres wird bestätigt durch die „Phase der theoretischenVerhältnisbestimmung“96 von Theologie und Naturwissenschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und belegt, daß im Ausgang von solchen klassifikatorischen Bemühungen kein kontinuierlicher und konstruktiver Dialog in Gang kommen kann. Die Entwicklungen in den modernen Naturwissenschaften zeigen überdies, daß sich gerade auch diese „nicht an theoretische Grenzen [halten], sondern [...] sich an den ihnen jeweils gegebenen Möglichkeiten [orientieren]“97 – wenngleich diese Möglichkeiten manchmal falsch eingeschätzt werden. Vorliegende Arbeit beabsichtigt auch nicht, sich unmittelbar mit einzelnen Erkenntnissen der modernen Physik auseinanderzusetzen, sie auf ihre theologische Relevanz hin abzufragen, um so möglicherweise deren zwingende theologische Implikationen aufzudecken. Es wird sich vielmehr im Verlauf dieser Arbeit gerade erweisen, daß noch jeder Versuch, im Anschluß an die moderne Physik oder gar nur an einzelne ihrer Erkenntnisse derart billige theologische Ausbeute zu gewinnen, kläglich gescheitert ist. Mit dieser Arbeit soll schließlich keine christliche Schöpfungslehre vorgelegt werden, die die Welt als Schöpfung und die Geschichte der Welt als Wirken Gottes im Licht auch der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse darstellt, um die so gedeutete Welt heutiger naturwissenschaftlicher Denkweise wieder nahezubringen. Zurecht wird das Fehlen einer derartigen Schöpfungslehre beklagt; doch in Anbetracht der skizzierten Verunsicherung und Irritation der Theologie ist allenfalls zu erhoffen, daß eine christliche Schöpfungslehre, die diese Erwartungen erfüllt, vielleicht Frucht, jedenfalls aber nicht Ausgangspunkt des Dialogs zwischen Theologie und moderner Naturwissenschaft sein kann. Vorliegende Arbeit versucht, den Boden für eine aussichtsreichere Fortsetzung des Dialogs von Theologie und moderner Physik zu bereiten: Sie will dazu beitragen, daß die an diesem Dialog beteiligten Theologinnen und Theologen ein besseres Verständnis für physikalische Denkweisen und für die Wirklichkeitserfahrung in der modernen Physik gewinnen. Sie will außerdem dazu beitragen, daß immer wiederkehrende Mißverständnisse und falsche Erwartungen an diesen Dialog genauso vermieden wie berechtigte Erwartungen erkannt werden können.

2. Ausgangspunkt der Arbeit Wenn sich in den zurückliegenden Jahren Theologen mit Physik befassen wollten, so bezogen sie sich in der Regel auf die provozierenden Vorstellungen der eingangs bereits erwähnten Physiker. Doch wer mit Stephen Bedingungen zu erforschen“ (a.a.O., 180). J. Hübner, Art. Naturwissenschaft und Theologie, Sp. 649. 97 G. Wieland, Commercium scientiarum. Interdisziplinarität und andere Versuche, 179. 96

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Hawking, Frank J. Tipler oder Ilya Prigogine, mit David Bohm, Fritjof Capra oder anderen esoterischen Physikern in Dialog tritt, kommt nicht mit der gegenwärtig unter Physikern akzeptierten und an unseren Universitäten gelehrten Physik ins Gespräch, sondern mit einer „Physik“, die unter der Hand mit philosophischen und metaphysischen Inhalten angereichert wurde – und die sich gegenüber der Öffentlichkeit doch gerne als die allgemein anerkannte und erfolgreiche moderne Physik ausgibt. Vorliegende Arbeit will keine Aufklärungsarbeit leisten, indem sie besagten Physikern vorrechnet, inwieweit sich ihre Darstellungen auf gesicherte physikalische Erkenntnis stützen können und wo in diese unausgesprochen begründungsbedürftige philosophische Deutungen und durch keinen experimentellen Befund belegte Spekulationen und Extrapolationen einfließen.98 Ausgangspunkt vorliegender Arbeit sind vielmehr die heute weitgehend unbestrittenen Grundlagen der modernen Physik – und eben nicht die hochspekulativen, physikalisch höchst umstrittenen Entwürfe, die sich in den vergangenen Jahren der Theologie förmlich zum Dialog aufdrängten. Ausgangspunkt sind damit die drei großen physikalischen Theorien, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden und die nach wie vor die Grundlage der gegenwärtigen Physik bilden: die spezielle Relativitätstheorie, die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie.

3. Aufbau der Arbeit Im Hinblick auf die leitende Absicht, die Ausgangssituation der Theologie für einen Dialog mit der gegenwärtigen Physik zu verbessern, steht im Zentrum dieser Arbeit die Auseinandersetzung mit frühen theologischen Reaktionen auf die Entwicklung der modernen Physik (4. Kapitel). Während die ablehnenden theologischen und kirchlichen Reaktionen gegenüber dem Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften allgemein bekannt und Gegenstand ungezählter wissenschaftlicher Untersuchungen sind, sind die verschiedenen theologischen Reaktionen auf die Entwicklung der modernen Physik weitgehend in Vergessenheit geraten. Dies gilt insbesondere für diesbezügliche theologische Publikationen während des „goldenen Zeitalters der Physik“ in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Obwohl sich ergeben wird, daß die damaligen Versuche, den Umbruch in der Physik aus Sicht der Theologie einzuordnen und angemessen zu bewerten, fast ausnahmslos gescheitert sind, müssen diese Versuche heute in Erinnerung gerufen werden: Sie zeigen, daß auch der Dialog zwischen Theologie und moderner Physik von Anfang an falsch ansetzte und ohne eine angemessene philosophische Vermittlung langfristig zu scheitern droht. Darüber hinaus ist zu hoffen, daß in Anbetracht der historischen Muster entsprechende 98

Solche Aufklärungsarbeit leistet in vorbildlicher Weise z. B. H.-D. Mutschler, Physik – Religion – New Age, Würzburg ²1992.

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theologische Fehlreaktionen in der Gegenwart leichter als solche erkannt, kritisiert und beiseite gelegt werden können. Die Auseinandersetzung mit den theologischen Reaktionen auf die moderne Physik geschieht vor dem Hintergrund philosophischer Deutungen dieser Physik (3. und 6. Kapitel), denn es ist zu bedenken, daß sich Theologie nie unmittelbar auf eine „reine“ Physik beziehen kann. Die Physik, mit der sie in Dialog treten kann, ist immer schon und notwendig – wenn auch in der Regel nicht ausdrücklich – philosophisch gedeutete Physik. Die Frage, welcher der unterschiedlichen möglichen Deutungen jeweils der Vorzug zu geben ist, ist zwar keine physikalische Fragestellung mehr, aber auch noch keine unmittelbar theologische. Der Dialog zwischen Theologie und moderner Physik kann aber erst gelingen, wenn die Theologie die unterschiedlichen Deutungen der modernen Physik ausdrücklich als Deutungen erkennt und versteht. Schon allein darum bleibt Theologie hier unabdingbar auf die vorherige Vermittlungsarbeit der Philosophie angewiesen.99 Um die verschiedenen philosophischen Deutungen und die theologischen Reaktionen auf die moderne Physik beurteilen zu können, ist darüber hinaus ein Verständnis der grundlegenden Gedanken der modernen Physik unabdingbar (2. und 5. Kapitel). Relativitäts- und Quantentheorie, die das physikalische Weltbild revolutioniert haben, müssen zumindest so weit verstanden werden, daß unqualifizierte Kritik und Polemik, unangemessene Inanspruchnahme, unhaltbare „Anknüpfungen“ und voreilige Syntheseversuche von seiten der Theologie oder auch der Physik identifiziert und begründet abgewiesen werden können. Die Kenntnis zentraler Gedanken der modernen Physik und ihrer verschiedenen Deutungsmöglichkeiten erhellt zugleich, wie sich aus Perspektive der modernen Physik die Ausgangssituation für den Dialog mit der Theologie verändert hat (7. Kapitel). Insbesondere werden auf dieser Grundlage die Stellungnahmen von Physikern zu theologischen Fragen verständlicher. Ein adäquates Verständnis dieser Stellungnahmen ist aber wiederum unabdingbare Voraussetzung, um die Ausgangssituation der Theologie für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik zu verbessern.

99

Der Mathematiker und Theologe Ulrich Kropac befaßt sich in seiner Dissertation (Naturwissenschaft und Theologie im Dialog. Umbrüche in der naturwissenschaftlichen und logisch-mathematischen Erkenntnis als Herausforderung zu einem Gespräch, Münster 1999) mit den Erkenntnisumbrüchen in moderner Physik und Mathematik, die die „Einsicht in Erkenntnisgrenzen“ förderten und „nicht wenigen Naturwissenschaftlern Anlaß [gaben], sich religiösen Fragen zuzuwenden und nach neuen Gottesbildern zu suchen“ (23). Wie vorliegende Arbeit betont aber auch Kropac die „Offenheit von Resultaten der Grundlagenforschung für verschiedene weltanschauliche Deutungen“ (ebd.) und verweist auf die „Philosophie als Ort eines Dialoges zwischen Naturwissenschaft und Theologie“ (326).

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III. Übersicht über die einzelnen Kapitel Das erste Kapitel skizziert in knappen Zügen die Emanzipation der neuzeitlichen Naturwissenschaft von Theologie und Philosophie (I.), erläutert kurz das die Epoche der klassischen Physik prägende Ideal mechanischer Erklärbarkeit (II.) und zeigt, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Versuch, die gesamte Physik auf die Mechanik zu begründen, scheitert und somit die Wende zur modernen Physik eingeleitet wird (III.). Das zweite Kapitel zeigt, wie im Rahmen der klassischen Physik unerklärliche Phänomene durch einen grundlegend neuen Ansatz in der speziellen Relativitätstheorie physikalisch gedeutet werden (I.), verweist auf die sich daraus ergebenden weitreichenden Konsequenzen insbesondere für das physikalische Verständnis von Raum und Zeit (II.) und skizziert wie in der allgemeinen Relativitätstheorie durch die Verwendung einer nichteuklidischen Geometrie die Vorstellung der physikalischen Wirklichkeit von Grund auf verändert wird (III.). Im dritten Kapitel werden unterschiedliche physikalische und philosophische Deutungen der Relativitätstheorien vorgestellt. Dazu müssen zuerst populäre Fehldeutungen sowie ideologisch und antisemitisch verblendete Polemik gegen die Relativitätstheorien abgewiesen werden (I.). Im Anschluß daran wird aufgezeigt, welchen Ort verschiedene Physiker Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie im Rahmen der Physik zuweisen (II.) und wie bereits die Benennung dieser Theorie eine folgenreiche, aber keineswegs zwingende Interpretation beinhaltet (III.). Dann werden einige bis heute kontrovers diskutierte Fragen thematisiert, die sich aus der Verhältnisbestimmung von Relativitätstheorien und kantischer Transzendentalphilosophie ergeben (IV.). Zum Abschluß dieses Kapitels werden Deutung und zugleich zentrale Bedeutung der Relativitätstheorien im Rahmen des Logischen Positivismus herausgestellt (V.). Die knappe Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie und dem Logischen Positivismus ist in unserem Zusammenhang aufschlußreich, da sie zeigt, in welchem Bereich die Diskussion um die Interpretation der Relativitätstheorien sinnvoll geführt werden kann und muß; gerade vor diesem Hintergrund erweisen sich im vierten Kapitel einige theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorien als verfehlt. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts werden zahlreiche Beiträge von Theologen veröffentlicht, die sich mit dem Verhältnis der Relativitätstheorien zur Religion im allgemeinen und mit der Bedeutung der Relativitätstheorien für den christlichen Glauben im besonderen befassen. Mit dem Hinweis auf einige theologische „Interpretationen“, die sich ohne jedes physikalische Verständnis einzig auf einige in den Relativitätstheorien verwendete Begriffe beziehen, beginnt im vierten Kapitel der Überblick über die insgesamt sehr unterschiedlichen theologischen Stellungnahmen (I.). Im Anschluß daran wendet sich vorliegende Arbeit den argumentativen Anstrengungen katholi-

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scher Theologen zu, die Unvereinbarkeiten von neuscholastischer Ontologie und Relativitätstheorie ausmachen und darum sogar die experimentelle Überprüfbarkeit der Relativitätstheorie leugnen. Diese Darstellung der neuscholastischen Apologetik ist im gegebenen Zusammenhang unverzichtbar, weil sich das beharrliche Festhalten an der neuscholastischen Begrifflichkeit im Rückblick als einer der maßgeblichen Gründe erweist, warum der Dialog zwischen katholischer Theologie und moderner Physik im 20. Jahrhundert jahrzehntelang blockiert ist und bis heute nur stockend in Gang kommt (II.). Anschließend befaßt sich vorliegende Untersuchung mit Karl Heims Versuch einer „neuen Apologetik“, in deren Rahmen die Relativitätstheorien zwar bejaht, zugleich aber auch sehr fragwürdig gedeutet werden. Die Kritik von Heims Deutung der Relativitätstheorien und seiner damit verbundenen Sicht der modernen Physik erscheint heute besonders notwendig, da Heim nach wie vor unter Theologen als „profunder Kenner der Naturwissenschaften“100 gilt und verschiedentlich gefordert wird, Heims Bemühung um eine „produktive Synthese“101 von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Schöpfungslehre wieder aufzugreifen (III.). Schließlich werden im vierten Kapitel Ansätze zur Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie dargestellt, die von theologisch interessierten und gebildeten Naturwissenschaftlern im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie vorgelegt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den entsprechenden theologischen Gedanken des Physikers Bernhard Bavink gewidmet (IV.). Nur wenige Jahre dient die Relativitätstheorie als Impuls für einen möglichen Austausch zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Kaum haben die Theologen, die die Entwicklung der modernen Physik zu verfolgen versuchen, die Relativitätstheorie zur Kenntnis genommen, sind für die Physiker die Herausforderungen faszinierend, die ihnen die weitere Entfaltung der Quantentheorie stellt. Im fünften Kapitel wird darum in allgemeinverständlicher Weise in die Grundgedanken der Quantenphysik eingeführt. Nach einleitenden Bemerkungen über die Bedeutung der Quantentheorie im Rahmen der modernen Physik (I.) werden kurz naturphilosophische Traditionen skizziert, die die Entwicklung der Quantentheorie beeinflussen (II.). Im Anschluß daran werden in zwei Schritten zentrale Aussagen der Quantentheorie dargestellt: zunächst durch die physikgeschichtliche Darstellung der Entwicklung der Quantentheorie im 20. Jahrhundert (III.) und dann durch die Beschreibung verschiedener „Doppelspaltexperimente“, deren Diskussion in der Geschichte der Quantentheorie exemplarische Bedeutung zukommt (IV.). Im Anschluß an die Doppelspaltexperimente lassen sich im sechsten Kapitel zentrale Aspekte der Quantenphysik verdeutlichen. Ausgehend vom sogenannten „Welle-Teilchen-Dualismus“ (I.) werden dazu die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation und ihre Deutung erläutert (II.), die Eigenart 100 101

H. Schwarz, Art. Heim, Karl, Sp. 1364. J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 200.

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des quantenmechanischen Meßprozesses skizziert (III.) und der quantentheoretische Indeterminismus vorgestellt (IV.). Dabei zeigt sich, daß der experimentell bewährte und in sich stimmige Formalismus der Quantentheorie gleichwohl einen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels befaßt sich mit der Diskussion um die Vollständigkeit der Quantentheorie und begründet, warum mit der Quantentheorie trotz ihrer unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten eine Rückkehr zum Wirklichkeitsverständnis der klassischen Physik definitiv ausgeschlossen werden muß (V.). Das sich gegenüber der klassischen Physik gewandelte Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik bestimmt maßgeblich die veränderte Gesprächssituation im gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie. Im siebten Kapitel wird zunächst im Rückblick auf die Relativitäts- und Quantentheorie die Veränderung in der physikalischen Vorstellung von Wirklichkeit noch einmal zusammenfassend dargestellt (I.). So wenig wie von der klassischen, so führt auch von der modernen Physik kein unmittelbarer und zwingender Weg zur Religion. Sofern sich aber Physiker der Religion zuwenden, prägt dieses veränderte Wirklichkeitsverständnis offensichtlich auch die Stellungnahmen zu religiösen Fragen in charakteristischer Weise. Dies wird in diesem Abschnitt anhand entsprechender Äußerungen von Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg aufgezeigt (II.). Der Rückgriff auf diese an der Entwicklung der modernen Physik maßgeblich beteiligten Physiker bietet sich an, da bei diesen Physikern noch ein feineres Gespür für die Tragweite des Umbruchs von der klassischen zur modernen Physik feststellbar ist, als bei der jüngeren Physikergeneration, für die Relativitäts- und Quantentheorie längst zum Standardwissen gehören. Darüber hinaus stehen Planck, Einstein und Heisenberg bis heute stellvertretend für die Physiker, die in wohltuendem Gegensatz zu den gegenwärtig den Dialog mit der Theologie dominierenden Physikern nie als Physiker aufgrund ihrer anerkannten naturwissenschaftlichen Kompetenz zu religiösen Fragen Stellung nehmen, sondern nachdrücklich die Notwendigkeit einer „reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissenschaft“102 betonen. Ihre gleichwohl von der Physik geprägten und nur vor deren Hintergrund verständlichen Fragen und Erwartungen an die Theologie bedeuten für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik eine noch nicht bewältigte Herausforderung (III.). Das letzte Kapitel endet mit sechs Feststellungen, die von der Theologie vor dem Dialog mit der modernen Physik zu bedenken sind und die das Ergebnis der vorliegenden Arbeit zusammenfassen (IV.).

102

A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 75.

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Erstes Kapitel: Umbruch von der klassischen zur modernen Physik

I. Emanzipation der neuzeitlichen Physik von Theologie und Philosophie Galileo Galilei (1564–1642) und Isaac Newton (1643–1727) gelten als Begründer der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft und insbesondere als Begründer der später „klassisch“ genannten Physik.1 Galileis Verdienst besteht nicht nur in der Formulierung grundlegender physikalischer Naturgesetze wie etwa der Fallund Bewegungsgesetze, sondern vor allem in der Tatsache, daß er zugleich damit einer neuen wissenschaftlichen Methode zum Durchbruch verhilft: der Verbindung von theoretisch entworfenem Experiment und mathematischer Beschreibung. Der Experimentator begnügt sich nicht mehr mit der Hinnahme beobachteter Naturereignisse, sondern stellt durch geeignete Versuchsanordnungen gezielte Fragen an die Natur und nötigt sie zur Antwort.2 Da für Galilei das „Buch der Natur“ in mathematischer Sprache geschrieben ist, bedarf es zu seinem Verständnis notwendigerweise der Mathematik.3 Wer 1

Unter dem Begriff „klassische Physik“ versteht man heute die Physik, wie sie noch um die Wende zum 20. Jahrhundert gelehrt wurde. Dazu wird insbesondere die Newtonsche Mechanik, die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus, die geometrische Optik, die Wellenoptik und die herkömmliche Thermodynamik gezählt. Außerhalb dieser „klassischen Physik“ liegen die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, die oft auch als „moderne Physik“ bezeichnet werden. Zur insgesamt keineswegs einheitlichen Begrifflichkeit vgl. K. H. Höcker, Art. Klassisch, 51f. 2 Vgl. dazu I. Kants Beschreibung der „Revolution der Denkart“ in der Physik: Die Naturforscher „begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf“ (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII). 3 Vgl. G. Galilei, Il Saggiatore, Opere, Bd. 6, 232, vgl. Bd. 5, 316f, sowie Galileis Brief an den Benediktinermönch Benedetto Castelli vom 21.12.1613, a.a.O., Bd. 5, 281ff (in deutscher Übersetzung abgedruckt in: A. Fölsing, Galileo Galilei, 284–288); vgl. dazu auch E. Rothacker, Das „Buch der Natur“, 15f, 45, 127 (Anm. 14); vgl. ferner K. Mainzer, Galileo Galilei – Naturphilosoph und Begründer der neuzeitlichen Physik, 10–31, insbes. auch die weiteren Belege a.a.O., 12 (Anm. 11). – E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 371–399, versucht zwar nachzuweisen, daß Galilei mehr als meist bekannt noch den

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naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen wolle, unternehme Undurchführbares. Mathematik wird derart bei Galilei „das gedankliche Werkzeug der das Experiment leitenden theoretischen Fragen“4 und erweist sich darin als „der ermöglichende Kern der Naturwissenschaft“ 5. Schon die berühmten Versuche Galileis an der schiefen Ebene, die schließlich zur Entdeckung der Fallgesetze führen, enthalten die wesentlichen Elemente physikalischer Experimente.6 Galilei läßt Messingkugeln verschiedener Masse bei unterschiedlicher Neigung eine abschüssige Rille hinabrollen, mißt die zurückgelegten Strecken und die dazu benötigten Zeiten, variiert des weiteren einzelne Größen, während er die jeweils anderen konstant hält, – und vermag so die wechselseitige Abhängigkeit oder auch Unabhängigkeit dieser beobachteten Größen festzustellen und schließlich ihre Relation in einer mathematischen Gleichung auszudrücken. Voraussetzung dieses Zusammenspiels von Experiment und mathematischer Formulierung ist die mögliche Quantifizierung der gerade untersuchten Eigenschaften eines Gegenstandes oder der Einzelheiten eines Vorganges, deren struktureller Zusammenhang aufgedeckt werden soll. Nur wenn diese Quantifizierung möglich ist, läßt sich ein Gegenstand oder Vorgang mathematisch erfassen, nur dann „können wir einem Vorgang ein mathematisches Funktionsmodell zuordnen“7. Die Verbindung von Mathematik und Experiment eröffnet den Naturwissenschaftlern dieser Zeit eine Möglichkeit, ohne Rückgriff auf biblische Offenbarung, christliche Theologie oder traditionelle Philosophie Erkenntnisse über die Natur zu gewinnen, die auf sicherer experimenteller Grundlage stehen und zumindest grundsätzlich von jedem Menschen nachvollzogen werden können: physikalische Experimente sind reproduzierbar, Physik bezieht sich damit allein auf „intersubjektiv nachprüfbare Erfahrungen“8; desgleichen sind auch die mathematischen Deduktionen im Anschluß an diese Experimente im Prinzip von jedem Menschen auf ihre Stimmigkeit hin kontrollierbar. Im Jahr 1637 rühmt René Descartes gerade die „mathematischen Disziplinen“ wegen ihrer „sicheren und vertrauenswürdigen Fundament[e]“ sowie wegen „der

Denkweisen der aristotelisch-scholastischen Physik verhaftet sei, betrachtet aber nichtsdestoweniger die Einsicht „daß die Natur in mathematischer Sprache beschrieben werden muß, und daß sie für den Menschen genau so weit begreiflich ist, als er ihrer Wirkung in seinem mathematischen Denken folgen kann“ als die Frucht, „welche die klassische Naturwissenschaft im Laufe ihrer Entwicklung zur Reife bringen sollte“ (a.a.O., 557). 4 C. F. v. Weizsäcker, Wer ist das Subjekt in der Physik? 129. 5 Ders., Zeit und Wissen, 96. Ähnlich betont M. v. Laue, Geschichte der Physik, 10, die enge Verbindung von Physik und Mathematik: „Die Mathematik ist nun einmal das geistige Werkzeug des Physikers; sie allein ermöglicht [die] endgültige, präzise und auf andere übertragbare Fassung erkannter Naturgesetze, sie allein deren Anwendung auf verwickeltere Vorgänge. So war auch der Fortschritt der Physik, namentlich in der Mechanik, aufs engste verknüpft mit den gleichzeitigen Fortschritten der Mathematik.“ 6 Vgl. die Beschreibung dieser Versuche in: G. Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen, 161ff. 7 H.-P. Dürr, Mathematik und Experiment, 57. 8 J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 18.

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Sicherheit und Evidenz ihrer Beweisgründe“9. Die Möglichkeit aufgrund der neuen Methode „der Natur ihre Geheimnisse ohne Anleihen bei Theologie und Philosophie zu entreißen“10 äußert sich nun auch in einem ungleich selbstbewußteren Auftreten der Naturwissenschaftler gegenüber kirchlicher Autorität. Im Jahr 1609 schreibt Johannes Kepler, in der Theologie gelte zwar das Gewicht der Autoritäten, in der Philosophie – und Kepler versteht darunter gerade auch die neue Astronomie – aber das der Vernunftgründe: „Heilig ist nun zwar Laktanz, der die Kugelgestalt der Erde leugnete, heilig Augustinus, der die Kugelgestalt zugab, aber Antipoden leugnete, heilig das Offizium unserer Tage, das die Kleinheit der Erde zugibt, aber ihre Bewegung leugnet. Aber heiliger ist mir die Wahrheit, wenn ich, bei aller Ehrfurcht vor den Kirchenlehrern, aus der Philosophie beweise, daß die Erde rund, ringsum von Antipoden bewohnt, ganz unbedeutend und klein ist und auch durch die Gestirne hin eilt.“11 Für Kepler bedeuten die Erkenntnisse der Physik und Astronomie seiner Zeit und insbesondere die hier ausgedrückte Preisgabe der ausgezeichneten Position des Menschen und seiner Erde im Universum keine Anfechtung seiner christlichen Überzeugung. Betrachte man angesichts der unvorstellbaren Ausdehnung der Welt „jene Stäubchen [...], die man Menschen nennt, die Gottes Bild in sich tragen“, so könne man daraus den Sinn des Schöpfers erkennen lernen, „der seinen Ruhm nicht auf die große Ausdehnung setzt, sondern der das klein macht, was er durch Würde auszeichnen will“12. Kepler, der sich zur Confessio Augustana bekennt, betont wiederholt, daß es ihm mit der Religion ernst sei und er kein Spiel mit ihr treibe.13 Die von autoritären Zwängen und theologischer Bevormundung befreite naturwissenschaftliche Forschung versteht Kepler ausdrücklich als Hilfe zur Offenbarung Gottes in seinen Werken. Wie durch das Wort der Bibel, so will Gott auch aus dem Buch der Natur erkannt werden.14 9

R. Descartes, Discours de la Méthode, 13. J. Hemleben, Galileo Galilei, 154. „Ohne Anleihen bei der traditionellen aristotelischscholastischen Philosophie“ sollte es wohl besser heißen, denn auch die neuzeitliche Physik beruht auf bestimmten naturphilosophischen Prämissen, auch wenn diese von den Naturwissenschaftlern dieser Zeit nicht reflektiert werden; vgl. dazu z. B. J. Teichmann, Wandel des Weltbildes, 148f, oder auch J. Trefil, Fünf Gründe, 20f. Dessen ungeachtet ist E. Cassirer, Philosophie und exakte Wissenschaft, 13, zuzustimmen, wenn er feststellt, daß der „Kampf gegen das scholastische Bildungsideal und gegen die überlieferte Form der aristotelisch-scholastischen Physik [...] allen großen Naturforschern der Renaissance gemeinsam [ist]“. 11 J. Kepler, Neue Astronomie, 33. 12 J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 28.3.1605, in: M. Caspar/W. v. Dyck (Hg.), Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, 233. 13 Vgl. J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 16.12.1598, a.a.O., Bd. 1, 91; vgl. J. Kepler an Mästlin, 22.12.1616, a.a.O., Bd. 2, 67f, wo Kepler gegenüber Mästlin erklärt, daß er aus Gewissensgründen nicht bereit sei, die Konkordienformel zu unterschreiben. 14 Vgl. Kepler an Mästlin, 3.10.1595, a.a.O., Bd. 1, 24; vgl. J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 13, 40 (Nr. 23, Zeile 254): Deus „vult ex libro Naturae agnoscj“. Zu Keplers Verständnis des Buches der Natur als Offenbarung vgl. J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, 165–175, sowie ders., Johannes Kepler und die 10

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Der Naturforscher wird damit für Kepler zum Priester am Buch der Natur, Naturforschung wird Priesterdienst: „Da wir Astronomen Priester des höchsten Gottes sind in Hinblick auf das Buch der Natur, geziemt es uns, daß wir nicht auf den Ruhm unseres Geistes, sondern vor allem anderen auf den Ruhm Gottes bedacht sind“.15 In diesem Sinn kann Kepler im Jahr 1619 in „Harmonices mundi“ in Form eines Lobgesanges schreiben: „Ich sage Dir Dank, Schöpfer, Gott, weil Du mir Freude gegeben hast an dem, was Du gemacht hast, und ich frohlocke über die Werke Deiner Hände. Siehe, ich habe jetzt das Werk vollendet, zu dem ich berufen war. Ich habe dabei alle die Kräfte meines Geistes genutzt, die Du mir verliehen hast. Ich habe die Herrlichkeit Deiner Werke den Menschen geoffenbart, soviel von ihrem unendlichen Reichtum mein enger Verstand hat erfassen können.“16

Die neue naturwissenschaftliche Methode ermöglicht die Emanzipation der Naturwissenschaften von Theologie und traditioneller Philosophie. Dies geht einher mit der Auflösung eines Weltbildes, in dem sich ptolemäische Kosmologie, aristotelische Philosophie und christliche Theologie scheinbar zwanglos vereinbaren lassen.17 Aber das Beispiel von Kepler zeigt auch, daß das neu entstehende Weltbild die Naturwissenschaftler keineswegs notwendig in Widerspruch zum Glauben an einen sich in der Schöpfung offenbarenden Gott führen muß. Für die Astronomen und Physiker, die durch ihre Arbeit die Ausbildung des neuzeitlichen Verständnisses von Naturwissenschaft prägen, namentlich für Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton ist „eine innige Verbindung von naturwissenschaftlichem Denken und theologisch fundiertem Weltbild [...] kennzeichnend“18. Unbeschadet der Abwehrreaktionen der Kirche ist für die Naturwissenschaftler der Grundtenor der „einer Konkordanz zwischen Natur und Religion“19. Gerade durch die neu entdeckten Gesetzlichkeiten, die den Gang der Gestirne bestimmen, sehen sie sich zurückverwiesen auf den Urheber und den Schöpfer dieses großartigen, zweckmäßig eingerichteten Weltenbaus. theologischen Vorbehalte zum kopernikanischen System, 118–122, insbes. 121f. – Noch I. Newton schließt seine kurzen theologischen Ausführungen in den „Principia“ mit der Bemerkung ab, es sei Aufgabe der von ihm vorgelegten Naturlehre, Gott aufgrund von Phänomenen zu erfassen (vgl. I. Newton, Opera, Bd. 3, 173: „Et haec de Deo; de quo utique ex Phaenomenis differere, ad Philosophiam Naturalem pertinet“). 15 J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 26.3.1598, in: M. Caspar/W. v. Dyck (Hg.), Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, 70. 16 Zit. in: G. Süßmann (Hg.), Glaube und Naturwissenschaft, 12; vgl. auch Keplers hymnischen Lobpreis auf Gott als den Schöpfer des Kosmos am Ende von „Mysterium Cosmographicum“ (J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1, 79f). 17 Dieses Weltbild ist in popularisierter Form anschaulich dargestellt im Titelholzschnitt von Lukas Cranach zur Lutherbibel (1534): im Zentrum der Welt ist mit biblischen Szenen das Paradies und das erste Menschenpaar auf der Erde abgebildet, um die Erde kreisen die aristotelischen, bzw. ptolemäischen Sphären und jenseits der äußersten Sphäre der Fixsterne thront Gott (der Holzdruck ist wiedergegeben in: V.-J. Dieterich, Glaube und Naturwissenschaft, 9). 18 19

E. Wölfel, Art. Naturwissenschaft I, 191. Ebd.

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II. Isaac Newtons „Principia“ und das Ideal mechanischer Erklärbarkeit Die neue naturwissenschaftliche Methode bewährt sich zwar schon zu Galileis Lebzeiten hervorragend in Astronomie und Mechanik, aber es bleibt Isaac Newton vorbehalten, zu seinen Zeiten schon vorliegende Ansätze weiterzuentwickeln und die grundlegende Theorie der neuen Physik auszuarbeiten.20 In seinem im Jahr 1687 publizierten Hauptwerk „Philosophiae naturalis principia mathematica“21 legt Newton die Konstruktion einer Mechanik vor, die sich auf drei aus der Erfahrung abgeleitete Axiome gründet22 und die in dem universellen Gravitationsgesetz ihren Höhepunkt findet.23 Das Gravitationsgesetz wiederum bildet das Fundament einer Physik, die auf der Erde keine besonderen Gesetze mehr gelten läßt: die Gestirne folgen denselben Bewegungsgesetzen wie die Körper auf der Erde, die aristotelische Trennung von Erd- und Himmelsphysik ist damit endgültig aufgehoben. Erst im Rückblick wird das Ausmaß des Einflusses sichtbar, den die in diesem Werk zusammengefaßten mechanischen Grundsätze auf die Naturauffassung und auf die gesamte Lebensgestaltung der neuzeitlichen Menschheit ausüben.24 Wie zuvor die „Physik“ von Aristoteles oder der sogenannte 20

Zu den verschiedenen Vorarbeiten, auf die Newton zurückgreifen kann, vgl. die knappe und übersichtliche Darstellung von K. v. Meyenn, Triumph und Krise der Mechanik, 17–58. Zur argumentativen Auseinandersetzung Newtons mit der cartesischen Philosophie vgl. insbes. G. Böhme, Philosophische Grundlagen der Newtonschen Mechanik, 5–20. 21 Die bislang einzige vollständige deutsche Übersetzung, die im einzelnen aber sehr großzügig verfährt, stammt noch aus dem 19. Jahrhundert: I. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg. v. J. Ph. Wolfers, Berlin 1872 (unveränderter Nachdruck Darmstadt 1963). Im folgenden werden die „Principia“ i. d. R. nach der getreueren, aber unvollständigen Neuübersetzung von Ed Dellian zitiert: I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Übersetzt, eingeleitet und hg. von E. Dellian, Hamburg 1988. 22 „Gesetz I: Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustandes gezwungen wird. [...] Gesetz II: Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt. [...] Gesetz III: Der Einwirkung ist die Rückwirkung immer entgegengesetzt und gleich, oder: die Einwirkungen zweier Körper aufeinander sind immer gleich und wenden sich jeweils in die Gegenrichtung“ (I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 53f). 23 Zwei Körper üben demnach aufeinander eine Gravitationskraft aus, die proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes ist (vgl. a.a.O., 190). 24 „Kein anderes Werk in der ganzen Wissenschaftsgeschichte“, urteilt A. Rupert Hall, „kommt den Principia in Originalität oder Kraft des Denkens gleich, ebensowenig in der Großartigkeit des Erreichten. Kein anderes verwandelte die Struktur der Naturwissenschaften so sehr“ (zit. in: H. Wußing, Isaac Newton, 74).

