Michael Sehrt. - London; Worms: The World of Books, 1992 ISBN

1 Die Deutsche Bibliothek – CIP Einheitsaufnahme Sehrt, Michael: der aventiure meine / Michael Sehrt. - London; Worms: The World of Books, 1992 ISB...
Author: Renate Meyer
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Die Deutsche Bibliothek – CIP Einheitsaufnahme

Sehrt, Michael: der aventiure meine / Michael Sehrt. - London; Worms: The World of Books, 1992 ISBN 3-88325-473-8

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Copyright 1992 by The World of Books Ltd., London Alle Rechte vorbehalten

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Michael Sehrt

der âventiure meine Ein schön kurzweiliges Büchlein, darin dreizehn Ritter- und Abenteuerromane aus dem Mittelalter in allen wichtigen Einzelheiten nacherzählt, darüber hinaus in etlichen, für das Verständnis unabdingbaren Passagen genauestens übersetzt, in allen Wendungen einleuchtend erklärt und von allerhand groben Fehlurteilen der Wissenschaft geläutert worden, daher wenig erquicklich zu lesen für Filologen, sonst aber sehr erbaulich und ergötzlich, von großem Nutzen für Jung und Alt, so am Mittelalter interessiert, kürzlich zu Papier gebracht zu Rotenburg/W.

The World of Books Ltd.

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Für meine amîe Petra Gilson, die, in mehr als nur in dieser einen Hinsicht einer berühmten Protagonistin aus einem der Romane gleichend, mich vor manchem filologischen Hinterhalt warnte.

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INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsübersicht ........................................................................................................................6 Identifikation und nasse Füße.................................................................................................. 10 Swer des von mir geruoche, dern zels ze keinem buoche........................................................ 17 âventiure? waz ist daz?............................................................................................................. 25 ...Heißt in ein Nest gelehrter Wespen stechen ......................................................................30 Und doch - sich neue Bahnen brechen.................................................................................... 60 Ganz natürliche Betrachtungen zu Epos und Roman .......................................................... 102 König Rother oder Das Kreuz mit der Heilsgeschichte.................................................... 111 Kudrun oder Die Second Genesis Krise ............................................................................... 127 Lanval oder Feen, Krisen und Tabus .................................................................................... 140 Herzog Ernst oder alrerst nu âvendurt ez sich................................................................... 145 Erec oder Ein Macho mit vorlauter Konkubine? .............................................................. 163 Iwein oder Der Ritter mit der Stechuhr ?........................................................................... 184 Gregorius oder Die Spielwiese für Sündenprofis................................................................. 206 Parzival oder Von Elstern und anderen schrägen Vögeln ................................................ 233 Wigalois oder Ein Ideal betritt ritterliches Neuland.......................................................... 305 Demanun oder Idealritter versus Brautvater....................................................................335 Willehalm von Orlens oder Der Iwein für Kinder ............................................................... 354 Partonopier und Meliur oder Ein wirklich psychologisches Problem.............................. 376 Daniel von dem blühenden Tal oder Homo faber, richtig sympathisch.........................410 Garel von dem blühenden Tal oder Homo ludens in der Marktlücke ...........................437 Nachwort ............................................................................................................................................. 455 Rezensionen.....................................................................................................................................460

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INHALTSÜBERSICHT Wer ein Buch schreiben will, muß viel zu sagen haben: meistens mehr, als er hat. Mittelhochdeutsch vielleicht? [Arno SCHMIDT, Aus dem Leben eines Fauns]

Von unerhörten Abenteuern will dieses Buch berichten, von Abenteuern, wie sie den Rittern so vieler Romane aus dem Mittelalter widerfuhren.Das aber wäre sicherlich wenig aufsehenerregend, Abenteuer ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Literatur, jeder kennt Abenteuerromane, jeder hat in seiner Jugend etliche gelesen, und gar mancher hat in seinem Leben nicht nur selbst einige bestanden, für einige von uns mag das Leben immer noch ein Abenteuer sein, und wem dies am Ende nicht genügt, den locken schon Findige mit einem Abenteuerurlaub. Also doch nichts Neues, allenfalls etwas Nervenkitzel typisch mittelalterlicher Prägung, Lanze und Schwert an Stelle von Sechsschüssern und Winchester? Nein, und deshalb ist in diesem Buch eigentlich auch nie von Abenteuern die Rede, sobald es um den mittelalterlichen Roman geht. Abenteuer ist nämlich nur auf den ersten Blick unsere neuzeitliche Entsprechung für den mittelalterlichen Begriff der âventiure. Heutzutage verbinden wir mit Abenteuer eine spannende Handlung, in der ein Held oder eine Heldin ein Leben auf Messers Schneide führen, wo ihre Taten stets eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod bedeuten, und wo ihr Leben, hätten sie nicht etwas fortune, keinen Pfifferling wert wäre. Nichts von alledem, oder doch nur wenig, im mittelalterlichen Roman, wo âventiure weit mehr bedeutet als bloßes Erleben und Überleben spannender Episoden. Hier hatte dieser Begriff einen unvergleichlich hohen Stellenwert, er war nicht nur der Zentralbegriff für Unterhaltung und Belehrung, war nicht nur der Terminus einer literarischen Theorie, er war überdies das Credo des damals propagierten Ritterethos, kurz, er war eine Welt für sich. Und doch fehlt auch hier das Moment der Spannung nicht. Nur gilt es vornehmlich zu fragen, zwischen welchen Fixpunkten oder Polen sie erzeugt wird, denn so einfach wie in der Neuzeit hat man es sich damals nicht gemacht, indem man eine Spannung lediglich durch die Frage erzeugte: schafft er's, oder schafft er's nicht. Und eben weil man es sich zu jenen Zeiten nicht so leicht gemacht hat, hat man bis zu diesem Moment das Geheimnis um die âventiure auch noch nicht lösen können. Eine Form von Spannung müßte nun Sie, lieber Leser, ergreifen, und die hat schon weit mehr mit der mittelalterlichen Form zu tun, als Sie sich dies zunächst klarmachen können. Denn die Frage nach dem eigentlichen Wesen der âventiure war im Mittelalter immerhin so heiß hinterfragt und diskutiert, daß wir heute zahlreiche

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Ritterromane jener Zeit besitzen, die darauf eine spannungsreiche Antwort geben werden. Abenteuer und Spannung aber werden uns auch im neuzeitlichen Sinne das ganze Buch über begleiten, denn wie bereits erwähnt wurde, ist das Geheimnis um die âventiure bis zu diesem Moment nicht gelöst worden. Hier nun erfährt der Begriff des Abenteuers seine seltsamste Nuancierung, denn alles das, was bisher an Erklärungsversuchen vorgelegt wurde, ist, mit einem Wort, abenteuerlich. Allein daran können Sie ermessen, wie weit die Begriffe âventiure und Abenteuer auseinander liegen, denn hätten sie noch etwas miteinander zu tun, all diese Erklärungsversuche hätten etwas Wahres enthalten müssen. Wer denn eigentlich für solche Dinge wie die âventiure zuständig sei, werden einige fragen. Nun, von Haus aus sind es Leute, denen man schon vom ersten Augenschein her nicht so recht eine fundierte Kompetenz auf diesem lebendigen und facettenreichen Gebiet zutrauen möchte, und richtig, der erste Eindruck ist zumeist auch der zutreffende. Es handelt sich um ausgemergelte, buchbleiche Männlein, die wie Kinder meist durch dicke Brillenscheiben fragend in eine Welt hineinschauen, die ihnen so unvertraut ist, wie das Leben selbst. Es sind die Bibliothekstrolle, seltsame Wesen, deren einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, Eingänge zu einer Welt zu verschütten und zu bewachen, die sie selbst nicht betreten dürfen. Auch gibt es Riesen dort, Geistesgrößen, die mit unentschlüsselbaren Worten magische Bannmeilen um diese bunte und lebendige Welt des Mittelalters gelegt haben. Hier liegt der Ursprung unseres ganz persönlichen Abenteuers, denn an diesen Literaturgnomen und Filologieriesen müssen wir, koste es sie, was es wolle, vorbei. Doch benötigen wir für diese Auseinandersetzung nicht deren grobe Waffen, keinen Panzer aus Beamtenrecht und Habilschrift, gegen all das hilft gesunder Menschenverstand und genügend Witz. Viele von diesen Leuten werden umfallen wie die Sphinx, doch nicht etwa, weil wir ihr Rätsel gelöst hätten, sondern weil wir ihnen auf ihre Fragen Antworten geben können, die sie selbst nicht wissen. Wir selbst können Abenteuer bestehen und die âventiure befreien. Es liegt an uns, ob wir das Lebendigste, das unsere Literatur uns zu bieten hat, aus den unfähigen Händen dieser Kobolde reißen, oder ob wir uns weiterhin damit begnügen, von diesen Schätzen keinen blassen Schimmer zu haben. Sie als Leser können eine Institution zur Abdankung zwingen, deren einziger Sinn bislang darin bestand, Spekulationen über Dinge anzustellen, die sie nicht verstehen konnte. Und indem Sie verstehen, was der âventiure meine denn eigentlich besagt, könnten Sie helfen, den Verstand an deutschen Universitäten wieder heimisch zu machen. Mehr als Spannung, Einsicht und Erheiterung kann und will ich nicht versprechen, von nun an spricht die Literatur für sich. Wer nun also neugierig darauf geworden ist, dreizehn der schönsten und spannendsten Romane des Mittelalters zu verstehen, wer wissen möchte, wie König Rother zu der Erkenntnis gelangt, daß es nicht genügt, seine Braut einfach zu entführen,

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wer verstehen möchte, weshalb Ortwin und Herwig darüber debattieren, auf welche Weise Kudrun zurückzubekommen sei, wer sich dafür interessiert, weshalb Herzog Ernst der erste Befreiungsversuch einer Prinzessin in der Literaturgeschichte mißlingen muß, wer die wahren Gründe dafür erfahren will, weshalb Erec seinem Weib Enite bei Todesstrafe verbietet, den Mund zu öffnen, wer endgültige Sicherheit darüber bekommen will, daß Iwein nicht durch Pünktlichkeit zu unsterblichem Ruhm gelangt, wen es zu wissen interessiert, nach welchen Kriterien Gott seinen Papst bestimmen würde, wer verstehen möchte, weshalb Parzival auf der Gralsburg gottlob nicht die Frage stellt, die ihm auf der Zunge liegt, und wer wissen will, was der Gral tatsächlich bedeutet, daneben auch einmal die erste richtige Übersetzung des Elsternund Bogengleichnisses lesen möchte, wer erfahren möchte, welche Probleme der erste Idealritter hat, wer eine Antwort auf die Frage sucht, weshalb Demantin vor einem Feenbordell Reißaus nimmt, wen es interessiert, daß der Willehalm von Orlens entgegen wissenschaftlicher Ansicht doch nichts mit dem Tristan zu tun hat, wer erleben möchte, wie Meliur Partonopier verführt und welch tiefe Einblicke uns dies in die Arbeit eines Literaturwissenschaftlers verschafft, wer hören will, welche Taten der erste intelligente Ritter der Weltliteratur vollbringt und welche Einsichten er hat, die unserer Zeit leider noch voraus sind, und wer dann noch lesen möchte, wie der gleiche Roman verlaufen müßte, wenn der Ritter lediglich über eine durchschnittliche Intelligenz verfügt, der sollte weiterlesen und die folgenden Romane aufs beste kennenlernen:

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KÖNIG ROTHER KUDRUN HERZOG ERNST EREC (HARTMANN VON AUE) IWEIN (HARTMANN VON AUE) GREGORIUS (HARTMANN VON AUE) PARZIVAL (WOLFRAM VON ESCHENBACH) WIGALOIS (WIRNT VON GRAVENBERG) DEMANTIN (BERTHOLD VON HOLLE) WILLEHALM VON ORLENS (RUDOLF VON EMS) PARTONOPIER UND MELIUR (KONRAD VON WÜRZBURG) DANIEL VON DEM BLÜHENDEN TAL (DER STRICKER) GAREL VON DEM BLÜHENDEN TAL (DER PLEIER)

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Identifikation und nasse Füße ...ich hab es meist unter großem Leid geschrieben und durfte das Leid nicht einmal merken lassen, und so hab ich kindlich getan zum Täuschen mit zerrissenem Herzen. Wie würden Sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn ich Ihnen so ein Märchen bis in die kleinsten Wendungen erklären könnte. [Clemens BRENTANO] Was BRENTANO hier andeutet, ist die Kluft zwischen Autor und Leser, die Differenz zwischen dem Konstruieren von Geschichten durch den Autor und dem Rezipieren des Produktes durch den Leser, der Unterschied zwischen der Täuschung und einer immerhin denkbaren Ent-Täuschung des Lesers durch den Autor. Grundsätzlich deutet sich hier eine ziemliche Diskrepanz zwischen der dichterischen Konstruktion und unserem Kunstgenuß an, und da scheint es ja so etwas wie Baupläne für unsere Illusionen zu geben, Baupläne, die, wurden sie uns entdeckt, uns doch wenigstens überraschen würden. Kurz und gut, wir stehen vor dem Problem, daß das Genießen von dichterischen Kunstwerken durch unsere Illusionsfähigkeit, durch unser Bedürfnis, die Geschichten und die darin handelnden Personen bis zur bedenklichsten Identifikation ernst zu nehmen, in krassem Widerspruch steht zu einem möglichen Verstehen von Kunstwerken durch die Wahrnehmung ihrer Baupläne. Denn es sieht ganz so aus, als verfügten Dichter über die Möglichkeit, ihre Baupläne so zu verschleiern, daß sie den Rezipienten in völliger Ahnungslosigkeit über die wahren Funktionsprinzipien von Kunstwerken lassen. Natürlich legt sich jeder Leser seine Erklärung über das Geschehen in einer Geschichte zurecht, doch scheint dies meilenweit von dem entfernt zu sein, was uns der Autor selbst dazu eröffnen könnte. Es wäre nun die Aufgabe der Literaturwissenschaft, diese Baupläne bis in die kleinsten Wendungen aufzudecken und ihre Wirkungsweise hinsichtlich unserer Täuschung und Illusion zu erklären. Da sie sich noch immer als völlig unfähig erweist, solches zu leisten, wurde dieses Buch verfaßt. Um diesen Sachverhalt ein wenig zu veranschaulichen, wollen wir uns eine solche Diskrepanz sogleich einmal an einer einfachen und kurzen Geschichte, an einer Kalendergeschichte, anschauen, und wir nehmen dazu eine höchst intrikate von B. BRECHT. Prüfen wir also, ob Illusion und demzufolge Identifikation überhaupt akzeptable Kriterien für das richtige Verstehen von Literatur sein können.

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Herr Keuner und die Flut Herr Keuner ging durch ein Tal, als er plötzlich bemerkte, daß seine Füße in Wasser gingen. Da erkannte er, daß sein Tal in Wirklichkeit ein Meeresarm war und daß die Zeit der Flut herannahte. Er blieb sofort stehen, um sich nach einem Kahn umzusehen, und solange er auf einen Kahn hoffte, blieb er stehen. Als aber kein Kahn in Sicht kam, gab er diese Hoffnung auf und hoffte, daß das Wasser nicht mehr steigen möchte. Erst als ihm das Wasser bis ans Kinn ging, gab er auch diese Hoffnung auf und schwamm. Er hatte erkannt, daß er selber ein Kahn war. Ich hatte vor geraumer Zeit das zweifelhafte Vergnügen, gut zehn Klausuren zu dieser Parabel von Schülern der 12. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums zu studieren. Man darf ohne Übertreibung behaupten, daß BRECHTs Lehre voll eingeschlagen haben muß, jeder konnte etwas damit anfangen, jeder zudem das gleiche, jeder wußte aus seinem Schatzkästlein von Erfahrungen dazu beizutragen, kurz und gut, moderne Deutschdidaktiker wären aus dem Freudentaumel nicht mehr herausgekommen. Die Quintessenz zehnfacher Textanalyse lautete unisono, jedermann könne, wenn er nur wolle oder müsse. Und tatsächlich, das ist auf den ersten Blick von frappierender Einfachheit und Logik, das kennt jeder, jeder kann aus seinem Anekdotenschatz dazu beitragen. Das ist eine klare Lehre, die man sich direkt hinter den Spiegel klemmen könnte. Weit gefehlt, aber kein Einzelfall, BRECHT wird beinahe ständig Einfalt unterstellt. Wer sich die Sache nun aber etwas genauer betrachtet, wird feststellen, daß sich die kognitive Leistung unserer Junggermanisten darauf beschränkte, den letzten Satz zu paraphrasieren. Dies allein müßte genügen, auch den wohlwollensten Oberstudienrat stirnrunzeln zu machen, denn reicht es gegenüber einer Parabel schon aus, lediglich ein Epimythion zu verallgemeinern? Schlimmer noch, die Erkenntnisleistung beschränkt sich auf eben die Verallgemeinerung einer bereits im Text vollzogenen Erkenntnis; wo also bitte bleibt die so wichtige Transferleistung? Nun besteht das Funktionsprinzip der Parabel allgemein gesagt darin, daß sie den Adressaten zu einer Einsicht zwingt, indem sie einen unangenehmen Sachverhalt derart verfremdet oder abstrahiert, daß eben jener Angesprochene diesen distanziert beurteilen kann, um nach Beweis seiner Kompetenz dasselbe Urteil auf sich anwenden zu müssen, weil er sich in dem abstrakten Fall wiedererkennen muß. Wer nun meint, dies sei den Schülern gelungen, der möge sich vergegenwärtigen, daß bis auf die Verklausulierung mit dem Kahn so recht keine Distanz vorgelegen hat, klarer noch, das vorschnelle Verstehen dieser Pseudobotschaft belegt, daß es gar keine Distanz gab, die blitzschnelle und unvermittelte Identifikation zeigt, daß die Schüler gar nichts Abstraktes zu beurteilen fanden, statt dessen fanden sie sich sofort

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im Geschilderten wieder. Das leuchtet spätestens ein, wenn man sich klar macht, daß bereits jeder unter den Schülern mit ausgezeichneten eigenen Beispielen für den abgeschilderten Sachverhalt aufwarten konnte, und es wäre geradezu tragisch geworden, wenn einer mit der Fabel von den zwei Fröschen im Milcheimer argumentiert hätte. Sollte dies also die Lehre BRECHTs gewesen sein, so kommt sie so spät, daß man nicht nur mit ihrer puren Reproduktion darauf antworten kann, schlimmer noch, jeder dieser Schüler ist im Prinzip ein Beleg für die ständige Anwendung dieser Lebensregel. Dies alles muß einen geradezu verstimmen, wenn man sieht, daß BRECHT, um solch eine Deutung zu vermeiden, eben bewußt diese Erkenntnis bereits mitteilt. Das bedeutet letztendlich auch, daß das Prinzip der Parabel, nämlich erst etwas Abstraktes beurteilen und dann erkennen, daß man selbst gemeint ist, hier gar nicht funktioniert hat. Aber was ist denn nun eigentlich die Message BRECHTs, werden Sie gespannt fragen, und weshalb ist es den Schülern nicht gelungen, ihr auf die Schliche zu kommen? Die Antwort ist so einfach, daß ich mich beinahe schäme, sie selbst zu geben, doch um auf die zweite Frage zuerst zu antworten, es ist ihnen nicht gelungen, den Text aus der Distanz zu beurteilen. Im Prinzip haben sie auf die Parabel reagiert wie auf jeden beliebigen Text, sie sahen das Prinzip All's well that ends well oder The end justifies the means verwirklicht, mit anderen Worten, diese Geschichte hat ein erfreuliches Ende, sie ist abgeschlossen, sie gefällt, der Protagonist gewinnt, und schon sind sie bereit, ungeachtet aller übrigen Ereignisse, sich auf seine Seite zu schlagen. Kurz, die Schüler identifizierten sich mit einer Gestalt, die Positives zu verkörpern scheint, sie genießen, statt zu denken. Ich sage nun aber, daß das Ende dieser Parabel in BRECHTs Augen ein fatal negatives gewesen sein muß. Um das klar zu machen, muß man diese Parabel bis in die kleinsten Wendungen erklären, so daß Sie endlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen können. Betrachten wir nun zunächst den üblichen Weg, den ein Leser der oben angeführten Parabel beschreiten wird, um sie für sich auszuwerten: Da findet sich Herr K. mitten auf einem Spaziergang urplötzlich in einer Gefahrensituation wieder, denn was er für ein normales Tal hielt, war wohl eher ein Watt, denn nun kommt die Flut und das Wasser steigt stetig. Natürlich sieht er sich sofort nach Hilfe in Form eines Bootes um, aber leider kommt keines. Bleibt die Frage, wie weit das Wasser steigen wird, denn solange es nur bis zu den Knien geht, wäre es ja direkt noch ein Vergnügen. Leider verschätzt sich Herr K. dahingehend, und endlich, als ihm das Wasser bis zum Hals steht, beginnt er zu schwimmen und sieht ein, daß er sich selbst helfen kann. Ich hoffe, das war eine schöne und nachvollziehbare Deutung, sie trifft zudem genau den Kern dessen, was uns ÄSOP schon viel früher gesagt hatte mit seiner Fabel Der Schiffbrüchige:

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Ein reicher Athener machte mit anderen eine Seefahrt. Als ein heftiger Sturm aufkam und das Schiff kenterte, suchten sich alle ändern durch Schwimmen zu retten. Der Athener aber, der bei jeder Gelegenheit die Athene anrief, gelobte ihr wunder was, wenn sie ihn rette. Da sagte einer der Schiffbrüchigen, der in der Nähe schwamm: "Beten kannst du zu Athene, aber du mußt auch schwimmen!" Wer ins Unglück gerät, muß erst selbst etwas für sich tun und dann den Gott zu Hilfe rufen. Klaus DODERER, der das Bändchen Fabeln herausgegeben hat, erweitert diese Lebensregel gar noch und schmeichelt uns mit der Mitteilung: Der Athener, das negative Demonstrationsobjekt, ist reich. Der Leser darf mit Genugtuung feststellen, daß Reichtum demnach vor Torheit nicht bewährt. Der kleine Mann darf triumphieren. So klar meine Deutung von BRECHTs Parabel scheint, so schmeichelhaft jene von DODERER ist, völlig falsch sind sie beide! Wir sollten uns ruhig die Frage stellen, weshalb BRECHT so ungeschickt langsam eine Erkenntnis vom Stapel läßt, die lange vor ihm ÄSOP ja schon viel deutlicher formuliert hat. Wir könnten uns mit dem Urteil begnügen, daß BRECHT sie entweder nicht kannte oder einfach kein so guter Dichter war. Wir könnten aber auch den etwas unbeliebteren Weg gehen und den Fehler bei uns suchen. Betrachten wir Herrn K. und sein Verhalten ruhig noch einmal, es könnte vielleicht ja doch etwas Bestimmteres, etwas Deutlicheres dahinter stecken. Jedem ist ja nun der Wortlaut des XXIII. Psalms bekannt, des 4. Verses, wo es heißt: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürcht ich kein Unglück...! Jedem ist zudem die biblische Wasser-metaphorik allzu vertraut, sei es ein Zug durchs Rote Meer, sei es ein Sturm auf dem See Genezareth, der sich auf den Befehl Jesu legt, sei es gar das Gehen über das Wasser. Solche Sätze schmieden wir zu einer alltäglichen Geschichte zusammen, fügen viermal hoffen hinzu, und fertig ist diese doch nicht so alltägliche Geschichte. Sehen Sie, BRECHT ging es gar nicht um den Beweis, daß wir uns in der Not zu helfen wissen und daß wir uns aus ihr befreien können, denn das weiß er so gut wie ÄSOP. Es ging ihm auch nicht darum, uns in unserem vertrauten und alltäglichen Kampf gegen den Untergang eine Didaxe aus dem Handbuch der DLRG zur Einsicht zu bringen, und wer BRECHTs Kunstauffassung kennt, wer schon einmal von Verfremdungseffekten gehört hat, würde ihm dergleichen wohl auch nicht ernsthaft unterstellen mögen. Es war BRECHT mehr darum zu tun, das deutlicher zu machen, was auch ÄSOP eigentlich meinte. Das Verhalten von Herrn K. ist nämlich ganz und gar nicht alltäglich. Das Problem, das BRECHT hier unter anderem zu entlarven sucht, ist im Grunde unsere ständige Bereitschaft, Kunst und Leben ineinszusetzen, das Verhalten von K. psychologisch zu begründen und damit nachvollziehbar zu machen. Und eben das

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ist gefährlich, denn was Herr K. tut, sollte wirklich niemand von uns ausprobieren, nicht einmal ein Wasserballspieler oder ein Kampfschwimmer. Was Herr K. tut, ist absurd. Er unterläßt jeglichen Versuch, seinen Verstand zu benutzen, zu handeln und mit geringer Mühe in Richtung Ufer zu gehen. Da er aber seinen Verstand nicht gebraucht und statt dessen in heiliger Einfalt hofft, es möge ein rettendes Boot kommen, erweist er sich bereits als gefährlich naiv. Als aber die erste Hoffnung enttäuscht wird, hofft er statt dessen auf etwas noch Absurderes, daß nämlich das Wasser nicht allzu hoch steigen möge, und stellt damit eine kaum zu überbietende Einfalt unter Beweis. Als aber auch diese Hoffnung enttäuscht wird, bleibt ihm nur noch das kreatürliche Handeln und die schmale Einsicht, selbst schwimmen zu können. Diese letzte Erkenntnis aber gibt uns BRECHT bereits deshalb schon selbst, damit wir eben nicht meinen, uns ebenfalls mit dieser Notlösung zufrieden geben zu können. Wir sollen nicht schwimmen lernen, sollen nicht hoffen und warten, bis uns nur noch der Kampf ums Überleben bleibt, wir sollen vielmehr lernen, unseren Verstand zu gebrauchen, denn dann bliebe uns dieser pure Überlebenskampf erspart, und wir könnten vielleicht einmal beginnen zu leben! Fragen wir uns aber auch ruhig, was denn so gerne den Verstand konterkariert, was denn so intensiv versucht, das Denken zu dispensieren, dann werden wir schnell über das viermalige hoffen auch dies hoffentlich etwas schneller begreifen. Gott hilft uns nämlich in keiner einzigen Gefahr, im Gegenteil, wer immer auf seine Hilfe hofft, gerät nur tiefer hinein. Man sollte sich folglich besser nicht an den Figuren in der Bibel orientieren, an Moses, Jonas oder den Jüngern Jesu. Der besagte Athener jedenfalls war wohl endlich so schlau, sich nicht für Odysseus zu halten, den erklärten Liebling der Pallas Athene, denn der war eine fiktive Figur, eine Romanfigur, mit der man sich besser nicht identifizieren sollte, ich befürchte nämlich, uns allen gebricht es dazu an der nötigen List. Man sieht also, die Illusion, die Identifikation, das täglich Erfahrene ist eine schlechte, ja gefährliche Basis für eine Interpretation, für ein Verstehen. Niemanden interessiert es zudem, wann zum Beispiel ein Töchterchen des Germanistikprofessors K. schwimmen lernte und inwieweit uns dies vor dem Untergang bewahren könnte. Und sollte es immer noch nicht klar sein, was gemeint ist, es geht um unser Unvermögen, Kunst und Leben zu trennen, um unseren Fehler, in Kunst das Leben zu sehen und uns dort Handlungsanweisungen zu holen. Zu diesem Bereich der Kunst zählt nun aber auch die Religion, auch sie schreibt Geschichten, auch sie propagiert Hoffnungen, und auch sie lebt von unserer Illusionsbereitschaft und unserem Wunsch, wenn schon nicht im Leben, dann doch wenigstens danach und woanders geborgen und sicher zu sein. Wer sich aber auf derart abstruse Hoffnungen verläßt, ist von allen guten Geistern verlassen, der muß plötzlich ums nackte Überleben kämpfen, es sei denn, er verlernt das Hoffen auf das Übernatürliche und lernt statt dessen den Gebrauch seiner Einsichtsfähigkeit und seines Verstandes. Wer glaubt, etwas Absehbares würde nicht eintreten, und hofft,

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etwas Unvorhersehbares könnte ihn retten, der mißbraucht so lange seinen Verstand, bis er nur noch seinen Körper als Auftrieb benutzen kann. Wenn die Erkenntnis tatsächlich nur darin bestehen sollte, daß man selbst ein Kahn ist, dann ist zu befürchten, daß man von nun an immer abwartet, bis einem das Wasser bis zum Hals steht, weil man ja so erfolgreich unter Beweis gestellt hat, was für ein vortrefflicher Kahn man ist. Das wirklich Reizvolle dieser Parabel aber ist die Art, wie sie auch und gerade unser literarisches Verstehen als Unfähigkeit zum Gebrauch des Verstandes überhaupt entlarvt und damit leider auch all jene, die dies nicht verstehen können oder wollen, in doppelter Hinsicht um eine Bereicherung ihrer Erkenntnis prellt. Hier lag der Hase im Pfeffer, hier sind die Ursachen dafür zu suchen, daß die Schüler versagen mußten, sie waren schlicht und ergreifend nicht in der Lage, literarische oder theologische Versatzstücke auf eine andere Weise zu rezipieren, als in der, in der sie geglaubt sein wollen. Einigen unter Ihnen wird nun aufgefallen sein, daß der Begriff Parabel zuletzt durchgehend kursiv geschrieben wurde. Das hat natürlich seinen Grund. Damit sich nun niemand etwa Aufklärung in einem Sachwörterbuch der Literaturwissenschaft holt, will ich nicht verhehlen, daß diese Geschichte ungeachtet ihrer Titulierung gar keine Parabel ist. Vom Funktionstyp her gesehen, ist sie nämlich eine Fabel. Nichtsdestoweniger kursiert sie in Schulbüchern unter der Gattungsbezeichnung Parabel, und das ist insofern verzeihlich, als es natürlich keine ernstzunehmende Gattungstheorie zur Kalendergeschichte gibt, alles, was einigermaßen gesichert scheint, ist die Tatsache, daß etliche didaktische Kurzformen in ihr verbreitet sind, welche im einzelnen nachzuweisen sich gerade in der Moderne als äußerst heikel erweist. Betrachtet man diese Geschichte aber unter dem Funktionsprinzip einer Fabel, so wird deutlich, wie der Verstehensprozeß hätte ablaufen müssen. Zuerst nämlich erkennt man in einer abstrakten Handlung bekannte Verhältnisse wieder, und dann kann man, einmal diesen abstrakten Standort erreicht, den konkreten und vertrauten Fall schonungslos verurteilen. Dieser konkrete Fall aber ist unsere Untätigkeit, die auf irrwitzigen Hoffnungen gründet, Hoffnungen, wie sie Literatur und Religion propagieren, Hoffnungen, mit denen wir uns inzwischen so heftig identifizieren, daß wir den oben erwähnten abstrakten Standpunkt nicht mehr erreichen können, sondern uns gleich mit der Fiktion kurzschließen. Fassen wir nun einmal kurz zusammen, wie wir BRECHT auch verstehen können: Wer das Handeln von Figuren in der Literatur in bedenkliche Nähe zu seinem Alltag bringt und allzu ernst nimmt, der muß ernste Probleme bekommen. Wer in Figuren der Literatur eine Basis für eine wie immer geartete Identifikation aufzuspüren sucht, dem kann nur mehr eine recht schmale Einsicht bleiben. Unentschieden aber bleibe ich bei der Frage, was heftiger von BRECHT attackiert wird, der theologische Hoff-

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nungsanspruch oder unsere Profanierung von biblischen Bildern, die selbst ständig so falsch gedeutet werden wie BRECHTs Fabel von Herrn Keuner und der Flut. Wie sagte BRECHT einmal so schön: Man kann die Dinge erkennen, indem man sie ändert! Doch, wie lautet die Moral am Ende der Fabel The Owl Who Was God von J. THURBER: You can fool too many of the people too much of the time.