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„Almagest“ von Klaudios Ptolemaios dienen Newtons „Principia“ dazu, „für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebietes zu bestimmen“25. Für Thomas S. Kuhn ist damit das die Epoche der klassischen Physik prägende „Paradigma“ formuliert, das mehr als zweihundert Jahre lang als verbindliche Grundlage der gesamten Physik dienen wird. Mehr noch als von einer kopernikanischen ist man deshalb heute geneigt, von einer newtonschen Revolution zu sprechen.26 Zu Beginn der „Principia“ definiert Newton einige grundsätzliche Begriffe wie „Masse“, „Trägheit“ und „Kraft“. Er führt ferner aus, daß er die Begriffe „Raum“, „Zeit“, „Ort“ und „Bewegung“ als bekannt voraussetze, merkt aber an, daß man gewöhnlich diese Größen nicht anders als in der Beziehung auf sinnlich Wahrnehmbares auffasse. „Und daraus entstehen gewisse Vorurteile“, so fährt Newton hier fort, „zu deren Aufhebung man sie zweckmäßig in absolute und relative, wirkliche und scheinbare, mathematische und landläufige Größen unterscheidet.“27 Im Anschluß daran gibt Newton dann unter anderem Definitionen der absoluten Zeit, des absoluten Raumes, des absoluten Ortes und der absoluten Bewegung: „Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung ‚Dauer‘.[...] Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich. Der relative Raum ist dessen Maß oder ein beliebiger veränderlicher Ausschnitt daraus, welcher von unseren Sinnen durch seine Lage in Beziehung auf Körper bestimmt wird, mit dem gemeinhin anstelle des unbeweglichen Raumes gearbeitet wird [...]. Ort ist derjenige Teil des Raumes, den ein Körper einnimmt, und er ist je nach dem Verhältnis des Raumes entweder absolut oder relativ. [...] Die absolute Bewegung ist die Fortbewegung eines Körpers von einem absoluten Ort zu einem absoluten Ort, die relative die Ortsveränderung von einem relativen Ort zu einem relativen.“28

Innerhalb des von Raum und Zeit vorgegebenen Rahmens laufen die physikalischen Naturvorgänge streng gesetzlich ab, und es ist erklärtes Ziel der Physik, diese Vorgänge mit Hilfe der Mathematik einer mechanischen und kausalen Erklärung zugänglich zu machen. In diesem Sinne hatte schon Johannes Kepler unbeschadet seiner religiösen Überzeugung ein mechanisches Verständnis des gesamten Kosmos gefordert: „Mein Ziel [...] ist es zu zeigen, daß die himmlische Maschine nicht eine Art göttlichen Lebewesens ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk (wer glaubt, daß die Uhr beseelt ist, der überträgt die Ehre des Meisters auf das Werk), insofern darin nahezu alle die mannigfaltigen Bewegungen von einer einzigen ganz einfachen magnetischen Kraft besorgt werden, wie bei einem Uhrwerk alle die Bewegungen von dem so einfachen Gewicht.“29 25

T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 28. Vgl. K. v. Meyenn, Triumph und Krise der Mechanik, 17; vgl. dazu auch I. B. Cohen, Newtons Gravitationsgesetz, 124, sowie ders., Revolution in Science, Cambridge 1985. 27 I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 43. 28 A.a.O., 44f. 29 J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 10.2.1605, in: M. Caspar/W. v. Dyck (Hg.), Johan26

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Kepler hatte aufgrund der Auswertung der empirischen Daten Tycho Brahes die drei Gesetze der Planetenbewegung entdeckt und damit einen wesentlichen Schritt in Richtung auf das von ihm genannte Ziel getan. Aber zugleich war sich Kepler auch bewußt, daß die notwendige Kenntnis einer „Definition der Schwere“30 noch ausstehe. Aus Newtons universellem Gravitationsgesetz lassen sich nun aber sowohl die Keplerschen Gesetze als auch die Galileischen Bewegungsgesetze mathematisch ableiten und damit in einer bis dahin ungekannten Präzision himmlische und irdische Vorgänge rekonstruieren und prognostizieren. Die Newtonsche Mechanik führt so den Beweis, „daß auf empirischer Grundlage eine mathematisch strenge, deterministische Naturwissenschaft gefunden werden kann“31. Während Newton in einem Abschnitt der „Principia“ noch am Rande auf Gott zu sprechen kommt, der „ewig und unendlich, allmächtig und allwissend“32 sei, tauchen in der Durchführung und Weiterentwicklung des newtonschen Konzepts theologische Fragen nicht mehr auf. Die Vorstellung mechanischer Erklärbarkeit prägt die Arbeitsweise der Naturwissenschaften bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Für Eduard Jan Dijksterhuis ist „mit dem Erscheinen von Newtons Principia [...] die Mechanisierung des Weltbildes [...] im Prinzip vollzogen; dem Studium der Natur ist ein Ziel gesteckt worden, das [der klassischen Naturwissenschaft] zwei Jahrhunderte lang als das einzig denkbare vor Augen stehen und sie zu großen Taten inspirieren wird“33. Im Jahr 1884 geht Max Planck bei seiner Antrittsrede vor der Akademie der Wissenschaften darauf ein, daß sich neuerdings in der physikalischen Forschung auch das Bestreben Bahn breche, den Zusammenhang – heute würde man sagen die Einheit – der Erscheinungen nicht mehr in der Mechanik zu suchen. Trotz des Anscheins, „als ob sich die gegenwärtige Richtung in der Physik von der mechanischen Naturauffassung entferne oder wenigstens ihrer entbehren könne“34, läßt Planck damals noch keinen Zweifel daran, daß sich seines Erachtens die Einheit der Physik auf keinem physikalischen Gebiet besser durchführen lasse als in der Mechanik. 35 nes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, 219. J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 28.3.1605, a.a.O., Bd. 1, 227. 31 C. F. v. Weizsäcker, Geleitwort zu: K.-D. Buchholtz, Isaac Newton als Theologe, 5. 32 I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 227. Newton erklärt insbesondere die Tatsache, daß alle Planeten unseres Sonnensystems im gleichen Drehsinn die Sonne umkreisen und dabei ihre Bahnebenen nahezu zusammenfallen, durch göttliche Verursachung (vgl. a.a.O., 226). Unabhängig davon befaßt sich Newton in zahlreichen, zu Lebzeiten größtenteils unveröffentlichten Schriften mit theologischen Fragen. „Weder solle man metaphysische Spekulationen in die Religion einführen, noch die Wissenschaft mit Glaubensfragen belasten“, faßt K.-D. Buchholtz das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft bei Newton zusammen. Gleichwohl habe sich Newton bemüht, „in dem sich wandelnden Weltbild einen Platz für Gott freizuhalten, der der Wissenschaft nicht zugänglich ist“ (K.-D. Buchholtz, Isaac Newton als Theologe, 78). 33 E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 550. 34 M. Planck in seinen Akademieansprachen, 3f. 35 Vgl. a.a.O., 4. 30

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Im gleichen Jahr bemerkt der englische Physiker William Thomson, der spätere Lord Kelvin, im Hinblick auf die elektromagnetische Theorie des Lichts, daß ihm physikalisches Verstehen gleichbedeutend sei mit der Konstruktion eines mechanischen Modells des Gegenstandes, mit dem er sich befasse: „I never satisfy myself until I can make a mechanical model of a thing. If I can make a mechanical model I can understand it. As long as I cannot make a mechanical model all the way through I cannot understand; and that is why I cannot get the electro-magnetic theory. [...] I want to understand light as well as I can without introducing things that we understand even less of.“36

Solche damals verbreiteten Vorbehalte gegen nicht mechanische Erklärungsmodelle der Lichtausbreitung weisen aber zugleich darauf hin, daß gerade die Anstrengungen, die Ausbreitung des Lichts mechanisch zu erklären, die Physiker des 19. Jahrhunderts vor schließlich unlösbare Probleme stellen. In letzter Konsequenz führen diese Versuche sowohl zur Preisgabe der Annahme, daß die Natur als ein mechanisches System begreifbar sein müsse, als auch zu der Aufgabe der Vorstellungen eines „absoluten Raumes“ und einer „absoluten Zeit“.

III. Krise der klassischen Physik In der schon zwischen Isaac Newton und Christian Huygens kontrovers diskutierten Frage, ob die Natur des Lichts in der Teilchen- oder der Wellentheorie richtig gedeutet werde, behauptet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eindeutig die Wellentheorie. Betrachtet man aber das Licht als eine wellenartige Erscheinung, und versucht man sie darüber hinaus als mechanische Welle zu begreifen, so macht dies einen Wellenträger, über den sich die Welle fortpflanzen kann, erforderlich: Schallwellen haben die Luft als Wellenträger, Meereswellen das Wasser usw. Aus diesem Grund wird als Träger der Lichtwellen der „Äther“37 wieder eingeführt – hypothetisch freilich, denn experi36

W. Thomson, Baltimore Lectures, 206. Platon und Aristoteles lehnen die Möglichkeit eines „Leeren“ (NHQRQ ab (vgl. Platon, Timaios, 58b, 60c, 79bc und 80c; vgl. Aristoteles, Physik, 213a–217b). Der „Äther“ (DLTKU) ist für Platon die „durchsichtigste Art“ (Timaios 58d) des Elements Luft. Man versteht dann den Äther als quinta essentia, als feinsten Urstoff, der den Himmelsraum jenseits des Mondes ausfüllen soll. Im Mittelalter (Isidor v. Sevilla, Albert der Große u.a.), in der Renaissance (Agrippa von Nettesheim, Ph. T. Paracelsus) und in der Romantik (L. Oken, Ph. Spiller) werden im Anschluß an die griechische Antike diverse neue Äthervorstellungen entwickelt (vgl. M. Kurdzialek, Art. Äther, Sp. 559–602); mit R. Descartes, C. Huygens und I. Newton beginnen dann die Äthertheorien im Sinne der neuzeitlichen Physik: als hypothetisches Medium soll der Äther nicht nur die Ausbreitung von Licht erklären, sondern darüber hinaus auch die Vermittlung von Fernkräften, insbesondere von Gravitationskräften ermöglichen (vgl. dazu P. Janich, Art. Äther, 209f).

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mentell nachweisen läßt sich ein derartiger Stoff, der beispielsweise auch den Raum zwischen Sonne und Erde vollständig ausfüllen müßte, nicht. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich in dieser Zeit aus der Erkenntnis, daß es sich bei Licht um Querwellen handeln muß (Auguste Fresnel und Thomas Young, 1817): Querwellen benötigen zur Ausbreitung einen festen Träger. Da die hohe Geschwindigkeit der Lichtausbreitung damals schon bekannt ist, ist sogar ein annähernd starrer Körper als Lichtmedium gefordert – der aber zugleich der Bewegung materieller Körper keinerlei Widerstand entgegensetzen darf, da sich ja zum Beispiel die Erde offensichtlich ungehindert um die Sonne bewegen kann. Trotz der genannten Widersprüche wollen sich im 19. Jahrhundert viele Physiker nur ungern vom „Äther“ trennen. Denn bereits Newton hat die Schwierigkeit erkannt, einen „absoluten Raum“ experimentell nachzuweisen,38 und jetzt scheint sich der „Äther“, der den ganzen Weltraum ausfüllen soll, als eine Vergegenständlichung dieses absoluten Raumes anzubieten, auf den jede Bewegung bezogen werden könnte. Nur nebenbei sei hier schon bemerkt, daß neuscholastische Theologen an der Ätherhypothese später auch noch festhalten werden, als diese von den Physikern längst aufgegeben worden ist, um mit einem materiellen Träger der Lichtwellen zugleich die traditionelle Unterscheidung von Substanz und Akzidens zu retten. 39 Albert Abraham Michelson und Edward Williams Morley versuchen im Jahr 1887 die Bewegung der Erde gegen den ruhenden Äther nachzuweisen. Dazu bestimmen sie in einer höchst genauen Messung die Lichtgeschwindigkeit sowohl in Bewegungsrichtung der Erde als auch senkrecht dazu. Sofern die Erde tatsächlich durch den ruhenden Lichtwellenträger Äther „schwimmen“ würde, müßte man bei diesem Versuch unterschiedliche Geschwindigkeiten erwarten. Diese Erwartung wird enttäuscht. Es ergibt sich in beiden genannten Fällen und auch bei allen weiteren entsprechenden Versuchen stets derselbe Betrag der Lichtgeschwindigkeit. Dieses Ergebnis zählt zu den meistdiskutierten und bestbestätigten der gesmaten Physikgeschichte. Obwohl damit der direkte Nachweis eines Äthers mißglückt ist, gibt es noch einige Zeit verschiedene Anstrengungen, dieses Ergebnis entweder zu widerlegen oder mit der Ätherhypothese zu vereinbaren.40 Sie alle führen jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis. 38

„Die wahren Bewegungen der einzelnen Körper zu erkennen und von den scheinbaren durch den wirklichen Vollzug zu unterscheiden, ist freilich sehr schwer, weil die Teile jenes unbeweglichen Raumes, in dem die Körper sich wirklich bewegen, nicht sinnlich erfahren werden können“ (I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 51). Newton nannte allerdings zwei Experimente, die er irrtümlich für geeignet hielt, Größe und Richtung einer Bewegung gegen den absoluten Raum messen zu können (vgl. a.a.O., 51f). 39 Vgl. dazu 4. Kap. II. 5. vorliegender Arbeit. 40 So etwa Armand Fizeau (1893), der annimmt, daß die Erde wie ihre Atmosphäre so auch den Äther mit sich führt, oder noch Walter Ritz (1908), der den Michelson-Versuch durch eine Wiederbelebung der alten Korpuskular- und Emissionstheorie zu erklären versucht; vgl. H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 100.

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Als Resultat dieser vielfältigen Bemühungen zeigt sich aber immer deutlicher, daß der Versuch der klassischen Physik, die physikalischen Vorgänge auf rein mechanische Weise zu begreifen, an seine Grenzen gestoßen ist. Zugleich verstärken sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zweifel an den Begriffsdefinitionen, die Newton seinem System der Mechanik vorangestellt hatte. Der österreichische Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach kritisiert im Jahr 1883 in einer nachhaltig wirksamen Veröffentlichung insbesondere die Vorstellungen einer absoluten Bewegung, einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes. Eine Bewegung könne zwar gleichförmig sein in Bezug auf eine andere, die Frage aber, ob diese Bewegung an sich gleichförmig sei, habe keinerlei Sinn. „Ebensowenig können wir von einer ‚absoluten Zeit‘ (unabhängig von jeder Veränderung) sprechen“, schreibt Mach weiter, „diese absolute Zeit kann an gar keiner Bewegung abgemessen werden, sie hat also gar keinen praktischen und auch keinen wissenschaftlichen Wert, niemand ist berechtigt zu sagen, daß er von derselben etwas wisse, sie ist ein müßiger ‚metaphysischer‘ Begriff.“41 Alle Massen, Geschwindigkeiten und Kräfte sind für Mach relativ, und er sieht noch nicht einmal einen Vorteil, den eine etwaige Entscheidungsmöglichkeit über Relatives und Absolutes mit sich bringen würde. „Über den absoluten Raum und die absolute Bewegung kann niemand etwas aussagen, sie sind bloße Gedankendinge, die in der Erfahrung nicht aufgezeigt werden können. Alle unsere Grundsätze der Mechanik sind [...] Erfahrungen über relative Lagen und Bewegungen der Körper.“42

Die tatsächlichen Auswirkungen der erkenntniskritischen Gedanken Machs auf die Entwicklung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein sind bis heute umstritten. Jedenfalls ist bekannt, daß sich Einstein während seiner Studienzeit intensiv mit Machs hier zitierter Schrift auseinandersetzt43 und Einstein selbst es später „für nicht unwahrscheinlich“ hält, „daß Mach auf die Relativitätstheorie gekommen wäre, wenn in der Zeit, als er jugendfrischen Geistes war, die Frage nach der Bedeutung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit schon die Physiker bewegt hätte.“44 Die experimentell erwiesene Konstanz der Lichtgeschwindigkeit fordert die Physiker um die Wende zum 20. Jahrhundert heraus, weil sie in eklatantem Widerspruch zu Galileis Relativitätsprinzip – einem Grundprinzip der klassischen Physik – zu stehen scheint. Dieses besagt, daß beispielsweise in einem mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig fahrenden Zug dieselben physikalischen Gesetze gelten wie im stehenden Zug. Allgemeiner formuliert: In zwei Bezugssystemen, die sich geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit relativ zueinander bewegen, verlaufen die Bewegungen nach denselben Gesetzen. Mit Hilfe einfacher Umrechnungsgleichungen (der „Galilei-Transformation“) kann man im Rahmen der klassischen Mechanik berechnen, wie 41 42 43 44

E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 217. A.a.O., 222f. Vgl. dazu z. B. J. Wickert, Albert Einstein, 21, 25, 33f. A. Einstein, Ernst Mach, 103.

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sich zum Beispiel die Geschwindigkeiten verändern, wenn man das Bezugssystem wechselt. Die Experimente von Michelson und Morley lassen sich nicht mehr so einfach erklären. Für die Lichtgeschwindigkeit wird unabhängig vom Bezugssystem und dessen Relativbewegung stets derselbe Wert gemessen. Ist damit das Galileische Relativitätsprinzip widerlegt? Oder sind nur die Umrechnungsgleichungen zwischen den Bezugssystemen nicht korrekt? Auf analoge Schwierigkeiten stößt man um die Jahrhundertwende auch von anderer Seite her. Im Jahr 1866 stellt der englische Physiker und Wissenschaftstheoretiker James Clerk Maxwell ein Gleichungssystem auf, das die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen45 beschreiben kann. Es gelingt ihm auch, daraus einen relativ exakten Wert für die Lichtgeschwindigkeit abzuleiten, was ein weiterer Hinweis darauf ist, daß es sich bei Licht tatsächlich um elektromagnetische Wellen handelt. Allerdings zeigt sich auch hier, daß bei einem Wechsel des Bezugssystems die Umrechnungsgleichungen der GalileiTransformation die Maxwellschen Gleichungen verändern, diese sich demnach nicht als „galileiinvariant“ erweisen. Im Jahr 1904 legt der niederländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz nun neue Transformationsgleichungen vor und weist nach, daß man mit diesen Umrechnungsgleichungen (der späteren „Lorentz-Transformation“) das Bezugssystem wechseln kann, ohne dabei die Maxwell-Gleichungen zu verändern.46 Die Mathematiker Larmor (1900) und Henry Poincaré (1905) kommen zu denselben Ergebnissen. Das heißt, die Invarianz der Maxwellschen Gleichungen gegenüber der Lorentz-Transformation ist aufgezeigt.47 Die gegenüber der Galilei-Transformation kompliziertere Lorentz-Transformation weist freilich die erstaunliche Eigenart auf, daß bei einem Wechsel des Bezugssystems auch die Zeit transformiert werden muß. Mit Lorentz‘ Worten: „Man muß in einem gleichförmig bewegten System ein anderes Zeitmaß verwenden.“48 Allerdings geht Lorentz, der auch die Äthervorstellung retten will, noch von einem bevorzugten Bezugssystem aus, und unterscheidet eine „wahre“ oder „absolute Zeit“ von den zu errechnenden „Ortszeiten“ anderer Bezugssysteme. Im Jahr 1904 hält Henri Poincaré in St. Louis einen Vortrag über den „Stand der theoretischen Physik an der Jahrhundertwende“. Das Ergebnis von Michelsons Versuch, so führt Poincaré aus, habe die theoretischen Physiker gezwun45

Zu den elektromagnetischen Wellen zählen beispielsweise Radio- und Mikrowellen, Infrarot-, Ultraviolett- und Röntgenstrahlen, das sichtbare Licht und die kosmische Höhenstrahlung. 46 H. A. Lorentz, Elektromagnetische Erscheinungen in einem System, das sich mit beliebiger, die des Lichtes nicht erreichender Geschwindigkeit bewegt, 10 (und dort die später hinzugefügte Anm. 1). 47 M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 191, weist darauf hin, daß die Formel, die später Lorentz-Transformation heißt, schon im Jahr 1887 von W. Voigt in einer Dissertation aufgestellt wurde, die noch auf die elastische Äthertheorie des Lichts gegründet war. 48 Zit. in: M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 191.

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gen, alle ihre Geisteskräfte anzustrengen, um das Relativitätsprinzip zu verteidigen. „Ihre Aufgabe war nicht leicht, und wenn Lorentz durchgekommen ist, so geschah dies nur, indem er Hypothese auf Hypothese häufte.“49 Das Relativitätsprinzip sei in den letzten Zeiten zwar vehement verteidigt worden, aber gerade „die starke Energie der Verteidigung [zeige], wie ernsthaft der Angriff war“50. Zur Gesamtsituation der Physik bemerkt Poincaré: „Es gibt Anzeichen einer ernstlichen Krise, so, als ob wir auf eine baldige Veränderung gefaßt sein müßten. Lassen wir uns jedoch nicht allzusehr beunruhigen! Wir sind überzeugt, daß der Patient nicht daran sterben wird, und wir können sogar hoffen, daß diese Krise heilsam sein wird. Dies scheint durch die bisherige Entwicklung garantiert zu sein.“51

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H. Poincaré, Der Stand der theoretischen Physik, 196. A.a.O., 197. 51 A.a.O., 146; vgl. auch das Kapitel über „Die gegenwärtige Krisis in der mathematischen Physik“ in: H. Poincaré, Der Wert der Wissenschaft, 136–151. 50

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Zweites Kapitel: Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie

I. Albert Einsteins neuer Ansatz Im Jahr 1905 veröffentlicht Albert Einstein, damals noch Angestellter am Patentamt in Bern, in der maßgeblichen physikalischen Fachzeitschrift „Annalen der Physik“ innerhalb weniger Monate drei Arbeiten, deren Inhalt die Physiker bis heute zu Superlativen greifen läßt. Eine jede dieser Arbeiten für sich allein hätte genügt, so schreibt zum Beispiel der italienische Atomphysiker und Nobelpreisträger Emilio Segrè, um Einstein unsterblich zu machen.1 Die erste Arbeit befaßt sich mit dem „lichtelektrischen Effekt“ und war nach Max Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums im Jahr 1900 ein wichtiger Schritt zur weiteren Entwicklung der Quantentheorie.2 Die zweite Arbeit thematisiert die „Brownsche Molekularbewegung“ und kann damalige Skeptiker unter den Naturwissenschaftlern von der realen Existenz der Atome überzeugen. In der dritten Arbeit mit dem Titel „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“3 entwickelt Einstein schließlich die spezielle Relativitätstheorie. Wer rückblickend die im vorigen Abschnitt dargestellte Entwicklung betrachtet, die nun zur speziellen Relativitätstheorie Einsteins führt, mag den originären Beitrag Einsteins möglicherweise weitaus geringer einstufen, als dies gemeinhin geschieht.4 Sind nicht alle „revolutionären“ Entdeckungen bereits gemacht? Die Lorentz-Transformation, die erstaunlicherweise auch eine Transformation der Zeit erforderlich macht, liegt genauso vor wie die experimentell gut belegte Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit vom jeweiligen Bezugssystem. Wer aus diesem Grund die Leistung Einsteins schmälern will, verkennt freilich die Tatsache, daß erst ein grundsätzlicher Neuansatz und ein neues Prinzip die umfassende Lösung ermöglichen kann, die Einstein aufzeigt.5 Einsteins überragende Bedeutung besteht eben darin, daß er ganz verschiedene, teils vor ihm teils zeitgleich mit ihm von Mathematikern und Physikern herausgearbeitete Erkenntnisse in den Disziplinen Mathematik, 1

Vgl. E. Segrè, Die großen Physiker, Bd. 2, 90f. Vgl. 5. Kap. III. 1. vorliegender Arbeit. 3 A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, in: Annalen der Physik 17 (1905), 891–921; wiederabgedruckt in: H. A. Lorentz u.a., Das Relativitätsprinzip, 26–50. 4 E. Whittaker, A History of the Theories of Aether and Electricity, 27, vgl. 40, schreibt die Entdeckung der speziellen Relativitätstheorie vor allem H. A. Lorentz und H. Poincaré zu; noch K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 404, bezeichnet im Anschluß daran Lorentz, Einstein und Poincaré als „Väter der Relativitätstheorie“ und weist insbesondere Einstein eine eher bescheidene Nebenrolle zu (398); vgl. dazu die gegenteilige Stellungnahme von M. Born, Physik und Relativität, 187f. 5 Vgl. dazu H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 109. 2

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Mechanik, Gravitationstheorie, Elektrodynamik, und Optik in einen neuen Zusammenhang stellt: „Erst im wissenschaftlichen Werk Einsteins konvergieren [...] die von anderen Denkern nur isoliert verfolgten Ideenstränge in einer kohärenten und auch experimentell stimmigen R[elativitäts]t[heorie].“6 Einstein unterscheidet in der Physik zwei verschiedene Arten von Theorien, konstruktive oder synthetische Theorien und Prinziptheorien. Konstruktive Theorien, die viel häufiger vorkommen, „suchen aus einem relativ einfachen zugrunde gelegten Formalismus ein Bild der komplexeren Erscheinungen zu konstruieren“7. Als Beispiel hierfür nennt Einstein die kinetische Gastheorie, die die thermischen Diffusionsvorgänge aus der Hypothese der Molekularbewegung zu erklären versucht. Im Unterschied dazu zählt Einstein die Relativitätstheorie zur Klasse der Prinziptheorien: „Diese bedienen sich nicht der synthetischen, sondern der analytischen Methode. Ausgangspunkt und Basis bilden nicht hypothetische Konstruktionselemente, sondern empirisch gefundene, allgemeine Eigenschaften der Naturvorgänge, Prinzipien, aus denen dann mathematisch formulierte Kriterien folgen, denen die einzelnen Vorgänge bzw. deren theoretische Bilder zu genügen haben.“ 8

Der Vorteil von konstruktiven Theorien liegt für Einstein in ihrer Vollständigkeit, Anpassungsfähigkeit und Anschaulichkeit. Prinziptheorien wie die spezielle Relativitätstheorie zeichnen sich nach Einstein dagegen durch ihre logische Vollkommenheit und durch ihre experimentell gesicherte Grundlage aus. Um das Wesen der speziellen Relativitätstheorie zu erfassen, „muß man also in erster Linie die Prinzipe kennenlernen, auf denen sie beruht“9. Das erste dieser Prinzipien ist das Prinzip der Relativität, das zweite das der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Das Relativitätsprinzip: Auf das Galileische Relativitätsprinzip wurde bereits im vorigen Kapitel hingewiesen. Demnach gelten in zwei relativ zueinander geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit bewegten Bezugssystemen dieselben mechanischen Naturgesetze. Beide Systeme sind physikalisch völlig gleichberechtigt. Dieser Sachverhalt wurde für den Bereich der Mechanik schon von Galilei entdeckt und bewährte sich hier in der Folgezeit sehr gut. Schwierigkeiten entstanden aber, wie im vorigen Kapitel erwähnt, als Versuche unternommen wurden, dieses Relativitätsprinzip auch auf elektrodynamische Vorgänge und insbesondere auf die Lichtausbreitung anzuwenden. Einstein postuliert nun, daß das Relativitätsprinzip für alle Naturvorgänge gültig sein soll und formuliert ganz allgemein für die entsprechenden Gesetze:

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K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 3. 7 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 210. 8 A.a.O., 210f (Hervorhebungen vom Verf.). 9 A.a.O., 211.

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„Die Gesetze, nach denen sich die Zustände der physikalischen Systeme ändern, sind unabhängig davon, auf welches von zwei relativ zueinander in gleichförmiger Translationsbewegung befindlichen Koordinatensystemen diese Zustandsänderungen bezogen werden.“10

Zur Begründung dieser Verallgemeinerung verweist Einstein auf die Tatsache, daß sich das Relativitätsprinzip innerhalb der Mechanik sehr gut bewährt habe: „Daß aber ein Prinzip von so großer Allgemeinheit, welches auf einem Erscheinungsgebiete mit solcher Exaktheit gilt, einem anderen Erscheinungsgebiete gegenüber versage, ist apriori wenig wahrscheinlich.“ 11

Damit wird die Identität aller Naturgesetze in allen zueinander gleichförmiggeradlinig bewegten Systemen behauptet. Einstein selbst sieht dieses Postulat „durch die Erfahrung mächtig gestützt“12. Auch ein ansonsten nicht zur Emphase neigendes Physiklehrbuch bestätigt Einstein zwar, daß dieses Postulat durch die Erfahrung tatsächlich bestens gesichert sei, bemerkt aber zugleich, daß die von Einstein vorgeführte „Behandlungsweise ‚gordischer‘ Probleme brutal [sei] und sich durch ihre Folgen rechtfertigen [müsse]“13. Das zweite Prinzip, auf der die spezielle Relativitätstheorie beruht, ist die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: Vergeblich versuchten die Experimentalphysiker im 19. Jahrhundert eine Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit vom Bewegungszustand des Beobachters nachzuweisen. Dieses negative Ergebnis konnte in keine der vorliegenden Theorien zufriedenstellend eingeordnet werden. Einstein kehrt nun die Vorgehensweise um, indem er nicht mehr eine Erklärung dieses Ergebnisses unter den traditionellen, hier konstruktiv vorgehenden Theorien sucht, sondern die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zum Ausgangspunkt einer neuen Prinziptheorie nimmt. Entsprechend postuliert Einstein: „Jeder Lichtstrahl bewegt sich im ‚ruhenden‘ Koordinatensystem mit der bestimmten Geschwindigkeit V, unabhängig davon, ob dieser Lichtstrahl von einem ruhenden oder bewegten Körper emittiert ist.“14

Das bisher unerklärliche Faktum, so kommentiert Hans Sachsse Einsteins Vorgehen, werde damit als Axiom der Theorie vorangestellt. Einstein nehme gerade das Phänomen, das sich nicht als Konsequenz aus anderen Vorstellungen habe ableiten lassen, nun zur Voraussetzung und zum Angelpunkt der neuen Betrachtungsweise. Das führt zu einer grundlegenden Umorientierung des ganzen Gedankensystems.15 Auch im Zusammenhang mit diesem Postulat betont Einstein, daß er damit kein hypothetisches Konstruktionselement an den Anfang seiner Theorie 10

A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 29. Ders., Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 9. 12 Ders., Was ist Relativitätstheorie? 213. 13 C. Gerthsen/H. O. Kneser/H. Vogel, Physik, 643. 14 A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 29. Gewöhnlich wird heute die Lichtgeschwindigkeit mit c bezeichnet. 15 Vgl. H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 110. 11

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stelle, sondern ein „empirisches Gesetz“16. Wiederholt hebt Einstein hervor, daß die Relativitätstheorie nicht spekulativen Ursprungs sei, sondern ihre Entdeckung nur der Bestrebung verdanke, „die physikalische Theorie den beobachteten Tatsachen so gut als nur möglich anzupassen“17. Mit dem verallgemeinerten Relativitätsprinzip und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sind die beiden Prinzipien genannt, die nun einer weiteren Deduktion als Basis dienen können. Aus diesen Prinzipien folgen jetzt „mathematisch formulierte Kriterien [...], denen die einzelnen Vorgänge bzw. deren theoretische Bilder zu genügen haben“18. Dabei ergeben sich überraschende Folgerungen und ungeahnte Zusammenhänge, „welche über das Tatsachengebiet, an dem die Prinzipe gewonnen sind, weit hinausreichen“19. Im folgenden Abschnitt wird auf einige Konsequenzen, die Einstein selbst aus seinem neuen Ansatz zieht, hingewiesen.

II. Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie Für alle physikalischen Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie, die in diesem Abschnitt in knapper Form vorgestellt werden, gilt: w Sie ergeben sich durch relativ einfache mathematische Ableitungen aus den beiden Postulaten, die Einstein seiner Theorie zugrunde legt; w sie stehen im Widerspruch zu unserer alltäglichen Erfahrung, erscheinen dem „gesunden Menschenverstand“ geradezu als paradox und entziehen sich weitgehend anschaulicher Vorstellung; und w sie gestatten Voraussagen, die experimentell bestätigt werden können.

1. Relativität der Gleichzeitigkeit Der Gedanke, es gebe ein objektiv feststellbares „Jetzt“ unseres Universums, erscheint selbstverständlich. Das mit „das Universum jetzt“ bezeichnete Ereignis, das die Gleichzeitigkeit aller Vorgänge in unserem Universum behauptet, die sich „in diesem Augenblick“ ereignen, erweist sich physikalisch betrachtet jedoch als problematisch und eben nicht von objektiver Gültigkeit. Um sich an unterschiedlichen Orten über gleiche Zeiten zu verständigen, muß man sich mit Signalen behelfen. Als solche Signale kann 16

A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 239; vgl. ders., Was ist Relativitätstheorie? 210f. 17 Ders., Über Relativitätstheorie, 217. 18 Ders., Was ist Relativitätstheorie? 211. 19 Ders., Prinzipien der theoretischen Physik, 182.