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Swer des von mir geruoche, dern zels ze keinem buoche Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts ganz Zuverlässiges wissen kann, kurz: Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen läßt, daß sie falsch sind, dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität, vor allem jeder philosophischen und künstlerischen oder auch nur mit Kunst und Philosophie entfernt verwandten. [Egon FRIEDELL, Kulturgeschichte der Neuzeit, S.49] Wer, wie ich, endlich den nötigen Mut aufgebracht hat, ein Buch zu schreiben, und sich dabei der Rückendeckung eines so brillanten Kopfes wie FRIEDELL versichern konnte, der wird selbst dann, wenn er eigene Wege geht, gut daran tun, sich auch weiterhin seinen überaus nützlichen Rat einzuholen. So warnt FRIEDELL nämlich den Debütanten vor allem noch mit Fug und Recht vor der kritischen Vorsicht des aufgeklärten Publikums: Will in Deutschland jemand etwas öffentlich sagen, so entwickelt sich im Publikum sogleich Mißtrauen in mehrfacher Richtung: zunächst, ob dieser Mensch überhaupt das Recht habe, mitzureden, ob er "kompetent" sei, sodann, ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten, und schließlich, ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe. Es handelt sich, mit drei Worten, um die Frage des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats. [FRIEDELL, S. 48] Was den ersten Vorwurf anlangt, ob ich das Recht habe, mitzureden, so sei dieser insofern entkräftet, als ich es beileibe nicht vorhabe, mitzureden. Gar mitzuheulen in einem Club von Mitwissern und Mitessern, kann mir mit dem dialogischen Wunsch, einmal gegenzureden, doch wohl nicht zuzumuten sein. Und solange Kompetenz nichts anderes erlaubt, als die genaue Berechnung von Restrisiken, verzichte ich auch hier dankend auf Mittäterschaft und bekenne mich freimütig zum kreativen Dilettantismus. Zur Frage der Paradoxie sei nur soviel gesagt: Viele Leute, die dafür überbezahlt werden, daß ihre Theorien widerspruchslos sind, zahlen doch in der Praxis drauf, wenn es darum geht, ihre strahlenden Widerspräche zu beseitigen. Der Leser aber möge beruhigt sein; ich habe gar nicht vor, mich in Widersprüche zu verstricken, die doch von jeher das Metier der Schulfilologie mit dem passenden Wahlspruch credo, quia absurdum war.

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Etwas ganz anderes macht mir in diesem Zusammenhang eher Schwierigkeiten, nämlich das Problem der Platitüde. Gelänge es hier tatsächlich, über Literatur zu sprechen, ohne der filologischen Unschärferelation zu erliegen, ohne vom Ungefähren und Gewährlosen zu schreiben, kurz, ohne mich als Trabant eines hermeneutischen Zirkels zu sehen, wo es darum geht, im literaturwissenschaftlichen Analysedilemma die vagen Gefühlseruptionen terminologisch zu affirmieren, gelänge also die gleichermaßen einleuchtende wie beweisbare Deutung von Kunstwerken, dann wäre man sogleich den Angriffen der Allerborniertesten ausgesetzt, die da behaupten, dies sei ja wohl schon immer klar und keiner Diskussion mehr würdig gewesen. Da tut rechtzeitige Abhilfe Not, und daher habe ich vor die profane Erkenntnis das heilige Erkennen gesetzt. Es ist Kennzeichen der Satire, daß es nicht nur schwierig ist, sie nicht zu schreiben (difficile est, satiram non scribere), es ist auch schwierig für die, die da durch den Kakao gezogen werden, dies überhaupt zu bemerken. Wenn sich also Arno SCHMIDT über die Filologen lustig macht: die Herren Ordinarii haben seit einigen Jahrhunderten so eklatant versagt, wie nur je Kärrner vor Königsbauten. ...[Sitara und der Weg dorthin, S. 240], so werden diese dies mit der heiligen Einfalt des Berufsbeamten deuten, sich selbst jedoch nie angesprochen fühlen. Der sicherste Weg nämlich, sich einer Einsicht zu ver-weigern, ist seit Menschengedenken die Methodisierung des zunächst Zufälligen, und so wurde auch hier aus der Not eine Tugend, aus dem Unvermögen eine Leistung gemacht. Eine Frucht dieser Bemühungen nennt sich Rezeptionsästhetik, sie ist der hoffentlich letzte Schrei der Literaturwissenschaft und derart in Mode gekommen, daß, wie ich es selbst gezwungenermaßen tagtäglich tatenlos unterrichten muß, sie zum probatesten Notzuchtprogramm für die Sekundarstufen I und II avanzierte. Wie sie funktioniert, das zeigt ein Hauptvertreter dieser Richtung anschaulich am Selbstexperiment: Nun hat Joyce selbst im Gespräch über seinen Roman einmal ironisch bemerkt: I've put in so many enigmas and puzzles that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that's the only way of insuring one's immortality. Nimmt man diese Äußerung für einen Augen-blick ernster, als sie wohl gemeint war... [W. ISER, Der implizite Leser, S. 302] Nehmen wir ISER für einen Moment mal ernster, als er es verdient, dann können wir unschwer erkennen, hier hat sich jemand vor konsequenzenreicher Einsicht vollkommen abgeschottet, hat endlich einer die schußsichere Weste in allen Konfektionsgrößen entworfen, die es erlaubt, sich in jede literarische Schußlinie zu begeben, sich den Schild voll Pfeile spicken zu lassen und nur spöttisch um sich zu blicken. Solcherart geschützt, kann man prima rezipieren, der Gefahr, etwas verstehen zu müssen, setzt man sich nicht aus. Und sollte doch einmal ein Projektil zu großkali-

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brig sein, schadet nichts, man murmelt rasch Ironie oder Mutabor, lacht kurz und vergißt... Führen wir uns dieses Verfahren einmal praktisch vor Augen, und vergegenwärtigen wir uns die Parabel Nathans, nicht die mit den Ringen, sondern jene mit den Schafen. König David hört sie und ruft: "So war der HERR lebt / der Man ist ein kind des tods / der das gethan hat." Damit ist er nach ISER ganz klar impliziter Leser. Dann aber meint Nathan: "Tu es ille vir." Damit ist David expliziter Leser. So weit darf ISER es aber nicht kommen lassen, und wäre er Berater König Davids gewesen, er hätte ihm geraten, solches zu antworten: "Wie denn, wo denn, was denn, ist ja ganz nett, aber ich habe gar keine Schafe." Sie sehen, die Gefahr, falsch verstanden zu werden und daher wirkungslos zu bleiben vor allem deshalb, weil der Verstehensprozess nicht mit- und nachvollzogen wird, ist zu groß, um einfach tatenlos zu schreiben und zuzusehen. Und selbst, wenn es inzwischen schon heißen müßte difficile est, satiram non intellegere, selbsternannte Experten verfügen, wie gezeigt, über vortreffliche Methoden der Erkenntnisverweigerung. Nur, und so trennt man die Spreu vom Weizen, setzt man denen Erkenntnisse vor, so lehnen sie sie ab (siehe Anhang), zwingt man sie hingegen, etwas zu erkennen, so blamieren sie sich. Hinzu kommt dann auch, daß fertige Erkenntnis dann doch zu leichte Kost ist, sie ist vorgekaut und womöglich fade und bereitet beim Durchkauen mithin kein eigentliches Vergnügen. Wenn aber Anspielungen und andere harte Nüsse nach beharrlichem Kauen ihren wahren Kern preisgeben, dann ist - et prodesse volunt et delectare poetae - vielleicht die Beschäftigung mit Wissenschaft auch Leidenschaft. Womit wir beim dritten unhaltbaren Vorwurf angelangt sind. Plagiat bedeutet Raub geistigen Eigentums, geistiges Eigentum kann es aber nur sein, wenn es irgendwo materiell existiert, womit es kaum noch geistig, allemal aber veräußerlich ist. Diese kleine Entgleisung soll aber keinesfalls den Eindruck erwecken, ich führte dergleichen geistiges Raubrittertum im Schilde. Würde ich mich in diesem Buch jemals dazu verleiten lassen, eteswenne nicht den Verursacher eines gröblichen filologischen Unfuges beim Namen zu nennen, so liegt dies eher am Schutze von dessen Persönlichkeitsrechten, als daß ich es nötig hätte, filologische Leichenfledderei zu betreiben. Doch weist der Vorwurf des Plagiats wenigstens noch zwei weitere Nuancen dieses Problems auf. Zum einen scheint jeder, der sich zu einem Thema schriftlich äußert, in die Pflicht genommen zu beweisen, daß er alles zu diesem Thema gelesen hat und sich deshalb schon nicht aus Versehen eines Plagiates schuldig gemacht haben kann. Anders gewendet, ist diese Furcht Wasser auf den Mühlen all derer, die ohnehin eine neurotische Angst vor dem selbständigen Denken haben und die daher nichts anderes zu betreiben in der Lage sind als eine Form des akademischen Recyclings.

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Gegen derlei Vorwürfe, irgendein Gedanke in meinem Buch sei nicht neu, fühle ich mich aber insofern gewappnet, als ich, der ich etwas ändern will, vor der Tatsache stehe, daß es etwas zu verändern gilt. Erwiese sich in diesem Zusammenhang eine Erkenntnis als nicht neu, so träfe sie doch der Vorwurf einer rezenten Unfruchtbarkeit, und auf so etwas möchte ich mich weder berufen, noch möchte ich dasselbe Schicksal erleiden. Kurz und gut, da ich nur Dinge schreibe, die einzig auf meinem eigenen Mist gewachsen sind, erlaube ich mir, mit KANT den Aspekt des Neuen noch etwas zu verabsolutieren: Wenn also jemand ein System der Philosophie als sein eigenes Fabrikat ankün-digt, so ist es eben so viel, als ob er sagte: vor dieser Philosophie sei keine andere noch gewesen.. [KANT, Vorrede zur Metaphysik der Sitten] Zum anderen gibt es aber auch, und dies wird sich im Verlaufe der Lektüre noch enthüllen, eine Form des unberechtigten Vorwurfs des Plagiats. Dies ist eine wirklich heikle Sache, denn sie gründet in eklatanten kognitiven Defiziten derer, die so urteilen. Bestes Beispiel ist mein Professor, seines Zeichens langgeübt im Mummeln fader akademischer Recyclingkost. Dergestalt konditioniert in Erkennen des Bekannten, gelang es ihm, nein, konnte er gar nicht anders, als im selbst als neu Apostrophierten das längst Bekannte zu wittern. Die Grenze des schlechten Geschmackes hin zu einer debilen Ignoranz überschritt der alte Herr behende mit dem dann schon beinahe verzeihlichen Vorwurf, ich hätte falsch zitiert. Überhaupt wird der geneigte und bis dahin geduldige Leser recht treffsicher bemerkt haben, daß in diesem Werke einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe übel mitgespielt wird. Damit sind wir an dem Punkt, endlich genauer zu eröffnen, was es mit diesem seltsamen Kapitel auf sich hat. Wie bereits oben erwähnt, sollen sich hier Lesen und Verstehen nicht im passiven Akt vollziehen. Der Leser ist gefordert, und er ist gleichzeitig aufgefordert, diese Abhandlung in einer ganz bestimmten Weise zu lesen. Alles, worauf Sie sich einlassen müssen, sind die Fragen, die ich aufwerfe. Dann wird es Ihnen mit der Zeit bestimmt bald so ergehen, daß Sie die gleichen Antworten finden wie ich. Nur sind eben die Fragen genauso neu wie die Antworten, sie stützen sich daher nirgends auf Bekanntes und Unverständliches, niemals auf wissenschaftliche und unbrauchbare Ergebnisse. Wer also meint, dieses Buch so lesen zu können wie ein Telefonbuch oder eine wissenschaftliche Abhandlung, also an einer interessanten Stelle aufschlagen und eine halbe Seite lesen, der wird kein Wort verstehen. Alles, was Sie hier lesen können, ist völlig neu, und gerade der Experte wird hier begreiflicherweise nichts begreifen. Dieser Aspekt aber verdient näheres Eingehen: Wir müssen es zu den großen Bitternissen und leidvollen Erfahrungen während der intellektuellen Entwicklung der

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Menschheit zählen, daß sich all jene, die Neues und auch Großes entdeckten, gerade denjenigen stellen mußten, die grundsätzlich nur deshalb in den relevanten Kommissionen die beurteilende Instanz bilden konnten, weil sie sich in dem System, an dem gerade gerüttelt wurde, bienenfleißig nach oben gearbeitet hatten. Wer schützt denn eigentlich das Wissen vor den Besserwissern, wer den Gutmeinenden vor den bigotten Philistern, wer schützt am Ende eine Wahrheit vor den etablierten und akademisierten Torheiten, die ihre Kommissionen, Akademien, Universitäten und Bibliotheken doch nur benötigen, um falsche Vorstellungen und magische Riten vor einem gnädigen Vergessen zu bewahren, bewahren doch wohl deshalb, weil sie nicht im Bewußtsein der Massen überleben könnten, sondern nur in den knotigen Gehirnen speziell ausgebildeter Wissensarchäologen. Und wollen wir uns wirklich fragen, wo die Ursachen dafür liegen, daß die gehüteten Erkenntnisse solch hochdekorierter Fürsprecher bedürfen, woran es liegt, daß sie nicht für sich selbst sprechen können oder daß sie kaum jemand verstünde, wenn er es versuchte? Wir werden dieser Frage im Verlaufe dieses Buches auf den Grund gehen, zunächst aber das Herz einfach mal mit einem wahllos aus meiner Bibliothek gefischten Beispiel erfreuen (Nebenbei bemerkt: Ich habe das Werk von WEHRLI, Literatur im deutschen Mittelalter, wirklich, ohne zuvor schon lange darin gelesen zu haben, rein zufällig aus dem Regal genommen. Mein Scherbengericht hätte ebenso leicht E.R. CURTIUS, W. HAUG, H. KUHN oder sonstwen treffen können.): Die Herablassung des Lagos ins Fleisch erscheint am eigentlichsten in der Knechtsgestalt der menschlichen Sprache, nach der Terminologie der Rhetorik: im sermo humilis. Nicht wahr, das sind ächt intellektuelle Selbstverstümmelungen, das sind die bizarren und sinistren Auswüchse von Paraparias, die für ein paar Rupien aus dem Kult- und Wissenschaftsfond ihre Verstümmelungen herzeigen. Vermutlich aber gedeiht derlei Gestümmel und Gestammel nur in Deutschland, oder, um mit L. MARCUSE zu sprechen: Nach alter Weise bewundern auch heute Preziöse wie Analphabeten im Unverständlichen das Höhere. Vielleicht aber kann es nur in Deutschland passieren, daß Berichterstatter in Verzückung ausbrechen, weil sie den Mann auf dem Podium da oben nicht verstanden haben. Daher wendet sich dieses Buch hauptsächlich und insbesondere an ein Publikum, das nicht im entferntesten von jedwedem filologischen Fachidiotentum infiziert ist, welches nichts anderes mitbringt als das Interesse, Dinge zu verstehen, die ihm bislang weder bekannt noch zugänglich waren, Stoffe und Erzählungen kennenzulernen, die