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man elektromagnetische Wellen wie zum Beispiel Lichtsignale verwenden. Diese aber breiten sich – anders als Newton vorausgesetzt hatte – nicht instantan, sondern nur mit einer endlichen Geschwindigkeit aus. Für die sich daraus zusammen mit der bezugssystemunabhängigen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ergebenden Komplikationen gibt Einstein ein Beispiel, das hier in etwas abgewandelter Form vorgestellt wird.20 Ein Eisenbahnwagen (Bezugssystem K') bewege sich mit der konstanten Geschwindigkeit v gegenüber dem Bahndamm (Bezugssystem K). Genau in der Mitte des Eisenbahnwagens am Punkt x' wird ein Lichtblitz ausgesandt, der sich nach beiden Seiten des Zuges ausbreitet. Für einen Beobachter, der sich in x' befindet, erreichen die Lichtblitze das vordere und hintere Ende des Wagens gleichzeitig. Ein Beobachter auf dem Bahndamm registriert die Ereignisse anders. Bezogen auf seinen Standpunkt bewegt sich das hintere Ende des Zuges auf den Lichtblitz zu, wohingegen sich das vordere Ende des Zuges vom Lichtblitz wegbewegt. Für diesen Beobachter erreicht der Lichtblitz zuerst das hintere und erst etwas später das vordere Ende des Zuges. Ein im Bezugssystem K' (Eisenbahnwagen) gleichzeitiges Ereignis erweist sich somit im Bezugssystem K (Bahndamm) als ungleichzeitig. Dieses scheinbar paradoxe Ergebnis ist eine direkte Konsequenz aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: sowohl in K als auch in K' wird dieselbe Geschwindigkeit des Lichtblitzes gemessen.21 Da wegen des Relativitätsprinzips kein Bezugssystem vor dem anderen ausgezeichnet ist, kann weder der Beobachter in K noch derjenige in K' behaupten, er registriere den „richtigen“ zeitlichen Zusammenhang. Die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse kann damit nur im Hinblick auf ein bestimmtes Bezugssystem behauptet werden.

2. Zeitdilatation und Längenkontraktion Geschwindigkeit ist definiert als zurückgelegte Wegstrecke pro Zeiteinheit. Um die Lichtgeschwindigkeit zu messen, muß man demnach die Zeit messen, die das Licht für eine bestimmte Wegstrecke benötigt. In zwei relativ zueinander bewegten Bezugssystemen wird für den gleichen Lichtblitz derselbe Geschwindigkeitsbetrag gemessen. Dies ist aber nur denkbar, wenn in beiden Bezugssystemen unterschiedliche Maßstäbe für Weg und Zeit verwendet werden. Diese Maßstäbe müssen beim Wechsel des Bezugssystems gerade so verändert werden, daß sich in beiden Bezugssystemen jeweils der vorausgesetzte (aber experimentell bestätigte) konstante Betrag der Lichtgeschwindigkeit ergibt. Als die Umrechnungsgleichungen, die diese 20

Vgl. ders., Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 15f. Dieses Beispiel ist bereits vor dem Jahr 1905 diskutiert worden; vgl. H. Poincaré, Der Stand der theoretischen Physik, 196. 21 Entsprechend der klassischen Physik und der Galilei-Transformation müßte man dagegen im Bezugssystem K zur Lichtgeschwindigkeit in Fahrtrichtung des Zuges noch den Betrag der Zuggeschwindigkeit addieren.

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Anpassung der Raum- und Zeitkoordinaten vornehmen, ergeben sich nun gerade die schon vor Einstein bekannten Lorentzschen Transformationsgleichungen. Ursprünglich waren diese Gleichungen nur Ad-hoc-Lösungen, die sich in keinen größeren Zusammenhang sinnvoll einordnen ließen. Nun können sie elegant aus Einsteins Postulaten abgeleitet und physikalisch gedeutet werden. Aus den Transformationsgleichungen können nun weiterhin die verschiedenen bekannten Merkwürdigkeiten der speziellen Relativitätstheorie abgeleitet werden. Dazu zählt zunächst die Zeitdilatation oder Zeitdehnung: Ein Beobachter am Bahndamm stellt fest, daß aus seiner Perspektive im vorbeifahrenden Zug die Zeit langsamer vergeht („bewegte Uhren gehen langsamer“). Wegen der Gleichwertigkeit der Bezugssysteme muß sich diese Feststellung natürlich auch umkehren lassen. Für einen Beobachter im Zug geht die gegenüber seinem Bezugssystem bewegte Uhr am Bahndamm ebenfalls langsamer. Eine weitere Merkwürdigkeit ist die relativistische Längenkontraktion: An einem gegenüber dem Bezugssystem K bewegten Körper werden Strecken, die in Bewegungsrichtung liegen, kürzer gemessen als im Bezugssystem K', das sich mit dem Körper mitbewegt.

3. Raum-Zeit-Kontinuum und beschränkter Kausalzusammenhang Die Relativität der Gleichzeitigkeit zeigte bereits, daß die Relativitätstheorie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Raum und Zeit aufweist: Eine räumliche Bewegung beeinflußt den zeitlichen Zusammenhang zweier Ereignisse. Raum und Zeit sind nicht, wie die klassische Physik annahm, absolut voneinander getrennt, sondern bilden ein „Raum-Zeit-Kontinuum“. Dem Mathematiker Hermann Minkowski, einem früheren Lehrer Einsteins, gelingt es bald nach Veröffentlichung der speziellen Relativitätstheorie, diese Theorie als Geometrie im vierdimensionalen Raum mit drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension zu formulieren. „Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte“, erklärt Minkowski dazu in einem Vortrag im Jahr 1908, „sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“22 Einstein selbst schreibt dazu: „Mit der Erkenntnis der Relativität der Gleichzeitigkeit wurden Raum und Zeit in ähnlicher Weise zu einem einheitlichen Kontinuum verschmolzen, wie vorher [in der klassischen Physik] die drei räumlichen Dimensionen zu einem einheitlichen Kontinuum verschmolzen worden waren. Der physikalische Raum wurde so zu einem vierdimensionalen Raum ergänzt, der auch die zeitliche Dimension enthält.“23 22 23

H. Minkowski, Raum und Zeit, 54. A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 237f.

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Zwar läßt sich eine vierdimensionale Raum-Zeit nicht vorstellen, aber unter Verzicht auf zwei Raumdimensionen lassen sich immerhin anschauliche Raum-Zeit-Diagramme zeichnen. Im folgenden werden zwei Diagramme verwendet, bei denen die Zeit nach oben hin zunimmt und räumliche Entfernungen waagerecht abgebildet werden. Ein Punkt in diesem Diagramm ist ein Ereignis, das sich in einem hinreichend kleinen Raum- und Zeitbereich abspielt. In Abbildung 1 ist zum Beispiel der Punkt A das Ereignis „Die Erde jetzt“, der Punkt B das Ereignis „Die Sonne vor acht Minuten“ und der Punkt D das Ereignis „Die Erde in acht Zeit "Erde in 8 Minuten" Minuten“.24 Ein Körper, der im Abbildung 1 D gewählten Bezugssystem ruht, wird im Diagramm als zur Zeitachse parallele Gerade dargestellt. Die geradli"Sonne jetzt" "Erde jetzt" nig-gleichförmige Bewegung eines C A Entfernung Körpers wird durch eine gegen die Zeitachse geneigte Gerade abgebildet. Je flacher die Gerade verläuft, desto B schneller ist die Bewegung. Die "Sonne vor 8 Minuten" Lichtgeschwindigkeit (im Vakuum) bedeutet in der Relativitätstheorie aber eine nicht überschreitbare Grenzgeschwindigkeit für alle Körper.25 Das Licht benötigt ungefähr acht Minuten, um die Strecke von der Sonne zur Erde zurückzulegen. Vom Ereignis C „Die Sonne jetzt“ kann darum der Beobachter in A „Die Erde jetzt“ nichts wissen. Erst im Punkt D „Die Erde in acht Minuten“ kann er dieses Ereignis sehen, weil erst dann die entsprechenden Lichtstrahlen bei ihm eintreffen. Damit kann das Ereignis C auch keine Wirkung auf das Ereignis A ausüben. Die damit gegebene Einschränkung des kausalen Zusammenhanges der physikalischen Welt soll an einem Abbildung 2 Zeit weiteren, auf Minkowski zurückgehenden Diagramm ZUKUNFT veranschaulicht werden (vgl. Abbildung 2 ). ZWISCHENZWISCHENAlle Ereignisse (Punkte) im A GEBIET G E B I E T Entfernung unteren Teil des sogenannten stellen die Lichtkegels26 Vergangenheit in Bezug auf B VERGANGENHEIT A dar. Diese Ereignisse können auf das Ereignis A B

B

24

Von den Relativbewegungen der Erde gegenüber der Sonne wird hier abgesehen. Theoretisch läßt die Relativitätstheorie auch Teilchen zu, die sich schneller als Licht, aber niemals langsamer bewegen können („Tachyonen“). Der Wert für die Ruhemasse eines derartigen Teilchens wäre aber eine imaginäre Zahl (d. h. die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl). 26 Durch Hinzunahme einer weiteren Raumdimension ergeben sich für die Bereiche von Zukunft und Vergangenheit in unserem Diagramm Kegel. 25

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wirken, das heißt, sie können Ursache von A sein. Alle Ereignisse, die sich innerhalb des oberen Lichtkegels befinden, liegen bezüglich A in der Zukunft. Auf diese Ereignisse kann A wirken. Das gesamte Gebiet außerhalb der beiden Lichtkegel nennt Minkowski „Zwischengebiet“. Mit den Ereignissen dieses Gebietes gibt es in Bezug auf A keine Möglichkeit eines kausalen Zusammenhanges. Ereignis B kann nicht auf A wirken, weil sich Wirkungen höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Eine physikalische Fernwirkung mit Überlichtgeschwindigkeit läßt sich mit der Relativitätstheorie nicht vereinbaren. Die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen, die im Zwischengebiet liegen, kann in Bezug auf A durch die Wahl eines anderen Bezugssystems verändert werden. Da die zeitliche Reihenfolge zweier Ereignisse, von denen das eine die Ursache des anderen sein soll, feststehen muß, kann auch aus diesem Grund zu den Ereignissen im Zwischengebiet kein kausaler Zusammenhang bestehen.27

4. Veränderlichkeit der Masse Im Bereich der klassischen Physik gilt der Satz von der Erhaltung der Masse: In einem abgeschlossenen System kann Masse weder erzeugt noch vernichtet werden, das heißt, die Gesamtmasse ist konstant. Schon vor der Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie tauchen allerdings im Zusammenhang mit Versuchen an schnell bewegten Elektronen Zweifel an diesem Satz auf. Henry Poincaré stellt im Jahr 1904 fest, daß das Prinzip über die Erhaltung der Masse nicht angegriffen werden könne, ohne damit gleichzeitig die gesamte klassische Mechanik umzustoßen. „Jetzt aber denken manche Menschen“, so Poincaré weiter, daß dieses Prinzip „nur deshalb richtig erscheint, weil man in der Mechanik bloß mäßige Geschwindigkeiten verwendet, daß es aber für Körper mit Geschwindigkeiten, die mit der des Lichts vergleichbar sind, nicht mehr gelten würde.“28 Aus der speziellen Relativitätstheorie ergibt sich nun zwangsläufig die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse. Man hat die „Ruhemasse“ eines Körpers zu unterscheiden von der bewegten oder „relativistischen Masse“, die gegen unendlich geht, wenn sich die Geschwindigkeit des Körpers der Lichtgeschwindigkeit annähert. Einstein bezeichnet es darüber hinaus als die bedeutendste Folgerung aus der speziellen Relativitätstheorie, daß der Satz von der Erhaltung der Masse im umfassenderen Energieerhaltungssatz aufgeht: „Das wichtigste Ergebnis der speziellen Relativitätstheorie betraf die träge Masse körperlicher Systeme. Es ergab sich, daß die Trägheit eines Systems von seinem Energieinhalt abhängen müsse, und man gelangte geradezu zur Auffassung, daß träge Masse nichts anderes sei als latente Energie. Der Satz von der Erhaltung der Masse verlor seine Selbständigkeit und verschmolz mit dem von der Erhaltung der Energie.“29 27 28 29

Vgl. dazu P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 28–31. H. Poincaré, Der Stand der theoretischen Physik, 198. A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 213f.

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Die Relativitätstheorie lehrt demnach, daß Masse nur eine der vielen Formen ist, in denen uns Energie in der Physik begegnet. In einem abgeschlossenen System muß zwar die Gesamtenergie konstant bleiben, nicht aber die Gesamtmasse. Bedeutsam wird diese Tatsache später insbesondere im Zusammenhang mit Kernprozessen. Wird ein Atomkern gespalten, dann ist die Gesamtmasse der Spaltprodukte etwas kleiner als die ursprüngliche Masse. Dieser „Massendefekt“ ist nicht verloren, sondern bleibt in Form von Energie, die bei der Spaltung frei wird, erhalten. Die Energie E, die beim Massendefekt m frei wird, läßt sich mit der aus der speziellen Relativitätstheorie abgeleiteten Formel E=mc² leicht berechnen. Wegen des hohen Betrags der Lichtgeschwindigkeit c ist diese Energie sehr groß. Freilich äußert auch Einstein noch zwanzig Jahre nach Veröffentlichung der speziellen Relativitätstheorie die Meinung, daß der Gleichung E=mc² keine praktische Verwendung im Hinblick auf eine mögliche Energieausbeutung zukomme. Erst als im Jahr 1938 die Kernspaltung realisiert und dabei ein Massendefekt festgestellt wird, ist mit Hilfe von Einsteins Formel sofort klar, welche ungeheuren Energien auf diese Weise freigesetzt werden können.

III. Die allgemeine Relativitätstheorie Isaac Newton entwickelte in seinen „Philosophiae naturalis principia mathematica“ das universelle Gravitationsgesetz, das die allgemeine Massenanziehung beschreibt. Demnach wirkt zwischen zwei Massen eine Anziehungskraft, die dem Produkt der beiden Massen proportional und dem Quadrat ihrer Entfernung umgekehrt proportional ist. Mit Hilfe dieses Gesetzes konnte Newton den Aufbau unseres Planetensystem in fast allen Einzelheiten erklären.30 Allerdings nahm er an, daß die Anziehungskräfte zwischen den Himmelskörpern den Raum ohne jede Zeitverzögerung überbrücken.31 Solche unmittelbaren Fernwirkungen stehen jedoch grundsätzlich im Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie, gemäß der sich Wirkungen maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Schon aus diesem Grund muß nunmehr eine neue Theorie der Gravitation notwendig erscheinen. Doch auch noch in anderer Hinsicht weist für Einstein „die spezielle Relativitätstheorie [...] über sich selbst hinaus“32. Das seiner Theorie vorangestellte Relativitätsprinzip beschränkt sich auf Bezugssysteme, die sich geradlinig und gleichförmig zueinander bewegen. Bezugssysteme sind aber nur von Menschen geschaffene Hilfsmittel, um Naturvorgänge beschreiben zu 30

Vgl. I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 178–224; vgl. ders., Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 379–576. 31 Um derartige Fernwirkungen verständlich zu machen, nahm Newton die Metaphysik zu Hilfe und ließ sogar die Mitwirkung Gottes zu, der gleichzeitig auf alle Dinge einwirken sollte; vgl. R. Locqueneux, Kurze Geschichte der Physik, 65f. 32 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 214.

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können. Darum ist es für Einstein nicht nachvollziehbar, daß die Naturgesetze von unserer Wahl des Bezugssystems abhängen sollen: „Sollte die Unabhängigkeit der physikalischen Gesetze vom Bewegungszustand des Koordinatensystmes auf gleichförmige Translationsbewegungen der Koordinatensysteme zueinander beschränkt sein? Was hat die Natur mit den von uns eingeführten Koordinatensystemen und deren Bewegungszustand zu tun? Wenn es schon für die Naturbeschreibung nötig ist, sich eines von uns willkürlich eingeführten Koordinatensystems zu bedienen, so sollte die Wahl von dessen Bewegungszustand keiner Beschränkung unterworfen sein; die Gesetze sollten von dieser Wahl ganz unabhängig sein [...].“ 33

Die Verallgemeinerung der Relativitätstheorie, die nun auch beschleunigte Bezugssysteme berücksichtigte, stellte Einstein vor ungleich größere mathematische Probleme und konnte von ihm erst im Jahr 1916 vollendet werden. „Im Lichte bereits erlangter Erkenntnis erscheint das glücklich Erreichte fast wie selbstverständlich“, schreibt Einstein im Rückblick. „Aber das ahnungsvolle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehnsucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung, und seinem endlichen Durchbrechen zur Wahrheit, das kennt nur, wer es selber erlebt hat.“ 34 Ausgangspunkt für Einsteins Überlegungen ist die auch schon Galilei und Newton bekannte Äquivalenz von träger und schwerer Masse. Mit „Trägheit“ und „Schwere“ werden zwei verschiedene Eigenschaften eines Körpers bezeichnet: Um einen Körper zu beschleunigen, muß man das „Beharrungsvermögen“ oder die „Trägheit“ dieses Körpers durch eine beschleunigende Kraft überwinden. Diese Trägheit ist eine Eigenschaft aller Körper und ihre Größe kann durch die quantitativ meßbare träge Masse angegeben werden. Die träge Masse eines Körpers „wehrt sich“ gegen jede Geschwindigkeitsänderung nach Größe und Richtung und versucht sich gleichförmig geradlinig fortzubewegen. Weil die träge Masse eines Körpers darum geradlinige von krummen Bahnen, gleiche von ungleichen Strecken und Zeiten „unterscheiden“ kann, wird sie als sein „Organ für die Maßstruktur der Welt“35 oder auch als „Fühlorgan des Körpers für das metrische Feld in Raum und Zeit“36 bezeichnet. Mit schwerer Masse oder Schwere wird die Eigenschaft eines Körpers benannt, in einem Gravitationsfeld angezogen zu werden. Die schwere Masse ist der Ausgangs- und Angriffspunkt der Massenanziehung an einem Körper gemäß dem erwähnten newtonschen Gravitationsgesetz. Sie wird darum auch ein „Organ für Gravitationswirkungen“37 genannt. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß träge und schwere Masse äquivalent sind.38 Denn zunächst bezeichnen diese beiden Begriffe völlig verschiedene 33 34 35 36 37 38

Ebd. Ders., Einiges über die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie, 228f. E. Fues, Art. Relativitätstheorie, 305. Ders., Art. Masse, 81. Ders., Art. Relativitätstheorie, 305. Genau genommen sind träge und schwere Masse zueinander proportional, da der Propor-

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Eigenschaften eines Körpers. Es wäre immerhin denkbar, daß zwei Körper mit gleicher träger Masse, aber zum Beispiel unterschiedlicher äußerer Form am gleichen Ort eine unterschiedliche Gravitationswirkung erfahren. Der einfachste experimentelle Nachweis der Identität von Trägheit und Schwere liegt in der Beobachtung, daß am gleichen Ort alle Körper (im Vakuum) gleich schnell fallen. Obwohl diese Identität längst bekannt war, wurde ihr lange Zeit keine größere Bedeutung beigelegt: „Viele haben sich wohl über die Tatsache gewundert, niemand aber suchte dahinter einen tieferen Zusammenhang. Es gibt doch vielerlei Kräfte, die an einer Masse angreifen können; warum sollte es nicht eine geben, die der Masse genau proportional ist? Eine Frage, auf die keine Antwort erwartet wird, wird auch nicht beantwortet. Und so blieb die Sache unberührt, jahrhundertelang. Das war nur dadurch möglich, daß die Erfolge der Galilei-Newtonschen Mechanik überwältigend waren.“39

Erst Einstein erkennt die fundamentale Bedeutung der Äquivalenz von schwerer und träger Masse und nimmt sie zum Ausgangspunkt seiner allgemeinen Relativitätstheorie: „Dieser Satz, der auch als der Satz von der Gleichheit der trägen und schweren Masse formuliert werden kann, leuchtete mir nun in seiner tiefen Bedeutung ein. Ich wunderte mich im höchsten Grade über sein Bestehen und vermutete, daß in ihm der Schlüssel für ein tieferes Verständnis der Trägheit und Gravitation liegen müsse. An seiner strengen Gültigkeit habe ich [...] nicht ernsthaft gezweifelt.“40

Um den wesentlichen Inhalt des Äquivalenzprinzips zu verdeutlichen, wird es von Einstein zunächst umformuliert: „In einem homogenen Gravitationsfeld gehen alle Bewegungen so vor sich wie bei Abwesenheit eines Gravitationsfeldes in bezug auf ein gleichförmig beschleunigtes Koordinatensystem.“41 Dies kann veranschaulicht werden, indem man sich einen von der Außenwelt abgeschlossenen Kasten vorstellt.42 Stellt ein Beobachter in diesem Kasten nun eine Beschleunigung fest, so kann er diese theoretisch auf zwei unterschiedliche Arten deuten. Nach der ersten Betrachtungsweise ist der Kasten so weit von allen anderen Himmelskörpern und ihren Gravitationsfeldern entfernt, daß deren Massenanziehung vernachlässigt werden kann. In diesem Fall deutet der Beobachter die in seinem Kasten wirkenden Kräfte als Trägheitskräfte, die durch eine äußere Beschleunigung hervorgerufen werden. Die Masse der Körper erscheint hier als träge Masse. Entsprechend der zweiten Betrachtungsweise befindet sich der Kasten in einem homogenen Gravitationsfeld, wie es zum Beispiel auf der Erdoberfläche näherungsweise realisiert ist: Nun interpretiert der Beobachter im Kasten die auftretenden Kräfte als Schwerkräfte in einem Gravitationsfeld. Die Massen der Körper erscheinen damit als schwere Massen. Beide Betrachtungsweisen sind

tionalitätsfaktor aber nur in diesem Zusammenhang auftritt, setzt man ihn gleich 1. M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 38. 40 A. Einstein, Über die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie, 224. 41 A.a.O., 225. 42 Vgl. ders., Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 40–42. 39

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angemessen und einander äquivalent. Der Beobachter im Kasten kann nicht entscheiden, welches die „richtige“ Betrachtungsweise ist. Einstein deutet den aufgezeigten Befund dahingehend, daß das „Organ für die Struktur der Welt“ (träge Masse) und das „Organ für Gravitationsfelder“ (schwere Masse) physikalisch dasselbe sind. Er schließt darüber hinaus, daß darin auch eine Wesensgleichheit von Gravitation und Beschleunigung zum Ausdruck kommt, daß mithin die Struktur der Welt durch Gravitationsfelder bestimmt werde. Diese Wesensgleichheit beinhaltet aber auch, daß die tatsächliche Inhomogenität eines Gravitationsfeldes zwangsläufig auf die Maßstruktur der Welt übergeht.43 Weil die Massen ungleichmäßig im Kosmos verteilt sind, ist auch die metrische Struktur des Kosmos nicht mehr gleichmäßig. Man sagt, daß die Massenverteilung eine Verzerrung oder Krümmung des Raumes (genauer der Raum-Zeit) bewirkt. In einem derart strukturierten Raum gelten die aus der Schulgeometrie geläufigen Sätze zum Beispiel des Pythagoras, des Euklid oder des Thales nicht mehr. Vor der allgemeinen Relativitätstheorie gingen die Physiker fast ausnahmslos davon aus, daß der anschaulichen euklidischen Geometrie die Struktur der uns umgebenden Welt exakt entspricht. Obwohl die einzelnen geometrischen Sätze nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern aus einem Axiomensystem abgeleitet werden, war man sicher, daß sie die physikalisch erfahrbaren räumlichen Verhältnisse unserer Welt wiedergeben. Im Lauf des 19. Jahrhunderts setzt sich unter Mathematikern jedoch mehr und mehr die Einsicht durch, daß es auch nichteuklidische Geometrien gibt, die in sich widerspruchsfrei und darum mathematisch genauso berechtigt sind wie die euklidische Geometrie.44 Damit stellt sich die physikalische Frage, welche Geometrie die Struktur der uns umgebenden Welt am geeignetsten beschreibt. So versuchte schon der Mathematiker und Physiker Karl Friedrich Gauß (1777–1855) am Beispiel der Winkelsumme im Dreieck, die gemäß der euklidischen Geometrie zwei rechten Winkeln entspricht, zu überprüfen, ob dies den tatsächlichen irdischen Verhältnissen entspricht. Dazu konstruierte er aus Lichtstrahlen ein Dreieck zwischen dem Inselberg, dem Brocken und dem Hohen Hagen. Obwohl dieser Versuch die euklidische Geometrie zu bestätigen schien, wird deutlich, daß diese Bestätigung im 19. Jahrhundert nicht mehr als selbstverständlich betrachtet wurde. Gauß schien immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sich etwas, was im kleinen Maßstab exakt richtig zu sein scheint, im größeren als ungenau erweisen könnte. Die allgemeine Relativitätstheorie legt nun zugrunde, daß die räumliche Struktur des Kosmos im allgemeinen nichteuklidisch ist. Die newtonsche Gravitationstheorie und die euklidische Geometrie stellen jedoch so gute 43

Vgl. dazu E. Fues, Art. Relativitätstheorie, 305. Vgl. dazu S. Gottwald, Grundlagen der Geometrie und nichteuklidische Geometrie, 768f. Jedenfalls läßt sich mathematisch keine Präponderanz der euklidischen Geometrie gegenüber nichteuklidischen Geometrien nachweisen, wie dies insbesondere von einigen neuscholastischen Autoren versucht wurde, vgl. dazu H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 38.

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Näherungen dar, daß die raumzeitliche „Krümmung“ unserer Welt bei irdischen Vorgängen in der Regel nicht in Erscheinung tritt. Die gedankliche mathematische Nachkonstruktion der physikalischen Welt, die Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie durchführt, verzichtet mit der Aufgabe der euklidischen Geometrie zugleich auch auf Anschaulichkeit. Ein vierdimensionaler nichteuklidischer Raum läßt sich nicht mehr vorstellen, man kann sich allenfalls mit Analogien behelfen: Nach Euklid ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade. Eine Kugeloberfläche (näherungsweise zum Beispiel die Erdoberfläche) stellt einen zweidimensionalen gekrümmten Raum dar. In diesem Raum ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten – aus der Perspektive des dreidimensionalen Raumes – nicht mehr gerade, sondern gekrümmt. Analog verfolgen nach der allgemeinen Relativitätstheorie die Körper in einem nichteuklidischen Raum die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten – und und bewegen sich dabei auf gekrümmten Bahnen, wenn man den Vorgang im euklidischen Raum beschreibt. Die veränderte Sichtweise kann am Beispiel der Bewegung der Erde in Bezug auf die Sonne verdeutlicht werden: Aus der Sichtweise der newtonschen Gravitationslehre würde sich die Erde fern von anderen Massen geradlinig und gleichförmig bewegen. In unserem Sonnensystem wird die Erde aber von der Schwerkraft der Sonne gezwungen, von dieser geradlinigen Bewegung abzuweichen und sich in elliptischen Bahnen um die Sonne zu bewegen. Aus der Sichtweise der allgemeinen Relativitätstheorie treten keine Schwerkräfte auf. Die Masse der Sonne bewirkt aber in ihrer Umgebung eine „Verzerrung“45 der Raumzeit. Während sich die Erde aus Perspektive des dreidimensionalem euklidischen Raumes auf einer Ellipse um die Sonne zu bewegen scheint, folgt die Erde in der „verzerrten“ Raumzeit in freier Bewegung einer Geraden. Gravitation wird damit als ein geometrischer Effekt behandelt. Die beiden hier skizzierten Sichtweisen erweisen sich freilich in dieser Form nicht als gleichberechtigt. Obwohl die newtonsche Gravitationslehre für irdische Verhältnisse sehr gute Näherungen liefert, treten bei astronomischen Abmessungen Effekte auf, die sich nur noch aus der allgemeinen Relativitätstheorie ableiten lassen. Das bekannteste und schon im Jahr 1919 experimentell untersuchte Beispiel dafür ist die „Ablenkung“ von Lichtstrahlen, die die Sonne passieren.46 Wollte man unsere Welt weiterhin exakt mit Hilfe der euklidischen Geometrie beschreiben, müßte man feststellen, daß die Lichtstrahlen nicht mehr die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten wählen, sondern einen Umweg, für den man eine zusätzliche Erklärung geben müßte. In den klassischen Gesetzen der Optik und Mechanik müßten komplizierte Korrekturfaktoren ein-

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„Verzerrung“ ist aus Sicht des vertrauten euklidischen Raumes gesprochen; angemssener wäre es hier von einer „Umstrukturierung“ oder „Umgestaltung“ der Raumzeit zu sprechen. 46 Vgl. A. Einstein, Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 45f.

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geführt werden. Man könnte sich durchaus für diese Art der Naturbeschreibung entscheiden, sofern man eben bereit ist, bizarre physikalische Gesetze dafür in Kauf zu nehmen.47 Entscheidet man sich hingegen wie die moderne Physik im Anschluß an Einstein für eine nichteuklidische Beschreibung unserer Welt, so erhält man vergleichsweise sehr einfache physikalische Gesetze. Die Ausbreitung des Lichts im genannten Beispiel folgt dann einer Geraden in der durch die Sonnenmasse strukturierten Raum-Zeit.48

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Die Feststellung von J. Wickert, Albert Einstein, 75, daß die neuen Einsichten für die Physik bedeuten, „daß die alte Geometrie Euklids aufgegeben werden muß“, ist nicht korrekt. Sie muß nicht aufgegeben werden, sondern es erweist sich in der Physik als zweckmäßig, an ihrer Stelle eine nichteuklidische Geometrie zu verwenden. 48 Nach 1916 wird die allgemeine Relativitätstheorie auch auf die Frage nach Gestalt und Geschichte unseres Universums angewandt. Einstein selbst vertritt dabei die Vorstellung eines statischen und räumlich geschlossenen Universums, vgl. A. Einstein, Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie, 142–152; ders., Geometrie und Erfahrung, 206–209; ders., Über Relativitätstheorie, 221.

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Drittes Kapitel: Deutungen der Relativitätstheorie

Für viele Physiker ist schon bald nach der Veröffentlichung der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie klar, daß diese Theorien Auswirkungen über die Grenzen der Physik und der Naturwissenschaften hinaus haben werden. Nach dem Urteil von Max Planck übertrifft die mit Einsteins Relativitätstheorie verbundene neue Auffassung des Zeitbegriffs „wohl alles, was bisher in der spekulativen Naturforschung, ja in der philosophischen Erkenntnistheorie geleistet wurde“1. In kurzer Zeit entstehen zahlreiche Schriften von Physikern, vor allem aber auch von Philosophen über die philosophische Bedeutung der neuen Theorie. Darüber hinaus gibt es bald populäre und allgemeinverständliche Darstellungen, die freilich häufig die physikalischen Sachverhalte nicht nur verkürzt, sondern auch verzerrt wiedergeben. Arnold Sommerfeld spricht in diesem Zusammenhang von einem für Einstein nur schwer erträglichen „Relativitätsrummel“2. Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche Deutungen der Relativitätstheorie vorgestellt. Dazu müssen aber zuerst einige geläufige Mißverständnisse und der ideologische, zum Teil antisemitisch motivierte Mißbrauch der Relativitätstheorie zurückgewiesen werden (I.). Im Anschluß daran wird aufgezeigt, welchen Ort verschiedene Physiker Einsteins Theorien im Rahmen der Physik zuweisen (II.) und wie bereits die Benennung von Einsteins Postulaten in der speziellen Relativitätstheorie eine folgenreiche Interpretation beinhaltet, zu der es Alternativen gibt (III.). Dann werden einige Fragen thematisiert, die sich aus der Verhältnisbestimmung von Relativitätstheorie und Kants Transzendentalphilosophie ergeben (IV.), und zum Abschluß des Kapitels werden Deutung und Bedeutung, die der Relativitätstheorie im Rahmen des Logischen Positivismus zukommen, herausgestellt (V.). Die knappe Auseinandersetzung mit Transzendentalphilosophie und Logischem Positivismus ist im Zusammenhang mit unserer Thematik aufschlußreich, da auf diesem Weg deutlich wird, auf welcher Ebene die Diskussion um die Interpretation der Relativitätstheorie sinnvoll geführt werden kann; gerade vor diesem Hintergrund werden sich dann im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit verschiedene theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie als unangemessen oder sogar als indiskutabel erweisen. Die Diskussion der Relativitätstheorie im „Wiener Kreis“ und in der Berliner „Gesellschaft für Empirische Philosophie“ könnten dabei der gegenwärtigen Theologie zugleich als lehrreiches Beispiel für eine zwar angreifbare, aber 1 2

Zit. in: C. Seelig, Albert Einstein. Eine dokumentarische Biographie, 163. A. Sommerfeld, Albert Einstein, 39.

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nichtsdestoweniger niveauvolle Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen dienen. Überdies legt sich im gegebenen Zusammenhang auch noch aus einem weiteren Grund der Hinweis auf die Deutungen der Relativitätstheorie durch Vertreter des Logischen Positivismus nahe: Da sich diese durch eine akzentuiert antimetaphysische Haltung auszeichnen und sie gerade die Relativitätstheorie als Beleg für ihre Metaphysikkritik heranziehen, kann die positive Aufnahme, die die Relativitätstheorie bei ihnen findet, die massiven Vorbehalte neuscholastischer Theologen gegen die Richtigkeit der Relativitätstheorie erklären – aber nicht begründen.3

I. Relativitätstheorie und Ideologie Nachdem Einstein im Jahr 1921 der Nobelpreis für Physik zugesprochen wird und die Relativitätstheorie zunehmend auch in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt,4 ist es ein verbreitetes Mißverständnis, von der Relativitätstheorie unversehens auf eine „Philosophie der Relativität“ zu schließen. Hans Reichenbach, Philosoph und Physiker, weist das Ansinnen derartiger Interpretationsversuche entschieden zurück: „Philosophen, die es für der Weisheit letzten Schluß halten, daß alles relativ ist, sind im Irrtum, wenn sie glauben, daß Einsteins Theorie den Beweis für eine solche weittragende Verallgemeinerung liefert. Und ihr Irrtum wird noch krasser, wenn sie eine derartige Relativität auf das Gebiet der Ethik übertragen und behaupten, Einsteins Theorie führe zum Relativismus der menschlichen Rechte und Pflichten. Die Relativitätstheorie gilt nur auf dem Gebiet der Erkenntnis.“5

Ähnlich beklagt der physikalisch geschulte Philosoph Paul Volkmann im Jahr 1924, daß wegen der unvermeidlichen Vieldeutigkeit in den Worten der Nichtphysiker leicht einen anderen Sinn in die Worte lege, als der Relativitätstheoretiker mit ihnen verbinde: „So besagt auch der Ausdruck ‚Relativitätstheorie‘ keineswegs, daß nunmehr alles Absolute zu relativieren ist, wenn auch manches, was bisher für absolut gehalten wurde, mehr oder weniger relativiert werden muß.“6

Es wird freilich darauf zurückzukommen sein, daß gerade dieses Mißverständnis eine Reihe von Theologen auf den Plan ruft und dazu veranlaßt, entweder den Glauben an das „Absolutum Gott“ einer vermeintlich alles 3

Vgl. 4. Kap. II. Die Schwedische Akademie begründet die Nobelpreisverleihung an Einstein allerdings vor allem mit dessen Verdiensten für die Entdeckung der Gesetze des lichtelektrischen Effekts – die Relativitätstheorie wird in der Begründung nicht einmal erwähnt. 5 H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 142. 6 P. Volkmann, Rez. von G. Alliata, 103. 4

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relativierenden Physik entgegenzusetzen7 oder überhaupt die Richtigkeit der Relativitätstheorie in Frage zu stellen. 8 Bald stellt sich allerdings heraus, daß die Absicht vieler „Interpretationen“ weniger in einer redlichen Bemühung um ein Verständnis der Relativitätstheorie zu suchen ist als vielmehr in dem Versuch, diese physikalische Theorie und ineins damit ihren Urheber in Mißkredit zu bringen. Vielen, die sich etwa ab dem Jahr 1920 in der deutschen Öffentlichkeit als erklärte Gegner der Relativitätstheorie hervortun, geht es bestenfalls vordergründig um eine philosophische oder naturwissenschaftliche Diskussion. Immer unverhüllter offenbart sich statt dessen in ihrer Argumentation das Gesicht des nationalsozialistischen Antisemitismus. Die Kampagne gegen Einstein und die Relativitätstheorie, zu deren Wortführern sich die Physiknobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark aufschwingen, erreicht in Deutschland ihren traurigen Höhepunkt nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der absurden Unterscheidung zwischen einer „jüdischen“ und einer „arischen“ Physik .9 Der Physiker Bruno Thüring äußert im Jahr 1937 in der Universität München im Rahmen einer Vortragsreihe „Das Judentum in der Wissenschaft“: „[Die Relativitätstheorie] stellt nichts weiter als eine spezifische, wir müssen sagen jüdische, Art dar, sich mit den Erscheinungen der Natur rein formal auseinanderzusetzen. Ihre wirklichen ‚Leistungen‘ sind die Zerstörung der Begriffe des Raumes, der Zeit, der Kraft, der Welt, des Äthers, der Unendlichkeit und der Kausalität und der Aufbau eines Zerrbildes aus ihren Trümmern. Ihr Ziel ist nicht nur nicht Naturforschung durch Pflege des menschlichen Naturerlebnisses und Förderung unvoreingenommenen Naturstudiums, sondern Zerstörung der Grundlagen arischer Forschung durch Verdogmatisierung, in deren konsequenter Verfolgung die ganze Welt in einer Rechenformel erstarrt [...]. Wir sind deshalb berechtigt und im Interesse der Wahrheit gezwungen, von einer jüdischen Physik zu sprechen, die zu der Physik des Ariers in vollständigem und das innere Wesen treffenden Gegensatz steht [...]. Wer heute noch jüdischer Physik in Gestalt der Relativitätstheorie das Wort redet, und sie als die große im 20. Jahrhundert gewonnene neue Grundlage der künftigen Naturforschung preist, der pflanzt [...] jüdischen Geist in deutsche Seelen und macht sie unfruchtbar für wirkliche Naturforschung.“ 10

Dieses peinliche Dokument ist nur ein Beispiel für viele andere.11 Offensichtlich geht es hier nicht mehr um Physik oder Philosophie, sondern um die 7

So K. Heim, vgl. 4. Kap. III. 3. So neuscholastische Theologen, vgl. 4. Kap. II. 4. 9 Vgl. dazu H. Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Deutsche und jüdische Physik, 7–13, 71–83. – P. Lenard und J. Stark engagieren sich in einem Aufruf schon im Jahr 1924 für Hitler und erklären gemeinsam, daß sie in Hitler und seinen Genossen „eben denselben Geist [erkennen], den wir bei unserer Arbeit, damit sie tiefgehend und erfolgreich sei, selbst stets gesucht, erstrebt, aus uns hervorgeholt haben [...]“ (zit. in: A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich, 136). 10 B. Thüring, Physik und Astronomie in jüdischen Händen, 68f, 70. 11 Des weiteren wird die Relativitätstheorie von Thüring, a.a.O., 60, als „trügerisches Scheingebilde“ und von Lenard als „Judenbetrug“ bezeichnet (zit. in: A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich, 133). Der Physiker L. Glaser schreibt im Jahr 1939 in der Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft mit Bezug auf die vertriebenen 8

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„physikalische“ Variante des antisemitischen Rassismus. Das Ende der Unschuld kommt für viele Physiker im nationalsozialistischen Deutschland nicht erst mit ihrer Bereitschaft, sich für eine Mitarbeit im damaligen deutschen Kernforschungsprojekt zur Verfügung zu stellen.12 Im Deutschland setzt sich allerdings allmählich die Einsicht durch, daß sich physikalische Erkenntnisse nicht um ideologische Prämissen kümmern und daß es möglicherweise sogar kriegsentscheidend sein könnte, sich der modernen Physik zu bedienen. Ungefähr ab dem Jahr 1940 kann an deutschen Universitäten die Relativitätstheorie wieder weitgehend ungehindert gelehrt werden, wenngleich der Name Einsteins und anderer jüdischer Physiker peinlichst vermieden wird. Der Führer der SS, Heinrich Himmler, gibt Werner Heisenberg im Jahr 1938 in einem Brief den wohlmeinenden Rat, vor seinen Studenten „die Anerkennung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse von der menschlichen und politischen Haltung“13 des Forschers klar zu trennen. Heisenberg verzichtet wie die meisten seiner Kollegen fortan auf die Nennung Albert Einsteins, wenn er öffentlich von der Relativitätstheorie spricht oder über sie schreibt.14 jüdischen Physiker und die „jüdische Physik“: „Wir danken unserem Führer Adolf Hitler, daß er uns von der Plage der Juden befreit hat. [...] Der Jude hat in Deutschland auf deutschen Lehrstühlen und in der Wissenschaft seine Tätigkeit beendet, nun gilt es aber, seine Spuren zu beseitigen [...]. Der Kampf geht weiter um eine unbeschwerte Jugend“ (L. Glaser, Juden in der Physik: Jüdische Physik, 275); vgl. auch H. Israel, E. Ruckhaber und R. Weinmann, 100 Autoren gegen Einstein, Leipzig 1931. 12 Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 und die ihm nachfolgenden Maßnahmen vertreiben die jüdischen Physiker fast vollständig aus den Universitäten und Forschungsinstituten. Insgesamt ein Viertel der akademischen Physiker verliert seinen Arbeitsplatz, darunter nicht weniger als elf Nobelpreisträger für Physik. Nach der „Reichspogromnacht“ 1938 fordert schließlich die „Deutsche Physikalische Gesellschaft“ die „reichsdeutschen Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze“ ausdrücklich zum Austritt auf – die letzten sechs betroffenen Mitglieder müssen daraufhin ausscheiden. Die Vertreibung der jüdischen Physiker hat bei ihren Kollegen bestenfalls ein zaghaftes und letztlich auch folgenloses Protestieren zur Folge. Insgesamt scheint man sich erstaunlich schnell mit dem erzwungenen Exodus jüdischer Gelehrter abzufinden. Als die verbliebenen Physiker aber mit dem Hirngespinst einer arischen Parteiphysik konfrontiert werden, reagieren sie ungleich empfindlicher und effektiver. Vgl. dazu H. Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Deutsche und jüdische Physik, 71–106, sowie insgesamt A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich. – Zum deutschen Kernforschungsprojekt vgl. M. Walker, Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, 100, der die Beziehung zwischen Physik und Nationalsozialismus in Deutschland als ein Verhältnis von Kompromiß und Kollaboration kennzeichnet; vgl. außerdem die deutlich andere Beurteilung von C. F. v. Weizsäcker, Die Unschuld der Physiker? 37–40, 42–45. 13 Zit. in: H. Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Deutsche und Jüdische Physik, 75. – Heisenberg wurde im Organ der SS zuvor als „weißer Jude“ und als „Statthalter des Judentums“ bezeichnet, da er die „jüdische Physik“ vertrete (‚Weiße Juden‘ in der Wissenschaft, in: Das schwarze Korps vom 15.7.1937, 6). 14 Nach dem Zweiten Weltkrieg legt Heisenberg diese Zurückhaltung wieder ab (vgl. z. B. Heisenbergs Rede bei der Grundsteinlegung des Einstein-Hauses der Ulmer Volkshochschule: W. Heisenberg, Einstein ist ein guter Name, 162–164).

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Auch unter Theologen gibt es zu dieser Zeit offensichtlich rassistisch motivierte Vorbehalte gegen die Einsteinsche Relativitätstheorie. Obwohl zum Beispiel der Theologe Rudolph Lettau „die stärksten Antriebe zur Heiligung“15 in der Relativitätstheorie auszumachen vermag, sieht er sich zu einer Begründung genötigt, warum ein Christ ausgerechnet durch Einstein in seinem Glauben gestärkt werden sollte: „Einstein ist Jude und überzeugter Jude, wie man aus den Zeitungen vernimmt. Da will es einem guten Deutschen nicht ein, etwas von ihm anzunehmen.“ Lettaus Problem und die von ihm gefundene „Lösung“ zeigen, daß die theologische Reaktion auf die Relativitätstheorie in Deutschland auch durch offen antisemitische Einstellungen belastet war: „Wie, wenn Gott aber mit den Juden noch etwas vorhätte? [...] Ihre Führerschaft bei den radikalen Parteien zwingt geradezu die Langsamen und Widerstrebenden auf der anderen Seite zu aufbauender Arbeit, die sonst vielleicht unterbliebe. Ist das nun etwa auch einem Juden von Gott gegeben, in der Welt der Wissenschaft, in Weltanschauungsfragen Dinge in Fluß zu bringen, die sonst noch lange ruhten, und sollten nicht Deutsche und Christen auf den Plan treten und etwas Gutes aus dem, was schädlich zu sein schien, schaffen? Wir wollen doch die Augen auftun, daß uns Satan [sic!] nicht durch Trägheit und Feigheit übervorteilt.“16

Wo neben mangelhafter physikalischer Kenntnis auch noch solche dumpfen Gesinnungen gären, kann es nicht wundern, wenn dort ein konstruktiver Dialog zwischen Physik und Theologie aufgrund der Relativitätstheorie nicht in Gang kommt. Selbst wer die Vorbehalte einiger evangelischer und katholischer Theologen gegenüber der Relativitätstheorie nicht auch antisemitisch motiviert sehen will, wünscht sich eine Erklärung dafür, warum man sich hier in der Diskussion über die Richtigkeit der Relativitätstheorie gegen die große Mehrheit der Physiker wiederholt auf den erklärten Antisemiten Philipp Lenard als Kronzeugen beruft.17 Ideologische Vorbehalte gegen die Relativitätstheorie meldet im übrigen lange Zeit auch der dialektische Materialismus an. Wladimir I. Lenin veröffentlicht schon im Jahr 1909 eine Streitschrift, in der er sich vehement gegen den „Machismus“ wendet, das heißt gegen die Philosophie Ernst Machs und ihren Einfluß auf die moderne Physik.18 „Der Relativismus als Grundlage der Erkenntnistheorie ist nicht nur die Anerkennung der Relativität unserer Kenntnisse, sondern auch die Leugnung irgendeines objektiven, unabhängig 15

R. Lettau, Die Einsteinsche Relativitätstheorie im Verhältnis zur christlichen Weltanschauung, 155; vgl. dazu 4. Kap. I. vorliegender Arbeit. 16 Ebd. 17 T. Wulf S. J., Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 109, zählt Lenard zu den wenigen „Gewährsmännern“ gegenüber denen es nicht viel bedeute, wenn die große Masse der Physiker anderer Meinung sei. – „Solange sich noch ein Mann von der Bedeutung Lenards auf die Seite der Gegner stellt, muß die Sache uns anderen noch nicht als spruchreif gelten“, urteilt der theologisch engagierte Biologe E. Dennert, Einige Bemerkungen zur Relativitätstheorie und ihren Folgerungen, 46. 18 Vgl. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, insbes. 249–316 („Die neueste Revolution in der Naturwissenschaft und der philosophische Idealismus“).

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von der Menschheit existierenden Maßes oder Modells, dem sich unsere relative Erkenntnis nähert“19, schreibt Lenin und versucht dies anhand von Entwicklungen in der modernen Physik zu belegen. Lenin kritisiert vor allem „das Prinzip des Relativismus, der Relativität unseres Wissens, ein Prinzip, das sich den Physikern in der Periode des jähen Zusammenbruchs der alten Theorien mit besonderer Kraft aufdrängt“20. Dieser Relativismus führe die von Mach beeinflußten Physiker bei Unkenntnis der Dialektik unvermeidlich zum „‚physikalischen‘ Idealismus“. Als „Grundidee der zur Diskussion stehenden Schule der neuen Physik“ erkennt Lenin in diesem Zusammenhang „die Leugnung der objektiven Realität [...] oder der Zweifel an der Existenz einer solchen Realität“21. Lenin beschließt seine Ausführungen über die „neueste Revolution in der Naturwissenschaft“ mit dem Urteil, der „‚physikalische‘ Idealismus“ seiner Zeit bedeute, „daß eine bestimmte Schule von Naturforschern in einem bestimmten Zweig der Naturwissenschaft zu einer reaktionären Philosophie abgeglitten ist, weil sie nicht vermochte, sich direkt und von Anfang an vom metaphysischen Materialismus zum dialektischen Materialismus zu erheben“22. Noch zu Beginn der fünfziger Jahre gibt es in der Sowjetunion gegen die Relativitätstheorie eine massive Kampagne, bei der behauptet wird, Einsteins Theorie beruhe auf einer falschen Philosophie, widerspreche dem dialektischen Materialismus und könne die – zugegebenermaßen beobachtbaren – relativistischen Effekte nicht erklären.23 Im Jahr 1952 wird in einem von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sammelband die Forderung erhoben, die Relativitätstheorie als ganze zu verwerfen und durch eine materialistische „Theorie schneller Bewegungen“ zu ersetzen. Namentlich A. A. Maksimov, Parteiphilosoph und Akademiemitglied, bezeichnet Einsteins philosophische Ideen als antiwissenschaftliche Äußerung eines reaktionären Angriffs und fordert eine Kritik an den idealistischen Phantasien Einsteins und seiner Anhänger.24 Schließlich sieht sich aber auch die offizielle Sowjetphilosophie zu einem pragmatischen Standpunkt gezwungen. Ab der Panunionskonferenz über philosophische Fragen der Naturwissenschaften im Oktober 1958 in Moskau wird der Widerstand gegen die Relativitätstheorie aufgegeben, und einige Jahre später erkennt man in ihr sogar eine Bestätigung des dialektischen Materialismus. Im „Philosophischen Wörterbuch“ aus dem Jahr 1975, das nach Auskunft seines Vorworts „auf marxistisch-leninistischer Grundlage aufgebaut“ sein will, heißt es unter dem Stichwort Relativitätstheorie nunmehr: 19

A.a.O., 131. A.a.O., 311. 21 A.a.O., 306. 22 A.a.O., 315. 23 Vgl. dazu die umfangreiche Darstellung und Materialiensammlung von S. Müller-Markus, Einstein und die Sowjetphilosophie. Krisis einer Lehre, Bd. 1 und 2, hier Bd. 1, 59–63. 24 Vgl. a.a.O., Bd. 1, 136f. 20

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„In der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophie wird die Meinung verbreitet [...], die Relativitätstheorie könne philosophisch sowohl im idealistischen als auch im materialistischen Sinne interpretiert werden. Diese Behauptung ist falsch [...]. Die [...] Ergebnisse der Relativitätstheorie widersprechen nämlich allen idealistischen Thesen über das Wesen von Raum und Zeit und bestätigen die entsprechenden philosophischen Auffassungen des dialektischen Materialismus.“25

Die Relativitätstheorie darf nun sogar ausdrücklich als eine „materialistische Erkenntnis“26 bezeichnet werden. Die genannten Beispiele ideologischen Mißbrauchs der Relativitätstheorie sind geeignet, mißtrauisch zu stimmen, wenn von „Deutungen der Relativitätstheorie“ die Rede ist. Wann immer die Relativitätstheorie als Beleg oder Bestätigung einer philosophischen oder gar theologischen Position herangezogen wird, ist zunächst einmal Skepsis angebracht. Zu viele unterschiedliche und widersprüchliche Standpunkte beriefen sich in der Vergangenheit auf Einsteins Theorie. So schreibt Hans Reichenbach schon im Jahr 1949 sehr treffend: „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie ist zum Gegenstand widersprechender Meinungen geworden. Während viele Autoren den philosophischen Gehalt der Theorie betont und sogar versucht haben, sie als eine Art philosophisches System zu interpretieren, haben andere das Vorhandensein einer philosophischen Problematik geleugnet und die Ansicht vertreten, daß Einsteins Theorie eine rein physikalische, nur für den mathematischen Physiker interessante Angelegenheit ist.“27

Der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell betont angesichts zahlreicher Mißverständnisse und vorschneller Folgerungen, daß die philosophischen Konsequenzen der Relativitätstheorie „weder so groß noch so überraschend [sind], wie man manchmal denkt“28. Doch auch Russell hält es für wahrscheinlich, „daß sich gewisse Änderungen in unseren Denkgewohnheiten ergeben, die auf lange Sicht eine große Bedeutung erlangen werden, wenn man erst mit den in Einsteins Werk enthaltenen Ideen vertraut ist [...]“29.

II. Die Bedeutung der Relativitätstheorie im Rahmen der Physik Kein ernstzunehmender Physiker bezweifelt heute, daß die spezielle Relativitätstheorie zum gesicherten Bestand der Physik gehört. In ungezählten Experimenten konnten die Voraussagen der speziellen Relativitätstheorie 25 26 27 28 29

G. Kröber und H. Mielke, Art. Relativitätstheorie, 1046. A.a.O., 1045. H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 142. B. Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, 165. A.a.O., 166.

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bestätigt werden, und kein einziges Experiment ist bekannt, das im Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie stünde. Auch die allgemeine Relativitätstheorie gilt heute als anerkannt und wird von der physikalischen Forschung vorausgesetzt. Allerdings bezog diese Theorie längere Zeit ihre Überzeugungskraft weniger aus experimentellen Bestätigungen als vielmehr aus ihrer „Eleganz“ und ihrer „inneren Stimmigkeit“. In diesem Sinne schreibt Einstein, daß der „Hauptreiz der Theorie [...] in ihrer logischen Geschlossenheit [liege]“30, und er läßt seinen Kollegen Arnold Sommerfeld auf einer Postkarte wissen: „Von der allgemeinen Rel[ativitäts-]Theorie werden Sie überzeugt sein, wenn Sie dieselbe studiert haben werden. Deshalb verteidige ich sie Ihnen mit keinem Wort.“31 Die Schwierigkeit, bei der Nachprüfung der allgemeinen Relativitätstheorie bestand darin, daß ihre experimentell prüfbaren Folgerungen so geringfügig von den entsprechenden Folgerungen der newtonschen Theorie abweichen, daß sie zunächst an der Grenze der Meßgenauigkeit lagen. Aufgrund von Präzisionsmessungen gilt aber inzwischen auch die allgemeine Relativitätstheorie als sehr gut bestätigt. Damit stellt sich die Frage, ob nunmehr Newtons Gravitationstheorie als „falsch“ und „widerlegt“ anzusehen ist. Einstein weist dies zurück: „Niemand [...] soll denken, daß durch diese oder irgendeine andere Theorie Newtons große Schöpfung im eigentlichen Sinne verdrängt werden könne. Seine klaren und großen Ideen werden als Fundament unserer ganzen modernen Begriffsbildung auf dem Gebiet der Naturphilosophie ihre eminente Bedeutung in aller Zukunft behalten.“ 32

Die klassische Newtonsche Mechanik bleibt dabei nicht nur für die Physikhistoriker interessant. Für Geschwindigkeiten, die klein sind im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit, geht die Lorentz-Transformation in die klassische Galilei-Transformation über, das heißt, die Newtonsche Mechanik bleibt gültig. Außerdem zeigt sich, daß die allgemeine Relativitätstheorie Newtons Gravitationstheorie als erste und sehr gute Näherung bestätigt. Insgesamt läßt sich also sagen, daß die Relativitätstheorie die klassische Physik als einen Spezialfall enthält – ein Spezialfall überdies, der unter irdischen Bedingungen in der Regel sehr gut erfüllt ist. Darum ist es ja auch sinnvoll, daß im Physikunterricht an unseren Schulen vorrangig noch immer die klassische Physik gelehrt wird. Auch die euklidische Geometrie ist nicht widerlegt. Mathematisch ist sie korrekt wie eh und je. Im allgemeinen und insbesondere in astronomischen Maßstäben erweist sich für die Physik aber die Verwendung einer nichteuklidischen Geometrie als zweckmäßiger. Soweit besteht über diese physikalischen Sachverhalte unter den Naturwissenschaftlern Einigkeit. Unterschiedlich wird von Physikern dagegen die Rolle beurteilt, die der Relativitätstheorie bei der Entwicklung zur modernen 30

A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 216. A. Einstein/A. Sommerfeld, Briefwechsel. Sechzig Briefe aus dem goldenen Zeitalter der modernen Physik, 41. 32 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 216f. 31

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Physik zukommt. Die einen sehen in Einsteins Theorie den krönenden Abschluß der klassischen Physik, die anderen betrachten die Relativitätstheorie als den entscheidenden Schritt zur modernen Physik. Einstein selbst beurteilt seinen Beitrag eher bescheiden. Es handele sich bei der Entdeckung der Relativitätstheorie „keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fortentwicklung einer durch Jahrhunderte verfolgbaren Linie“33. Insbesondere die spezielle Relativitätstheorie sei nichts anderes als eine systematische Fortsetzung der Maxwell-Lorentzschen Elektrodynamik“34. Die Relativitätstheorie habe „zum großartigen Gedankengebäude Maxwells und Lorentz‘ eine Art Abschluß geliefert“35. Man könnte derartige Feststellungen Einsteins als Understatement und Ausdruck seiner Bescheidenheit halten, zumal wenn man bedenkt, daß Einstein die zitierten Sätze in England äußert, dem Geburtsland der klassischen Physiker Newton, Faraday und Maxwell. Doch Einsteins spätere Haltung zur Quantentheorie läßt es als durchaus plausibel erscheinen, daß es ihm mit diesen Feststellungen ernst ist; denn zeitlebens versucht Einstein im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Physiker auch die Quantentheorie von einem klassischen Standpunkt aus zu verstehen. Eine „Revolution“ oder einen Bruch in der Entwicklung der Physik lehnt er damit ab. Im Zusammenhang mit der Behandlung der Quantentheorie werden wir darauf zurückkommen. Auch Victor Weisskopf, Atomphysiker und Schüler von Max Born und Niels Bohr, kann in der Relativitätstheorie keinen revolutionären Umbruch für die Entwicklung der Physik ausmachen. Zwar begründe sie eine neue Auffassung von Raum und Zeit und stelle ein neues begriffliches Gerüst dar, mit dem die bisherige Physik vereinheitlicht werden kann. Die Relativitätstheorie breche damit aber nicht mit der klassischen Tradition, sondern sie stelle viel eher die Krönung und die Synthese der Physik des 19. Jahrhunderts dar. Die radikale Veränderung der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht für Weisskopf allein auf die Quantentheorie zurück: „Die Quantentheorie [...] stellte tatsächlich einen Vorstoß ins Unbekannte dar; mit ihrer Hilfe dringt man in eine Welt von Phänomenen ein, die sich nicht in das Vorstellungsgebäude der Physik des vergangenen Jahrhunderts einfügen lassen. Um die Quantentheorie zu begründen und weiterzuentwickeln, mußte man eine neue physikalische Sprache und Denkweise schaffen.“36

Im folgenden wird noch gezeigt werden, daß diese Aussagen auf die Quantentheorie zweifellos zutreffen. Aber trifft es nicht gerade auch für die Relativitätstheorie zu, daß sie eine „neue physikalische Sprache und Denkweise“ geschaffen hat? Weisskopf beginnt sein Physikstudium in den zwanziger Jahren und ist aktiv an der Entwicklung der Quantentheorie beteiligt. Der ganze Bereich der Relativitätstheorie ist um diese Zeit, wie man bei Werner 33 34 35 36

Ders., Über Relativitätstheorie, 217f. Ders., Was ist Relativitätstheorie? 214. A.a.O., 217. V. Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, 18.

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Heisenberg nachlesen kann, „schon ziemlich weitgehend erschlossen und daher gar kein Neuland mehr“37, die spezielle Relativitätstheorie müsse man „einfach lernen und anwenden, so wie jede ältere Disziplin der Physik“38. Darum sei sie für jeden, der Neues entdecken wolle, nicht mehr sonderlich interessant. Ältere Physiker wie zum Beispiel Max Planck, die die Entdekkung der Relativitätstheorie miterleben und sich nur mühsam von den gewohnten traditionellen Vorstellungen trennen können, sind später eher geneigt, darin eine physikalische „Revolution“ zu erkennen. Louis de Broglie spricht dementsprechend auch von einer geistigen Leistung, „die die ältesten Traditionen der Physik umgestürzt [habe]“39. Eine vermittelnde Position nimmt in dieser Frage Max Born ein. Einstein habe mit seiner Theorie „nicht nur die klassische Physik zum Gipfel geführt, sondern ein neues Zeitalter der Physik eröffnet“40. Der klassischen Physik sei Einstein noch verbunden, weil er weiterhin die Vorstellung „von kausalen – oder genauer: deterministischen Naturgesetzen“41 gebrauche. Richtungsweisend für die moderne Physik sei dagegen, daß Einstein die newtonschen Begriffe von Raum und Zeit einer scharfen Kritik unterziehe und sie durch „neue, revolutionäre Begriffe“42 ersetze. Born sieht Einsteins Leistung insbesondere auch darin begründet, daß er konsequent Ernst Machs Prinzip der Elimination des Unbeobachtbaren anwende. Dieses Prinzip fordert, in der theoretischen Physik keine Begriffe mehr zuzulassen, die nicht empirisch verifiziert werden können. Dies führt bei Einstein konsequent zur Ablehnung eines Äthers und des klassischen Begriffs der Gleichzeitigkeit von Ereignissen an unterschiedlichen Raumstellen. Für Leopold Infeld ist Einsteins Arbeit für die Geschichte der theoretischen Physik besonders bedeutsam, „weil sie ein völlig neues Problem, nämlich das der Struktur des Weltalls, formuliert, und weil sie zeigt, daß die allgemeine Relativitätstheorie neues Licht auf dieses Problem werfen kann“43. Die allgemeine Relativitätstheorie habe „die kosmologischen Probleme aus dem Bereich der Poesie oder der spekulativen Philosophie in den physikalischen übertragen“44. Dies gilt bis heute: Auch wenn die gegenwärtige Astrophysik zu anderen Schlußfolgerungen als Einstein kommt, so nimmt doch auch sie ihren Ausgang von der allgemeinen Relativitätstheorie. Auffällig ist, daß viele Physiker die Relativitätstheorie nicht nur zur inzwischen selbstverständlichen Grundlage für weitergehende physikalische Fragestellungen nehmen, sondern sich nach Entwicklung dieser Theorie zu einer grundsätzlichen Reflexion über ihre Wissenschaft und deren Erkenntnis37 38 39 40 41 42 43 44

W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 32. A.a.O., 37. L. de Broglie, Das wissenschaftliche Werk Albert Einsteins, 43. M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 3. A.a.O., 2. Ebd. L. Infeld, Über die Struktur des Weltalls, 179. Ebd.

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methoden veranlaßt sehen. Hans Reichenbach stellt in diesem Sinne schon im Jahr 1924 fest: „Selten ist die Diskussion einer physikalischen Theorie in so hohem Maße mit philosophischen Denkmitteln geführt worden wie im Falle der Relativitätstheorie Einsteins. Nicht nur Philosophen haben die Theorie zum Gegenstand ihrer Betrachtungen gemacht, sondern auch die Physiker selbst fanden sich gezwungen, ihren Darstellungen und Kritiken der Theorie philosophische Begriffsbildungen zugrunde zu legen. Das ist kein Zufall, und auch nicht bloße Wirkung einer überall beobachtbaren Welle philosophischen Interesses an den Grundlagen der exakten Wissenschaft. Sondern die Relativitätstheorie fordert zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung geradezu heraus, ja, sie ist gar nicht verständlich ohne klare Einsicht in die prinzipiellen Methoden der physikalischen Erkenntnis überhaupt.“45

Im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie sehen sich die Physiker dieser Zeit mit Fragen konfrontiert, die weit über ihr jeweiliges Fachgebiet hinausreichen. Immer häufiger werden sie nun um Stellungnahmen zu Problemen gebeten, für die sie sich von Haus aus nicht zuständig fühlen. Nicht wenige Physiker nehmen aber diese Herausforderung an und geben nun Auskunft über ihren erkenntnistheoretischen Standpunkt, die Methodik ihrer Wissenschaft und den „Wirklichkeitsbezug“ der Physik. Solche Besinnung der Physiker über die Grundlagen ihrer Wissenschaft wirkt zugleich wieder zurück auf den weiteren Fortgang ihrer Forschung. Zurecht stellt Martin Heidegger in „Sein und Zeit“ fest, daß sich die eigentliche „Bewegung“ der Wissenschaften in der Revision ihrer Grundbegriffe abspiele: „Das Niveau einer Wissenschaft bestimmt sich daraus, wie weit sie einer Krisis ihrer Grundbegriffe fähig ist. In solchen immanenten Krisen der Wissenschaften kommt das Verhältnis des positiv untersuchenden Fragens zu den befragten Sachen selbst ins Wanken. Allenthalben sind heute in den verschiedenen Disziplinen Tendenzen wachgeworden, die Forschung auf neue Fundamente umzulegen.“ 46

Die Relativitätstheorie – Heidegger verweist in diesem Zusammenhang zwar ausdrücklich auf sie, befaßt sich aber ansonsten in „Sein und Zeit“ nicht mit ihr – unterzieht die für die Physik fundamentalen Begriffe von Raum und Zeit einer radikalen Revision. Solche Grundbegriffe sind aber für Heidegger „die Bestimmungen, in denen das allen thematischen Gegenständen einer Wissenschaft zugrundeliegende Sachgebiet zum vorgängigen und alle positive Untersuchung führenden Verständnis kommt“47. Im folgenden wird noch aufgezeigt werden, daß sich in der Neufassung der Begriffe von Raum und Zeit ein gewandeltes physikalisches Verständnis der Wirklichkeit andeutet, das für die physikalische Forschung bis in die Gegenwart hinein maßgebend ist. Aus diesem Grund ist die Relativitätstheorie zweifellos über ihren unmittelbaren wissenschaftlichen Ertrag hinaus als wegweisend zu beurteilen sowohl für die weitere Entwicklung der modernen Physik als auch für das gegenwärtige Verständnis der Physiker von ihrer Wissenschaft. 45 46 47

H. Reichenbach, Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, V. M. Heidegger, Sein und Zeit, 9. A.a.O., 10.

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III. Relativitätsprinzip oder Postulat der absoluten Welt? Die Relativitätstheorie ist anerkannt, ihre erkenntnistheoretische Bedeutung ist umstritten. Bereits ihr Name gibt Anlaß zu diesbezüglichen Kontroversen. So spricht etwa Arnold Sommerfeld, von dem „vielfach mißverstandenen und nicht sehr glücklichen Namen ‚Relativitätstheorie‘“48. Das Unbehagen vieler Physiker an dieser Bezeichnung rührt daher, daß der Titel „Relativitätstheorie“ bereits eine keineswegs zwingende Interpretation eines physikalischen Sachverhaltes beinhaltet und darüber hinaus zahlreichen Fehldeutungen Vorschub leistet. Einstein selbst verwendet übrigens weder in der Überschrift noch im Text der für die „spezielle Relativitätstheorie“ grundlegenden Arbeit aus dem Jahr 1905 das Wort „Relativitätstheorie“. Statt dessen spricht Einstein vom „Prinzip der Relativität“ oder auch vom „Relativitätsprinzip“49. Auch damit gibt Einstein allerdings schon eine Deutung des postulierten Prinzips. Das Relativitätsprinzip fordert, daß physikalische Gesetze von einem Wechsel des Bezugssystems unabhängig sind und sich darum nicht verändern dürfen. Als Konsequenz ergibt sich daraus die Abhängigkeit verschiedener physikalischer Größen vom jeweiligen Bezugssystem. Man hat in der Folge zu unterscheiden zwischen diesen „relativen“ physikalischen Größen und „absoluten“ Naturgesetzen: Nicht invariant, sondern abhängig vom jeweiligen Bezugssystem und damit „relativ“ sind zum Beispiel die Masse, die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse an unterschiedlichem Ort sowie die Orts- und Längenbestimmungen. Auch die klassische Formulierung der mechanischen Gesetze ist in diesem Sinn relativ. Invariant, das heißt unabhängig vom Bezugssystem und damit „absolut“ sind dagegen die Naturgesetze, beispielsweise die fundamentalen Sätze von der Energie- und Impulserhaltung. Invariant ist auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts im Vakuum. Damit erweisen sich gerade die physikalischen Bestimmungen, die im Alltag begegnen und mit denen man eine anschauliche Vorstellung verbindet, als relativ. Was doch „augenscheinlich“ richtig scheint, das Bekannte und Vertraute, ist bei genauerer Überprüfung nicht exakt, sondern nur eine Näherung. Einstein betont diesen Aspekt seiner Theorie, indem er das Postulat, auf dem seine Theorie aufbaut, Prinzip der Relativität nennt. 48

A. Sommerfeld, Albert Einstein, 37. A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 29. Einstein soll zunächst auch mit dem Namen „Absoluttheorie“ und „Kovarianztheorie“ geliebäugelt haben, vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 93. Später übernimmt Einstein aber den Begriff „Relativitätstheorie“.