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ähnlich wie in ihrer Ursprungszeit nur wenigen Auserwählten vorbehalten waren, und die den Wunsch haben, Einblick zu gewinnen in den Vorgang ihres eigenen literarischen Verstehens. Es soll sich aber auch wenden an (möglichst aber gegen) die Hochgelahrten, an die hochdotierten Sachwalter filologischer Mißverständnisse, an die akademischen Wünschelrutengänger ... und zwar mit etlichen Seitenhieben. Und so verfolgt dieses Buch denn auch zwei Ziele gleichzeitig, die sich jedoch untrennbar bedingen. Zuvorderst gilt es natürlich, einige wundervolle Romane aus dem Mittelalter einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, sie also so zu erklären, daß jeder, wenn er sie dereinst selbst vollständig liest, die Handlung und ihre Bedeutung, kurz, den Sinn der ganzen Geschichte versteht. Doch selbst der Wohlwollendste stolpert bei solch einem Vorhaben nolens volens über all jene, deren Berufskrankheit darin besteht, daß sie Literatur eben nicht erklären können. Doch halt, nicht erklären können, das ist eine ungerechtfertigte Verharmlosung dessen, was sich dort tatsächlich abspielt. Nicht erklären können ist gleichzeitig die Wurzel allen Übels, wie es eben auch das leidige Resultat darstellt. Für jeden vernünftigen Menschen ist damit alles Notwendige gesagt, was taugt hier langes Drumherumreden, so etwas darf es doch einfach nicht geben. Weit gefehlt, zwischen der Wurzel Unvermögen und dem Resultat Unvermögen gedeiht eine ganze Wissenschaft, die sich derart aufgebläht hat, daß sie ihre Fixpunkte Unvermögen weit an den Rand gedrängt und verdeckt hat, so daß sie dem Auge des Betrachters lediglich ein weites Feld des Bemühens bietet. Diese Mühe ist Legitimation und Ornat der Literaturwissenschaft, sie füllt runde zweitausend Regalmeter, und deshalb unterzieht sich der Normalbürger auch nicht der Mühe, dort etwas Brauchbares zu suchen. Genügt es nun, die Vertreter der Literaturwissenschaft mit einigen treffenden Bemerkungen abzutun? Reicht es aus, sie schlicht zu übergehen, wenn es gilt, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, und sie ansonsten unbehelligt weiterwirken zu lassen? Ich wäre fast geneigt, dies zu tun, begegnete man nicht ständig diesen unnützen wie unsinnigen Ausgeburten einer Arroganz der Mühe, die sich auf nichts anderes stützen kann als auf kodifiziertes Unvermögen. Und nur weil diese Leute sich auf den Schultern von Riesen so unangreifbar und sicher fühlen, ist es mir ein ganz vorzügliches Vergnügen, dem Riesen auf die tönernen Füße zu treten. Doch hat ihre Borniertheit, Unseriosität und Verlogenheit auch ganz nützliche Seiten. Dies zeigt sich vor allem dort, wo bloße richtige Darstellungen gegenüber gesalzenen Richtigstellungen zur didaktischen Platitüde geraten würden. Dies mag das Buch selbst spannend gestalten, ich meinerseits darf gespannt sein, ob daraus endlich einmal Konsequenzen gezogen werden, denn schließlich bin ich nicht der erste, der dies so sieht und ähnlich sagt: Deutschland ist jetzt überflutet von diesen bornierten Subjekten, die, weil sie drei Examina bestanden und einige Literaturkapitel auswendig gelernt haben, der deut-

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schen Nation beibringen wollen, wie Kunst und Dichtung beschaffen sein müsse. Vier Bücher solcher Herren liegen vor mir, eins immer schlechter und dünkelhafter als das andere, lederne Menschen, die, weil sie so ledern sind, auch nicht das geringste von der Sache verstehen, moderne Bildungsscheusäler, denen jedes natürliche Gefühl, wenn sie's je hatten, abhanden gekommen ist. Meine grenzenlose Verachtung gegen diese Leute ist in einem steten Wachsen begriffen. Sie wollen fördern und verwüsten alles. [Th. FONTANE, in einem Brief an FRIEDLAENDER] Last but not least möchte ich all jenen, die am Zustandekommen dieses Buches maßgeblichen Anteil hatten, ihren Anteil zukommen lassen, und zwar nicht unähnlich jenem Bauern, der einst ein verloren Ding des Königs fand, zwecks schneller Rückgabe bei den unterschiedlichsten Hofangestellten vorstellig wurde und am Ende nur vor den König gelassen wurde, nachdem er alle Anteile des probablen Finderlohnes vergeben hatte. Bekanntlich wünschte sich der Mann 100 Stockhiebe zum Lohn, die wurden auch ausgeteilt. Nun denn, special thanks to Prof. HAUG, Prof. WARNING, Prof. SCHLAFFER, Prof. STACKMANN, Prof. CORMEAU, Prof. RUH, Prof. WEHRLI und Prof. SZKLENAR. Ohne ihre aufopfernden Bemühungen, mich zu entmutigen, ohne ihr aufrichtiges Desinteresse und ohne ihre überaus freigebige und unzutreffende Kritik hätte dieses Buch niemals geschrieben werden können. Da jeder von ihnen kritisierte und ablehnte, jeder der Herren aber etwas anderes, keiner jedoch der stochastischen Notwendigkeit Raum ließ, etwas Richtiges daran zu finden, durfte ich nicht mehr glauben, der Fehler läge bei mir. Aus diesem Grund erscheint dieses Buch wohl als eines der wenigen Exemplare, das seine Rezension schon im Anhang hat. Schließen wir nunmehr diesen Abschnitt und runden ihn mit einem trefflichen Epigramm von Oscar BLUMENTHAL ab: Du willst bei Fachgenossen gelten? Das ist velrorne Liebesmüh. Was dir mißglückt, verzeihn sie seltenWas dir gelingt, verzeihn sie nie. Und weil dies so typisch ist, erlaube ich mir, hier den Aufruf zu einer Hatz zu erneuern, der aus dem Jahre 1912 und aus der Feder von Karl KRAUS stammt: Wo ich geh' und steh', wimmelt es von Literarhistorikern, also von Historikern, die in keinem Zusammenhang mit Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen. Was soll ich mit den Leuten anfangen? Ich will die, die es schon sind, verstümmeln und darum die nachfolgenden verhindern. Ich will das Handwerk verächtlich ma-

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chen. Ich will den Totengräbern zeigen, daß der Henker mehr Ehre aufhebt. Ich sammle die Fälle und bitte um Unterstützung. Stille Kreuzottern zu töten, ist schnöde und der steirische Landtag zahlt für jede zwölf- (hier will sich mir eine ungewollte Ideenassoziation mit Herrn Rudolf Hans Bartsch ergeben). Ich zahle für jeden Literarhistoriker dreizehn Heller. Man folge mir in die Seminare, aber man scheue auch die Redaktionen nicht. Gerade dort nisten sie. [Karl KRAUS, Razzia auf Literarhistoriker] Nun sind nahezu achtzig Jahre ins Land (oder was davon übrig blieb) gegangen, und die Situation hat sich eher verschlechtert. Ich habe mich nicht kundig gemacht, wie der Umrechnungskurs von Heller und DM aussieht, bin aber bereit, diesen Aufruf nicht nur zu erneuern. Ich zahle für jeden vierzehn Mark!

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âventiure? waz ist daz? And shortly for to tellen as it was, Were it by aventure, or sort, or cas, The sothe is this, the cut fil to the knyght, Of which ful blithe and glad was every wyght. [Langer Rede kurzer Sinn, war es nun Zufall, Vorsehung oder ein glücklicher Umstand, Tatsache ist die, daß das Los auf den Ritter fiel, weshalb ein jeder voll Zufriedenheit und glücklich war. Geoffrey CHAUCER, The Canterbury Tales, General Prologue, 844 f.] Wir befinden uns nun mitten in den Vorbereitungen zur Schwertleite Tristans im gleichnamigen mittelalterlichen Versroman GOTTFRIEDs VON STRASSBURG, da bricht der Erzähler mitten in der üblichen Schilderung der enormen Prachtentfaltung mit einem nahezu ebenso üblichen Bescheidenheitstopos ab und gibt uns nunmehr Kunde von seinen literarischen Kenntnissen, Vorbildern und Ansprüchen. Eines jener Vorbilder ist völlig zu Recht und überdies auch völlig richtig erkannt HARTMANN VON AUE: Hartman der Ouwaere âhî, wie der diu maere beide ûzen unde innen mit worten und mit sinnen durchverwet und durchzieret! wie er mit rede figieret der âventiure meine! wie lûter und wie reine sîniu cristallînen wortelîn beidiu sint und iemer müezen sîn! [Der Hartmann von Aue (Der Artikel muß hier verstanden werden wie bei der Monroe, als Zeichen der Einzigartigkeit), wow, wie der die (jeweilige) Geschichte gleichermaßen auf Erzähl- wie auf Sinnebene mit Worten wie mit dem gemeinten Sinn ausmalt und durchstylt! Wie er in der Erzählung der âventiure meine Gestalt werden läßt! Von daher ist seine brillante Sprache glasklar und unverdorben und wird es auch immer sein! GOTTFRIED VON STRASSBURG, Tristan, 4621 f.] Dem aufmerksamen Leser wird schwerlich entgangen sein, daß die Zentralbegriffe in GOTTFRIEDs Loblied, der Titel dieses Buches und damit letztlich das, worum sich

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im folgenden alles dreht, unübersetzt geblieben ist. Übelwollende, die dem Autor kurzschlüssig unterstellen, diese Unterlassung spreche Bände von Defiziten hinsichtlich seiner Übersetzungskunst, liegen insofern nicht vollends daneben, als ich tatsächlich Bände von dem sprechen will, was es meint, wenn es heißt: der âventiure meine. Nicht nur, daß diese Wendung weniger übersetzbar denn verstehbar ist; es sollte Aufgabe eines Wörterbuches sein, nicht lediglich ein Buch voller Wörter zu sein, sondern im besten Falle alle Facetten eines Begriffes in seinem Wort- und Sinnzusammenhang darzustellen und auszuleuchten. Dieser Sinnzusammenhang ist nun aber ungleich mehr als die Summe seiner Verwendung in mittelalterlichen Romanen, er ist schlicht Faktor wie Produkt allen Erzählens im höfischen Kontext. Wenn aber das, um das sich dort wie hier alles dreht, in einer kurzen, profanen Formel faßbar wäre, dann wäre dem mittelalterlichen Ritterroman in demselben Maße die Existenzgrundlage entzogen wie dieser Untersuchung, und dem ist ja offensichtlich nicht so. Fragen wir uns aber ruhig einmal andersherum, welchen Sinn ein Buch mit dem Titel Der Name der Rose hätte, wenn irgendwann zwischen Vesper und Komplet der Begriff Rhodon Foetida fiele. Das wäre entweder ein schlechter Scherz (wenngleich einem genialen Autor wie ECO durchaus zuzutrauen) oder schlicht eine Enttäuschung, wie sie seinerzeit einigen Kritikern bei der Uraufführung von T. S. ELIOTs Stück Murder in the Cathedral in Venedig widerfuhr. Nur hatten die eben ein Kriminalstück erwartet, vorgesetzt bekamen sie Schwerverdauliches aus der scholastischen Cuisine. Hätte das Stück beispielsweise den Titel Thomas B. gehabt, hätte es womöglich auch ein Bestseller werden können. Hätte ECO hingegen, wie ursprünglich einmal in Erwägung gezogen, den marktschreierischen Titel Die Abtei des Verbrechens gewählt, so stünde sein Roman heute wahrscheinlich in meinem Regal zwischen Raymond CHANDLER und Nicolas FREELING. So aber gab es keine Titelprobleme, und nach dem Debakel von 1952 haben wir endlich einen richtigen Krimi aus dem Mittelalter. Doch zurück zu meinem Titel, der so ganz mein Eigen leider auch nicht ist. Unter demselben Titel erschien 1975 in der Reihe MEDIUM AEVUM ein hochgelehrter Aufsatz von HAUG, in welchem er, wie so oft noch, sinnreiche, ja fast beweisbare Spekulationen über etwas anstellt, das leider nicht überliefert ist; die Rede ist von dem Prolog des Erec von HARTMANN VON AUE. Gottlob befinde ich mich mit dieser Art Titelklau in so schlechter Gesellschaft nun auch wieder nicht, nannte doch mein Lehrer Harald FRICKE einen Vortrag zum 60. STACKMANNs nicht umsonst in Anlehnung an Karl KRAUS "es". Freilich hat er da aber auch eine Sache auf den Punkt gebracht, die der EIGENLOB-Kenner wohl eher in der huldvolleren Fassung seines Namens für würdig erachtet hätte:

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Linguistische, sprachgeschichtliche, logische und sprachphilosophische Anmerkungen zum deutschen Impersonale samt einer Anwendung auf die Literaturwissenschaft nebst einigen wissenschaftsgeschichtlichen Exkursen unter Einschub eines Seitenhiebes auf die Psychoanalyse mit abschließenden Grundsatzüberlegungen zu den Möglichkeiten und Zielen wissenschaftlicher Sprachkritik. Fragen wir uns nun aber einmal, was der bislang so oft erwähnte HARTMANN selbst zum Komplex der âventiure zu sagen hat, und zwar in Texten, die tatsächlich auf uns gekommen sind. Wir befinden uns nunmehr zu Karidol, einem der Orte, da Artus Hof zu halten pflegte, es ist um Pfingsten, und man hat ausgiebig getafelt. Man tut sich zu diversen Gruppen zusammen, um Kurzweil zu pflegen. Daselbst bildet sich auch ein Kreis interessierter Zuhörer um einen Ritter namens Kalogrenant, der nun ein Erlebnis erzählen wird, welches ihm auf seinen Fahrten als irrender Ritter oder Chevalier errant widerfuhr, und von dem wir schon in demselben Moment, da er anhebt zu erzählen, wissen, daß es die Geschichte eines Versagens sein muß. Denn eines werden wir im Verlaufe unserer Beschäftigung mit etlichen Romanen noch erkennen: Der ritterliche Erfolg spricht immer für sich selbst, und es verstößt im höchstem Maße gegen die Hofetikette, sozusagen am Lagerfeuer von seinen Erfolgen zu prahlen. Dies ist Metier und Kennzeichen von Keie, dem Hofknigge, der aber nur deshalb ständig für sich selbst sprechen muß, weil die Taten und deren Täter, Gott sei's geklagt, aber auch immer gegen ihn sprechen. Wenn also einer einen Schwank aus seinem Leben zum besten gibt, dürfen wir uns über folgende Sachverhalte im klaren sein: Entweder ist es Keie, und dann hört sowieso keiner mehr hin, oder ein Ritter erzählt ein Mißgeschick. Dann aber wissen wir gleichzeitig, daß er es überlebt hat und es so schlimm nun auch wieder nicht gewesen sein kann und daß darüber hinaus womöglich noch eine nette Pointe enthalten sein kann. Wichtig für uns ist nunmehr eine scheinbar unwesentliche Begegnung Kalogrenants am Rande (auch am Rande der Oikumene übrigens, jenem Gebiet, wo auch die Geschichten ganz anderen Gesetzmäßigkeiten folgen, als dies unsere Mediävisten auch nur ahnen). Dort trifft er auf ein Ungeheuer von Wesen, versehen mit allen Attributen unhöfischen Aussehens wie Gebarens. Das ist gleichwohl aber weder aggressiv noch uninteressiert oder ungelehrig, grad so, wie wir also auf so einen Ritter wirken mußten, sind wir nicht gleich von der pfadfinderischen Besserwisserei gewisser Yankees aus Connecticut. Nachdem nun der Waldschrat gutmütig Auskunft über sich gegeben hat, etwas, was ein Ritter gegenüber einem Gegner nur im Moment der Niederlage zugäbe, fragt dieser nun seinerseits Kalogrenant, wes Geistes Kind er wohl sei, und es entwickelt sich folgendes Gespräch:

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'nune sol dich niht betrâgen, dune sagest mir waz dû suochest. ob du iht von mir geruochest, daz ist allez getân.' ich sprach 'ich wil dich wizzen lân, ich suoche âventiure.' dô sprach der ungehiure 'âventiure? waz ist daz?' 'daz wil ich dir bescheiden baz. nû sich wie ich gewâfent bin: ich heize ein riter und hân den sin , daz ich suochende rîte einen man der mit mir strîte, der gewâfent sî als ich. daz prîset ihn, und sleht er mich: gesige aber ich im an, sô hât man mich vür einen man, und wirde werder danne ich sî. sî dir nû nahen ode bî kunt umb selhe wâge iht, des verswîc mich niht, unde wîse mich dar; wand ich nâch anders nihte envar' Alsus antwurt er mir dô 'sît dîn gemüete stat alsô daz dû nâch ungemache strebest und niht gerne sanfte lebest, ichn gehôrte bî mînen tagen selhes nie niht gesagen waz âventiure waere:' ["Nun sollte es dir nicht schwerfallen, mir den Anlaß deiner Unternehmungen zu nennen. Was du von mir wissen wolltest, habe ich gesagt." Ich erwiderte: "So laß dir gesagt sein, ich suche âventiure." Da erstaunte sich das Ungeheuer: "âventiure? Was ist das?" "Das will ich dir gern erklären. Sieh mal her, wie ich (aus-)gerüstet bin: Meine Bezeichnung lautet Ritter, und meine Beschäftigung besteht darin, daß ich umherreite und Leute zum Kampf suche, die ähnlich uniformiert sind wie ich. Geht der Kampf zu seinen Gunsten aus, so mehrt dies seinen Ruhm, gewinne ich hingegen, so steige ich im Ansehen der Leute und - sit venia verbo - in der Computerweltrangliste. Kennst du nun dergleichen Möglichkeiten in dieser Gegend, so verhehle sie mir nicht, sondern zeige mir die Richtung, wo mir doch nach nichts anderem der

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Sinn steht." Darauf entgegnete er mir all so: "Wenn dir nun der Nervenkitzel mehr behagt als die Bequemlichkeit, dann habe meiner Lebetage nie von dergleichen gehört, was dem Begriff âventiure nahe käme". HARTMANN VON AUE, Iwein, 520 f..] Das können und wollen wir natürlich nicht unkommentiert stehen lassen, so sehr auch die Übersetzung bemüht ist, die Worte aus dem berufenen Munde des Fachmannes im rechten Lichte erscheinen zu lassen. Wir können sie aber auch schon deshalb nicht einfach so dastehen lassen, weil den meisten Lesern mit Sicherheit das Augenzwinkern HARTMANNs entgangen sein dürfte. Soviel sei hier schon mal vorweggenommen: Wenn in einem mittelalterlichen Roman oder Maere ein Mensch, sei er Ritter oder Knecht, im guten Glauben seiner Expertenrolle eine Definition vornimmt oder einen guten Rat erteilt, dann dürfen wir hier zweier Konsequenzen versichert sein. Zum einen geht die Probe aufs Exempel grundsätzlich schief, und das nicht von ungefähr, und zum anderen werden solch bierernste Expertisen beim Publikum nahezu unkontrollierte Heiterkeitsausbrüche zur Folge gehabt haben. Wer mir in diesem Punkte nicht zu folgen vermag, dem seien dergleichen Offenbarungen neueren Datums hülfreich zur Hand gereicht. Wird beispielsweise eine einstellige Nummer der Computerweltrangliste gefragt: "dorch got, wat es tennis?“, und wir erhalten zur Antwort: "bumm, bumm!", dann kann uns dies erheitern oder erschüttern, nimmermehr aber aufklären. Diese Reihe von geradezu olympischen Erleuchtungen ließe sich beliebig fortsetzen, wir aber wollen mildes Verständnis walten lassen, nicht jedoch, ohne zuvor all jenen, die es immer noch nicht begriffen haben, zuzurufen: "Ein Fußballspiel dauert zweimal 45 Minuten, gelle". So sehr nun auch dieser kurze Exkurs in die Welt mannbaren Turniers bei manchem den Eindruck erweckt haben könnte, so groß wollen am Ende die Unterschiede zwischen damals und jetzt schon gar nicht gewesen sein, der spitze die Ohren, er soll eines Besseren belehrt werden.

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... Heißt in ein Nest gelehrter Wespen stechen Der angeblichen Geschichtsmüdigkeit unseres Zeitalters zum Trotz soll gesagt sein, daß die Vergangenheit uns unentbehrlich ist, um uns selber zu verstehen. Nicht, weil sie der Gegenwart ähnlich wäre, sondern weil sie ganz anders ist. [Richard ALEWYN, Probleme und Gestalten, S. 9.] Werfen wir also zunächst einen Blick auf die Literatur jener längst vergangenen Zeit, was mit ihr geschah und was heute mit ihr geschieht, schauen wir, was geschieht, wenn Wespen oder meinetwegen auch Maulwürfe beginnen, bienenfleißig zu sammeln. Seit Jahrzehnten ist die Hinterlassenschaft unserer Vorfahren Gegenstand allseitiger Forschung; ein Schwärm fröhlicher Maulwürfe hat den Boden des Mittelalters nach allen Richtungen durchwühlt und in fleißiger Bergmannsarbeit eine solche Masse alten Stoffes zutage gefördert, daß die Sammelnden oft selbst davor erstaunten; eine ganze schöne, in sich abgeschlossene Literatur, eine Fülle von Denkmalen bildender Kunst, ein organisch in sich aufgebautes politisches und soziales Leben liegt ausgebreitet vor unseren Augen. Und doch ist es all der guten auf diese Bestrebungen gerichteten Kraft kaum gelungen, die Freude am geschichtlichen Verständnis auch in weitere Kreise zu tragen; die zahllosen Bände stehen ruhig auf den Brettern unserer Bibliotheken, da und dort hat sich schon wieder gedeihliches Spinnweb angesetzt, und der Staub, der mitleidlos alles bedeckende, ist auch nicht ausgeblieben, so daß der Gedanke nicht zu den undenkbaren gehört, die ganze altdeutsche Herrlichkeit, kaum erst ans Tageslicht zurückbeschworen, möchte eines Morgens, wenn der Hahn kräht, wieder versunken sein in Schutt und Moder der Vergessenheit, gleich jenem gespenstigen Kloster am See, von dem nur ein leise klingendes Glöcklein tief unter Wellen Kunde gibt. [Joseph Viktor von SCHEFFEL, Ekkehard] Doch während v. SCHEFFEL, dessen eigentliches Anliegen es ja ist, die Lektüre einer Geschichte aus dem 10. Jahrhundert schmackhaft zu machen, mit den Worten fortfährt, es sei hier nicht der Ort, zu untersuchen, inwiefern der Grund dieser Erscheinung dem Treiben und der Methode unserer Gelehrsamkeit beizumessen sei, wollen wir, durchaus an einer Pathologie der Filologie interessiert, uns dieses Vergnügens nicht entraten und einmal schauen, was im Verlaufe von mehr als einem Jahrhundert denn aus dem so gedeihlichen Spinnweb geworden ist. Seit der systematischen Wiederentdeckung der mittelalterlichen Literatur in der Romantik hat sich vor allem eine ahnungsvolle Sorge Viktors von SCHEFFEL als

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unbegründet erwiesen, daß nämlich diese neugehobenen Schätze nach kurzer Frist aufs neue unter dickem Staube einer weiteren Resurrektion harren müßten. Nein, dazu ist es wizze got nicht gekommen; etwas anderes, weit Schwereres -wenngleich schon gar nicht Gewichtigeres- hat sich über die Textzeugen jener vergangenen Zeit gebreitet und läßt sich auch durch hartnäckigstes Pusten nicht mehr entfernen. Heutzutage sind über jedem Erinnerungsstück mittelalterlichen Denkens und Schreibens prächtige Sedimente, Fazies eines unermüdlich geführten filologisches Krieges gediehen, Versteinerungen einer Wissenschaftsauffassung, die von jeher von Blutarmut und Verknöcherung gekennzeichnet war. Wissenschaftler, die hoch hinaus wollen, müssen zunächst tief hinab. Im Erscheinungsbild sind sie kaum von Geowissenschaftlern zu unterscheigen, beide führen Spitzhacke und Schaufel, und bei Professoren sind schwarze Ränder unter den Fingernägeln Statussymbol. Wer aber möchte jetzt noch Überraschung heucheln, wenn er erfährt, daß wissenschaftliche Beschäftigung aus einer Wiederaufbereitung just jener Sedimente besteht, daß es zu seltenen Begegnungen literaturwissenschaftlicher Art gehört, wenn hie und da einmal etwas Urgestein auftaucht, wenn die Literatur selbst Grundlage, nicht Unterlage filologischer Ablagerungstätigkeit sein darf. Und so geraten die Konservierungsbemühungen der Regalfüller in gefährliche Nähe zur Nahrungsmittelkonservierung: Entweder ist die Literatur selbst luftdicht und hermetischhermeneutisch abgeschlossen und unzugänglich, oder sie ist durch allerlei Zusätze, Anmerkungen und was man sich sonst noch so einfallen ließ, nicht nur ungenießbar geworden, vor dem Genuß muß bereits gewarnt werden. Da hätte am Ende V. v. SCHEFFEL doch Recht behalten, wenn er am gleichen Ort bedauernd hinzufügt: -

eine Literatur von Gelehrten für Gelehrte, an der die Mehrzahl der Nation teilnahmslos vorübergeht und mit einem Blick zum blauen Himmel ihrem Schöpfer dankt, daß sie nichts davon zu lesen braucht.

Wir wollen es uns an dieser Stelle nicht nehmen lassen, hinzuzufügen, daß heutzutage wohl auch ein nicht unbescheiden Grüppchen Gelehrter verstohlen den umwölkten Blick gen blauen Himmel hebt und ihrerseits dem Schöpfer dankt, daß es niemand tut! In diesem Zusammenhang wurde einst der Göttinger Literaturwissenschaftler Walter KILLY nach der Bedeutung der Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland gefragt. Rede und Gegenrede strahlte am 23.08.1987 NDR III aus. Da saß ich mit gespitztem Bleistift hinter gespitztem Ohr und hörte dort einen Mittäter just wie einen Kronzeugen auffallend richtig die Vergehen seiner Gilde an den Pranger stellen. Alle Zentralbegriffe wie Elfenbeinturm, Krise und Abseits tauchten wohlgesetzt auf, da rollten Köpfe wie Bälle intelligent geflankt und einschußbereit vor das Tor, und Hoffnung, ja Hoffnung keimte empor, sollte ein totes Meer am

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Ende doch noch so etwas wie Selbstreinigungskräfte besitzen, oder war dies der wohlfeile Versuch, eine Gnadenfrist zu erwirken, ein Bauernopfer zu bringen, nur um vormachen zu können, Selbsterkenntnis sei der erste Schritt zur Besserung? Wahr sprach nun aber der Mann, der sich noch immer mit seinem Namen für die Wissenschaftlichkeit gewisser Bedürfnisse nach Monumentalität verbürgt. Gefragt, was denn die Aufgabe der Germanistik sei (es sei darauf aufmerksam gemacht, daß die Notwendigkeit einer solchen Frage bei gleichzeitig nicht einmal infragegestellter Redundanz jedweder Antwort schon zwar ein bezeichnendes Licht auf die Zustände wirft, diese jedoch noch keineswegs erhellt), wie und zu welchem Ende man Literaturwissenschaft betreibe, sprach jener ohne zu stocken: "Sie ist eine Dienerin der Literatur, sie soll das Verstehen von Literatur erleichtern." Ertappt, in flagranti erwischt, wie dereinst die fromme Helene ihren Diener: Doch ist Helene nicht allein Nur auf sich selbst bedacht. - O nein! Ein guter Mensch gibt gerne acht, Ob auch der andre was Böses macht; Und strebt durch häufige Belehrung Nach seiner Bessrung und Bekehrung. "Schang!"- sprach sie einstens - "Deine Taschen Sind oft so dick! Schang! Tust du naschen? Ja, siehst du wohl! Ich dacht'es gleich! O Schang! Denk an das Himmelreich!" Dies Wort drang ihm in die Natur, So daß er schleunigst Bessrung schwur. Doch nicht durch Worte nur allein Soll man den andern nützlich sein. [Wilhelm BUSCH, Die fromme Helene] Und ich mag mich nun natürlich nicht enthalten, mit BUSCH zu sagen: Ei ja! - Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so! Ich möchte den bis hierher geduldigen Leser aber nicht des Vergnügens berauben, selbst nachzublättern, welches Schicksal daselbst die bigotte Schwurhand nebst ihrem naschhaften Diener Jean ereilt. Nun soll unsere Aufmerksamkeit aber der Selbstbedienung jener Dienerin der Literatur zuteil werden, jener Dienerin, die nicht ungleich einem bekannten Besen,

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eifrig Parthenogenese treibend, den nunmehr hilflosen Hilfesuchenden in einer derartigen Flut von Überflüssigem ertränkt, daß man den Eindruck gewinnt, hier möchte jemand ein Danaidenfaß zum Überlaufen bringen; jener Dienerin, die ihren Zweck über ihren Sinn usurpiert und nun, jedes Sinnes entäußert, nur daß zum Zwecke Sätze fließen, wallet, wallet und nochmals wallet. Wenn ich vorhin von Usurpation sprach, dann meine ich damit auch den Umstand, daß diese Literaturwissenschaft selbst literarisch geworden ist, worunter ich in diesem Zusammenhang die Tatsache verstanden wissen möchte, daß wissenschaftliche Arbeiten davon handeln, was ein Dritter über einen Zweiten schrieb, der wiederum die Meinung eines Ersten diskutierte, der selbst, am Beginn dieser unseligen Kettenreaktion, noch tatsächlich mit dem Forschungsobjekt beschäftigt gewesen sein mag. So sind denn hauptsächlich Dissertationen, mit ganz geringen Einschränkungen auch Habilschriften, nichts besseres als die Gelben Seiten des literaturwissenschaftlichen Handwerks. Ich habe jedenfalls in meiner zehnjährigen eifrigen Lektüre nur eine, ich wiederhole, nur eine einzige Ausnahme kennen gelernt, und selbstverständlich werden wir uns mit ihr auseinanderzusetzen haben. Ich will eigentlich kein Wort und keinen Schuß Pulver verlieren über das, was dem armen Bibliographierenden in dem Katalog der Unibibliothek in Göttingen und anderswo ständig unter dem Daumen auftaucht: Approbationsgedichte mit Titeln wie Der Einfluß der Speicheldrüsen auf die Ohrenfarbe oder Der Gewichtsverlust beim Säugetier unter Nahrungsmittelentzug und was dergleichen Perlen wissenschaftlicher Erkenntnisse noch sein mögen. Wenn man sich also schon keinen Erkenntnisgewinn von seiner Dissertation erhofft, so stellt sich dem zu Promovierenden naturgemäß die Frage, womit er gefällig den Raum zwischen Deckblatt und der Versicherung, den ganzen Text allem und ohne fremde Hilfe abgefaßt zu haben, ausfüllen könne. Es geht die Anekdote um, daß Seiten aus dem Örtlichen Telefonbuch nicht mehr empfohlen werden können, seit ein Professor eine Arbeit tatsächlich einmal las und sie noch immer benutzt. Tatsächlich ist rasch Ersatz gefunden worden, und nun nehmen sich Dissertationen wie Partituren aus, denen der Tenor fehlt; bassisches Grundgemurmel bis hoch m die Textbereiche hinein, Verweise hier, Vergleiche da, am angegebenen Ort und ebenda, längst hat die Zahl der Fußnoten die der Seiten um ein Vielfaches überflügelt, längst schon sind sie in ihrer Länge dem Ernste des Wissenschaftlers gerecht und bereits in den Seitenumbruch mit einbezogen, so daß es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, wann endlich die erste FUSSNOTE veröffentlicht wird. All diesen Fußnotentexten (wir können aber auch wieder Dissertationen sagen) eignet eine gemeinsame Besonderheit: Sie alle fußen auf dem Wissenshaufen der Vergangenheit, ohne sich epiphytisch über den Moder erheben zu können. Der intellektuelle Spannungsbogen krümmt sich lahm zwischen Gänsefüßchen und Fußnoten, ein Bogen, der gleichermaßen flach wie kurz ist. Von diesen akademischen Pederas-

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ten, die in ausgetretenen Fußstapfen den Trampelpfad der Forschung lediglich zu einem Hohlweg erodieren, ist nicht wesentlich mehr zu erwarten als die leicht abfragbare Kenntnis über die Schuhgröße ihrer Vorgänger. Wie schon gesagt, grassiert der Fußpilz nicht nur in Dissertationen und ähnlichen akademischen Reifetests, nein, solcherlei Fußangeln erschweren auch gern andernorts den Lesefluß. Zwei konträre Beispiele werden nun beredtes Zeugnis ablegen, eines davon lesbar, das andere hingegen bestenfalls entzifferbar. Beide entstanden um 1945, das eine in Istanbul, das andere in Bonn am Rhein. Kenner werden bereits wissen, um wen und beziehungsweise was es sich handelt. Im Nachwort zum Buch Mimesis - Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur äußert sich Erich AUERBACH wie folgt: Allein die Schwierigkeiten waren zu groß; ohnehin hatte ich es mit Texten aus drei Jahrtausenden zu tun, und oft mußte ich mein eigenes Gebiet, die romanischen Literaturen, verlassen. Dazu kommt noch, daß die Untersuchung während des Krieges in Istanbul geschrieben wurde. Hier gibt es keine für europäische Studien gut ausgestattete Bibliothek; die internationalen Verbindungen stocken; so daß ich auf fast alle Zeitschriften, auf die meisten neueren Untersuchungen, ja zuweilen selbst auf eine zuverlässige kritische Ausgabe meiner Texte verzichten mußte. Es ist daher möglich und sogar wahrscheinlich, daß mir manches entgangen ist, was ich hätte berücksichtigen müssen, und daß ich zuweilen etwas behaupte, was durch neuere Forschung widerlegt oder modifiziert worden ist. Hoffentlich befindet sich unter diesen wahrscheinlichen Irrtümern keiner, der irgendwo den Kern der Gedankenführung berührte. Mit dem Mangel an Fachliteratur und Zeitschriften hängt es auch zusammen, daß das Buch keine Anmerkungen enthält [Hervorhebung durch mich]; außer den Texten zitiere ich verhältnismäßig wenig und das Wenige ließ sich leicht in die Darstellung selbst einfügen. Es ist Übrigens sehr möglich, daß das Buch sein Zustandekommen eben dem Fehlen einer großen Fachbibliothek verdankt [Hervorhebung von mir]; hätte ich versuchen können, mich über alles zu informieren, was über so viele Gegenstände gearbeitet worden ist, so wäre ich vielleicht nicht mehr zum Schreiben gekommen. Damit habe ich alles gesagt, was ich dem Leser noch schuldig zu sein glaubte. Es bleibt nur noch übrig, ihn, das heißt den Leser, zu finden. E.R. CURTIUS bemerkt in seinem Vorwort zu Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter: Als ich dieses Buch hinausgehen ließ, glaubte ich nicht auf Widerhall rechnen zu können.