49

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Schon Hermann Minkowski kritisiert diese Namengebung. In dem bereits erwähnten Vortrag aus dem Jahr 1908 nennt er die Bezeichnung „Relativitätspostulat“ für ein Postulat, das die Invarianz der Naturgesetze fordert, „sehr matt“50. Er bevorzugt darum den Namen „Postulat der absoluten Welt (oder kurz Weltpostulat)“51. Damit setzt Minkowski einen deutlich anderen Akzent als Einstein. Das Wesentliche ist nicht, daß vertraute Erscheinungen auf ihr Bezugssystem relativiert werden. Das Überraschende und Neue ist für Minkowski vielmehr, daß sich die fundamentalen physikalischen Gesetze einer derartigen Relativierung entziehen. Das Postulat drückt aus, daß es zwar unendlich viele Bezugssysteme geben kann, daß aber in allen dieselben Naturgesetze gültig sind. Vorausgesetzt wird nichts weniger als eine hintergründige, nicht relativierbare „absolute Welt“. Minkowskis „Welt“ stellt allerdings ein sehr abstraktes Gebilde streng gesetzlicher Strukturen dar, das nicht mehr vergleichbar ist mit einer anschaulich gegebenen, vorstellbaren Welt. Spätere Physiker verzichten darum in diesem Zusammenhang auf den Begriff „Welt“, betonen aber weiterhin den Charakter der Absolutheit und Unabhängigkeit der physikalischen Gesetze. Arnold Sommerfeld schreibt in diesem Sinn, daß „nicht die Relativierung der Vorstellungen von Länge und Dauer [...] die Hauptsache [sei], sondern die Unabhängigkeit der Naturgesetze, insbesondere der elektrodynamischen und optischen, vom Standpunkt des Beobachters“52. Aus dieser Perspektive wäre beispielsweise die Bezeichnung „Invariantentheorie“ gewiß angemessener und auch weniger mißverständlich gewesen.53 Victor Weisskopf weist außerdem darauf hin, daß die Bezeichnung „Relativitätstheorie“ nicht nur eine eigenwillige und ihm unangemessen erscheinende Deutung darstellt, sondern auch Ursache vieler Fehlinterpretationen ist: „Eigentlich bin ich der Meinung, [die Relativitätstheorie] wäre in gewissem Sinn besser als ‚Theorie des Absoluten‘ bezeichnet worden. Man hätte so all die Widersinnigkeiten und philosophischen Mißverständnisse, die mehr oder weniger ausgeklügelten Spitzfindigkeiten vermieden, die in dieser Theorie ein Argument zugunsten des Relativismus sehen wollten. Als ob Einstein einfach hätte sagen wollen, daß ‚alles relativ‘ sei! Auch hätte man mit obiger Benennung zugleich das unterstrichen, was an dieser Theorie wirklich neu ist: Mit ihr können wir zum ersten Mal die Naturgesetze unabhängig von jedem Bezugssystem formulieren; genau gesagt heißt das, daß wir ihnen mit dieser Theorie eine absolute Bedeutung zuschreiben können.“ 54

Die Auswirkungen, die der Begriff „Relativitätstheorie“ auf die späteren Kontroversen über die Bedeutung dieser Theorie hatte, sind nicht zu unterschätzen. Man ersetze einmal in einem Text von Karl Heim, der mit dem Gegensatz von „relativen“ physikalischen Größen und dem „Absolutum Gott“ 50

H. Minkowski, Raum und Zeit, 60. Ebd. 52 A. Sommerfeld, Albert Einstein, 37. 53 Vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 92–105. 54 V. Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, 17. 51

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argumentiert, an den entsprechenden Stellen regelmäßig „Einsteins Relativitätstheorie“ durch „Einsteins Theorie des Absoluten“ und wird erstaunt sein über die suggestive Kraft des jeweiligen Begriffs.55 Bereits in der Namengebung ein und desselben physikalischen Sachverhaltes kommen unterschiedliche Bewertungen zum Ausdruck. Abhängig davon, ob der Aspekt des „Relativen“ oder des „Absoluten“ als wesentlicher für die Relativitätstheorie beurteilt wird, fallen auch die entsprechenden Deutungen dieser Theorie unterschiedlich aus. Gibt es aber zwingende über den Rahmen der Physik hinausgehende Konsequenzen aus Einsteins Theorie? Oder läßt sich zum Beispiel mit der „Einsteins Theorie des Absoluten“ ein idealistischer und mit „Einsteins Relativitätstheorie“ ein positivistischer Standpunkt „begründen“? Ist diese physikalische Theorie philosophisch und theologisch neutral, und alles weitere nur ein suggestives Spiel mit Worten? Im folgenden sollen zentrale Aspekte der Kontroverse um die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie thematisiert werden, indem zunächst das Verhältnis der Relativitätstheorie zu Kants transzendentalem Ansatz und anschließend zum Logischen Positivismus untersucht wird. Auf diesem Weg kann verdeutlicht werden, daß die über die Physik hinausgehende Bedeutung der Relativitätstheorie vor allem erkenntnistheoretische Fragen betrifft.

IV. Relativitätstheorie und kantische Transzendentalphilosophie 1. Vorbemerkungen Im Jahr 1781 veröffentlicht Immanuel Kant (1724–1804) die „Kritik der reinen Vernunft“, sechs Jahre später folgt die zweite Auflage, und bereits in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts avanciert Kants kritisches Werk zur offiziellen Philosophie an den deutschen Universitäten. Philosophiehistoriker sind sich über die epochemachende Bedeutung Kants weitgehend einig: „Man hat Kant den größten deutschen Philosophen geheißen, den größten Philosophen der Neuzeit überhaupt, den Philosophen der modernen Kultur und noch verschiedenes anderes. Wie man aber seine Philosophie schließlich auch bewerten mag, fest steht, daß mit Kant mindestens für die deutsche Philosophie eine neue Epoche anhebt.“56 Für Oswald Schwemmer stellt Kants System „den Ausgangspunkt oder kritischen Hintergrund so gut wie aller philosophischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts [...] dar und ist auch in der zeitgenössi55 56

Vgl. 5. Kap. II. vorliegender Arbeit. J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 268.

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schen systematischen Philosophie explizit oder implizit weitgehend präsent“57. Günther Patzig rechnet Kant zu den klassischen Philosophen der ersten Größenordnung, dessen Fragestellungen insbesondere die philosophische Diskussion in der Erkenntnistheorie und in der Wissenschaftstheorie bis in die Gegenwart hinein beherrschen.58 Vor allem die „Kritik der reinen Vernunft“ gilt nicht nur „als ein klassisches Werk der Philosophie, das die permanente gelehrte Erschließung verdient“59, sondern als nach wie vor anerkanntes „Grundbuch der modernen Philosophie [...], das selbst diejenigen zur Auseinandersetzung auffordert, die nicht bzw. nicht mehr bereit sind, im Rahmen transzendentalphilosophischer Theoriebildung zu denken“60. „Die Kritik der reinen Vernunft“ vollzieht eine „Revolution“ oder „Umänderung der Denkart“61, die eine neue und für Kants Erkenntnistheorie grundlegende Auffassung von Raum und Zeit beinhaltet. Gut ein Jahrhundert später bricht Einstein mit der Raum- und Zeitvorstellung der zu Kants Zeit noch konkurrenzlos akzeptierten Newtonschen Physik. Ist davon auch Kants Ansatz betroffen, ist dieser möglicherweise damit endgültig widerlegt und erledigt – oder thematisiert die Relativitätstheorie Raum und Zeit unter einem völlig anderen Gesichtspunkt, so daß sie die erkenntnistheoretischen Überlegungen Kants überhaupt nicht widerlegen kann? Strittig ist im Zusammenhang mit der speziellen Relativitätstheorie vor allem der Zeitbegriff: Hat die Relativierung der Zeit und der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse auf das jeweilige Bezugssystem Auswirkungen auf Kants System, das die „Einheit der Zeit“62 behauptet? Demgegenüber führt im Hinblick auf die allgemeine Relativitätstheorie hauptsächlich der gewandelte Raumbegriff zu Kontroversen: Im 18. Jahrhundert waren in der Mathematik nichteuklidische Räume noch unbekannt, und die Beispiele, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ zur Verdeutlichung anführt, beziehen sich auf die Verhältnisse innerhalb der euklidischen Geometrie. Zieht Einsteins Erkenntnis, daß eine nichteuklidische Geometrie den physikalischen Raum im allgemeinen geeigneter beschreiben kann, eine Beschränkung der von Kant beanspruchten Allgemeingültigkeit nach sich, gelten die von Kant genannten „Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen“63 vielleicht nur für Erscheinungen im Rahmen des Gültigkeitsbereiches der klassischen Physik? Die Positionen, die in den diesbezüglichen Fragen bezogen werden, sind denkbar extrem. Hans Reichenbach vertritt die Auffassung, daß Einstein mit 57

O. Schwemmer, Art. Kant, 357f. Vgl. G. Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 10. 59 J. Kopper/W. Marx (Hg.), 200 Jahre Kritik der reinen Vernunft, 7 (Vorwort). 60 Ebd. 61 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI. 62 A.a.O., B 231, vgl. B 232: „Denn es ist nur Eine Zeit, in welcher alle verschiedenen Zeiten nicht zugleich, sondern nacheinander gesetzt werden müssen“; vgl. dazu auch a.a.O., B 47. Zur Kritik an den transzendentalen Aussagen der kantischen Philosophie im Anschluß an die spezielle Relativitätstheorie vgl. P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 16–45. 63 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 39. 58

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der Relativitätstheorie auf die gleichen Fragen, mit denen sich Kant befaßt habe, anders antworte. Kants Raumbegriff werde widerlegt, sein System sei unhaltbar.64 Max Born bezweifelt, ob Kant seinen „Standpunkt beibehalten hätte, wenn er etwas länger gelebt hätte“65 und ihm die Entwicklung nichteuklidischer Geometrien bekannt geworden wäre. Albert Einstein selbst erklärt unumwunden, daß er „die Frage nach dem a priori im Sinne Kants niemals [habe] begreifen können“66. Derart in die Defensive gedrängt wendet sich der Kantherausgeber Raymund Schmidt gegen „die banalen Vorwürfe, welche seit einiger Zeit von der Seite gewisser moderner mathematischer Physiker gegen Kants Lehre von der Apriorität des Raumes und der Zeit vorgebracht werden“67 und vertritt den Standpunkt, daß sich „Kants Überlegungen [...] ohne jede Schwierigkeit auch auf die nichteuklidischen Sätze sowie auf jedes andere mathematisch-physikalische Raumzeitschema übertragen [lassen], das mit dem Anspruch auf Gültigkeit [auftrete]“68. Wilhelm K. Essler ist sogar der Überzeugung, daß Kant ohne Zweifel selbst der Entdecker der speziellen wie der allgemeinen Relativitätstheorie gewesen wäre, wenn er seine Gedanken über Raum, Zeit und Bewegung in allen Details logisch-mathematisch analysiert hätte.69 Insgesamt ist bei dieser Kontroverse neben mangelhafter Sachkenntnis und der damit verbundenen Unfähigkeit, sich auf die Argumentation des anderen einzulassen, viel Polemik und Überheblichkeit festzustellen.70 Man kann zuweilen den Eindruck gewinnen, es gehe dabei nicht so sehr um notwendige gegenseitige Klärungen als vielmehr um einen vermeintlichen Prioritätenstreit zwischen Philosophie und Physik, bei dem beide Seiten mit ihren hervorragendsten Vertretern Kant und Einstein gegeneinander zu Felde ziehen. Dadurch wird diese Auseinandersetzung zu einem exemplarischen Fall der gegenwärtigen Kommunikationsstörungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Tatsächlich wird hier aber auch beiden Seiten viel zugemutet. Philosophen gestehen, daß Kants Hauptwerke „nicht nur zu den inhaltsreichsten, sondern auch zu den schwierigsten der Weltliteratur“71 zu rechnen sind. Darüber hinaus wird Kants Stil als langatmig, umständlich und gestelzt charakterisiert.72 Auf der anderen Seite setzt ein auch mathematisch fundiertes Verständnis der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie in der Regel ein physikalisches oder mathematisches Fachstudium voraus. Die Vorausset64

Vgl. H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 143; vgl. 151. M. Born, Philosophische Betrachtungen zur modernen Physik, 40. 66 A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 229. 67 R. Schmidt (Hg.), Immanuel Kant. Die drei Kritiken, 104. 68 A.a.O., 105. 69 Vgl. W. K. Essler, Art. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 6267. 70 Vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 212–223. 71 H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 392. 72 Vgl. C. Helferich, Geschichte der Philosophie, 185; vgl. G. Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 11. 65

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zungen für eine niveauvolle Auseinandersetzung sind damit außerordentlich hoch gesteckt. Viel wäre freilich schon gewonnen, wenn in diesem interdisziplinären Austausch mangelndes Verständnis im Bereich der jeweils anderen Disziplin nicht überspielt, vertuscht oder durch Polemik ersetzt werden würde, sondern offen benannt werden könnte. Denn erst im sich ergänzenden gemeinsamen Gespräch besteht Aussicht, die anstehenden komplexen Fragen in gegenseitig verständlicher Weise beantworten zu können. Dabei gelten gerade Kant und Einstein als Wissenschaftler, die um einen fruchtbaren Austausch zwischen Philosophie und Physik besonders bemüht sind. Kant ist über die Physik Newtons sehr gut informiert und erachtet deren Wissenschaftlichkeit als vorbildlich. Einstein, der als „philosophierender Physiker“73 bezeichnet wurde, bemerkt mehrfach, daß er durch die Lektüre erkenntnistheoretischer Schriften wichtige Impulse für seine Theorie erhalten habe, und er befaßt sich insbesondere in seinen späteren Jahren mit philosophischen Aspekten der Physik.

2. Kants Verhältnis zur Newtonschen Physik Kant steht auf der Höhe der Physik seiner Zeit. An verschiedenen Stellen spricht er mit größter Hochachtung von Newton und nennt dessen „Principia“ sogar ein „unsterbliches Werk“74. Darüber hinaus verfaßt Kant aber auch eigene naturwissenschaftliche Werke, die heute zwar weitaus weniger bekannt sind als seine kritischen Schriften, die aber auf ihrem Gebiet oft wichtige Anstöße gaben. Mit Bezug auf diese fachwissenschaftlichen Erkenntnisse gilt Kant „als ‚Vater der modernen Kosmologie‘, als Begründer der Geographie als Wissenschaft sowie als Autorität auf den Gebieten der Mathematik und der Geometrie; seine Arbeiten zur theoretischen Biologie, zur theoretischen Physik, zur vergleichenden Geologie, zur Rassen-, Wüstenund Mondkunde sowie zur Theorie der Winde sind als grundlegend anerkannt worden“75. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang Kants im Jahr 1755 veröffentlichtes vorkritisches Werk „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“. Im Untertitel dieser Schrift bestimmt Kant sein Unternehmen als „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt“. Kant entwickelt darin eine Geschichte des Universums unter mechanischem Gesichtspunkt, wobei er von einem chaotischen Urzustand ausgeht: „Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos. Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktion den Stoff sich bilden und durch die Zurückstoßung ihre Bewegung modifizieren. Ich genieße das Vergnügen, ohne Beihülfe willkürlicher Erdichtungen, unter 73 74 75

F. Herneck, Einstein und sein Weltbild, 210. I. Kant, Opus postumum. Erste Hälfte, 292. J. Zehbe, Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Philosophie Kants, VII.

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der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem so ähnlich siehet das wir vor Augen haben, daß ich mich nicht entbrechen kann, es vor dasselbe zu halten.“ 76

Aus Newtons Gravitationsgesetz und den Bewegungsgesetzen, deren Gültigkeit Kant vorbehaltlos anerkennt, ergibt sich demnach die Geschichte des Universums als ein notwendiger Prozeß. Kant übernimmt damit das mechanische Erklärungsmodell, das die Physik seiner Zeit prägt, und wendet es auf die Kosmogonie an. Freilich gibt Kant zugleich auch seiner Überzeugung Ausdruck, daß die Newtonsche Mechanik an Grenzen stoße und keine „Erklärung für alles“ leisten könne, wenn er betont, „daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursach ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe, aus mechanischen Gründen, deutlich und vollständig kund werden wird.“77 An der Verehrung Newtons und an der Hochschätzung der Physik hält Kant zeitlebens fest. Gerade auch in der „Kritik der reinen Vernunft“ nimmt er die wissenschaftliche Exaktheit von Mathematik und Physik zum Maßstab für die Metaphysik. Damit steht Kant in einer Linie mit René Descartes, der bereits im Jahr 1637 in seinem „Discours de la Méthode“ die „mathematischen Disziplinen wegen der Sicherheit und Evidenz ihrer Beweisgründe“78 rühmt und zugleich feststellt, daß es in der Philosophie noch nichts gebe, worüber nicht gestritten werde und was folglich nicht zweifelhaft sei.79 Auch schon Descartes versucht darum eine an den mathematischen Wissenschaften orientierte Neubegründung der Philosophie mit dem Ziel, sie auf ebenso „sichere und vertrauenswürdige Fundamente“80 aufzubauen. Die Relativitätstheorie relativiert die klassische Physik Newtons. Kant zieht aber die Gesetze dieser Physik an keiner Stelle in Zweifel und beurteilt die Wissenschaftlichkeit der „Physica“ sogar als vorbildlich für die in Frage stehende Wissenschaftlichkeit der Metaphysik.81 Dies berechtigt zu der Frage, ob die „Kritik der reinen Vernunft“ durch die moderne Physik in ihrer Aussagekraft eingeschränkt wird. Im folgenden wird zuerst Kants grundlegende Fragestellung in der „Kritik der reinen Vernunft“ skizziert und kurz sein Verständnis von Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung erläutert. Im Anschluß daran befassen wir uns mit einigen Fragen, die in Konsequenz der allgemeinen Relativitätstheorie an Kants Konzeption gestellt werden müssen.

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I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, A XXIII. Nach dem Urteil von S. Sambursky, Der Weg der Physik, 357, nimmt Kant in dieser Schrift modernste kosmologische Entwicklungen vorweg. 77 A.a.O., A XXXV. 78 R. Descartes, Discours de la Méthode, 13. 79 Vgl. a.a.O., 15. 80 A.a.O., 13; vgl. 37, 53. 81 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XII–XVI.

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3. Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung Kants „Kritik der reinen Vernunft“ kann als Reaktion auf zwei einander entgegengesetzte extreme Positionen verstanden werden. Auf der einen Seite steht die traditionelle Metaphysik, die in keinem ihrer zentralen Themen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu sicheren Ergebnissen gelangen konnte, nichtsdestoweniger aber mit dogmatischer Selbstsicherheit auftritt, und auf der anderen Seite steht ein radikaler Skeptizismus, der grundsätzlich die Möglichkeit sicherer Erkenntnis bezüglich metaphysischer Fragen leugnet. In dieser Situation erachtet es Kant als notwendig, zuallererst die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft zu untersuchen. Seine Kritik ist darum eine Kritik des menschlichen Vernunftvermögens. Erst wenn die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit bekannt sind, kann über die Möglichkeit oder die Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft entschieden werden. Die gesamte „Kritik der reinen Vernunft“ stellt somit den Versuch dar, eine umfassende Antwort auf die Reichweite menschlicher Erkenntnis zu geben. Es erinnert an Newtons „hypotheses non fingo“82, wenn Kant dabei für seine Untersuchungsergebnisse Gewißheit verlangt und jegliche Hypothesenbildung strikt ablehnt: „Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht für den geringsten Preis feil stehen darf, sondern sobald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß.“83

Es sei schon viel gewonnen, schreibt Kant, wenn man seine Untersuchungen unter die Formel einer einzigen Frage bringen könne. Als solche präzise Frage, in der er die eigentliche Aufgabe enthalten sieht, formuliert Kant: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“84 Zum Verständnis dieser Hauptfrage der „Kritik der reinen Vernunft“ muß erläutert werden, was Kant unter „synthetischen Urteilen“ und unter „a priori“ versteht. A priori: Kant zieht nicht in Zweifel, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt. Wenn aber auch alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebe, schreibt Kant, so entspringe sie darum doch nicht alle aus der Erfahrung: „Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes

82

Vgl. I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 230: “[.. .] und bloße Hypothesen denke ich mir nicht aus. Was immer nämlich sich nicht aus den Naturerscheinungen ableiten läßt, muß Hypothese genannt werden, und Hypothesen, sei es metaphysische, sei es physische, sei es solche über verborgene Eigenschaften, sei es solche über die Mechanik, haben in der experimentellen Philosophie keinen Platz.“ 83 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XV. 84 A.a.O., B 19.

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Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt [...]“85.

Kants Interesse richtet sich dabei auf das, was „unser eigenes Erkenntnisvermögen aus sich selbst hergibt“. Derartige von der Erfahrung und von allen Eindrücken der Sinne unabhängige Erkenntnisse nennt Kant Erkenntnisse a priori und unterscheidet sie von empirischen Erkenntnissen, „die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung haben“86. Synthetische Urteile: Beim analytischen Urteil erläutert und entfaltet das Prädikat nur den jeweiligen Begriff des Subjekts. „Ein Quadrat hat vier gleiche Seiten“ ist ein analytisches Urteil, da im Begriff des Quadrats die vier gleichen Seiten bereits enthalten sind. Bei synthetischen Urteilen hingegen wird dem Begriff des Subjekts etwas hinzugefügt, was in diesem „gar nicht gedacht war, und durch keine Zergliederung desselben hätte können herausgezogen werden“87. Erst synthetische Urteile erweitern demnach unsere Erkenntnis. „Alle Körper sind schwer“ nennt Kant als Beispiel für ein solches „Erweiterungsurteil“. Das Schwersein ist „etwas ganz anderes, als das, was ich in dem bloßen Begriff eines Körpers überhaupt denke“88. Da dieses Urteil aber außerdem seine Quelle in der Erfahrung hat, ist es für Kant ein synthetisches Urteil a posteriori. Kant fragt demnach in seiner Hauptfrage, wie Urteile möglich sind, die unsere Erkenntnis erweitern und zugleich nicht aus der Erfahrung stammen. Kant legt dar, daß derartige synthetische Urteile a priori in allen theoretischen Wissenschaften enthalten sind. Dies gilt insbesondere für die Mathematik: „Zuvörderst muß bemerkt werden: daß eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Notwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann.“89

Zugleich sind mathematische Sätze für Kant synthetisch, wie er am Beispiel 7 + 5 = 12 zu erklären versucht. Weder in „7“ noch in „5“ ist die „12“ enthalten, „12“ ist also eine tatsächliche Erweiterung unserer Erkenntnis. Auch den Grundsatz der reinen Geometrie, daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei, nennt Kant als Beispiel für einen synthetischen Satz a priori.90 Von Interesse ist in unserem Zusammenhang überdies ein Beispiel, das Kant als Beleg dafür angibt, daß neben der Mathematik auch die Naturwissenschaft (Physica) synthetische Urteile a priori als Prinzipien in sich enthalte: In allen Veränderungen der körperlichen Welt bleibe die Quantität der Materie unverändert. Weil die Erhaltung der Materie nicht im Begriff der Materie enthalten ist, liegt eine synthetische Erkenntnis vor. Weil diese Erkenntnis überdies 85 86 87 88 89 90

A.a.O., B 1. A.a.O., B 2. A.a.O., B 11. Ebd. A.a.O., B 14. Vgl. a.a.O., B 16.

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notwendig ist, Erfahrungserkenntnis aber grundsätzlich nicht notwendig sein kann, ist sie zugleich auch a priorisch: „Der Satz ist also nicht analytisch, sondern synthetisch und dennoch a priori gedacht, und so in den übrigen Sätzen des reinen Teils der Naturwissenschaft.“ 91

Die Erfolge von Mathematik und Naturwissenschaft beeindrucken Kant offensichtlich stark. Die Mathematik, schreibt er, gebe uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntnis a priori bringen können.92 Sie beschäftige sich dabei „mit Gegenständen und Erkenntnissen bloß so weit, als sich solche in der Anschauung darstellen lassen“93. Gegenstände werden uns aber vermittelt über die Sinnlichkeit gegeben, denn allein diese liefert uns Anschauungen.94 Wie sollen aber a priorische Erkenntnisse möglich sein, wenn wir bei Anschauungen unvermeidlich auf Sinnlichkeit angewiesen sind? Kant unterscheidet zwischen empirischer und reiner Anschauung. Wenn ich mir einen Ball vorstelle, so zählt seine Farbe, seine Härte, seine Größe usw. zur empirischen Anschauung. Wenn ich nun von dieser empirischen Anschauung absehe, „so bleibt [...] noch etwas übrig“95, was Kant zur „reinen Anschauung“ zählt. Diese reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen sei das einzige, „das die Sinnlichkeit a priori liefern kann“96. Als Ergebnis von Kants Untersuchung ergibt sich, daß es zwei reine Formen der Anschauung gibt, nämlich Raum und Zeit. Über den Raum schreibt Kant: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“ 97

Indem Kant hier den Raum und im darauf folgenden Abschnitt die Zeit als „Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen“ einführt, vollzieht er die „kopernikanische Wendung“ der Erkenntnistheorie. Kant nimmt an, „[...] unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart“.98 Aus dieser Perspektive erweisen sich Raum und Zeit „als Bedingungen der Existenz der 91

A.a.O., B 18. Vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 116: „Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert.“ 92 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 8. 93 Ebd. 94 Vgl. a.a.O., B 33. 95 A.a.O., B 35. 96 A.a.O., B 36. 97 A.a.O., B 38f. 98 A.a.O., B XX.

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Dinge als Erscheinungen“99. Auf Erkenntnisse über Dinge an sich, die hinter den Erscheinungen liegen mögen, wird verzichtet. Aber unabhängig von jeder Erfahrung und damit a priorisch kann ausgesagt werden, daß alles, was uns anschaulich erscheinen will, uns in den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit erscheinen muß. Auf diesem Wege löst sich für Kant auch die Frage, warum die Mathematik synthetischer Urteile a priori fähig ist. Raum und Zeit sind „zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können“100. In diesem Zusammenhang verweist Kant noch einmal auf die grundsätzliche Einschränkung derartiger Erkenntnis: „Aber diese Erkenntnisquellen a priori bestimmen sich eben dadurch (daß sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen, nämlich, daß sie bloß auf Gegenstände gehen, sofern sie als Erscheinungen betrachtet werden, nicht aber Dinge an sich selbst darstellen.“101

4. Fragen an Kants Ansatz aus Perspektive der Relativitätstheorie 102 Der vorangegangene Abschnitt kann und will nicht den Anspruch erheben, Kants erkenntnistheoretischen Ansatz umfassend dargestellt zu haben. Wohl aber kann jetzt gezeigt werden, welche Schwierigkeiten sich schon hier ergeben, wenn man Kants Ausführungen aus der Sicht der Relativitätstheorie verstehen und beurteilen will. Zur Verdeutlichung welche Fragen sich insbesondere vor dem Hintergrund der allgemeinen Relativitätstheorie stellen, soll zunächst noch einmal ein Absatz aus Kants transzendentaler Erörterung des Raumbegriffs zitiert werden: „Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt. Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntnis von ihm möglich sei? Er muß ursprünglich Anschauung sein; denn aus einem bloßen Begriffe lassen sich keine Sätze, die über den Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in der Geometrie geschieht [...]. Aber diese Anschauung muß a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein. Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden, z. B. der Raum hat nur drei Abmessungen; dergleichen Sätze aber können nicht empirische oder Erfahrungsurteile sein, noch aus ihnen geschlossen werden [...].“ 103

Im Zusammenhang von Kants Gedankengang gelesen sind diese Sätze einleuchtend und stimmig. Liest man diesen Absatz dagegen vor dem Hintergrund der allgemeinen Relativitätstheorie, so ergeben sich Fragen, die aus 99

A.a.O., B XXV. A.a.O., B 55. 101 A.a.O., B 56. 102 Vgl. dazu P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 16–99. 103 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 40f. 100

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Kants Perspektive nicht mehr ohne weiteres beantwortet werden können. Geometrie bestimme die Eigenschaften des Raumes a priorisch und synthetisch – von welchem Raum ist hier die Rede? Von einem durch die euklidischen Axiome festgelegten geometrischen Raum? Vom physikalischen Raum, der aber nicht notwendig euklidisch beschrieben werden muß? Welcher Geometrie gehorcht „die Vorstellung des Raumes“, die reine Anschauung ist? Die geometrischen Sätze sind „apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden“ – notwendig sicherlich in Bezug auf das jeweils zugrunde liegende Axiomensystem, aber nicht notwendig in Bezug auf die physikalischen Erscheinungen. So gilt bei Kant der geometrische Satz, „daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei“104 als Beispiel für ein synthetisches Urteil a priori. Im Raum einer euklidischen Geometrie ist diese Aussage korrekt, aber eben nicht mehr in der physikalischen Raum-Zeit, die der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt. Ein anderes Beispiel: Die Dreidimensionalität des Raumes ist für Kant zwar eine notwendige Erkenntnis – aber nicht aufgrund von Erfahrung, denn dann würde man „nur sagen können, so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden, der mehr als drei Abmessungen hätte“105, wie es in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ heißt. Aber gestatten die apriorischen Sätze der Geometrie überhaupt eine Aussage darüber, welcher Raum „gefunden“ werden kann? Sind Kants Beispiele nur falsch gewählt? Läßt sich Kant ohne größere Eingriffe korrigieren, indem man hier entsprechende Beispiele aus der „richtigen“ Riemannschen Geometrie auswählt, auf die die allgemeinen Relativitätstheorie aufbaut? Selbst wenn man hier Kant ergänzt, korrigiert oder einer Revision unterzieht106 und apriorische Sätze und entsprechende Beispiele dieser nichteuklidischen Riemannschen Geometrie zugrunde legt, so ist der Raum der Physik keineswegs notwendigerweise, sondern nur zweckmäßigerweise dieser Riemannsche Raum.107 Alle die in diesem Abschnitt aus Sicht der modernen Physik gestellten Fragen sind im Hinblick auf Kant eigentlich unangemessen. Kant setzt es – wie nicht anders zu erwarten – als selbstverständlich voraus, daß sich die zu seiner Zeit konkurrenzlose euklidische Geometrie in den physikalischen Erscheinungen unbestreitbar bestätigt findet. Er hatte keinerlei Anlaß, eine andere Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. Es wäre darum in der Tat beckmesse104

A.a.O., B 16. A.a.O., A 24 (fehlt in B). 106 Vgl. z. B. E. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, 85–87, 98–103, oder auch S. Körner, Kant, 27. 107 Aufgrund des apriorischen Systems einer Geometrie läßt sich überhaupt keine Aussage machen über den physikalischen Raum. Aus dem reichlichen Angebot verschiedener Geometrien wählt der Physiker diejenige aus, die ihm für seine Zwecke am geeignetsten erscheint. Im Fall der allgemeinen Relativitätstheorie ist das die Geometrie, in der sich die Naturgesetze am einfachsten darstellen lassen. Vgl. die diesbezügliche Kritik von P. Mittelstaedt an E. Cassirer (P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 59f, Anm. 5). 105

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risch, sich mit den verschiedenen Unstimmigkeiten zwischen Kants und Einsteins Theorien zu befassen – wenn Kant nicht mit dem Anspruch antreten würde, die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung zu bestimmen und wenn nicht immer wieder die tatsächlichen Unstimmigkeiten geleugnet oder verharmlost werden würden, um Kants Ansatz unangetastet lassen zu können. Die meisten bislang nicht zufriedenstellend beantworteten Anfragen von Seiten der modernen Physik an Kants Entwurf ergeben sich aus der Tatsache, daß die rasante Entwicklung von Mathematik, Physik und auch Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert ein differenzierteres Verständnis von Raum und Zeit notwendig macht.108 Heute unterscheidet man hinsichtlich des Raumes die psychologische Raumanschauung vom physikalischen Raum der uns umgebenden Welt und letzteren wieder von den unendlich vielen geometrisch möglichen Räumen. Kant spricht statt dessen stets vom „Raum“, von der „Einheit des Raumes“ usw., und mehrfach entstehen Unklarheiten bereits dadurch, daß aus heutiger Sicht nicht eindeutig ist, welcher Raum von Kant denn nun gemeint ist. Denn was zum Beispiel im Rahmen eines bestimmten mathematischen Raumes apodiktische Gültigkeit besitzt, muß sich keineswegs auch im physikalischen Raum als gültig erweisen. Angesichts dieser berechtigten Einwände sehen sich vor allem auf Seiten der Neukantianer einige Philosophen dazu genötigt, die „Kritik der reinen Vernunft“ gegenüber den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen dadurch zu verteidigen, daß sie Kants Gedanken ergänzen, anpassen oder kurzerhand gegen jede neue wissenschaftliche Erkenntnis zu immunisieren versuchen.109 Derartige Ausbesserungen und Immunisierungen des bereits sehr differenzierten kantischen Systems erscheinen aus heutiger Perspektive fragwürdig. Zurecht wird „im allgemeinen die Kantsche Philosophie als eine Grundlegung der Newtonschen Physik “110, als das „für unerschütterlich gehaltene Fundament der klassischen Physik“111 interpretiert. In vorbildlicher Weise gibt Kant mit der „Kritik der reinen Vernunft“ und mit der fünf Jahre später veröffentlichten Schrift „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ eine philosophische Antwort auf die vorangegangene naturwissenschaftliche Entwicklung. Anstatt Kants Werk notdürftig auszubessern, damit es auch der modernen Naturwissenschaft noch angemessen sei, wäre es m. E. an der Zeit, eine philosophische Grundlegung der modernen Physik auszuarbeiten, die im Anschluß an Kant für die moderne Physik leistet, was dieser für die klassische Physik geleistet hat. 108

Vgl. K. Jaspers, Die großen Philosophen, 421. Zu den verschiedenen Immunisierungs- bzw. Revisionsstrategien des Neukantianismus vgl. K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 212–239. 110 I. Strohmeyer, Transzendentalphilosophische Raum-Zeit-Lehre, 111 (Hervorhebung vom Verf.). 111 K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 317 (Hervorhebung vom Verf.); vgl. dazu auch H.-D. Mutschler, Die Welterklärung der Physik und die Lebenswelt des Menschen, 59, der Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als eine „Metatheorie der Newtonschen Physik“ bewertet. 109

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Im Rahmen vorliegender Arbeit soll und kann aber nicht darüber entschieden werden, ob Kants erkenntnistheoretischer Ansatz durch die moderne Physik nun endgültig überholt ist. Auch Kritiker verweisen darauf, daß es wesentliche Gedanken der „Kritik der reinen Vernunft“ für eine heutige Deutung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu bewahren gelte. Trotz gewichtiger Einwände gegen Kants Theorie beurteilt es beispielsweise Günther Patzig als Kants epochemachende Entdeckung, „daß an allem unserem Erfahrungswissen apriorische Elemente beteiligt sein müssen“112, und auch Karl Jaspers stellt fest, daß die heute vorgebrachten Widerlegungen nicht Kants „philosophischen Grundgedanken von der Erscheinungshaftigkeit des sinnlichen Daseins in Raum und Zeit [treffen]“113, da alles, was als Realität erkannt werde „in irgendwelche [sic] apriorisch erkennbare mathematische Formen eintreten [müsse]“114. Auch gegenüber der modernen Physik kann man mit Kant jedenfalls darauf bestehen, daß unserer Erkenntnis die Wirklichkeit „an sich“ nicht zugänglich ist. Wir können „von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur sofern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben“115. Insbesondere können wir die Gegenstände physikalischer Erkenntnis immer nur als Erscheinung haben. Diese Grenze bleibt auch der modernen Physik gezogen – was insbesondere die Theologen bedenken sollten, die heute versuchen einzelne physikalische Erkenntnisse unmittelbar metaphysisch in Anspruch zu nehmen. Auf diese grundsätzlich den Naturwissenschaften gezogene Grenze bezieht sich denn auch die Kritik Kants an der von ihm inhaltlich ansonsten voll akzeptierten Newtonschen Physik. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Newton einen absoluten Raum und eine absolute Zeit zugrunde legt. Für Kant sind Raum und Zeit „reine Formen der Anschauung“, die den Objekten selbst vorhergehen: „Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? Sind es zwar nur Bestimmungen, oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden, oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge beigelegt werden können?“ 116

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G. Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 67. „Aber daß es nur ein einziges System solcher apriorischer Elemente geben könne und dies durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens ein für alle Mal festgelegt sei“, so fährt Patzig ebd. fort, „hat sich als eine viel zu kühne und optimistische Behauptung erwiesen.“ 113 K. Jaspers, Die großen Philosophen, 421. 114 Ebd. Die Frage ob und ggf. wie synthetische Urteile a priori im Sinne Kants möglich sind, ist mit dieser Formulierung Jaspers noch offen gelassen. Vor allem mit dieser Frage befaßt sich der Logische Positivismus (vgl. 3. Kap. V. vorliegender Arbeit). 115 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXVI. 116 A.a.O., B 37f (Hervorhebung vom Verf.).

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Kant entscheidet sich für die letztere Möglichkeit. Er verneint damit die Erkenntnis einer unabhängigen Existenz von Raum und Zeit „an sich“ – und muß darum auch die newtonsche Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit an sich zurückweisen. Diejenigen, die wie Newton „die absolute Realität des Raumes und der Zeit behaupten [...], [müssen] mit den Prinzipien der Erfahrung selbst uneinig sein“117. Denn, schreibt Kant im Hinblick auf die „Partei der mathematischen Naturforscher“, sie müssen „zwei ewige und unendliche für sich bestehende Undinge (Raum und Zeit) annehmen, welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen“118. Im übrigen spricht sich Kant auch in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ (1786) gegen die Existenz eines absoluten Raumes aus, akzeptiert diesen dort aber als eine für die Naturwissenschaften notwendige Idee.119 Eine Bewegung gegen den absoluten Raum, die Newton aufgrund zweier Experimente irrtümlich als erwiesen betrachtete, muß Kant freilich auch hier als „Paradoxon“120 erscheinen. Ernst Mach, ansonsten bedacht, sich von „Kantschen Traditionen“121 abzuheben, verneint später als erster aus physikalischen Gründen die Beweiskraft der Experimente Newtons und schließt sich Kants Kritik an absoluter Zeit, absolutem Raum und absoluter Bewegung an. Darum schon von „der Vermittlung kantischer Überlegungen durch Ernst Mach an Einstein“122 zu sprechen, scheint in diesem Zusammenhang allerdings etwas hoch gegriffen. Es ist Kants Absicht, in der „Kritik der reinen Vernunft“ zu untersuchen, ob und gegebenenfalls wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Dies führt Kant zu der grundlegenden Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind; daß solche Urteile möglich sind, versucht Kant insbesondere aufgrund von Beispielen aus Geometrie und Physik aufzuzeigen. Diese Beispiele halten aber vor den Erkenntnissen der modernen Physik nicht stand. Darf dies als Hinweis darauf gewertet werden, daß Geometrie und Physik grundsätzlich keine synthetischen Urteile a priori enthalten können? Was würde es für die weitergehende Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft besagen, wenn Geometrie und Physik als Fundgruben vorbildlicher Beispiele ausfallen würden? Ist damit auch schon die Unmöglichkeit aller synthetischen Urteile a priori erwiesen? Mit diesen Fragestellungen befassen sich, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird, die Vertreter des Logischen Positivismus. Bereits jetzt soll aber festgehalten werden, daß sich vor dem Hintergrund der modernen Physik 117

A.a.O., B 56. Ebd. (Klammern von Kant); vgl. ders., Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 3f. 119 Vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 1ff, 149; vgl. dazu I. Strohmeyer, Transzendentalphilosophische und physikalische Raum-Zeit-Lehre, 102–111. 120 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 144. 121 E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, IX. 122 J. Zehbe, Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Philosophie Kants, XV. 118

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einige grundsätzliche Fragen an Kants Konzept ergaben. Sofern die Theologie heute akzeptieren könnte, daß eine „Kritik der reinen Vernunft“, die Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Vernunfterkenntnis absteckt, vor jedem metaphysischen Entwurf vollzogen werden muß, sollte sie die Auseinandersetzung um diese Fragen zumindest mit Aufmerksamkeit verfolgen. Dies wäre zweifellos ein lohnenderes Unterfangen als ohne Ansehen der von Kant bezeichneten und schwerlich bestreitbaren Grenzen jeder Vernunfterkenntnis immer wieder aufs Neue die gerade aktuellen physikalischen Entdeckungen auf irgendwelche unmittelbaren metaphysischen Implikationen hin zu befragen.

5. Gewißheit aus Anschauung und Unanschaulichkeit der Relativitätstheorie In Kants Erkenntnislehre kommt der „Anschauung“ zentrale Bedeutung zu. So beginnt auch der erste Teil der „Kritik der reinen Vernunft“ mit der Feststellung: „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. [...] Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (direkte) oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.“ 123

Für Kant wird beispielsweise der geometrische Satz, „daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind, als die dritte, [...] aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet“124. Der Begriff der Anschauung besitzt eine lange philosophische Tradition und tritt dabei in unterschiedlichen, zum Teil einander widersprechenden Bedeutungen auf. Weitgehend übereinstimmend aber gilt das, was „anschaulich“ vorgestellt werden kann, als unmittelbar einleuchtend. Die Überzeugungskraft dessen, was „angeschaut“ werden kann, spiegelt sich auch in der Sprache wider: es ist „offensichtlich“, „einsichtig“, „augenscheinlich wahr“, „evident“. Unbestreitbar hängt das, was man gemeinhin als „anschaulich“ bezeichnet, auch von Gewöhnung ab und ist durch gesellschaftliche, wissenschaftshistorische und individuelle Faktoren mitbedingt. Man ist zum Beispiel nun eben gewohnt, das Verhalten der Dinge im dreidimensionalen Raum und in der Zeit zu erleben. Soweit nun diese Dinge derart in Raum und Zeit dargestellt werden können, sind sie zugleich auch anschaulich vorstellbar. Die Newtonsche Mechanik entspricht (inzwischen) unserer Gewöhnung und kommt unserem Bedürfnis nach Anschaulichkeit weitgehend entgegen: „Die klassische Mechanik, die es mit der Bewegung und der mechanischen Wechselwirkung von Körpern im dreidimensionalen euklidischen Raum und in der absoluten Zeit zu 123 124

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 33. A.a.O., B 39.

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tun hatte und die Gesetze dieser Bewegung und Wechselwirkung erforschte, war das Musterbeispiel einer anschaulichen Theorie. Auch andere klassische physikalische Theorien, wie die Thermodynamik, die physikalische Statistik und die Elektrodynamik sind ungeachtet ihrer Kompliziertheit im Prinzip anschauliche Theorien.“125

Solche Anschaulichkeit eignet der Relativitätstheorie nicht mehr. Konstanz der Lichtgeschwindigkeit unabhängig vom Bezugssystem, Relativierung der Gleichzeitigkeit, Bezugssystemabhängigkeit von Längenverhältnissen und Zeitintervallen, relativistische Massenveränderlichkeit und „gekrümmte Räume“ sind anschaulich nicht vorstellbar. Heutige Naturwissenschaftler haben sich zwar längst an diese Konsequenzen der Relativitätstheorie gewöhnt, es ist ihnen geradezu selbstverständlich geworden, damit umzugehen, aber genauso selbstverständlich verzichten sie in diesem Zusammenhang auch auf anschauliche Vorstellungen. Physikalische Erscheinungen können einsichtig sein, ohne anschaulich zu sein, und umgekehrt kann Anschaulichkeit – Kants Beispiele zeigen es – sehr wohl in die Irre führen. Weil sich die anschauliche klassische Mechanik als ein spezieller Grenzfall der unanschaulichen Relativitätstheorie erwies, wurde von manchen die Unanschaulichkeit sogar zum „Prinzip“ der modernen Physik erhoben. Im Rahmen der modernen Physik hat, beginnend mit der Einsteinschen Relativitätstheorie, eine auf unmittelbarer Anschauung beruhende Gewißheit ihre Überzeugungskraft verloren. Eine physikalische Theorie muß in sich stimmig und an den Erscheinungen überprüfbar, aber nicht anschaulich sein. An die Stelle anschaulicher Vorstellungen sind abstrakte, unanschauliche Strukturen und Gesetze getreten. Gerade dies zählt Bertrand Russell auch zu den bleibenden philosophischen Konsequenzen der Relativitätstheorie: „Was wir über die physikalische Welt wissen, ist viel abstrakter, als man früher annahm. [...] Wir interpretieren die Welt von Natur aus bildlich; das heißt, wir stellen uns vor, daß die Vorgänge mehr oder weniger dem gleichen, was wir sehen. Aber in Wirklichkeit kann sich diese Gleichheit nur auf bestimmte formale logische Eigenschaften erstrecken, die die Struktur ausdrücken, so daß alles, was wir wissen können, gewisse allgemeine Merkmale ihrer Veränderungen sind.“ 126

Russell hält es für wahrscheinlich, daß der Prozeß, bei dem von allem, was nur anschauliche Vorstellung ist, abstrahiert werden muß, um zum Kern wissenschaftlicher Erkenntnis vorzudringen, noch nicht abgeschlossen ist: „Die Relativitätstheorie hat auf diesem Gebiet vieles geleistet und uns dabei der nackten Struktur immer näher gebracht, die das Ziel des Mathematikers ist – nicht weil sie das einzige ist, wofür er sich als menschliches Wesen interessiert, sondern weil sie das einzige ist, was er in mathematischen Formeln ausdrücken kann. Aber so weit wir die Abstraktion schon getrieben haben: es kann sein, daß wir darin noch weiter gehen müssen.“ 127

Es wird sich zeigen, daß die Quantentheorie hinsichtlich Unanschaulichkeit und Abstraktion noch weit über die Relativitätstheorie hinausgeht. Wenn 125

G. Kröber, Art. Anschaulichkeit, 78. B. Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, 170. 127 A.a.O., 171. 126

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Hans Reichenbach im Jahr 1924 schließlich sogar noch einen Weg sehen konnte, „in der physikalischen Welt der allgemeinen Relativitätstheorie Anschaulichkeit zu finden“128, so dürfte dies in Bezug auf die zu eben dieser Zeit weiter ausgearbeitete Quantenphysik gewiß nicht mehr zutreffen.

V. Relativitätstheorie und Logischer Positivismus 1. Neue Brücken zwischen Physik und Philosophie Die Relativitätstheorie veranlaßt zum einen, wie bereits erwähnt, viele Physiker zu einer grundsätzlichen Reflexion über ihre Wissenschaft und deren Erkenntnismethoden; zum anderen geht aber darüber hinaus in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von den neuen Entwicklungen in Physik und Mathematik ein mächtiger Impuls auf die Philosophie aus.129 Diesem Impuls verdankt sich eine bis heute an Einfluß kaum zu unterschätzende philosophische Strömung, die unter den Namen Logischer Positivismus, Neopositivismus, Kritischer Empirismus oder Wissenschaftliche Philosophie bekannt wird. Diese Richtung entwickelt sich vornehmlich in den zwanziger und dreißiger Jahren im „Wiener Kreis“ um Max Schlick und etwas später in der Berliner „Gesellschaft für Empirische Philosophie“, bei der Hans Reichenbach maßgebliche Bedeutung zukommt.130 In beiden Gruppen spielen Physiker die dominierende Rolle. Schlick promovierte im Jahr 1904 mit einer Arbeit „Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht“ bei Planck und wird 1922 auf den Wiener Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften berufen, der 1895 für Ernst Mach errichtet und später von Ludwig Boltzmann übernommen wurde. Schlick steht in Austausch mit führenden Vertretern von Physik und Mathematik wie Planck, Einstein und dem Mathematiker David Hilbert. Im Wiener Kreis, der im Jahr 1929 erstmals mit einer gemeinsamen Veröffentlichung hervortritt,131 sind überdies noch weitere Physiker und Mathematiker sowie 128

H. Reichenbach, Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, 156. K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 196–504, befaßt sich mit mehr als zehn philosophischen Richtungen, die sich an einer Deutung der Relativitätstheorie versuchen: Neukantianismus, Kritischer Rationalismus, Husserlsche Phänomenologie, Fiktionalismus, Konventionalismus, Logischer Empirismus, Operationalismus, Lebensphilosophie u. a.. Der sorgfältige Vergleich der verschiedenen Interpretationen durch K. Hentschel kommt zu dem Ergebnis, daß „insgesamt der logische Empirismus, also namentlich Schlick und Reichenbach, die angemessenste Deutung vorlegten“ (a.a.O., 573). 130 Vgl. zur Geschichte der Wiener Kreises V. Kraft, Der Wiener Kreis, 1–10; R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 32–53; sowie R. Hegselmann, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, 70–72. 131 Vgl. H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 299–336. 129

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mathematisch und naturwissenschaftlich geschulte Philosophen vertreten: der damalige Privatdozent Rudolf Carnap, der theoretische Physiker und Nachfolger Einsteins an der Deutschen Universität in Prag Philipp Frank, die Mathematiker Kurt Gödel, Hans Hahn und Karl Menger, ferner Otto Neurath, Herbert Feigl und Victor Kraft. Auch Hans Reichenbach kommt von der Physik und bleibt durch seine Vorlesungen und Forschungsarbeiten in Berlin in engem Kontakt mit den neuen physikalischen Entwicklungen. Sowohl im Wiener Kreis als auch innerhalb der Berliner Gruppe kommt bei der Formulierung des eigenen philosophischen Standorts der Relativitätstheorie eine besondere Bedeutung zu. Dies zeigt bereits ein kurzer Blick auf einige Titel der Veröffentlichungen, die von dieser Seite vorgelegt wurden: Im Jahr 1915 schreibt Schlick über „Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips“, 1917 über „Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik“ und 1922 über „Die Relativitätstheorie in der Philosophie“. Reichenbach befaßt sich mit „Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori“ (1920), mit einer „Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre“ (1924) und schreibt eingehend über „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie“132. Carnaps Dissertation „Der Raum“ (1921) handelt von den unterschiedlichen Theorien über das Wesen des Raumes, die von Mathematikern, Philosophen und Physikern vertreten werden. Die Schwierigkeiten, die Carnap bei der Suche nach einem „Doktorvater“ überwinden muß, decken Widerstände auf, die den „Logischen Empiristen“ auch später immer wieder begegnen. So lobt der Physiker Max Wien Carnaps Projektidee, verweist ihn aber an die philosophische Fakultät. Dort ist man wiederum der Ansicht, daß dieses Thema eher in die Physik gehöre. In seinem biographischen Rückblick schreibt Carnap: „Die Erfahrung mit meinem Dissertationsthema, das weder in die Physik noch in die Philosophie zu passen schien, machte mir erstmals klar, mit welchen Schwierigkeiten ich in Zukunft ständig zu rechnen hatte. Wenn jemand an den Grenzbereichen verschiedener Gebiete interessiert ist, die nach der üblichen akademischen Fächeraufteilung zu verschiedenen Fakultäten gehören, wird er nicht, wie er es vielleicht erwartet, als Brückenbauer begrüßt, sondern von beiden Seiten eher als Außenseiter und lästiger Eindringling angesehen.“133

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Ermordung Schlicks an der Wiener Universität (1936) findet der Wiener Kreis ein abruptes Ende. Viele Vertreter des Logischen Positivismus fliehen in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien.134 Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sie dort ihre Ideen insbesondere im Rahmen der modernen Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie weiter. 132

Vgl. H. Reichenbach, Gesammelte Werke, Bd. 2 (Philosophie der Raum-Zeit-Lehre) und Bd. 3 (Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie). 133 R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 18. 134 Zur Emigrationsgeschichte des Wiener Kreises vgl. R. Hegselmann, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, 73–78.

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Im folgenden soll aufgezeigt werden, aus welchem Grund im Rahmen des Logischen Positivismus der Relativitätstheorie eine zentrale Bedeutung zukommt. Dazu ist vorgängig eine kurze Charakteristik der philosophischen Ausrichtung des Wiener Kreises und der Berliner Gruppe um Reichenbach notwendig.

2. Charakteristika des Logischen Positivismus Der Logische Positivismus darf nicht als eine geschlossene und einheitliche philosophische Lehrmeinung aufgefaßt werden. Gerade der Wiener Kreis stellt eine Gruppe von eigenständigen und eigenwilligen Denkern dar, denen jeglicher uniforme Dogmatismus abhold ist. Es gibt einen „radikalen“ Flügel, vertreten insbesondere durch Otto Neurath, der auch pragmatisch-politische Argumente in die philosophischen Diskussionen einzubringen versucht, und eine gemäßigte Richtung, der Max Schlick und Rudolf Carnap zuzurechnen sind.135 Dennoch bemühen sich die Mitglieder des Wiener Kreises das sie Verbindende in den Vordergrund zu rücken, um so eine fruchtbare Zusammenarbeit zu ermöglichen. Als diese verbindende Grundrichtung nennt die erste öffentliche Selbstdarstellung des Wiener Kreises die „wissenschaftliche Weltauffassung“.136 Diese Weltauffassung ist gekennzeichnet durch eine empirische und zugleich antimetaphysische Ausrichtung (a), ferner durch die an der Mathematik und der modernen Physik orientierte Methode der logischen Analyse (b) und schließlich durch das angestrebte Ziel einer Einheitswissenschaft (c). a) Empirische und antimetaphysische Ausrichtung Der Wiener Kreis knüpft an die Bemühungen von Ernst Mach an, die Naturwissenschaften und in erster Linie die Physik von metaphysischen Elementen zu reinigen und auf rein empirische Grundlagen zu stellen. In dieser Absicht unterzog Mach Newtons Vorstellungen von absolutem Raum und absoluter Zeit einer eingehenden Kritik.137 Mach forderte, daß physikalische Gesetze so formuliert werden müssen, daß man sie durch direkte experimentelle Beobachtungen oder wenigstens durch eine kurze Gedankenkette in Verbindung mit direkten Beobachtungen verifizieren kann. „Es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenem beruht“138, heißt es entspre135

„Wir alle im Kreis waren an sozialem und politischem Fortschritt stark interessiert“, schreibt Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 36, im Rückblick auf den Wiener Kreis. „Die meisten von uns, ich eingeschlossen, waren Sozialisten. Aber wir wollten unsere philosophische Arbeit von unseren politischen Zielen getrennt halten.“ 136 Vgl. Anm. 131. 137 Vgl. E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 179–271. 138 H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 307.

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chend in der Anfangszeit des Wiener Kreises. Dies wird später etwas abgemildert, wenn Philipp Frank formuliert: „Wie immer auch die grundlegenden Symbole und die Gesetze ihrer Kombination beschaffen sein mögen, es muß logische Schlüsse von diesen Prinzipien aus geben, die mit der direkten Erfahrung konfrontiert werden können.“ 139

Ist eine derartige Kombination oder Ableitung nicht möglich, so handelt es sich bei den Prinzipien um „sinnlose“ Sätze oder Begriffe, denen kein Erkenntniswert in Bezug auf die Wirklichkeit zukommen kann. Damit ist für den Logischen Positivismus zugleich auch eine Grenze für den Inhalt legitimer Wissenschaft gezogen.140 Es gebe eine scharfe Grenze zwischen zwei Arten von Aussagen, heißt es dazu in der Programmschrift des „Wiener Kreises“: „Zu der einen gehören die Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden; ihr Sinn läßt sich feststellen [...] durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes. Die anderen Aussagen [...] erweisen sich als völlig bedeutungsleer, wenn man sie so nimmt, wie der Metaphysiker sie meint.“141

Der Metaphysiker und der Theologe glauben nämlich irrtümlich mit ihren Sätzen einen Sachverhalt darzustellen, während diese in Wirklichkeit nur Ausdruck eines Lebensgefühles seien. Das adäquate Ausdrucksmittel für Lebensgefühle sei aber nicht eine wissenschaftliche Theorie, sondern die Kunst, zum Beispiel Lyrik oder Musik.142 Insbesondere wird mit der genannten Unterscheidung jegliche Erkenntnis der Wirklichkeit, die unabhängig von der Erfahrung durch reines Denken zustande kommt, strikt abgelehnt. Synthetische Urteile a priori im Sinne Kants sind grundsätzlich nicht möglich: „Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unbedingt gültige Erkenntnis aus reiner Vernunft, keine ‚synthetischen Urteile a priori‘, wie sie der Kantischen Erkenntnistheorie und erst recht aller vor- und nachkantischen Ontologie und Metaphysik zugrunde liegen. [...] Gerade in der Ablehnung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori besteht die Grundthese des modernen Empirismus.“143

An dieser Einstellung hält zum Beispiel Carnap trotz vieler Wandlungen seines Denkens zeitlebens fest. Noch in seiner letzten größeren Veröffentlichung betont er: „Wenn man den Empirismus akzeptiert, dann kann es kein Wissen geben, das sowohl a priori wie auch synthetisch wäre.“144 Für den Beleg dieser These spielt die allgemeine Relativitätstheorie, wie wir weiter unten sehen werden, eine entscheidende Rolle. 139

P. Frank, Einstein, Mach und der Logische Positivismus, 180. Vgl. H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 307. 141 A.a.O., 305f. 142 Vgl. dazu auch R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, 168–171. 143 H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 307. 144 R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 182. 140

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b) Methode der logischen Analyse Einen Grund für die produktive Zusammenarbeit des Wiener Kreises sieht Carnap darin, daß alle Mitglieder unmittelbar mit einem Wissenschaftsgebiet, sei es Mathematik, Physik oder Sozialwissenschaften, vertraut sind: „Das ergab ein höheres Niveau an Klarheit und Verantwortung, als es sonst in philosophischen Kreisen, besonders in Deutschland, anzutreffen war. Die Mitglieder des Kreises kannten auch die moderne Logik. Dadurch ließ sich die Analyse eines zur Diskussion stehenden Begriffs oder einer Aussage symbolisch darstellen, wodurch die Argumente präziser wurden.“145

Mit diesem Vorgehen verbindet sich zugleich die Orientierung am Erkenntnis- und Methodenideal der Naturwissenschaften, das auch auf die Geisteswissenschaften übertragen werden soll. Da letztlich alle Sätze, die über die Wirklichkeit etwas besagen, empirischer Natur sein müssen, reduziert sich speziell die Aufgabe der Philosophie auf die Methode der logischen Analyse, das heißt auf die „Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes“146. Einerseits deckt Philosophie dadurch bedeutungslose Wörter und sinnlose Scheinsätze auf, andererseits klärt sie sinnvolle Begriffe und Sätze und trägt so zur Grundlagenforschung der Naturwissenschaften und der Mathematik bei.147 c) Einheitswissenschaft und Physikalismus Vor allem unter dem Einfluß Otto Neuraths sieht der Wiener Kreis eine wichtige Aufgabe im Aufbau einer „Einheitswissenschaft“. Demnach sind die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zwar aus praktischen Gründen getrennt, müssen aber grundsätzlich als Teile einer umfassenden einheitlichen Wissenschaft verstanden werden. Diese Einheit soll eine alle Erkenntnis umfassende Gesamtsprache gewährleisten. Als solche Universalsprache wird die physikalische Sprache verstanden, weshalb Neurath mit „Physikalismus“ auch das Programm und die Philosophie des Wiener Kreises bestimmt: „In einem Sinn ist die Einheitswissenschaft allgemeinste Physik, ein Gewebe von Gesetzen, die Raum-Zeit-Verknüpfungen ausdrücken – nennen wir das: Physikalismus.“ 148

Alle Aussagen der Einzelwissenschaften – neben der Chemie und Biologie insbesondere auch der Psychologie und Soziologie – können in der Sprache

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R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 33f. H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 305f. 147 Vgl. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, 167f. 148 O. Neurath, Physikalismus: Die Philosophie des Wiener Kreises, 415. – Auch R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, 248, bekennt sich im Jahr 1934 ausdrücklich zur „These des Physikalismus“, die besage, „daß die physikalische Sprache eine Universalsprache der Wissenschaft ist, d. h. daß jede Sprache irgendeines Teilgebietes der Wissenschaft gehalttreu in die physikalische Sprache übersetzt werden kann.“ 146

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der Physik ausgedrückt werden. Die Physik rückt dadurch für Neurath in eine Schlüsselposition: „Die Einheitswissenschaft umfaßt nur physikalistische Formulierungen. Das Schicksal der Physik im engeren Sinne wird so das Schicksal aller Wissenschaften, soweit Aussagen über kleinste Teile in Frage kommen. Für den ‚Physikalismus‘ ist es wesentlich, daß eine Art der Ordnung allen Gesetzen zugrunde liegt, ob es sich nun um geologische, chemische oder soziologische Gesetze handelt.“149

Carnap bezeichnet im Rückblick die frühen Formulierungen des Physikalismus von Neurath und ihm selbst „nur als grobe Versuche“150, die in späteren Jahren differenzierteren Betrachtungen weichen mußten. Diese Feststellung gilt nicht nur bezüglich des Physikalismus. Victor Kraft weist darauf hin, daß die Arbeit des Wiener Kreises nicht abgeschlossen, sondern durch die politischen Umstände unvermittelt abgebrochen wurde. Manche allzu große Vereinfachung und mancher Radikalismus erklärt sich nach Kraft als erster Ansatz, der später bei kontinuierlicher Weiterarbeit wohl ausgereiftere Lösungen zugelassen hätte.151 Doch es sind gerade die ersten, noch unausgereiften Versuche des Logischen Positivismus, die von dem gewaltigen Eindruck, den die moderne Physik und hier vor allem die Relativitätstheorie Einsteins auf diese philosophische Strömung ausüben, zeugen können. In den frühen Schriften des Wiener Kreises ist eine ungeheure Zuversicht spürbar, nun endlich alle Wissenschaften auf sichere Grundlagen stellen zu können und damit auch in der Philosophie, die sich ihrer eigentlichen Aufgabe bewußt geworden ist, Fortschritte erzielen zu können. In der Neuzeit hatten die Erfolge der mathematischen Naturwissenschaften Descartes provoziert, es in der Philosophie genauso zu versuchen und die Metaphysik durch Anwendung einer der Mathematik abgeschauten Methode auf eine unerschütterliche Grundlage zu stellen. Entsprechend sah sich Kant angesichts der Revolution der Denkart in Mathematik und Naturwissenschaft veranlaßt „ihnen, soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnis, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen“152. Und nun lassen sich wiederum in ganz ähnlicher Weise, aber in radikaler Abkehr von Kant, die Vertreter des Logischen Positivismus durch Einsteins Relativitätstheorie für eine neue Grundlegung der Philosophie als Wissenschaft inspirieren. Sie analysieren dazu Einsteins methodisches Vorgehen und beabsichtigen, es auch über den Rahmen der Physik hinaus anzuwenden. Sie versuchen, so schreibt Philipp Frank, „ihre Formulierungen den Methoden anzupassen, die mit Erfolg bei der allgemeinen Relativitätstheorie angewandt worden waren“153. Welche Interpretation die Relativitätstheorie dabei im einzelnen erfährt, wird nun im folgenden genauer untersucht. 149

O. Neurath, Physikalismus: Die Philosophie des Wiener Kreises, 419. R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 81. 151 Vgl. V. Kraft, Der Wiener Kreis, VI. 152 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI. 153 P. Frank: Einstein, Mach und der logische Positivismus, 177. 150

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3. Die Relativitätstheorie als empirische Philosophie Die spezielle Relativitätstheorie kann als Bestätigung der empiristischen These des Logischen Positivismus aufgefaßt werden, derzufolge nur Erfahrungserkenntnis zugelassen werden darf, die auf unmittelbar Gegebenem beruht. Der von den Physikern des 19. Jahrhunderts postulierte Äther, der den gesamten Weltraum ausfüllen sollte, ist keine beobachtbare Tatsache und damit eben keine Erfahrungserkenntnis. Einstein sieht darum auch keinen Anlaß einen derartigen Äther „neben dem Raum als ein Wesen besonderer Art“154 einzuführen, dieser erweist sich ihm als „überflüssig“155. Statt dessen gründet sich die spezielle Relativitätstheorie „direkt auf ein empirisches Gesetz“156, nämlich auf die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, eine experimentell sehr gut belegte Erfahrungserkenntnis. Darüber hinaus betont Einstein wiederholt den empirischen Charakter der Relativitätstheorie, wobei er bewußt auf Formulierungen Ernst Machs zurückgreift: Die Relativitätstheorie sei nicht spekulativen Ursprungs, sondern sie verdanke ihre Entdeckung nur der Bestrebung, „die physikalische Theorie den beobachteten Tatsachen so gut als nur möglich anzupassen“157. Es sei einer der wesentlichsten Züge der Relativitätstheorie, so Einstein weiter, daß sie bemüht sei, „die Beziehungen der allgemeinen Begriffe zu den erlebbaren Tatsachen schärfer herauszuarbeiten“158. Die Berechtigung eines physikalischen Begriffes beruhe „ausschließlich in seiner klaren und eindeutigen Beziehung zu den erlebbaren Tatsachen“159. Reichenbach erkennt in dieser Einstellung eine „positivistische oder wohl besser gesagt empiristische Haltung“, die Einsteins „philosophische Position“160 bestimme: „Die Einsteinsche Relativitätstheorie gehört [...] zur Philosophie des Empirismus.“161 Allerdings modifiziert Einstein die Forderung Machs – und damit auch eine ursprüngliche Forderung des Wiener Kreises – wenn er später darauf hinweist, daß Erkenntnisse in der Physik in der Regel nicht auf unmittelbare Erfahrungstatsachen zurückgeführt werden können und zur Veranschaulichung gerade wieder die allgemeine Relativitätstheorie anführt: „Die Relativitätstheorie ist ein schönes Beispiel für den Grundcharakter der modernen Entwicklung der Theorie. Die Ausgangshypothesen werden nämlich immer abstrakter, erlebnisferner. Dafür aber kommt man dem vornehmsten wissenschaftlichen Ziele näher, mit einem Mindestmaß von Hypothesen oder Axiomen ein Maximum von Erlebnisinhalten durch logische Deduktion zu umspannen. Dabei wird der gedankliche Weg von den 154

A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 237. Ders., Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 27. 156 Ders., Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 239. 157 Ders., Über Relativitätstheorie, 217. 158 A.a.O., 218. 159 Ebd. 160 Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 143. 161 A.a.O., 160. 155

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Axiomen zu den Erlebnisinhalten bzw. zu den prüfbaren Konsequenzen ein immer längerer, subtilerer.“162

Die Theorie muß schon weit ausgearbeitet sein, um zu Folgerungen zu führen, die sich mit der Erfahrung vergleichen lassen. Dennoch bleibt auch für Einstein „die Erfahrungstatsache die allmächtige Richterin“163. Aber ihr Spruch könne erst aufgrund großer und schwieriger Denkarbeit erfolgen, die den weiten Raum zwischen den Axiomen und den prüfbaren Folgerungen zu überbrücken habe. Diesem hier zum Ausdruck kommenden Vorgehen der theoretischen Physik, das diese bis heute prägt, tragen spätere Modifizierungen und „Liberalisierungen“ der positivistischen Konzeption durch Frank und Carnap Rechnung.164 Weiterhin sieht der Logische Positivismus im Fall der speziellen Relativitätstheorie ein Beispiel für den Erfolg der konsequent durchgeführten logischen Analyse. Die entscheidenden, epochemachenden Fortschritte der Wissenschaft sind für Schlick immer dadurch gekennzeichnet, „daß sie eine Klärung des Sinnes der fundamentalen Sätze bedeuten“165. Dies gelte auch für die Einsteinsche Relativitätstheorie, „die von einer Analyse des Sinnes der Aussagen über Zeit und Raum ausging“. Schlick beurteilt Einsteins diesbezügliche Klärung als eine „eminent philosophische [...] Leistung“166. Victor Kraft führt dies am Beispiel der Relativierung der Gleichzeitigkeit noch etwas näher aus. Einstein gebe an, unter welchen Umständen das Wort „Gleichzeitigkeit“ zu gebrauchen sei, und damit lege er – nach einer Formulierung von Ludwig Wittgenstein – die „Grammatik“ dieses Wortes fest.167 Einstein beschreibt exakt die komplexe Situation, die die genaue Bedeutung des Begriffs „Gleichzeitigkeit“ überhaupt erst verständlich macht. Damit entspricht Einstein in diesem konkreten Fall einer der ersten Bemühungen des Wiener Kreises, die darin besteht, „die Sprache ihrer Bedeutungsfunktion nach klarzustellen“168. Die zweifellos wichtigste Funktion der allgemeinen Relativitätstheorie besteht für den Logischen Positivismus aber darin, daß sie hier als das entscheidende Argument gegen die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori im Sinne Kants dient. Reichenbach ordnet die Relativitätstheorie aus philosophiegeschichtlicher Perspektive aus diesem Grund auch in den „Prozeß der Auflösung des synthetischen a priori“169 ein. Zufolge der Programmschrift des Wiener Kreises macht die Ablehnung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori die Grundthese des modernen Empirismus 162