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Wir können beide Äußerungen eigentlich unkommentiert lassen, da wir ohne Mühe erkennen, daß AUERBACH während des Schreibens ins Grübeln kam, CURTIUS erst danach. Was mich persönlich aber am meisten gerührt hat, ist die Sorge AUERBACHs, eventuelle Irrtümer, welche nachzuweisen die bienenfleißigen Bücherwürmer nicht müde werden dürften, könnten seine Gedankenführung im Kern berühren. CURTIUS hingegen wird schlaflose Nächte bei dem Gedanken verbracht haben, in eine Fußnote könne sich ein Fehler eingeschlichen haben. Dies ist einer der Gründe, weshalb der eine meine rückhaltlose Bewunderung verdient, der andere lediglich meine offene Verachtung! Bemerkenswert ist noch, daß beide Werke an den Grenzsäumen der jeweils relevanten Horizonte abgefaßt wurden. Saß der eine an der klassischen kulturellen und kontinentalen Grenze zwischen Europa und Kleinasien, zwischen Christentum und Islam, so schrieb der andere an der klassischen Erbfeindgrenze, am Rhein, und dort wartete er auf Widerhall, wo der Donnerhall noch in den Ohren brausen dürfte. Es ist nunmehr an der Zeit, diejenigen Leser, die dem Autor dieses Buches das Fehlen eines jeglichen roten Fadens unterstellen und deren Langmut somit schon auf eine harte Probe gestellt worden sein muß, tröstend bei der Hand zu nehmen und zu beruhigen, daß auch ich mich nicht ohne Führung oder Leitfaden in die Katakomben der Geisteswissenschaft, in die spärlich erleuchteten platonischen Höhlen schattiger Irrtümer begeben würde, ich mich aber auch nicht von der Warnung abschrecken lasse, die auch hier, nicht nur im Vorhof der Hölle, allenthalben prangt: … lasciate ogni speranza, voi ch' entrate. [...die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren. DANTE, Divina Comedia, Canto terzo, 9] Ein Bild mag an dieser Stelle den Sachverhalt und mein Problem gleichermaßen verdeutlichen. Vielen Lesern wird im Verlaufe ihrer Lektüren mit Sicherheit die nicht nur etymologische Verwandtschaft zwischen Text und Textil bewußt geworden sein. Tatsächlich ist die Stoffmetapher die älteste und tragfähigste der Kulturgeschichte, und wer mit BLUMENBERG (Schiffbruch mit Zuschauer) die Seefahrt dagegenhält, der ist auf dem falschen Dampfer. Wer weiß, daß Textilien mehr über sich und ihre Träger aussagen können, als die bloße Verhüllungen von Blößen zu sein, der vergegenwärtige sich, was es heißt, gut betucht zu sein. Beinahe hat es den Anschein, als seien Webstuhl und Schreibtisch auswechselbar: Im düstern Auge keine Träne, Ich sitze am Schreibtisch und fletsche die Zähne.

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HEINE möge mir verzeihen; daneben erscheint nun das Textil, besonders in der Situation des Analphabeten und Geknechteten durchaus aufnahmefähig für Gedankliches: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch Wir weben, wir weben! [HEINE, Die schlesischen Weber, Zeitgedichte, Nachlese] Längst vorbei die Zeiten, da nichts mehr auf eine Kuhhaut ging und man Palimpseste kratzte, da sich Ethnologie und Analphabetismus noch in solch netten Definitionen brüderlich die Hand reichten: dô sprach Herzeloyden kint 'als ein geschriben permint, swarz und blanc her unde dâ, sus nante mir in Eckubâ.' [Da erwiderte der Sohn Herzeloydes (Parzival): "Wie beschriebenes Pergament, schwarz und weiß, mal hier mal dort, so jedenfalls beschrieb ihn mir Ekuba." WOLFRAM VON ESCHENBACH, Parzival, 747, 25 f.] So gehört die Kenntnis des griechischen Mythos von den Moiren Klotho, Lachesis und Atropos zum Gemeingut. Diese Regisseure des Lebens heben den Faden aus der Taufe, Lachesis spult ihn ab und Atropos schreit cut. Nur neuzeitliche Regisseure sind so pietätlos, nach jeder gelungenen Szene zu rufen: gestorben. Die Geschichte von Odysseus und Penelope findet nicht eher zur Synchronität, als bis er sein Seemannsgarn zu Ende gesponnen und sie ihren Teppich zu Ende gewoben hat, den sie aber jede Nacht wieder aufribbeln muß, weil dem listenreichen Sohn des Laertes so unglaublich viel einfällt. Und so geht die Spinnerei nach Strich und Faden weiter, Schicksale hängen bisweilen an einem seidenen, und hie und da laufen alle in der Hand eines Erzählers zusammen, da werden Knoten geschürzt und zerhauen, da kommt es bisweilen zu Verwicklungen statt zu Entwicklungen, und schließlich kann sich ein Held, ohne daß dem Autor handwerkliche Schwächen zu unterstellen wären, in allerlei Widersprüchen verstricken. GOETHE läßt seinen versponnenen Tasso sich in einem Seidenwurm wiederfinden und klärt uns somit auf, daß der Dichter sich erst ausspinnen muß, bevor er nach seiner Metamorphose einen Gedanken daran verschwenden darf, auch anderweitig befruchtend zu wirken. Mephistopheles läßt er schon tiefer blicken und sagen:

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Zwar ist's mit der Gedankenfabrik Wie mit einem Weber-Meisterstück, Wo ein Tritt tausend Fäden reg,t, Die Schifflein herüber hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt: [GOETHE, Faust I, 1921 f.] Daß Metamorphose oder Samsara, nenne es sich, wie es wolle, auch daneben gehen können, zeigt KAFKA. Wer also den Wunsch verspürt, vom Menschen reziprok in ein eifriges und kreatives Insekt sich zu wandeln, sollte dabei weder auf dem Rücken liegen noch an Mist denken. Darüber, wie in der Romantik Gespenster (Gespinste) gewebt wurden, klärt uns Heinrich HEINE auf: Dem Dichter war so wohl daheime, In Schildas teurem Eichenhain! Dort wob ich meine zarten Reime Aus Veilchenduft und Mondenschein. [Heinrich HEINE, Romanzen VIII ] Aber Vorsicht, der Paradeaufsatz der Russischen Formalisten, Boris EICHENBAUMs Untersuchung Wie Gogol's "Mantel" gemacht ist, darf auf kernen Fall als Schneideranleitung aufgefaßt werden, hier liegt eine rein zufällige Koinzidenz von Stoff-Analyse im strukturalen Verfahren und der Stoffmetapher selbst vor. Textilien können verhüllen, nicht minder tun es Texte; von denen wiederum ganz besonders die, von denen man es, just wegen ihrer spontanen Vorverständlichkeit, am wenigsten erwartet. Ein Beispiel mag genügen: Es zog die Göttin aller Dichter Die Fabel in ein fremdes Land, Wo eine Rotte Bösewichter Sie einsam auf der Straße fand. Ihr Beutel, den sie liefern müssen Befand sich leer; sie soll die Schuld Mit dem Verlust der Kleider büssen, Die Göttin litt es mit Gedult.

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Hier wieß sich eine Fürsten Beute Ein Kleid umschloß das andre Kleid; Man fand verschiedner Thiere Häute Bald die, bald jene Kostbarkeit. Hilf Himmel, Kleider und kein Ende! Ihr Götter! schrien sie habet Danck, Ihr gebt ein Weib in unsre Hände Die mehr trägt, als ein Kleider-Schranck . Sie fuhren fort, noch mancher Plunder ward preis; doch eh man sichs versah, Da sie noch schrien, so stund, o Wunder! Die helle Wahrheit nackend da. Die Räuber-Schaar sah vor sich nieder, Und sprach: Geschehen ist geschehn, Man geb ihr ihre Kleider wieder Wer kann die Wahrheit nackend sehn? [Magnus Gottfried LICHTWER, Die beraubte Fabel] Um dieses Bild zu untermauern, das gleiche in womöglich treffsichereren Worten zu sagen, gleichzeitig noch einen Bogen zum jungen BRECHT zu schlagen, der für ähnliche Äußerungen zum Thema dulce et decorum est pro patria mori herbe Schwierigkeiten mit der Schulleitung bekam, nebenbei aber auch schon jene Stelle aus VERGILs Georgica zu streifen, die uns im Zusammenhang mit Bruder William von Baskerville methodische Einsichten vermittelt, ohne ausschließen zu wollen, daß hier Anklänge an das Höhlengleichnis laut werden, und um nicht zuletzt zu zeigen, wie beziehungsreich Literatur erscheint, wenn man sie buhlend entblättert, vollziehen wir kurz noch die düsteren Gedanken des frustrierten Phanias aus der unvergleichlichen Musarion nach: Schön, süß sogar - zum mindsten singet so Ein Dichter, der zwar selbst beim ersten Anlaß floh, Süß ists, und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben. Doch auch die Weisheit kann Unsterblichkeit erwerben! Wie prächtig klingts, den fesselfreien Geist Im reinsten Quell des Lichts von seinen Flecken waschen, Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier weist (Nie, oder Göttern nur), entkleidet überraschen;

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Der Schöpfung Grundriß übersehn, Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn, Vermutungen auf stolze Schlüsse häufen, Und bis ins Reich der reinen Geister streifen; Wie glorreich! welche Lust! - Nennt immer Den beglückt Und frei und groß, den Mann der nie gezittert, Den der Trompete Ruf zur wilden Schlacht entzückt, Der lächelnd sieht was Menschen sonst erschüttert, Und selbst den Tod, der ihn mit Lorbeern schmückt, Wie eine Braut an seinen Busen drückt: Viel größer, glücklicher ist Der mit Recht zu nennen, Den, von Minervens Schild bedeckt, Kein nächtliches Phantom, kein Aberglaube schreckt; Den Flammen, die auf Leinwand brennen, Und Styx und Acheron nicht blässer machen können; Der ohne Furcht Kometen brennen sieht, Die hohen Götter nicht mit Taschenspiel bemüht, Und, weil kein Wahn die Augen ihm verbindet, Stets die Natur sich gleich, stets regelmäßig findet. [WIELAND, Musarion, Erstes Buch] Wir ahnen nunmehr: So, wie sich die Wahrheit selbst, außer vor den unsterblichen Göttern, nie ohne Schleier zeigt, so ummantelt auch die Literatur, und wer lauthals meint, die Wahrheit sagen zu müssen, bekommt des öfteren Ketten zum Lohn und muß fürchterlich viel singen, bis am Ende von fern die befreiende Fanfare erklingt. Aber natürlich verbirgt sich nicht unter jedem Text(-il) die reine Wahrheit. Wenn wir PLATO oder HUCKLEBERRY FINN Glauben schenken wollen, dann lügen die Dichter eigentlich ständig: YOU don't know about me, without you have read a book by the name of The Adventures of Tom Sawyer, but that ain’t no matter. That book was made by Mr. Mark Twain, and he told the truth, mainley. There was things which he stretched, but mainley he told the truth. That is nothing. I never seen anybody but lied, one time or another, without it was Aunt Polly, or the widow, or maybe Mary. Aunt Polly - Tom's Aunt Polly, she is - and Mary, and the Widow Douglas, is all told about in that book - which is mostly a true book; with some stretches, as I said before. [Mark TWAIN, The Adventures of Huckleberry Finn, Chapter I] Wenn wir uns also weiter mit dem hinkenden Vergleich von Text und Textil bequemen wollen, wenn wie zudem annehmen wollen, daß es die Hauptaufgabe der Ger-

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manistik seit mehr als zweihundert Jahren ist, hinter das Strickmuster der Literatur zu kommen, dann wird dem mitfühlenden Leser sogleich klar werden, woher wohl die Unzahl verstreut umherliegender Fäden stammen, die ich nahezu wahllos aufgreifen kann und die immer wieder auf das eklatante Versagen der Literaturwissenschaft weisen. Die hat nämlich, um beim Bild zu bleiben, ihr Forschungsobjekt mit bewundernswerter Emsigkeit aufgeribbelt. Aber weh und ach, die Strickmuster gingen dabei verloren, niemand unter den Universalgelehrten, der sich aufs Häkeln verstanden hätte, niemand, der etwas anderes als eine Schere hätte handhaben können. Diese zahllosen Fäden und Enden aufzugreifen und neu zu verknüpfen, ist eine Aufgabe, die Kreativität verlangt, eine gefährliche Tätigkeit für den gar, der nicht über genügend Geschick verfügt, denn so lautet es in Klingsohrs Märchen: "Hinaus sollst du nicht, aber in der Nebenkammer bricht ein Strahl der Oberwelt durch die Felsritzen, da magst du spinnen, wenn du so geschickt bist; hier liegen ungeheure Haufen alter Enden, die drehe zusammen; aber hüte dich: wenn du saumselig spinnst, oder der Faden reißt, so schlingen sich die Fäden um dich her und ersticken dich." - Die Alte lachte hämisch, und spann. Fabel aber raffte einen Arm voll Fäden zusammen, nahm Wocken und Spindel, und hüpfte singend durch die Kammer. Sie sah durch die Öffnung hinaus, und erblickte das Sternbild des Phönixes. Froh über das glückliche Zeichen fing sie lustig an zu spinnen, ... [NOVALIS, Heinrich von Ofterdingen, 9. Kapitel ] Mit welch seltsamer Klarheit eröffnen sich uns da plötzlich Perspektiven zu jener so vollkommen verknoteten Gruppe von Priestern, die in grauer Vorzeit der - einst auch den Inhalt eines Kunstwerkes zu deuten versuchten und dabei so kunstvoll verschnürt wurden, daß es bis heute ob der Einheit von Material und Inhalt als Prototyp der Skulptur überhaupt erscheint - von wem sonst könnte die Rede sein als von Laokoon. Rechnen wir es den braven Beamten aber hoch an, daß sie ihre Zeit nicht müßig vertaten, sondern die gewonnene Wolle fein säuberlich nach Länge, Dicke, Farbe und probablem Verwendungszweck aufknäulten und stapelten. Es wäre streng genommen fast ein unfeiner Zug unsererseits, würden wir den schlichtweg überforderten Gelehrten nicht auch ein gerüttet Maß professioneller Zerstreutheit einräumen und sie gar zu heftig für etliche Mißgeschicke tadeln. Denn natürlich hat man sich beim Aufrollen der Fäden verstrickt, notgedrungen ging man arbeitsteilig vor, wickelte somit den Faden von beiden Enden her auf, und selbstverständlich verknotete sich unversehens die Ode mit der Novelle und das Epos mit dem Tagelied. Aber schweigen sollte ich von Gattungen; sie sind schlechte Notbehelfe für aufgeribbelte Kleidung. Die Gattungstheorie gebärdet sich wie der schlechte Schneider in einem Witz. Der Kunde muß, um der Paßform gerecht zu werden, alle Glieder verbiegen.