A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem in der modernen Physik, 238. A.a.O., 238f. 164 Vgl. dazu P. Frank, Einstein, Mach und der logische Positivismus, 175–178, sowie R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 60, 88–93. 165 M. Schlick, Die Wende der Philosophie, 18. 166 Ebd. 167 Vgl. V. Kraft, Der Wiener Kreis, 27. 168 A.a.O., 26. 169 H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 159. 163

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aus, und darum kommt der Relativitätstheorie an dieser Stelle sogar eine konstitutive Bedeutung für den Logischen Positivismus zu. Nach Auffassung der Vertreter des Logischen Empirismus sind für Kant die Sätze der euklidischen Geometrie zum einen a priorisch gültig, das heißt unabhängig von Erfahrung, und zum anderen sind sie synthetisch, das heißt Erkenntnis der erfahrbaren Wirklichkeit. Mathematiker des 19. Jahrhunderts entdeckten nun Geometrien, die unter logischem Gesichtspunkt mit der euklidischen Geometrie gleichberechtigt sind. Immerhin scheint aber zu dieser Zeit die euklidische Geometrie noch dadurch ausgezeichnet zu sein, daß sich ihre Aussagen mit der uns umgebenden physikalischen Wirklichkeit decken, wohingegen die anderen, nichteuklidischen Geometrien reine Gedankengebilde ohne sinnvollen Bezug zur Wirklichkeit darzustellen scheinen. Diese Vorzugsstellung verliert die euklidische Geometrie, als Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie für den physikalischen Raum mit Erfolg eine nichteuklidische Struktur zugrunde legt. Damit ist für die Vertreter des Logischen Positivismus erwiesen: Die (unendlich vielen) axiomatischen Systeme, die die Geometrie zur Auswahl stellt, sind zwar allesamt a priorisch, aber sie sind nicht synthetisch, das heißt ohne unmittelbaren Erkenntniswert in Bezug auf die physikalische Wirklichkeit. Carnap konstatiert in diesem Sinn unmißverständlich: „Die Relativitätstheorie machte es allen, die es verstanden, klar, daß Geometrie, im a-priori-Sinn genommen, uns nichts über die Realität sagt. Es gibt keine Aussage, die logische Sicherheit mit einer Information über die geometrische Struktur der Welt verbindet.“170

Im gleichen Sinn faßt Victor Kraft die gemeinsame Überzeugung des Wiener Kreises zusammen: „Logik und Mathematik sagen nichts über die erfahrbare Wirklichkeit aus. Die Logik enthält keine Erkenntnisse, sie gibt nicht die Grundgesetze des Seins, sondern die Grundlagen gedanklicher Ordnung. Logische Beziehungen sind bloß gedankliche Beziehungen, sie bestehen nicht als tatsächliche Beziehungen innerhalb der Wirklichkeit, sondern nur als Beziehungen innerhalb des Darstellungssystems.“171

Erst der Physiker entscheidet in Anbetracht von empirischen Vorgaben, welche der zur Auswahl stehenden Geometrien ihm geeigneter erscheint, die Struktur der physikalischen Wirklichkeit zu beschreiben. Theoretisch bieten sich ihm dazu im Zusammenhang mit der allgemeinen Relativitätstheorie unterschiedliche Möglichkeiten: Entweder er behält die euklidische Geometrie bei und erklärt die neuen Beobachtungsergebnisse durch zusätzliche Korrekturfaktoren in den klassischen Gesetzen der Mechanik und Optik; oder er zieht eine nichteuklidische Geometrie vor und erhält dann vergleichsweise einfache physikalische Gesetze.172 In der Beurteilung dieser beiden Möglich170

R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 183. V. Kraft, Der Wiener Kreis, 16. 172 Eine Gegenüberstellung dieser beiden Möglichkeiten findet sich in: P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 46–99, insbesondere 98f. 171

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keiten weichen die Ansichten der Logischen Positivisten voneinander ab. Für Carnap führen beide Möglichkeiten zu äquivalenten Theorien, das heißt, daß die Theorien jeweils zu genau den gleichen Vorhersagen führen. Allerdings besitzt die von Einstein und der modernen Physik verwendete nichteuklidische Geometrie den Vorteil, das gesamte System der Physik zu vereinfachen.173 Reichenbachs Standpunkt ist hier radikaler, wenn er darauf insistiert, daß es im Hinblick auf die genannten Möglichkeiten „nur ein entweder-oder“174 gebe. Der Übergang zwischen beiden Möglichkeiten „würde den Übergang zu einer anderen Physik bedeuten, die physikalischen Gesetze würden dann materiell anders lauten, und eine Physik kann nur richtig sein“175. Wogegen man freilich einwenden muß, daß die jeweils anders lautenden Gesetze zu exakt den gleichen Voraussagen kommen würden und von da her keine Theorie „richtiger“ als die andere ist. Aber Reichenbach geht es darum, die nichteuklidische Geometrie, die in der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde gelegt wird, nicht nur als zweckmäßig und praktikabel herauszustellen, sondern auch als „wahr“. Über diese Wahrheit entscheiden Beobachtung und Experiment, wie Reichenbach in anderem Zusammenhang, aber gleichfalls mit Bezug auf die Geometrie feststellt: „Es ist eine empirische Frage, zu welchem Typus unsere Welt gehört. Das Experiment hat zugunsten der Einsteinschen Auffassung entschieden. Wie bei der Geometrie ist der menschliche Geist fähig, auch verschiedene Formen eines Zeitschemas zu konstruieren. Die Frage, welches dieser Schemata auf die physikalische Welt paßt, also wahr ist, kann nur mit Bezug auf die Beobachtungsdaten beantwortet werden.“176

Es zeigt sich, daß die Relativitätstheorie für den Logischen Positivismus nicht nur einen gedanklichen Anstoß bedeutet, sondern daß ihr auch eine überragende Bedeutung in der Argumentation dieser philosophischen Richtung zukommt. Es kann darum nicht überraschen, daß Albert Einstein in der Selbstdarstellung des Wiener Kreises neben Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein als „führende[r] Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung“ aufgeführt wird. Einstein wird unter den Denkern der Gegenwart genannt, „die die wissenschaftliche Weltauffassung am wirkungsvollsten in der Öffentlichkeit vertreten und auch stärksten Einfluß auf den Wiener Kreis ausüben“177. In gewissem Maß ist diese Berufung auf Einstein sicherlich begründet. Dies gilt insbesondere für die von Carnap vertretene Position, mit der Einstein weitgehend übereinzustimmen scheint,178 wenn er mit Bezug auf das Verhältnis von Mathematik zur Wirklichkeit feststellt: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern 173

Vgl. dazu R. Carnap, Philosophie der Naturwissenschaften, 163f. H. Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, 296. 175 Ebd. 176 H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 158. 177 H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 332. 178 Vgl. R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 60. 174

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sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“179 Einstein kann aus diesem Grund „die Frage nach dem a priori im Sinne Kants niemals begreifen“180. Einsteins Feststellung über das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit läßt aber offen, wie er zu Reichenbachs Position steht; mit Geometrie und Mathematik allein ist jedenfalls auch für Einstein die Frage nach der „Struktur der Welt“ nicht eindeutig entscheidbar.181

VI. Schlußbemerkung Die Relativitätstheorie wirft philosophische Fragen nach ihrer Deutung auf, die weit über den Rahmen der Physik hinausgehen. Diese Fragen werden von Philosophen und Physikern wie gesehen im einzelnen sehr unterschiedlich beantwortet und zum Teil bis heute kontrovers diskutiert. Die übereinstimmende Überzeugung, daß die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie physikalisch richtig sind, schließt demnach miteinander unvereinbare Deutungen dieser physikalischen Theorien keineswegs aus. Bezüglich der Physiker ist außerdem schon hier festzuhalten, daß sich mit der Relativitätstheorie ihr Wirklichkeitsverständnis nachhaltig zu verändern beginnt. Das Bild, das die moderne Physik von der Welt – „ihrer“ Welt – Zug um Zug entwirft, verzichtet zunehmend auf anschauliche Vorstellungen, es wird abstrakter und mathematischer. Ein unreflektierter „Realismus“, der insbesondere unter den Physikern des 19. Jahrhunderts noch die Regel ist, läßt sich mit der modernen Physik nicht mehr vereinbaren. Physiker, die unbeirrt an einer unmittelbar anschaulichen Weltauffassung festhalten, können immer weniger mit selbstverständlicher Zustimmung rechnen und sehen sich genötigt, gegenüber jüngeren Fachkollegen ihr physikalisches Wirklichkeitsverständnis zu rechtfertigen. Im weiteren Verlauf vorliegender Arbeit wird deutlich werden, daß sich diese Veränderung im Wirklichkeitsverständnis, die sich in der Relativitätstheorie erst abzeichnet, in der Quantentheorie fortsetzt, bei den Physikern zu einem ausdrücklich bewußt werdenden „Realismusproblem“ führt und sich insbesondere auch auf die Stellungnahmen von Physikern zu Fragen der Religion auswirkt. 179

A. Einstein, Geometrie und Erfahrung, 197. Ders., Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 231. 181 „Die Frage nach der geometrischen Struktur der Welt wird eindeutig entscheidbar“, heißt es allerdings in der Programmschrift des Wiener Kreises – ausgerechnet unter Bezug auf Einsteins Vortrag Geometrie und Erfahrung (H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 333); vgl. dazu auch Einsteins Kommentar zu Reichenbachs Interpretation der Relativitätstheorie in: P. A. Schilpp (Hg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher. Eine Auswahl. Braunschweig 1983, 242–244. 180

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Zuvor werden wir uns aber im folgenden Kapitel den Reaktionen auf die Relativitätstheorie von Seiten der Theologie zuwenden. Die von den Vertretern des Logischen Positivismus geführten Diskussionen um die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie und um den damit in Frage stehenden erkenntnistheoretischen Ansatz Kants stoßen damals freilich nicht auf das Interesse der Theologie. Dies ist um so bedauerlicher, als gerade im Zusammenhang mit diesen Fragen ein konstruktiver Austausch zwischen moderner Physik, Philosophie und Theologie vorstellbar gewesen wäre. Vom „Wiener Kreis“ und von der Berliner Gruppe um Reichenbach hätte die Theologie dabei zunächst einmal lernen können, daß die gründliche Kenntnis physikalischer Sachverhalte ihrer Deutung vorangehen muß. Des weiteren hätte aber die Inanspruchnahme der Relativitätstheorie für die Metaphysikkritik im Logischen Positivismus einer kritischen Beurteilung unterzogen werden müssen. Dabei hätte sich ergeben, daß es zwar möglich, aber keineswegs zwingend ist, die Relativitätstheorie von einem physikalistischen Standpunkt aus im Sinne Neuraths zu deuten. Doch selbst wenn man etwa Carnap zugesteht, daß mit der allgemeinen Relativitätstheorie belegt werden kann, daß Mathematik und Geometrie keine synthetischen Urteile a priori enthalten können, so ist damit noch keineswegs die Unmöglichkeit aller synthetischen Urteile a priori erwiesen. Wäre es damals im Anschluß an die Relativitätstheorie zu einem offenen Dialog gekommen, hätte sich die Theologie vielleicht unversehens auf der Seite Kants wiedergefunden und im Anschluß an ihn gegen physikalistische Kurzschlüsse und für die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori und damit für die Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft argumentiert. Auf diesem Wege hätte sich der Theologie nach ihrer pauschalen Ablehnung der kritischen Philosophie Kants im 19. Jahrhundert sogar ein Zugang zum transzendentalphilosophischen Ansatz eröffnen können. Vielleicht wäre es der Theologie im Ausgang von Kant dann auch gelungen, sich zu den modernen Naturwissenschaften in ein Verhältnis zu setzen, bei dem sie nicht immer wieder neu entscheiden muß, ob sie sich durch neues naturwissenschaftliches Wissen eher bedroht oder bestätigt sehen soll. Dies bleiben Gedankenspiele. Auf dieser Ebene kommt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kein Dialog zwischen moderner Physik, Philosophie und Theologie zustande. Zwar gibt es theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie, aber sie sind von anderer Art, wie folgendes Kapitel zeigen wird.

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Viertes Kapitel: Theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie

Wer mit den grundlegenden physikalischen Aussagen der Relativitätstheorie vertraut ist, wird sich wundern, wenn nun von theologischen Reaktionen auf die Relativitätstheorie die Rede sein soll. Daß die Relativitätstheorie unterschiedliche erkenntnistheoretische Deutungen erfährt, ist aufgrund der physikalischen Revision der Begriffe von Raum und Zeit naheliegend und kann im vorangegangenen Kapitel nachvollzogen werden. Was aber haben die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie mit Theologie und Religion zu tun? Albert Einstein selbst reagiert amüsiert und verständnislos auf diesbezügliche Anfragen und weist jeden Zusammenhang seiner Theorie mit religiösen Fragen entschieden zurück. So bescheidet Einstein beispielsweise den Erzbischof von Canterbury Randall Thomas Davidson auf dessen direkte Frage „what effect the theory of relativity had on religion“ kurz und bündig: „None. Realtivity is a purly scientific theory, and has nothing to do with religion.“1 Dessen ungeachtet gibt es vor allem in den zwanziger Jahren zahlreiche Beiträge von Theologen, die sich mit dem Verhältnis von Relativitätstheorie und Religion und darüber hinaus auch mit der Bedeutung der Relativitätstheorie für den christlichen Glauben befassen. Wenn man diese Beiträge allerdings mit der physikalisch kompetenten Auseinandersetzung, die beispielsweise im „Wiener Kreis“ über die Relativitätstheorie geführt wurde, vergleicht, fällt sofort das bescheidene Niveau ins Auge, auf dem diese „theologische Rezeption“ stattfindet. Der Physiker und Einsteinbiograph Philipp Frank bemängelt, daß sich die theologischen Interpretationen der Relativitätstheorie mehr auf den Wortlaut als auf den Inhalt dieser Theorie beziehen. Das sehe man besonders bei den „Hunderten von Autoren, die die vierdimensionale Darstellung der Relativitätstheorie heranziehen, um ein Argument für die traditionelle Religion zu finden“2. Mit einigen Beispielen einer derart oberflächlichen und unangemessenen „Deutung“ der Relativitätstheorie beginnt der Überblick über die insgesamt sehr unterschiedlichen Stellungnahmen, die hier von theologischer Seite vorgelegt werden (I.). Im Anschluß daran wendet sich die vorliegende Untersuchung den argumentativen Anstrengungen katholischer Theologen zu, die Unvereinbarkeiten von neuscholastischer Ontologie und Relativitätstheorie ausmachen und darum sogar grundsätzlich die experimentelle Überprüfbar1

Zit. in: M. Jammer, Einstein und die Religion, 58; vgl. auch P. Frank, Einstein. Sein Leben und seine Zeit, 303f, vgl. 416. – Einstein lehnt zwar jede religiöse Implikation der Relativitätstheorie ab, bekennt sich aber unabhängig davon verschiedentlich zu einer „kosmischen Religiosität“; vgl. 7. Kap. II. 2. vorliegender Arbeit. 2 P. Frank, Einstein. Sein Leben und seine Zeit, 418.

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keit der Relativitätstheorie leugnen (II.). Der darauffolgende Abschnitt befaßt sich mit Karl Heims Versuch einer „neuen Apologetik“, in deren Rahmen die Relativitätstheorie zwar bejaht, zugleich aber auch sehr fragwürdig gedeutet wird (III.). Schließlich sollen Ansätze einer neuen Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie dargestellt werden, die von theologisch interessierten und gebildeten Naturwissenschaftlern im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie vorgelegt werden (IV.). Nur wenige Jahre dient die Relativitätstheorie als Impuls für einen möglichen Austausch zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Kaum nehmen die wenigen Theologen, die die Entwicklung der modernen Physik verfolgen, die Relativitätstheorie zur Kenntnis, ist für die neue Physikergeneration insbesondere die spezielle Relativitätstheorie schon eine Theorie geworden, die man „einfach lernen und anwenden [muß], so wie jede ältere Disziplin der Physik“3. Faszinierend sind nun die Herausforderungen, die die Entfaltung der neuen Quantentheorie stellt. Als nach dem zweiten Weltkrieg da und dort das Gespräch zwischen Physikern und Theologen (wieder) in Gang kommt, geht es dann fast ausschließlich um die Deutung der Quantentheorie.

I. Die Relativitätstheorie als vermeintliche Bestätigung des Glaubens Rudolph Lettau, evangelischer Pastor in Riezig bei Stargard, veröffentlicht im Jahr 1920 in der „Furche“, einer „Monatsschrift zur Vertiefung christlichen Lebens und Anregung christlichen Werkes“, einen Aufsatz mit dem Titel „Die Einsteinsche Relativitätstheorie im Verhältnis zur christlichen Weltanschauung“. Obwohl Lettau zugesteht, daß eine umfassende philosophische, mathematische und naturwissenschaftliche Bildung zum völligen Verständnis des in Frage stehenden Problems gehöre, kann seiner Meinung nach „auch der schlichte Verstand und besonders der christlich erleuchtete [...] sehr wohl zu einem eigenen Urteil in der Streitfrage wegen der Relativitätstheorie kommen“4. Lettaus Urteil soll hier erwähnt werden, da es ein – ausgesprochen einfältiges – Beispiel darstellt sowohl für einen verbreiteten Typ früher theologischer „Rezeption“ der Relativitätstheorie als auch für ein bis heute geübtes Verfahren theologischer Reaktion auf gerade aktuelle und populäre naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Die „Wiedergabe“ der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie wird bei Lettau auf einen einzigen Satz komprimiert: 3

W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 37. R. Lettau, Die Einsteinsche Relativitätstheorie im Verhältnis zur christlichen Weltanschauung, 153.

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„Mathematisch ausgedrückt: die Zeit wird die vierte Raumkoordinate und die Lehre von der Kinematik wird zur vierdimensionalen Geometrie, und unsere gewöhnliche euklidische Geometrie ist nur ein Spezialfall vieler mögliche[r] Geometrien.“5

Nach den durch Kopernikus und Darwin provozierten Krisen für die christliche Weltanschauung bringe Einstein damit anscheinend auch die letzte der festen Landmarken an unserem geistigen Horizont ins Schwanken: „Hat er recht, dann ist für unsere Weltbetrachtung nirgends ein ruhender Pol in der Erscheinungen Fluß. Alles um uns flieht, wo wir es greifen und fest halten wollen. Wir müssen neben dem räumlich gedachten Himmel dann auch den zeitlich gedachten aufgeben. Und was bleibt uns als Christen dann z. B. auf dem Gebiet der Unsterblichkeitshoffnung?“ 6

Das Wesentliche bleibe, versichert Lettau und beruhigt: „Einstein sagt dem Christen nichts Seltsames, wenn Raum und Zeit relative Dinge sein sollen.“7 Gott stehe für den Christen ohnehin über Raum und Zeit und sei beiden darum auch nicht unterworfen. Zum Beleg zieht Lettau unter anderem Verse aus Psalm 90 („Ehe denn die Berge wurden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit“) und Psalm 102 („Du bleibest, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende“) hinzu. Für uns Menschen hingegen sei die Relativität von Raum und Zeit dazu angetan, „eine harte Nuß zu werden“8. So stelle sich das vulgärchristliche Bewußtsein das Jenseits als eine irgendwie zeitlich geordnete Fortsetzung unserer Weltzustände vor: „Und nun kommt Einstein und untersagt uns solche Vorstellungen im Namen der Wissenschaft. Wir sollen gezwungen sein, all die lieben Vorstellungen dahinten zu lassen, mit denen wir den Himmel uns schön machen. Können und müssen wir uns da fügen?“ 9

Wir können und müssen, ja wir sollen es, predigt Pastor Lettau: „Laß nur alle fromme Selbstsucht fahren, wenn es sich um das Jenseits handelt; und wenn Einstein dir zumutet, du sollst Raum und Zeit für diese Welt zurücklassen, so widerfährt dir im Grunde nichts Seltsames. Richte dich nur immer auf eine jetzt noch ganz unvorstellbare Welt ein, und siehe zu, wie du darin lebensfähig sein magst. Und Hinweise sind ja auch vorhanden, wie ein Wesen da auch ohne die Formen von Raum und Zeit ein Leben in sich hegen mag.“10

Einstein verlange, das Unvorstellbare zu denken, und Lettau kann es darum nur begrüßen, wenn weltliche Wissenschaft solcherart den Gläubigen nötige, sich beizeiten um den geistlichen Habitus zu bemühen, auf den wir angewiesen sind, wenn wir in einer anderen Welt bestehen wollen: „Wir stehen nicht an, auszusagen: Die stärksten Antriebe zur Heiligung können in dem für uns Christen niedergelegt sein, was uns Einstein in seiner Relativitätstheorie über Raum und Zeit zu bedenken gibt. Hat er recht, dann kann das in der Christenheit wie nie zuvor dienen zum Aufbau eines inwendigen Lebens.“11 5 6 7 8 9 10 11

A.a.O., 154, bei Lettau: „möglichen“. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 155. Ebd. Ebd.

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Lettaus Aufsatz wäre nicht der Erwähnung wert, wenn er nur die kuriose Sicht eines einzelnen Landpfarrers darstellen würde. Nun ist diese Art theologischer „Rezeption“ der Relativitätstheorie in den zwanziger und dreißiger Jahren aber geradezu gängig. Die Mitherausgeberin der „Furche“, in der viele namhafte Theologen und Religionswissenschaftler zu Wort kommen, würdigt Lettaus Beitrag einer eigenen Erwiderung. Für den Christen, der in der Bibel wirklich lebe und forsche, schreibt Elisabet Riemeier in ihrer Antwort an Lettau, sei es immer eine ganz besondere Freude, wenn eine wissenschaftliche Entdeckung die biblischen Aussagen bestätige: „Lettau beweist, daß Einstein der biblischen Anschauung über die ‚Zeit‘ recht gibt, daß er uns damit von der Vorstellung eines an die Zeit gebundenen Jenseits befreit, und uns dadurch die stärksten Antriebe zur Heiligung, zur Loslösung vom Diesseits, geben kann.“12

Die Alternative sei nun nicht mehr nur „Zeit oder Nicht-Zeit“, sondern Einstein habe gezeigt, daß es „‚andere‘ Zeit“ gebe. „Könnte nicht dann die ‚Ewigkeit‘ einfach eine solche ‚andere‘ Zeit sein, aber doch ‚Zeit‘?“13 fragt Riemeier. Sie bemängelt ansonsten an Lettaus Darstellung nur, daß er Einstein und nicht schon Kant das Verdienst zukommen lasse, „im Namen der Wissenschaft“ uns von einer absoluten, wirklichen Zeit befreit zu haben. Jedenfalls aber kommen für Riemeier nunmehr geoffenbarter Glaube (Bibel), Philosophie (Kant), Mathematik (Einstein) und innere Erfahrung zu ein und demselben Resultat: „Den heiligen Männern Gottes ist es offenbart, der Philosoph und der Mathematiker beweisen es, unsere eigene innere Erfahrung gibt dem recht: Wer an ihn glaubt, der hat das ewige Leben.“14

Am Ende ihrer Erwiderung regt Riemeier eine Diskussion in ihrer Zeitschrift an: „Wird Einstein nicht ein ganz neues ‚Weltgefühl‘ (vgl. Spengler) in uns wachrufen, das auch für unser religiöses Leben von einschneidender Bedeutung sein wird, von größerer als man heute ahnt? Oder sind seine Beweise nicht stichhaltig und wird das, was er Neues bringen will, im Sande verrinnen? Ich glaube, das sind Fragen, die auch unser innerstes Leben angehen und berühren und die darum in der ‚Furche‘ besprochen werden könnten.“15

Der Versuch, die Relativitätstheorie unmittelbarer theologisch zu verwerten, findet sich auch bei dem systematischen Theologen Henry H. Riggs. In einem im „Hibbert Journal“ aus dem Jahr 1939 abgedruckten Artikel mit dem Titel „Immortality and the Fourth Dimension“ meint Riggs von der Relativitätstheorie Aufklärung über die Wirklichkeit des ewigen Lebens erhalten zu können: 12 13 14 15

E. Riemeier, Einstein und Kant, 156. Ebd. Ebd. (Hervorhebungen bei Riemeier). A.a.O., 157.

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„The mathematical concept from which I think that we may find some light on the reality of eternal life is familiar to mathematicians as the Fourth Dimension; and this rather nebulous idea has been brought to the front and set to work in connection with the Theory of Relativity, in the proposition, built into the very foundations of that theory, that time is the fourth dimension.“16

Würden wir als „Flatlander“, so Riggs‘ Gedanke auf den folgenden Seiten, nur in zwei Dimensionen leben, könnten wir uns die dritte Dimension nicht vorstellen, sondern nur an sie glauben. Entsprechend verhalte sich unser gegenwärtiges Leben zum ewigen Leben, – mit dem Unterschied freilich, daß uns aus Sicht der Relativitätstheorie schon jetzt das sterbliche dreidimensionale Leben in der vierten Dimension als „ewiges Leben“ begreifbar werden kann: „If the idea of time as a fourth dimension is valid, then the difference between this mortal life and the ‚other life‘ is not a difference in the time nor the quality of the life. It is only a difference in our view of it – our ability to see it whole. While we are limited to threedimensional understanding, it is mortal life. When we perceive it in four dimensions, it is eternal life.“17

Fünf Merkmale kennzeichnet den in diesem Abschnitt vorgestellten Typ theologischer „Rezeption“ der Relativitätstheorie: w Erstes Merkmal ist das offensichtliche und meist auch ausdrücklich erklärte Bestreben, aus christlicher Sicht naturwissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich nicht (mehr) korrigieren zu wollen. Der folgenreiche Irrtum im Kampf gegen Galilei und Darwin soll nicht ein weiteres Mal wiederholt werden. Darum die vorbehaltlose Anerkennung gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis. w Das zweite Merkmal ist das fehlende Verständnis der akzeptierten naturwissenschaftlichen Theorie und ihrer Bedeutung. Dabei handelt es sich nicht um einen Verzicht des Verstehens, der sich aus grundsätzlichen Erwägungen rechtfertigen kann, sondern um ein Defizit mangels Kompetenz, das auch als ein solches empfunden und darum verschleiert wird. w Die notdürftige Verschleierung des mangelnden Verständnisses durch Verwendung einzelner zentraler physikalischer Begriffe ist damit das dritte Merkmal dieses Rezeptionstyps. Dadurch wird eine Kenntnis der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge vorgetäuscht. „Rezipiert“ werden aber nur einzelne aus ihrem Zusammenhang gerissene naturwissenschaftliche Begriffe oder Benennungen („vierte Dimension“, „Relativität von Raum und Zeit“ etc.), die dann in einen theologischen Kontext übernommen und hier ohne Ansehung ihres ursprünglich physikalischen Sinnes völlig neu gedeutet werden. w Viertes Merkmal ist die Hoffnung, daß sich die Anerkennung naturwissenschaftlicher Erkenntnis insofern bezahlt macht, als diese nun sogar zur Festigung, ja zum Bestätigung religiöser Überzeugung beitragen kann. 16 17

H. H. Riggs, Immortality and the Fourth Dimension, 264. A.a.O., 267.

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Diese Hoffnung verbindet sich bezüglich der Einsteinschen Relativitätstheorie mit der irrigen Erwartung, diese Theorie könne belegen, wenn nicht gar beweisen, was bislang nur geglaubt werden konnte: ein Jenseits von Raum und Zeit, eine andere, uns vollkommen unvorstellbare Welt und Zeit und dergleichen mehr. w Es versteht sich von selbst, daß auf diesem Weg nur der flüchtige Schein einer Synthese von Naturwissenschaft und Glaube vorgespiegelt werden kann – um so mehr als im vorigen Kapitel gezeigt wurde, daß gerade die zentralen Benennungen in einer physikalischen Theorie, die für diese „Synthese“ aufgegriffen werden, deutende und unter Umständen irreführende Zutat zur Theorie selbst sein können (wie beispielsweise schon die Bezeichnung „Relativitätstheorie“). Gleichwohl ist die Behauptung einer gelungenen Synthese von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und christlichem Glauben das fünfte Merkmal derartiger theologischer Reaktionen. Aus heutiger Perspektive erscheint die Einsicht, daß Theologie und Kirche gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht korrigieren dürfen, begrüßenswert. Höchst fragwürdig dagegen ist es, wenn die jeweiligen Erkenntnisse, an die die Theologie „Anschluß“ sucht, noch nicht einmal in ihren Grundzügen verstanden werden. Eine derart oberflächliche „Aneignung“ aktueller Forschungsergebnisse kann den christlichen Glauben allenfalls kurzfristig als „zeitgemäß“ erscheinen lassen; auf Dauer stellt sie aber die Theologie als ernstzunehmenden Dialogpartner der Physik in Frage. Derartige theologische Anknüpfungen sind bis heute eine Begleiterscheinung von spektakulären oder auch nur populären naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geblieben. Zurecht qualifiziert Peter Brügge zum Beispiel gegenwärtige Versuche, die „Chaostheorie“ – und hier insbesondere wiederum die Benennung „Chaos“ – für eine „Chaos-Theologie“ nutzbar zu machen als populärwissenschaftliche Vermarktung eines Schlagwortes, als Schwärmerei und pseudoreligiöse Spekulation.18

18

Vgl. P. Brügge, Ausbreitung und Mißbrauch einer neuen Welterklärung (I–III); Brügge beurteilt des weiteren die Wissenschaft vom Chaos als „Nährboden für märchenhaft falsche Erwartungen und pseudoreligiöse Spekulationen“ (III, 246) und spricht diesbezüglich vom „Showbusiness für die Masse der mathematisch Unkundigen“ (III, 240). Dies gilt m. E. auch für die pseudotheologische Ausbeutung des „anthropischen Prinzips“ (vgl. die Einführung vorliegender Arbeit, Anm. 67 und 68); vgl. auch H.-D. Mutschler, Physik – Religion – New Age, insbes. 212–216, sowie K. Schmitz-Moormann, Materie – Leben – Geist, 17f, der darauf hinweist, daß sich auch „in neueren Handbüchern der Theologie der Schöpfung [...] Verallgemeinerungen [finden], die auf einem klaren Mißverständnis der naturwissenschaftlichen Aussagen über das Universum beruhen“.

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II. Neuscholastische Apologetik Im folgenden Abschnitt wird zunächst die Ausgangssituation der katholischen Theologie um die Wende zum 20. Jahrhundert skizziert (1.). Diese ist bestimmt durch die kirchlich angeordnete Festlegung auf die scholastische Tradition (a) und ein rigoroses Vorgehen kirchlicher Autorität gegen „modernistische“ Tendenzen innerhalb der Theologie (b). Reformerische Ansätze und Versuche, den Gegensatz zwischen katholischer Kirche und modernen Wissenschaften zu überwinden, können sich demgegenüber nicht durchsetzen und berücksichtigen überdies kaum die modernen Naturwissenschaften (c). Vor diesem Hintergrund kann die reflexartige und polemische Ablehnung, die die Relativitätstheorie schon vergleichsweise früh von neuscholastischer Seite erfährt, kaum verwundern (2.); die wenigen sachlich etwas tiefer gehenden Auseinandersetzungen sind darüber hinaus lange Zeit durch eine tendenziöse oder sogar physikalisch falsche Darstellung der Relativitätstheorie gekennzeichnet (3.). Die Zurückweisung der Relativitätstheorie durch neuscholastische Theologen gipfelt in der Behauptung, diese Theorie sei „schlechte Metaphysik“ und eine rein hypothetische Konstruktion, die sich experimentell nicht überprüfen lasse (4.). Diese ablehnende Haltung und die Bevorzugung von physikalisch längst überholten Alternativtheorien kann aufgrund des dabei vorausgesetzten traditionellen Substanzbegriffs erklärt werden (5.). Solches Beharren auf einer den neuen physikalischen Erkenntnissen nicht mehr angemessenen Begrifflichkeit läßt nicht nur die theologische Reaktion auf die Relativitätstheorie kläglich scheitern, sondern blockiert auch lange Zeit das konstruktive Gespräch zwischen Theologie und moderner Physik (6.).

1. Ausgangssituation in der katholischen Theologie Im 19. Jahrhundert wurden denkbar schlechte Voraussetzungen für einen konstruktiven Dialog zwischen katholischer Theologie und modernen Naturwissenschaften gelegt. Seit dem Jahr 1835 erscheinen zwar die grundlegenden naturwissenschaftlichen Werke von Kopernikus, Kepler und Galilei nicht mehr auf dem kirchlichen Index verbotener Bücher,19 doch das Zerwürfnis zwischen neuzeitlicher Naturwissenschaft und Kirche ist damit noch nicht einmal im Ansatz aufgearbeitet und führt im Ergebnis zur „beinahe lautlosen Emigration der Naturwissenschaftler aus der Kirche“ und zum „permanenten Konflikt zwischen Naturwissenschaft und der herrschenden Normaltheologie“20. Die verhärtete Haltung zu den modernen Naturwissenschaften spiegelt sich exemplarisch in einer umfassenden Veröffentlichung über Galileo Galilei wider, die der Jesuit und Professor für Astro19

Vgl. L. Bieberbach, Galilei und die Inquisition, 121f; Newtons „Principia“ und später erschienene Bücher, die die kopernikanische Lehre behandeln, wurden nie verboten. 20 H. Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, 764.

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nomie an der Gregoriana, Adolf Müller, im Jahr 1909 vorlegt. Die Verantwortung für den Konflikt um das kopernikanische Weltsystem sieht Müller darin vor allem bei Galilei selbst. Hätte dieser „ruhig abgewartet, bis er einen schlagenden Beweis für die ausschließliche Wahrheit dieser Hypothese hätte vorbringen können, so hätten sich die Theologen [...] vor diesem Beweise zurückgezogen, sie hätten ohne Zögern eingestanden, daß man bis dahin manche Stellen der Heiligen Schrift nicht richtig aufgefaßt habe“21. Entrüstet wird von Müller insbesondere Galileis Auftreten kritisiert, stand diesem doch „eine wirkliche geistliche Autorität gegenüber, ein mit Unfehlbarkeit in Glaubensentscheidungen ausgerüstetes, geordnetes Lehramt“22. An Galileis Charakter werden hervorgehoben seine „Sinnlichkeit, Streitsucht, Heftigkeit, ein unbändiger Ehrgeiz, eine unversöhnliche Rachsucht, verbunden mit einer Art Verfolgungswahn“23 und schließlich versucht Müller Galilei zu diskreditieren, indem er wiederholt auf die „wild[e] Ehe“ und das „unlauter[e] Verhältnis“24 Galileis mit der Venezianerin Gamba hinweist. Wo von einflußreicher kirchlicher Stelle derart uneinsichtige und polemische „Konfliktbewältigung“ vorgenommen wird, hat ein fruchtbarer Austausch zwischen Naturwissenschaft und kirchlicher Theologie von allem Anfang an wenig Aussicht auf Erfolg. Man wird dann in der Folge kaum noch darüber erstaunt sein, daß die neuscholastische Reaktion auf die Relativitätstheorie dem historischen Muster folgt und auch diese neue Theorie als Hypothese abtut, die experimentell gar nicht bewiesen sei, ja gar nicht bewiesen werden könne.25 In dieses Bild fügt sich desgleichen die despektierliche Rede von den „zahlreichen Freunde[n] und Anhänger[n]“ Einsteins, die „glauben in Einsteins Theorie die höchste Weisheit zu schauen, zu welcher sich je der Menschengeist emporgerungen“26. Da diese überdies „nicht müde [werden], in halbwissenschaftlichen Zeitschriften so gut wie in den Tagesblättern ihren Helden zu feiern und die ‚weltumwälzende‘ Bedeutung seiner Leistungen nicht bloß für die Physik und Astronomie, sondern für die gesamte Philosophie zu betonen“, sei es nicht verwunderlich, „wenn es ihnen selbst in wissenschaftlichen Zeitschriften zuweilen in Tönen zurückschallt, die für eine sachliche Erörterung so schwieriger Fragen nicht die geeignetsten sind“ 27.

21

A. Müller, Galileo Galilei und das kopernikanische Weltsystem, 176. A.a.O., 104. 23 A.a.O., 174. 24 A.a.O., 14, vgl. 53f. „Das Ärgernis war so offenkundig“, schreibt Müller, a.a.O., 14, „daß Galilei selbst nie den Versuch machte, seine Vaterschaft betreffs dieser illegitimen Kinder zu leugnen.“ – Nach dem Urteil von J. Brandmüller handelt es sich bei dieser Veröffentlichung Müllers um eine „nüchterne, sachliche, kritische Darstellung der Vorgänge um Galilei“ (J. Brandmüller, Galilei und die Kirche oder das Recht auf Irrtum, Regensburg 1982, 15f). 25 Vgl. S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 212. 26 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 107. 27 Ebd. 22

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a) Kirchliche Festlegung auf die scholastische Tradition Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird durch verschiedene päpstliche Verlautbarungen systematisch versucht, die katholische Theologie und Philosophie auf die scholastische Überlieferung festzulegen.28 Die im Zusammenhang mit diesem Rückgriff auf die scholastische Tradition vor allem von Kritikern geprägten Begriffe „Neuscholastik“ und „Neuthomismus“ und ihre genauere inhaltliche Abgrenzung sind dabei allerdings umstritten.29 Im Jahr 1863 – kurz nach einer „Versammlung katholischer Gelehrter“ in München, bei der Ignaz von Döllinger die Freiheit der Wissenschaft in der Theologie unter Achtung der Glaubenssätze gefordert hatte – sieht sich Papst Pius IX. veranlaßt an „die alte Schule und [...] die Lehre jener hervorragenden Lehrer“ zu erinnern, „die die gesamte Kirche wegen ihrer wunderbaren Weisheit und Heiligkeit des Lebens verehrt“30. Durch Kritik an ihnen sieht Pius IX. „[...] die Autorität der Kirche selbst in Zweifel gezogen, da ja die Kirche selbst nicht nur durch so viele Jahrhunderte hindurch ununterbrochen gestattete, daß nach der Methode ebendieser Lehrer und nach Prinzipien, die in gemeinsamer Übereinstimmung aller katholischen Schulen festgelegt wurden, die theologische Wissenschaft ausgebildet werde, sondern ihre theologische Lehre auch sehr oft mit höchstem Lobe pries und sie als stärkstes Bollwerk des Glaubens 28

Die thomistische Renaissance begann sich bereits vor der Jahrhundertmitte insbesondere in Italien abzuzeichnen, vgl. dazu G. F. Rossi, Die Bedeutung des Collegio Alberoni in Piacenza für die Entstehung des Neuthomismus, 83–108, sowie H. M. Schmidinger, Der Streit um die Anfänge der italienischen Neuscholastik, 74–79. 29 In den damaligen päpstlichen Verlautbarungen findet sich weder der Begriff „Neuscholastik“ noch „Neuthomismus“ (allerdings spricht auch Papst Johannes Paul II. 1998 in seiner Enzyklika „Fides et ratio“, Nr. 59, im Rückblick auf diese Zeit von einer „thomistische[n] und neothomistische[n] Erneuerung“). Während sich nach der Enzyklika „Aeterni Patris“ aber viele katholische Gelehrte als „Neuscholastiker“ bezeichnen, wird der Begriff „Neuthomismus“ praktisch nie zur ausdrücklichen Selbstbezeichnung. Im Zusammenhang mit der stärker differenzierenden geschichtlichen Erforschung der Scholastik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, setzt die Auflösung des Begriffs „Neuscholastik“ ein, denn „mit der Zeit umfaßte er eine derartige Vielzahl von zum Teil kontrastierenden Richtungen, daß er seinen eindeutigen Inhalt verlor“ (H. M. Schmidinger, Art. Neuscholastik, Sp. 772). Unter sachlichen Aspekten hebt H. M. Schmidinger bezüglich der (frühen) Neuscholastik u. a. folgende charakteristischen Punkte hervor: die Philosophie ist dem kirchlichen Lehramt untergeordnet; im Rückgriff auf die klassische Tradition der Kirche, vor allem auf das 13. Jahrhundert, wird eine Form von „Philosophia perennis“ erhofft; darüber hinaus wird die neuzeitliche Philosophie und überhaupt das moderne Geistesleben als ein durch den Protestantismus verursachter Irrweg, den die kirchliche Wissenschaft ignorieren muß, abgelehnt (vgl. H. M. Schmidinger, „Scholastik“ und „Neuscholastik“, 50). Im Jahr 1920 nennt P. Jansen als „unvergänglich[e] Grundanschauungen“ der Neuscholastik: „der abbildende Charakter der höheren Erkenntnis, die Absolutheit und Unveränderlichkeit der Wahrheit, die Möglichkeit, das Ding an sich, die körperliche Außenwelt, die metaphysische Idealordnung, das Geistige und das Absolute, wenn auch unvollkommen, so doch wahrhaft mit dem Verstand zu erfassen, die objektive Geltung des Kausalgesetzes“ (P. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 259). 30 Brief „Tuas libenter“ an den Erzbischof von München-Freising, 21.12.1863, in: H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 2876 (=DH 2876).

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und furchtbare Waffe gegen ihre Feinde nachdrücklich empfahl.“31 Im berühmten „Syllabus“ von 1864 nimmt Pius IX. dann in die Sammlung der dort aufgelisteten 80 Irrtümer auch ausdrücklich die Auffassung auf, wonach „die Methode und die Grundsätze, nach denen die alten scholastischen Lehrer die Theologie ausbildeten, [...] keineswegs den Erfordernissen unserer Zeiten und dem Fortschritt der Wissenschaften [entsprechen]“32. Sein Nachfolger Papst Leo XIII. setzt unter seinem Pontifikat (1878–1903) den Rückgriff auf die scholastische Tradition systematisch fort und verschafft ihm durch mehrere Verlautbarungen entsprechend nachhaltige Wirkung. Vor allem seine Enzyklika „Aeterni Patris“ (1879) wird als „entscheidend richtungsweisendes Dokument“33 für die Neuscholastik beurteilt. Leo XIII. ermahnt darin die Theologen und Philosophen mit Nachdruck „zum Schutz und zur Zierde des katholischen Glaubens, zum Wohle der Gesellschaft und zum Wachstum aller Wissenschaften die goldene Weisheit des heiligen Thomas wiederherzustellen und möglichst weit zu verbreiten“34. Die Absicht des Papstes ist unbestritten „eine Erneuerung des philosophischen Denkens überhaupt auf der Basis des Thomismus“35. Die Enzyklika „Aeterni Patris“ ist zwar bei weitem nicht das erste päpstliche Dokument zugunsten des Thomismus, aber „wohl mit Sicherheit das am meisten entfaltete, das ausschließlichste und außerdem jenes, das am meisten auf der philosophischen Bedeutung des Thomismus beharrte“36. Darüber hinaus wird durch eine Serie konkreter Maßnahmen die Restauration des Thomismus betrieben,37 wodurch sich die Neuscholastik und insbesondere der Neuthomismus mehr und mehr als offizielle katholische Schulphilosophie behaupten können.38 Im Jahr 1917 schließlich verlangt der „Codex Juris 31

Ebd. DH 2913. 33 E. Coreth, Einleitung, 9; vgl. dazu R. Aubert, Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur christlichen Philosophie, 310–332. – Dies wird bestätigt in der Würdigung dieser Enzyklika durch Papst Johannes Paul II.: „Nach über einem Jahrhundert haben viele in jenem Text enthaltene Hinweise sowohl unter praktischem wie unter pädagogischem Gesichtspunkt nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt; das gilt zuallererst für die Bedeutung in bezug auf den unvergleichlichen Wert der Philosophie des hl. Thomas“ (Fides et ratio, Nr. 57). 34 DH 3140. Diese Forderung wird ein wenig relativiert, wenn Leo XIII. unmittelbar im Anschluß daran erläutert: „Die Weisheit des heiligen Thomas sagen Wir: denn wenn etwas von den scholastischen Lehren entweder mit zu großer Spitzfindigkeit erörtert oder zu wenig überlegt gelehrt wurde, wenn etwas mit den Forschungsergebnissen der späteren Zeit weniger im Einklang steht oder schließlich in irgendeiner Weise nicht wahrscheinlich ist, so beabsichtigen Wir keineswegs, daß dies unserer Zeit zur Nachahmung vorgelegt werde.“ 35 R. Aubert, Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur christlichen Philosophie, 320. 36 A.a.O., 324. 37 U. a. wird im Jahr 1879 die Accademia Romana di S. Tommaso d’Aquino reorganisiert, ein Jahr später Thomas von Aquin zum Patron der katholischen Schulen erhoben und außerdem die kritische Neuausgabe der Werke des Thomas („Leonina“) begründet. 38 Im Jahr 1914 werden in einem Dekret der Studienkonkregation 24 Thesen der thomisti32

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Canonici“ von allen Theologiestudenten ein vorausgehendes zweijähriges Philosophiestudium, das der Lehre und den Prinzipien des Thomas von Aquin entsprechen soll.39 In der katholischen Theologie kann sich die Neuscholastik im Jahr 1920 als „siegreiche Führerin“ feiern lassen, als „die überlegene Herrscherin, die edle Wahrheitsträgerin auf dem Gebiete der Philosophie“40. Die Neuscholastik wird damit „zur gesetzlich vorgeschriebenen römisch-katholischen Normaltheologie“41, bleibt „mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschend und wirkt bis in die Gegenwart nach“ 42. b) Abwehr „modernistischer“ Tendenzen43 Neben dieser Festlegung auf die scholastische Tradition werden vor allem unter Papst Pius X. (1903–1914) reformerische Tendenzen in der Theologie, die insbesondere von dem Exegeten Alfred Loisy und dem ehemaligen Jesuiten Georges Tyrell ausgehen und eine Vermittlung zwischen kirchlicher Lehre und moderner Wissenschaft anstreben, unnachsichtig unterdrückt. Nachdem Pius X. schon im Jahr 1903 fünf Schriften von Alfred Loisy auf den Index verbotener Bücher setzen ließ und sich in den folgenden Jahren verschiedentlich gegen die Neuerungen in der Theologie wandte, werden von ihm im Jahr 1907 zunächst in dem Dekret „Lamentabili“ 65 vornehmlich aus den Werken Loisys herausgegriffene Sätze „verworfen und geächtet“44. Explizit wird hier auch die Auffassung zurückgewiesen, der Fortschritt der Wissenschaften erfordere es, „daß die Vorstellungen [conceptus] der christlichen Lehre von Gott, von der Schöpfung, von der Offenbarung, von der Person des Fleischgewordenen Wortes und von der Erlösung umgebildet werden“45. Wenig später werden dann in der großen Enzyklika „Pascendi dominici schen Philosophie als bestätigt veröffentlicht (DH 3601–3624). In einer dieser Thesen heißt es, daß durch die Quantität bewirkt werde, „daß der Körper umschreibbar an einem Ort ist und auf diese Weise von jedweder Möglichkeit nur an einem Ort sein kann“ (DH 3612). Allein schon die Festlegung auf diese These muß neuscholastisch argumentierende Theologen im Zusammenhang mit der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation und dem quantenmechanischen Indeterminismus in größte Verlegenheit bringen. 39 Vgl. CIC (1917) can. 1365 §1 sowie can. 1366 §2. In der Enzyklika „Studiorum ducem“ (1923) weist Pius XI. (1922–1939) noch einmal nachdrücklich auf diesen Kanon hin (vgl. DH 3666). 40 B. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 266. 41 H. Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, 585. 42 E. Coreth, Einleitung, 9. – Pius XII. erinnert noch in der Enzyklika „Humani generis“ (1950) an die offizielle Haltung der Kirche bezüglich des Thomismus (vgl. DH 3894) und hält 1953 in einer Rede vor dem vierten internationalen Thomistenkongreß fest: „Wir zögern nicht zu sagen, daß die berühmte Enzyklika Aeterni Patris [...], in der Unser unsterblicher Vorgänger Leo XIII. die katholisch Gebildeten an die Einheit der Lehre im Unterricht des hl. Thomas erinnert hat, ihren vollständigen Wert behält“ (zit. in: R. Aubert, Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur christlichen Philosophie, 329). 43 Vgl. zum folgenden insbes. F. Padinger, Die Enzyklika „Pascendi“ und der Antimodernismus, 349–361. 44 DH 3466. 45 DH 3464 (Hervorhebung vom Verf.).

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gregis“ die Irrtümer des biblischen und theologischen „Modernismus“ noch einmal aufgezählt und wieder in feierlicher Form verurteilt. Noch im gleichen Jahr 1907 verhängt Pius X. in einem Motuproprio die Exkommunikation über alle, die dem Dekret widersprechen und dem Dekret den Gehorsam verweigern.46 Loisy selbst wird im Jahr 1908 exkommuniziert. Im Jahr 1910 fordert Pius X. im Motuproprio „Sacrorum antistitum“ den „Antimodernisteneid“, den alle Priesteramtskandidaten vor der Weihe und alle in Seelsorge und Unterricht tätigen Geistlichen ablegen müssen. Nur Theologieprofessoren an staatlichen Universitäten sind von der Eidespflicht entbunden. An erster Stelle wird darin das Bekenntnis gefordert, „daß Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der Vernunft ‚durch das, was gemacht ist‘ (Röm 1,20), das heißt, durch die sichtbaren Werke der Schöpfung als Ursache vermittels der Wirkungen sicher erkannt und sogar auch bewiesen werden kann“47. Mit dem Zusatz, daß Gott nicht nur sicher erkannt, sondern auch bewiesen werden könne, wird die Definition des I. Vaticanum, wonach Gott mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann, noch ergänzt.48 Erst im Jahr 1967 wird die Eidesverpflichtung suspendiert. Der „Modernismus“, der innerhalb der katholischen Kirche und namentlich von Pius X. zu Beginn des 20. Jahrhunderts rigoros bekämpft wird, wird erst durch die kirchliche Reaktion – vor allem durch die Enzyklika „Pascendi“ – zu einer vermeintlich einheitlichen theologischen Richtung zusammengefaßt. Wenn man mit „Modernismus“ aber eine Einstellung bezeichnen will, die die verurteilten Theologen auch tatsächlich gemeinsam teilen, so liegt diese vor allem in dem Versuch, die katholische Theologie dem geistigen Leben ihrer Zeit wieder zu öffnen. Dazu zeigt sich eine konstruktive Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft als unumgänglich. Von seinem ursprünglichen Anliegen her ist der Modernismus somit „eine Bewegung solcher, die in der Kirche bleiben wollten und dabei doch aus der modernen Welt alles das anzunehmen bereit waren, was sich im Bereich des Denkens als unwiderleglich und im institutionellen Bereich als heilsam zu erweisen schien, um so den Katholizismus einer gewandelten Welt anzupassen und von zufälligen und veraltet erscheinenden Elementen zu befreien“49. Durch die pauschale und kaum differenzierende Zurückweisung dieser Bewegung und durch die Tatsache, daß in diesem Zusammenhang katholische 46

Vgl. Acta Sanctae Sedis 40 (1907), 723. DH 3538 (Hervorhebung dort). 48 Vgl. die Dogmatische Konstitution „Dei Filius“, DH 3004. 49 R. Aubert, Art. Modernismus, 94. – Um so bedauerlicher ist es, daß auch Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Fides et ratio“ den Begriff „Modernismus“ und die von Pius X. vorgegebenen negativen Konnotationen undifferenziert übernimmt (vgl. Fides et ratio, Nr. 54). 47

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Denker „denunziert, indiziert, exkommuniziert wurden“50, wird die notwendige Auseinandersetzung der katholischen Theologie mit den modernen Wissenschaften insgesamt schwer belastet und großenteils auch unterbunden. Der Modernismusstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweist sich innerhalb der katholischen Theologie als „traumatische Erfahrung“51 mit jahrzehntelangen Folgeerscheinungen. Das Unrecht, das katholischen Denkern und Forschern im Zusammenhang mit dem Modernismusstreit geschieht, wirkt nach dem Urteil von Emerich Coreth lähmend und erstarrend auf das gesamte philosophisch-theologische Denken und Forschen im katholischen Bereich: „Die Probleme wurden damals unterdrückt, nicht gelöst. Sie brechen später erst recht auf und sind der Gegenwart neu zur Bewältigung gestellt.“ 52 Der Kirchenhistoriker Karl Bihlmeyer beurteilt die gesellschaftliche Entwicklung ab Mitte des 19. Jahrhunderts als „organisierten Massenabfall von Christus“53, zeichnet aber mit seiner Beschreibung vor allem ein scharfes Bild vom damaligen Selbstverständnis der katholischen Kirche: „Es ist der größte und gefährlichste innere Umwälzungs- und Auflösungsprozeß, der die Menschheit seit dem Eintritt des Christentums in die Welt erfaßte. Auch die katholische Kirche, die mitten in die moderne Kulturentwicklung hineingestellt ist, blieb von seinen verderblichen Einflüssen nicht verschont. Zur Rettung der heiligsten Güter der Religion zog sie sich gleichsam in eine belagerte Festung zurück, um mit zusammengeballter Kraft und unter straffster Führung ihrer obersten Autorität dem Ansturm der zentrifugalen Mächte entgegenzutreten.“54

Unter den gegebenen Bedingungen ist für die katholische Theologie auch eine offene und unbefangene Auseinandersetzung mit neuen naturwissenschaftlichen Theorien kaum denkbar. Dies gilt für die Entwicklungslehre Charles Darwins genauso55 wie dann für die neuen physikalischen Erkenntnisse. Die katholische Theologie sieht sich einerseits durch die Erfolge der 50

E. Coreth, Rückblick und Ausblick, 882. – Um eine Vorstellung vom damaligen innerkirchlichen Klima zu vermitteln, sei auf die Tätigkeit des „Sodalitium Pianum“ verwiesen: Im Jahr 1906 wird Umberto Benigni, ehemaliger Professor für Kirchengeschichte, Unterstaatssekretär der Konkregation für außerordentliche Angelegenheiten. Er zeichnet unter zwölf verschiedenen Decknamen, benutzt einen Geheimcode für interne Briefe und baut eine Geheimorganisation mit ungefähr 1000 Mitarbeitern auf, die durch Bespitzelungen und Denunziationen eine weltweite Aktivität entfaltet. Pius X. weiß von den Tätigkeiten dieser Organisation und lobt sogar ihren Eifer. Als 1921 das „Sodalitium Pianum“ aufgelöst wird, schließt sich Benigni den Faschisten an (vgl. F. Padinger, Die „Enzyklika Pascendi“ und der Antimodernismus, 358f). 51 R. Schaeffler, Philosophie und katholische Theologie im 20. Jahrhundert, 50. 52 E. Coreth, Rückblick und Ausblick, 882. 53 K. Bihlmeyer, Kirchengeschichte, Bd. 3, 458. 54 Ebd. 55 K. Schmitz-Moormann, Herausgeber der kritischen Ausgabe der Schriften Teilhard de Chardins, erinnerte kürzlich daran, daß keiner der frühen theologischen Texte Teilhards „die Barriere der Zensoren zu überwinden vermochte. Mehr noch, als Teilhard 1922 auf die Bitte eines seiner Mitbrüder hin seine Vorstellungen über die Erbsündenlehre zu Papier brachte, fand dieser Text auf ungeklärte Weise den Weg nach Rom, wo er offensichtlich auf Mißfallen stieß“ (K. Schmitz-Moormann, Pierre Teilhard de Chardin. Evolution – die Schöpfung Gottes, 16). Teilhard war so „Zeit seines Lebens gezwungen, gewissermaßen im theologischen Untergrund zu arbeiten“ (a.a.O., 17).

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Naturwissenschaften und die sich daran anschließenden oft religionskritischen Popularisierungen in die Ecke gedrängt und andererseits von der Kirche auf eine neuthomistische Interpretation dieser Erkenntnisse festgelegt. c) Versuch einer Neuorientierung: Die Görres-Gesellschaft Die modernistische Bewegung ist ein Versuch, in der katholischen Theologie durch neue Ansätze das Verhältnis zur „modernen Kultur“ insgesamt zu klären. Diese Bewegung vereinigt dabei ganz verschiedene Reformbestrebungen auf den Gebieten von Religionsphilosophie, Soziallehre, Apologetik, Bibelwissenschaft, Dogmengeschichte und politisch-sozialer Aktion. Allerdings spielt bei den bedeutendsten „Modernisten“ Alfred Loisy, Friedrich von Hügel, George Tyrell und Ernesto Buanaiuti eine explizite und grundlegende Auseinandersetzung mit den modernen Naturwissenschaften allenfalls eine marginale Rolle.56 Dies gilt zunächst auch für die Aktivitäten der im Jahr 1876 gegründeten „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland“, deren erklärtes Ziel insbesondere die Überwindung des Gegensatzes zwischen katholischer Kirche und intellektueller Elite darstellt. Unmittelbarer Hintergrund der Entstehung dieser Organisation ist die Kulturkampfszene, die katholischen Nachwuchskräften vielfach die wissenschaftliche Karriere erschwert. Die Gründung der Görres-Gesellschaft, die darum von Anfang an auch die wissenschaftliche Nachwuchsförderung zu ihren Aufgaben zählt, kann rückblickend verstanden werden „als eine Antwort auf die Herausforderungen des Katholizismus durch die moderne Welt“57. Mit Unterstützung von Seiten der Kirche kann aber auch diese „Laienorganisation von Gelehrten“, der auch Theologen als Mitglieder angehören können, damals nicht rechnen. Im Gegenteil, auch sie gerät vor dem Ersten Weltkrieg an der römischen Kurie in den Verdacht „modernistischer Häresie“.58 In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß der Schwerpunkt der Arbeiten der Görres-Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten fast ausschließlich im geisteswissenschaftlichen Bereich lag. So werden schon kurz nach der Gründung drei Fachsektionen für Rechts- und Sozialwissenschaft, Philosophie und Geschichte eingerichtet, die alsbald eigene Vereinsschriften und Jahrbücher vorlegen. Doch die geplante vierte Sektion für Naturwissenschaft kommt lange nicht richtig in Gang. Nach mehreren gescheiterten Gründungsversuchen wird diese Sektion erst im Jahr 1907 unter der Leitung des Mathematikers Wilhelm Killing neu konstituiert, allerdings ohne ein eigenes Publikationsorgan einzurichten. Eine Reihe interessanter Beiträge insbesondere zur Relativitätstheorie findet sich aber im seit dem Jahr 1888 von der Görres-Gesellschaft herausgegebenen „Philosophischen Jahrbuch“. Hier kommen allerdings fast ausnahmslos neuscholastisch argumentierende Kriti56 57 58

Vgl. dazu I. Böhm, Das Denken der bedeutendsten Modernisten, 333–348. L. Boehm, Begleitwort, 258. Vgl. R. Morsey, Art. Görres-Gesellschaft, Sp. 1084.

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ker der Relativitätstheorie zu Wort, die gewiß nicht mehr des Modernismus verdächtigt werden können. Eine neuen und starken Impuls erhält in der Görres-Gesellschaft der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften erst, als im Jahr 1957 das „Internationale Institut zur Begegnung von Naturwissenschaften und Glauben“ gegründet wird. Dieses Institut nennt sich inzwischen „Institut für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft-Philosophie-Theologie)“ und gibt eine eigene Forschungsreihe „Naturwissenschaft und Theologie“ (seit 1972 „Grenzfragen“) heraus.59 Ein weiteres frühes Beispiel für den Versuch einer Neuorientierung der katholischen Kirche zu den modernen Wissenschaften mit ausdrücklichem Einschluß der modernen Naturwissenschaften sind die Schriften des Kirchenhistorikers Albert Ehrhard, der im Jahr 1901 „die wachsende Entfremdung der gebildeten Kreise von der katholischen Kirche“ beklagt und bedauert, „daß eine große Anzahl von Philosophen, Geschichtsschreibern, Naturforschern, Juristen, Medizinern, Litteraten, Künstlern u.s.w., die aus katholischen Familien stammen, sich nicht mehr als Katholiken fühlen“60. Für Ehrhard unterliegt es keinem Zweifel, daß „die Beilegung des Konflikts der modernen Welt mit der katholischen Kirche [...] bedeutsamste und wichtigste Aufgabe“61 des 20. Jahrhunderts bilden müsse. Dabei äußert sich Ehrhard deutlich skeptisch darüber, ob die im 19. Jahrhundert erstarkte neuscholastische Philosophie dieser Aufgabe gewachsen sein kann. Er erinnert daran, daß sich die katholische Kirche nicht „mit einer bestimmten philosophischen und theologischen Schule [...] identifizieren [kann]“62, beklagt den „theologische[n] Hyperkonservatismus, der sich von den überkommenen Naturanschauungen nicht frei machen konnte“63 und verweist ausdrücklich auch auf die verhängnisvolle Rolle, die „in der aristotelisch-scholastischen Naturtheorie festgebannt[e] Theologen“64 im Galileikonflikt und später in der Kirche gespielt haben. Sieht sich damals schon der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm bei Erteilung der kirchlichen Druckerlaubnis für Ehrhards Werk „Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert“ gedrängt, darauf hinzuweisen, daß er in manchen Punkten anderer Anschauung als der Verfasser sei, so folgt der Veröffentlichung ein Sturm kirchlicher Entrüstung.65 Auch Ehrhard wird nun des 59

Vgl. zur Geschichte der Sektion für Naturwissenschaft innerhalb der Görres-Gesellschaft H. E. Onnau, Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, 143f. – Im Zusammenhang mit der Thematik vorliegender Arbeit sei hier verwiesen auf folgende jüngere Veröffentlichungen des Instituts: N. A. Luyten (Hg.), Wirklichkeitsbezug wissenschaftlicher Begriffe: Gleichnis oder Gleichung? (Grenzfragen, Bd. 14), Freiburg/München 1986; L. Honnefelder (Hg.), Natur als Gegenstand der Wissenschaften (Grenzfragen, Bd. 19), Freiburg/München 1992; H. M. Baumgartner (Hg.), Zeitbegriffe und Zeiterfahrung (Grenzfragen, Bd. 21), Freiburg/München 1994. 60 A. Ehrhard, Der Katholizismus, 9, 11. 61 A.a.O., 339. 62 A.a.O., 251. 63 A.a.O., 298. 64 A.a.O., 299f. 65 Vgl. dazu die Dokumentation der Reaktionen in: A. Ehrhard, Liberaler Katholizismus? Ein

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Modernismus verdächtigt und mit dem Entzug der Prälatenwürde diszipliniert. Wieder zeigt sich, daß einer grundlegenden Neuorientierung der katholischen Theologie gegenüber den modernen Wissenschaften zur damaligen Zeit innerhalb der Kirche kein Spielraum gewährt wird. Aber selbst dort, wo die Bereitschaft zu einer solchen Neuorientierung vorhanden ist, erweist sich der Versuch, mit den modernen Naturwissenschaften in einen fruchtbaren Austausch einzutreten, als besonders problematisch. Treffend zeichnet Karl Bihlmeyer das Bild eine Kirche, die sich ringsum von feindlichen Mächten umringt wähnt und sich schutzsuchend hinter ihren Mauern verschanzt. Entsprechend vermitteln auch die ersten Stellungnahmen katholischer Theologen auf die Relativitätstheorie den Eindruck „in der belagerten Festung“ geschrieben zu sein. Mit Polemik und unverhohlenem Vorbehalt reagieren sie auf die Einsteinschen Theorien, die vor allem zwischen den Jahren 1910 und 1924 die Welt bewegten. Die Relativitätstheorie wird – durchaus zurecht – als Infragestellung der scholastischen Begrifflichkeit verstanden und damit den feindlichen Mächten zugerechnet. Die Reaktionen neuscholastischer Autoren sind damit fast ausnahmslos apologetischer Natur. Neben einigen kürzeren Beiträgen in den Zeitschriften „Revue Néo-Scolastique de Philosophie“ und „Revue Thomiste“ sowie der wiederholten abfälligen Kommentierung der Relativitätstheorie durch Jacques Maritain findet sich eine Anzahl zum Teil ausführlicher Arbeiten neuscholastischer Autoren vor allem in den „Stimmen der Zeit“, einflußreiche „Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart“, und im „Philosophischen Jahrbuch“ der Görres-Gesellschaft.66

2. Erster Reflex: Polemische Zurückweisung der Relativitätstheorie Vergleichsweise früh bezieht Constantin Gutberlet im Jahr 1913 im „Philosophischen Jahrbuch“ Stellung im Streit um „das von Einstein so laut verkündete Relativitätsprinzip“67. Für Gutberlet, der eine eingehende Wort an meine Kritiker, Stuttgart und Wien 1902. Vgl. F. Renoirte, La critique einsteinienne des mesures d’espace et de temps; L. Mélizan, Théories einsteiniennes; J. Maritain, De la métaphysique des physiciens ou de la simultanéité selon Einstein; ders.; La mathématisation du temps (zu J. Maritain vgl. F. Dessauer, Naturwissenschaftliches Erkennen, 389, sowie H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 28–33); T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie; S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen; C. Gutberlet, Der Streit um die Relativitätstheorie; G. Kreuzberg, Über die Möglichkeit der mechanischen Naturerklärung nach Einstein; E. Hartmann, Raum und Zeit im Lichte der neuesten physikalischen Theorien; ders., Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie; A. Weber, Zur Relativitätstheorie; ders., Über Raum und Zeit; W. Böhm, Realismus und Idealismus in der Einsteinschen Relativitätstheorie; A. Ch. de Guttenberg, Das neue physikalische Weltbild und Einstein; G. Petry, Ist der „Äther“ als kosmologische Grundkonstante haltbar? A. Müller, Die Relativitätstheorie und die Struktur der physikalischen Erkenntnis. 67 C. Gutberlet, Der Streit um die Relativitätstheorie, 328. 66

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Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie offensichtlich nicht für notwendig erachtet und nur einzelne kontroverse Zitate der Physiker Ernst Gehrke und Max Born gegeneinanderstellt, ist die Theorie „ganz evident widerspruchsvoll“, sie widerspreche „nicht nur ‚altgewohnten 68 Anschauungen‘, sondern den klarsten logischen Sätzen“ . Der von Einstein neu eingeführte Zeitbegriff sei „ganz und gar unsinnig“69. Auch lasse sich „ganz evident zeigen, 10 dass absolute Bewegung möglich und 20 tatsächlich ist“70. Mit Gehrke hält Gutberlet am Äther fest, der seines Erachtens auch von der Relativitätstheorie gefordert werden müsse.71 So bleibt für ihn schließlich nur die Frage zu beantworten, warum die offensichtlich so unsinnige und widersprüchliche Relativitätstheorie derart große Verbreitung finden konnte: den Grund dafür macht er – wiederum im Anschluß an Gehrke – in einer „Massensuggestion“ aus und fährt fort: „[...] es kann nicht geleugnet werden, dass die unsinnigsten philosophischen und religiösen Systeme ebenso wunderbare Propaganda machen, wie die abgeschmacktesten Moden der Frauenwelt. Ausser der psychischen Ansteckung liegen freilich auch geheime Motive solcher Verbreitung zu Grunde, bei den Damen die Eitelkeit, bei geistiger Suggestion der Reiz der Neuheit und regelmäßig die Weltanschauung, speziell die monistische, welcher die Neuheit dient.“72

Gutberlets Urteil hat Gewicht. Jahrzehntelang befaßt er sich mit christlicher Apologetik und beansprucht dabei, daß die apologetischen Beweise auf sicheren Tatsachen und streng logischen Schlüssen beruhen.73 Seiner allgemeinen Denkrichtung nach gehöre Gutberlet der Scholastik an, schreibt Eduard Hartmann in einem Nachruf aus dem Jahr 1928, rückt Gutberlet in die Nähe des spanischen Jesuitenphilosophen Franciscus Suárez und lobt vor allem seine „Vertrautheit mit der modernen Wissenschaft“74. Gutberlet ist Begründer des „Philosophischen Jahrbuches“ und bis 1925 auch dessen Herausgeber. Diese Zeitschrift trage den Stempel seines Geistes, bescheinigt ihm die GörresGesellschaft noch 1924.75 In der Tat verbindet fast alle Artikel, die im „Philosophischen Jahrbuch“ auch unter späteren Herausgebern über die Relativitätstheorie erscheinen, eine dezidiert kritische und oft auch polemisch ablehnende Einstellung.

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A.a.O., 331. Ebd. 70 A.a.O., 332. 71 A.a.O., 329. 72 A.a.O., 334. 73 Vgl. C. Gutberlet, Glauben und Wissen, 119. 74 E. Hartmann, Constantin Gutberlet

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