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So in der Öffentlichkeit zwei Passanten auffallend, meint der eine bedauernd: "Mann, guck mal den armen Krüppel!", worauf der andere anerkennend erwidert: "Aber 'n guten Schneider hat er!" Mangelnde, ja bisweilen völlig fehlende Kenntnis über das Forschungsobjekt Literatur hat nun aber nicht etwa zur gebotenen Askese der Wissenschaft hinsichtlich der theoretischen Aneignung geführt, im Gegenteil: Das Mißverstehen wurde dogmatisiert und über das Verstehen triumphierte der allverheerende Beweis. Auch hier möchte ich nicht allzu viel Worte über die verlieren, die keines auf dem anderen stehen lassen können, sondern nach guter Gewohnheit die Literatur selbst zu Wort kommen lassen; denn fabula docet: Zur Elster sprach der Fuchs:" O, wenn ich fragen mag Was sprichst du doch den ganzen Tag? Du sprichst wohl von besonderen Dingen?" "Die Wahrheit", rief sie, "breit ich aus. Was keines weiß herauszubringen, Bring ich durch meinen Fleiß heraus, Vom Adler bis zur Fledermaus." "Dürft ich", versetzt der Fuchs, "mit Bitten dich beschweren: So wünscht ich mir, etwas von deiner Kunst zu hören." So wie ein weiser Arzt, der auf der Bühne steht; Und seine Künste rühmt, bald vor, bald rückwärts geht, Ein seidnes Schnupftuch nimmt, sich räuspert, und dann spricht: So lief die Elster auch den Ast bald auf, bald nieder, Und strich an einem Zweig den Schnabel hin und wieder, Und macht ein sehr gelehrt Gesicht. Drauf fängt sie ernsthaft an, und spricht: "Ich diene gern mit meinen Gaben, Denn ich behalte nichts für mich. Nicht wahr, Sie denken doch, daß sie vier Füße haben ? Allein, Herr Fuchs, Sie irren sich. Nur zugehört! Sie werdens finden, Denn ich beweis es gleich mit Gründen. Ihr Fuß bewegt sich, wenn er geht, Und er bewegt sich nicht, solang er stille steht; Doch merken Sie, was ich itzt sagen werde, Denn dieses ist es noch nicht ganz. Sooft Ihr Fuß nur geht, so geht er auf der Erde.

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Betrachten Sie nun Ihren Schwanz. Sie sehen, wenn Ihr Fuß sich reget, Daß auch Ihr Schwanz sich mit beweget; Itzt ist Ihr Fuß bald hier, bald dort, Und so geht auch Ihr Schwanz mit auf der Erde fort, Sooft sie nach den Hühnern reisen. Daraus zieh ich nunmehr den Schluß: Ihr Schwanz, das sei Ihr fünfter Fuß; Und dies, Herr Fuchs, war zu beweisen." * Ja, dieses hat uns noch gefehlt! Wie freu ich mich, daß es bei Tieren Auch große Geister gibt, die alles demonstrieren! Mir hats der Fuchs für ganz gewiß erzählt. "Je minder sie verstehn", sprach dieses schlaue Vieh, "Um desto mehr beweisen sie." [Christian Fürchtegott GELLERT, Der Fuchs und die Elster] Als Fabelkenner gehen wir übrigens nicht fehl in der Annahme, hätte die Elster irgend Substantielles, gar Nahrhaftes im Schnabel gehabt, der Fuchs hätte sie gebeten zu singen. Daß man über einen derart postulierten fünften Fuß gar leicht ins Stolpern gerät, beweist nun ohne jegliche Spitzfindigkeit die Situation an bundesdeutschen Universitäten. Ich erinnere mich schwach, war es in der Vorlesung über den Höfischen Roman im Mittelalter oder über Wolfram von Eschenbach, unser Professor dozierte über einen Aufsatz von Rainer WARNING. Dieser bescheidene Professor pflegte seine Vorlesungen des öfteren, wenn ihn Verpflichtungen kaum ahnbarer Wichtigkeit zur DFG entführt hatten, seine Rückkunft mit der demütigen Formel einzuleiten: "Göttingen hat mich wiederl" Derart sich scheinbar zum Objekt degradierend, evozierte er durch diese Wendung bei mir allerdings nur Assoziationen an allerlei andere Dinge, die man auch unversehens wieder hat, ohne sie zu wollen,... z.B. die Grippe. Nun denn, er referierte also gerade den Aufsatz Heterogenität des Erzählten, Homogenität des Erzählens (Wir bekommen noch später hinreichend Gelegenheit, dieses hohle Geschenk filologischen Erfindungsreichtums auf seine spärlichen Inhalte abzuklopfen), da hob einer, der nun selbst Seminare abzuhalten befugt ist, die Hand und also folgend zu sprechen an: "Wenn ich Warning richtig verstanden habe, dann zeichnet sich somit das Aktantenschema durch Linearität und das Figuralschema durch Zirkelhaftigkeit aus..." da fiel ihm schon ins Wort der um rechte Lehre

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immerdar bemühte Professor: "Wollen Sie Warning beleidigen? Das Gegenteil ist der Fall! Also ich wiederhole, daß es auch wirklich niemandem mehr verborgen bleibt: Das Aktantenschema ist zirkelhaft, wohingegen das Figuralschema linear ist!". manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum [Ernst JANDL, Lichtung] Meines Wissens hat nach diesem vehementen Einschreiten für den Verkannten seither niemand gewagt, WARNING nicht zu verstehen. Ich meinerseits danke noch heute meinem Schöpfer, daß er mich trotz mancherlei anderer Verpflichtungen Zeuge dieses gelehrten Disputs werden ließ, bei dem so manchem Reminiszenzen an erlauchte Dialoge auf der Agora Athens aufgekommen sein werden, wurde ich doch völlig unerwartet Zeuge von dem Stoff, aus dem die filologischen Kriege sind: Dieser Krieg begann aus folgendem Anlaß: Es ist bekannt, daß man ursprünglich die Eier, ehe man sie zum Mund führte, so öffnete, daß man sie am breiten Ende aufschnitt. Doch der Großvater Seiner Majestät, der als Knabe ein Ei nach der alten Weise aufbrach, hatte dabei das Unglück, sich in den Finger zu schneiden. Deshalb erließ sein königlicher Vater ein Edikt, in dem allen Untertanen bei schweren Strafen befohlen wurde, ihre Eier am spitzen Ende aufzubrechen. Das Volk empörte sich gegen dieses Gesetz dermaßen, daß sechs Revolutionen daraus entstanden, ein König sein Leben und ein anderer den Thron verlor. Diese inneren Unruhen wurden durch den König von Blefuscu noch geschürt, indem er den Verbannten in seinem Land Zuflucht bot. Ungefähr elftausend Menschen haben es vorgezogen, den Tod zu erleiden, statt sich zwingen zu lassen, die Eier am spitzen Ende zu öffnen. Während dieser Unruhen machten uns die Könige von Blefuscu wiederholt den Vorwurf der religiösen Irrlehre. Sie behaupteten, wir hätten gegen die Lehre unseres großen Propheten Lustrog im vierundfünfzigsten Kapitel des Blundecral - unseres Koran - verstoßen. Dies scheint aber eine Verdrehung des Textes zu sein, denn dort steht geschrieben: Alle Rechtgläubigen öffnen ihre Eier am passenden Ende. [Jonathan SWIFT, Gullivers Reisen] Ich selbst habe WARNINGS Aufsatz nicht für das Ei des Kolumbus gehalten, fand daselbst auch wenig Ergötzliches bei der Diskussion so oder nicht so und habe dieses faule Ei in meiner Examensarbeit schlicht in die Pfanne gehauen -das Lichtung-

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weisende meines Ansatzes konnte jedoch im Dickicht der Forschung wohl nicht mit der gebotenen Klarsicht gewürdigt werden. Wir haben auf diese Weise immerhin einen lebhaften Ausschnitt aus dem täglichen Hörsaaldrama mitbekommen, das HOFMANN wie folgt charakterisiert: So ist weder die wissenschaftliche Literatur noch der gängige Hörsaalbetrieb auf die großen Entdeckungen, auf das akademische Erlebnis angelegt, auf jene befreienden Augenblicke, wo es dem Aufnehmenden wie Schuppen von den Augen fällt, wo eine verborgene Ordnung sich ihm erschließt, wo er das schlechthin Existenzwendende wirklicher wissenschaftlicher Einsicht erfährt. Und er fährt nach nicht minder verheerender Kritik an der akademischen Institution fort: Vielmehr entspricht dem Zuschnitt einer Wissenschaft, die immer mehr Dinge erlernbar gemacht hat und die dem schöpferischen Einfall gründlich mißtraut, ein rezeptiv und reproduktiv eingestelltes geistiges Rentnertum, das eine geradezu konstitutive Furcht vor konsequenzenreicher Einsicht, vor der klaren, uneingeschränkten Aussage, vor dem Einstehen für eine begründete wissenschaftliche Überzeugung an den Tag legt. [Werner HOFMANN, Universität, Ideologie, Gesellschaft. S. 23] Diese Kritik wurde zur Zeit der großen Studentenrevolte zu Papier gebracht, jener Zeit, als allenthalben der Ruf laut wurde, die Wissenschaften zu vergesellschaften, Lebenswirklichkeit und Wissenschaft anzunähern, kurz, den Unibetrieb zu demokratisieren. Mir scheint, daß es die sprichwörtliche Ironie der Geschichte ist, wenn sich, nachdem gewissermaßen Vollzug gemeldet werden konnte, die negativen Seiten der alten und neuen Schwächen nur um so dringender abzeichnen. Heute, zwanzig Jahre danach, nach Demokratisierung und Vermassung, betteln die ersten Studenten um eine Audienz bei ihrem Professor. Der kann sich über die Inflation der Bildungshungrigen nur die Hände reiben, denn eines tut ein Student nicht, der eine Stunde vor dem Hörsaal Schlange steht, er stellt keine kritischen Fragen. Auf diese Weise hat die Wissenschaft zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erstens legitimiert die studentische Masse das Bedürfnis der Wissenschaft nach Masse mangels Klasse hinsichtlich ihrer Lehrinhalte, und zweitens ist der Druck durch die Lehrstoffmassen auf den einzelnen Studenten derart massiv, daß sowieso kein Student Zeit findet, wissenschaftliche Inhalte zu verstehen, ganz zu schweigen davon, daß er sie womöglich kritisiert. Man merkt sie sich einfach bis zu dem Tag der Prüfung, wo genau der Professor, der in den Vorlesungen einen bestimmten Lehrinhalt abgelesen hat, ihn wieder hören will und ihn mit seinem Manuskript ver-

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gleicht. Daß diese Form intellektueller Askese auf beiden Seiten, beim Lehrenden wie beim Lernenden, gleichermaßen Methode wie eine kontinuierliche Vergangenheit hat, zeigt die Groteske von Egon FRIEDELL. Ich kann sie nur wärmstens empfehlen, leider nicht vollständig abschreiben. Aber, und das wollen wir nicht vergessen, auch diese Wissenschaftsruine hat ihren Nachwuchs, ihre humanoiden Festspeicherplatten, ihre Prototypen allesverdauender Hirnperistaltik. Ich habe während meiner Schulzeit und meines Studiums einige wohlgeratene Exemplare kennen gelernt, und ich muß sagen, sie haben mir zunächst gehörige Angst eingejagt. Später wandelte sie sich in wissenschaftliches Interesse, danach wiederum in schlichtes Schulterklopfen. Was diese Leute zu leisten imstande sind, ist fraglos enorm: Sie verstehen alles und können es sich merken. Brächte man ihnen Polnisch rückwärts mit Zungenschlag bei, nach kurzer Zeit würden sie darin brillieren. Sagte man ihnen (als Professor natürlich), das Universum sei siebendimensional, durch sich selbst geteilt und gelb kariert, sie würden es verstehen, sich merken und ihr Leben lang daran glauben. Derlei Menschen hat es immer gegeben, und es wird sie auch immer geben. Unsere Aufgabe muß es sein, sie zu Bewahrern des Richtigen zu machen, denn eigene Urteile können sie nicht fällen. Wir dürfen ihnen keine Ideologien mehr verabreichen, denn sie sind in der Lage, nicht nur Bücher zu verbrennen. Sie haben sich über Jahrhunderte auf ihren Kathedern behauptet, sie haben erfolgreich und folgenreich gelehrt, die Erde sei eine Scheibe und der Mensch sei durch vier Säfte konditioniert. Solcherlei Dinge hat eine Elite geglaubt und gelehrt, eine folgende gelernt, geglaubt und weitertradiert. Manchmal beschleicht mich das ungute Gefühl, daß die trotz aller Orthodoxie gelungene Weiterentwicklung der Wissenschaft auf nichts als auf Fehler in der Überlieferung zurückzuführen sei, grad so, wie erfolgreiche Mutationen aus fehlerhafter DNA-Synthese entstehen können. Die Kardinalschuld trägt in diesem Falle aber auch die Königin der Wissenschaften, die Philosophie, die von jeher zu nichts zu gebrauchen und zu allem zu mißbrauchen war. Die seitens BLUMENBERG apostrophierte Seefahrtsmetapher ist weiß Gott der rechte Rahmen für die Perpetuierung des Mißerfolgs. War der Mythos noch aus handfestem Garn gestrickt, so wagte sich seine Usurpatorin aufs offene Meer. Wir tun ihr sicher nicht unrecht, wenn wir sie auf eine Eisscholle setzen und vom Pol zur Antipode driften lassen. Beim Philosophieren also, beim Schippern über ein Meer von selbst gestellten und unbeantworteten Fragen, verzehrt sie die Eisscholle, die zu Sprache kondensierten Gedanken, und schon schlagen wieder die Wellen offener Fragen in dem wenig tragfähigen Meer der großen Menschheitsfragen über den Häuptern der Nichtschwimmer zusammen. Sie selbst hat nie so weit hinausfahren können, um das zu beweisen, was sie alles hinter die Horizonte postulierte. Neuland gefunden und betreten haben nur Naturwissenschaft und Technik, die sich mit ihren soliden Vehikeln erfolgreich gegen das Meer von Fragen abschotteten und also keine Frage beantworten mußten. Inzwischen hat die Philosophie sich aufs

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Tauchen verlegt; hoffen wir, daß sie sich nicht zu sehr beschwert und eines guten Tages gänzlich untergeht. Nach dieser kurzen Expedition in das Land der zahllosen elfenbeiner Türmchen und Zinnen dürfte leichtlich nachvollziehbar sein, weshalb wir von den Geisteswissenschaften allgemein und von der Filologie im besonderen keine Aufschlüsse erwarten dürfen. Bedenklich scheint mir daneben noch, daß sie die Sprache widerstandslos zum Spielball politicher Abrißbirnen werden läßt, daß sie den Sprachmißbrauch durch Euphemismen (Leo II als aktive Friedenssicherung) und Diskriminierungen (Tuch als passive Bewaffnung) unbehelligt läßt. Suchte man nun nach einem instruktiven und anschaulichen Beispiel für die Art und Weise, mit der die Literaturwissenschaft aus dem systematischen Nichtverstehen, sei es von Literatur oder sprachlichen Äußerungen überhaupt, einen völlig unabhängigen Eigensinn konstruiert, dann stößt man doch ohne viel Mühen auf den so heimlich gehüteten Trainingstext der Filologen. Wenn man sich nämlich auf die unterschiedlichsten Fragen, die man sich zu einem Text stellen mag, immer wieder nur kannitverstan eingestehen kann, dann ist auf wunderbare Weise der HEBEL gefunden, mithilfe dessen man selbst das nur implizite Eingeständnis lauterster Ahnungslosigkeit als gesunden Men-schenverstand verkaufen kann. Und so spielt sich dann das Begräbnis ab: Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. [J. P. HEBEL, Kannitverstan] Literaturwissenschaft ist also mitnichten Dienerin der Literatur, geschweige, daß sie in der Lage wäre, jemandem das Verstehen von Literatur zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen. Sie kann weder literarische Texte noch sich selbst irgend verständlich machen; stattdessen sucht sie ihr Heil in der eigenwilligen und nebulösen Paraphrase, in der Hoffnung, aus den so neu gemischten Worten erschlösse sich plötzlich offenbarungsgleich ein Sinn -vielleicht sogar mal der richtige. Dieses Verfahren erinnert mich heiter an die Praxis der Zeitgenossen und Freunde GALILEIs in der Accademia dei Lincei: Ansonsten trug die Lincealità aber alle Insignien eines mystisch-romantischen Geheimbundes. Jeder erhielt einen allegorischen Luchsnamen: Cesi war als Celivago der Himmelsfahrer und der kluge Arzt Heck als Illuminato der Erleuchtete, während der Graf de Filiis sich mit dem Titel eines Eclissato zufriedengeben mußte, eines Verdunkelten, da er kaum die lateinische Gelehrtensprache beherrschte. Geheim-

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schriften zur Wahrung der Exklusivität der Korrespondenz wurden verabredet, und wie damals üblich, knüpften sich an die kryptologischen Beschäftigungen auch mancherlei Erwartungen hinsichtlich der Entzifferung der Chiffren des Kosmos und der Natur. [Albrecht FÖLSING, Galileo Galilei - Prozeß ohne Ende, S. 248] Menschen, die derart hieroglyph dachten und handelten, waren von alters her auch bemüht, ihre Herkunft durch Mythenbildung vor dem heilsamen Vergessen zu schützen. Hören wir nun den Mythos der Philologia, wie ihn Martianus CAPELLA im 5. Jahrhundert in seinem Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii gestaltete: Das Werk wird durch ein Gedicht an Hymnaeus eröffnet, der als Versöhner der Elemente und der Geschlechter im Dienste der Natura, aber auch als Ehestifter zwischen den Göttern angesprochen wird. Von diesen ist Merkur noch unbeweibt. Auf Rat der Virtus befragt er Apoll. Er schlägt ihm die ochgelehrte Jungfrau Philologia vor, die auf dem Parnaß, aber auch im Stemenhimmel und in den Geheimnissen der Unterwelt wohlbewandert ist, also das Ganze des Wissens umfaßt. Virtus, Merkur und Apoll steigen durch die Himmelssphären zum Palast des Jupiter empor, geleitet durch die Musen. Eine Götterversammlung, in der sich auch allegorische Gestalten befinden, billigt Merkurs Wunsch und beschließt, daß Philologia zur Göttin erhoben werden soll und so fortan alle verdienten Sterblichen. Philologia wird von ihrer Mutter Phronesis geschmückt, von den vier Kardinaltugenden und den drei Grazien begüßt. Sie muß auf Geheiß der Athanasia eine Menge von Büchern erbrechen, um der Unsterblichkeit würdig zu werden. Dann steigt sie in einer Sänfte zum Himmel auf, die von den Jünglingen Labor und Amor und den Mägden Epimelia (Sorgfalt) und Agrypnia (Nachtarbeit der Geistesarbeiter mit Schlafverkürzung) getragen wird. Im Himmel tritt ihr Juno als Schützerin der Ehe (Pronuba) entgegen und belehrt sie über die Einwohner des Olymp,… [So in E. R. CURTIUS, Europäische Literatur..., S. 48] Hans Robert JAUSS stellt diese Geschichte leicht verkürzt an den Anfang von 877 Seiten mit dem Titel Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik und gefällt sich darin, seinerseits das Entstehen seines Buches mit analogen Umarmungen und Musenküssen zu postfigurieren. Nur eine Person scheint hier, wie im gesamten Wissenshorizont der Literaturwissenschaft vom Parnaß gejagt: die gute alte ATHANASIA. Tcha, wer fühlt sich auch schon gern daran erinnert, daß seine Bücherwerke keine Zeus'schen Kopfgeburten sind, leider auch keine natürlichen Nachkommen, sondern allenfalls das Produkt üblicher Schwangerschaftsbeschwerden. Wer vergegenwärtigt sich als Filologe schon gern den durchaus konsequenten

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Sachverhalt, daß wir solchermaßen erbrochene Machwerke schlicht zum Kotzen finden können. Wir wissen nicht, ob die Ehe von Merkur und Philologia irgend mit Kindern gesegnet ist oder ob sie Dinks geblieben sind. Ich meine fast sicher letzteres, denn auch HEINE erkennt in Paaren wie Pygmalion und Galathea oder den Figuren GOETHEs die klassische Unfruchtbarkeit. Überhaupt sind Erkenntnis, Wissen und Lehre eng mit Fruchtbarkeitsmythen verwoben, wenngleich einschränkend bemerkt werden muß, daß an der ALMA MATER keiner von verbotenen Früchten nascht, nicht etwa, daß sie zu hoch hingen, es wachsen gar keine. An dieser Stelle möchte ich mich zu einer gewagten Hypothese aufschwingen. Der Typus des Wissenschaftlers, der Kreaturen im Reagenzglas kre-iert, ist keine zufällige Fehlentwicklung, er ist das originale Zuchtergebnis einer fatal asexuellen Wissenschaftsauffassung. Ein Beispiel für die hochkarätigen Kaderschmieden und Wissenschaftlerzuchtstationen sind die Forschungsstationen im ewigen Eis der Antarktis. Wenig Anlaß zur Besorgnis gab es, solange dort nur echte MANNschaften ausharrten, konnte man doch noch glauben, derlei Strapazen nur behaarten Männern zumuten zu können. Wirklich entlarvt hat sich diese Station zur Zucht der Unzucht jedoch, als sich der Minister für wissenschaftliche Entwicklungshilfe entschloß, eine DAMEN-MANN-schaft (das ist keine gemischte Truppe, sondern ein Oxymoron, ein Begriff, der sich einer sprachlichen Quotenregelung so erfolgreich entziehen wird wie die be-MANN-te Raumfahrt) dort überwintern zu lassen. Ein wirklich klassischer Satz besagt : NATURA PARENDO VINCITUR, dies jedoch kann nicht gelingen, wenn man Menschen für etliche Monate auf engstem Raum einschließt und sie zur Homosexualität oder zur Sodomie zwingt. Oder was glauben Sie, woher gewisse Leute überhaupt die Idee hernehmen, Chimären zu basteln. Sicher nicht aus Der Gelehrtenrepublik von Arno SCHMIDT. Wissenschaftlichkeit scheint also eine recht ungesunde Haltung gegenüber der Sexualität zu verbürgen. Die völlige Unerfahrenheit auf diesem Gebiet führt gerade bei dem Verstehen von Literatur, die sichtlich mit Erotik spielt, zu peinlichen Mißverständnissen, wie wir das Glück haben werden, durch Prof. HAUG unzweideutig belehrt zu werden. Es gilt in diesem Zusammenhang aber auch zu fragen, auf wessen Mist die allgemeine Ablehnung echter erotischer Literatur gewachsen ist, oder besser, wer die Regeln dafür aufgestellt hat, ob ein Werk auf den Index kommt oder nicht. Es sind wieder die Literaturmännlein, deren intellektuelle Abstinenz hier mit der erotischen Hand in Hand geht. Anders ausgedrückt, macht ihnen der Gedanke große Sorge, daß nur eben die erotische Literatur ihnen die MESS-LATTE für richtiges Verstehen an die Hand gibt, wohingegen das richtige Verstehen anspruchsvollerer Literatur beileibe keine analoge geistige Erektion zeitigt. Verbrämt wird dieser Nexus schlicht in der Sorge um Masturbationsgewöhnung bei Jugendlichen, wahrscheinlicher ist jedoch die Sorge der alten Herren, sie könnten nach phantasievollem

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Mitvollzug eines Aktes vor einem Problem stehen, das sich bei Arno SCHMIDT in folgender Weise andeutet: S ie v e r s u c h te m it u n g e s c h ic k t to b e n d e n F in g e r n meine rauhe Jackenhaut: ? - die warf ich also ab. Wagte auch, in jeden Griff eine Brust zu nehmen: (enorm fest; wie weißlederne Birnen. Das ganze vordere Drittel eine unabgesetzte, rosarauhe Spitze), / Sie hielt es nicht länger aus. Sie röchelte süß; warf mir die zähen Arme über die Schultern, und zwängte unsere Brüste aneinander. Augen zu. Gab mir eine Riesenportion Zunge in den Mund (und schmeckte gut und warm; nach Grassamen; Spelt & Grannen fiel mir ein, Getreidemund, Mähdrescher…? -:! : d e n n e in fe in e s h o h e s B e lle n u n te r d e r E r d e ? ! - Aber sie lockerte unseren touch nicht; nur ihre großen Ohren stellten sich einmal wachsam auf (bis mir einfiel, daß es ja nur Prairiehunde wären. Und ich wieder kräftiger zugriff).). Z u la u fe n a u f e in e d ic h te r e S te 1 1 e (und mir kamen doch große und zahlreiche Skrupel!), / Aber der Schatten des Hutrandes, gelappt und zitronenfarben, hing ihr so hurtig über die Wange. Und sie hielt so fleißig meine Hand. Und gestand: " S h ilb it - - m e in e F r e u n d in -- ist auch mal 14 Tage mit einem Förster gegangen. Und hat mir Alles erzählt: ochchchchch!". Sie schnob und warf begeistert den Oberkörper zurück: "Du kannst das auch? Das ist bei uns erlaubt, ab20: das Alles!" I m D ic k ic h t a ls o (u n d s ie s ta n d dagegen; ihr erstes Mal; schnarchend vor Glück)./ Ich gab mir aber auch alle Mühe (und doch eine verdammt komische Situation: ich mußte immer die Augen zumachen! Es sei denn, sie bog gerade das Gesicht aufs gefährlichste nach hinten her, es langte nicht ganz, aber wir küßten wenigstens die Luft vor unseren Gesichtern. Und da konnte man sich ein Mädchen einbilden.) / Bis ich anfing, kreuzlahm zu werden. Vom schnalzenden Französisch. [Arno SCHMIDT, Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten, S. 23 f.] Wahrscheinlich werden Sie es nicht bemerkt haben, aber das Wesen, dem der Protagonist die erste Freude verschafft, ist ein weiblicher Centaur. Durch die Anlehnung an klassisches Ideal ist SCHMIDT natürlich fein raus, aber überlegen Sie mal, wie Sie reagieren würden, wenn sich nach genußvollem Lesen solch eines Aktes herausstellt, die Partnerin war eine Sau oder eine Stute. Doch zurück zur Fruchtbarkeit in der Filologie. Mein Professor WAGENKNECHT, der mir zu einer überaus vergnüglichen Prüfung verholfen hat, wäre mithin der Letzte, dem ich Übles wollte, wenn er aber meint, er hätte mit seiner Deut-

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schen Metrik keinen Beleg für HEINES überdauerndes Urteil geliefert, so irrt sich der: In Göttingen blüht die Wissenschaft, Doch bringt sie keine Früchte. Ich habe dort zehn Jahre verbracht und weiß daher: Dort hegt sie die Scheinschwangerschaft Und vielerlei Gerüchte. Sie bläht sich auf wie ein Ballon, Wird dicker und wird runder; Falls dabei doch was rauskommt, Ei, wäre das ein Wunder! Nein, ich habe, wie unschwer zu ersehen, meine Abneigung gegen die Metrik; die einen könnens, die anderen nicht, und wenn HEINE gar guten Rat für schlechte Dichter hat, brauchen wir am Ende gar keine Metrik: Mein Greifswalder Freund war auch ein deutscher Barde, und wie er mir vertraute, arbeitete er an einem Nationalheldengedicht zur Verherrlichung Herrmanns und der Herrmannsschlacht. Manchen nützlichen Wink gab ich ihm für die Anfertigung dieses Epos. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er die Sümpfe und Knüppelwege des Teutoburger Waldes sehr onomatopöisch durch wäßrige und holprige Verse andeuten könnte, und daß es eine patriotische Feinheit wäre, wenn er den Varus und die übrigen Römer lauter Unsinn sprechen ließe. Ich hoffe, dieser Kunstgriff wird ihm, eben so erfolgreich wie anderen Berliner Dichtern, bis zur bedenklichsten Illusion gelingen. [HEINE; Die Harzreise] Und diese Gegend kennt Heine so gut als ich, der ich in Detmold, da GRABBE wahnsinnig wurde, mein Abitur machen mußte: Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben, Das ist der klassische Morast, Wo Varus steckengeblieben. [HEINE, Deutschland - ein Wintermärchen, Caput XI ]

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Damit sind wir unversehens wieder in der Zeit, da das Übel des unverstandenen Mittelalters seinen Ursprung hat, in der Romantik. Diese Epoche dichterischen Schaffens gehört zu den am wenigsten verstandenen in Deutschland. Poetisch suchte man eine Blaue Blume und politisch die deutsche Einheit. Beides jedoch konnte oder wollte nicht gefunden sein. Und so schweifte der verklärte Blick zurück in die Vergangenheit, da die Blaue Blume ihre Wurzeln haben mochte, in eine Zeit, da alles noch so ursprünglich gesund und unverdorben sein mußte, daß Kunst und Natur noch als Einheit begriffen werden konnten. Man beschwor nun eifrig diese Zeit, allein die Musik in allen Dingen erscholl nicht, denn niemand wußte wohl das Zauberwort zu nennen. Freilich litt die literarische Produktion an sich weniger darunter, nur klangen darin selbst weniger die wie von ungefähr angestrichenen Saiten eines altdeutschen Volksgeistes, die Protagonisten selbst legten Hand an und sangen sich durch so ziemlich jedes Tal, das sie durchwanderten. Auf der anderen Seite waren die Gründungsväter der Germanistik, Leute wie GRIMM, GÖRRES, GERVINUS damit beschäftigt, alles zu sammeln, was in Nominalkomposita mit Volk faßbar war, also Volksmärchen, Volkssagen und Volksbücher. Was da zusammenkam, hatte mit dem Mittelalter nun aber auch gar nichts zu tun; immerhin, man fing mit Fehlern an, die bis heute nachwirken. Kleinkindern verabreichte man Hausmärchen, die allenfalls ins französische Rokoko zurückdatierbar sind, und die hielt man für so artig, altdeutsch und von so lupenrein kindlicher Erzählhaltung, daß man meinte, mittelalterliche Lagerfeuerromantik zu spüren. Wie wenig allerdings die kindlichen Mittelaltertexte für Kinder im Vorschulalter geeignet sind, wird merken, wer ein paar skatologische Maeren des Mittelalters gelesen hat. All diese schrecklichen Mißverständnisse, verknüpft mit der Poetikauffassung der Romantiker, haben dazu geführt, daß die Deutung mittelalterlicher Texte so sehr von einer infantilen Nebulösität oder dem heiligen Ernste eines Kinderkreuzzuges strotzen. Auch unsere Zeit erlebt nunmehr eine unübersehbare Mittelalterrenaissance. Wenn wir aber von Wiedergeburt sprechen, dann täuscht der Ausdruck einen Sachverhalt vor, der schon die Grenzen des erlaubten Euphemismus überschreitet. Hier wird leider nichts flutenfrisch aus der Taufe gehoben, hier wird etwas aus dem Grab gezerrt. Nicht von Wiedergeburt muß deshalb die Rede sein, sondern von dem Versuch der Wiederbelebung mit allen Assoziationen, die die moderne Apparatemedizin zuläßt. Ein verkabelter mittelalterlicher Textkorpus, dem an der Herz-LungenMaschine der Filologie eine neue Seele eingehaucht wird und der unter den Stromstößen zuckt, ist nun nicht gerade das geeignete Exponat, wenn es heißt, der plötzlich interessierten Volksseele rechte Auskunft über Prinz Eisenherz oder Wickie den Wickinger schuldig zu sein. Schweigen will ich von der Weise, mit der das Groschenheft in der filologischen Wissenslücke die Marktlücke erspäht und ausfüllt. Ich kann und will nicht die Masse der Machwerke abhandeln, die aus erzähltechnischen

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Defiziten pseudoromantische Mittelalterversatzstücke basteln und dem ScienceFiction-gestreßten Leser eine ruhige Heimstatt hinter den Nebeln von Sowieso anbieten und den sexuell Zurückgebliebenen heilige Schauer bei mythischen Brunstkolportagen von Geweihten und Gehörnten. Da tut es wohl, daß es Schriftsteller gibt, die über mittelalterliche Literatur filologisieren, und Filologen, die über das Mittelalter Schriftstellern. Den ersteren können wir noch unterstellen, daß sie die alte Literatur behutsamer wiederbeleben. So schreibt Peter RÜHMKORF an seinen Herausgeber: Lieber Jürgen Manthey, anbei der jetzt endgültig aus dem Jenseits in die Gegenwart übersetzte Walther, Klopstock-Korrekturen und - naja, einiges neue Gereimte und Gebundene von mir selbst (NKE in statu nascendi). Was man mir vermutlich als Anmaßung verübeln wird, diese Annäherung bis auf Tuchfühlung (jetzt sogar noch im Bild vollzogen), ist eigentlich viel Schlimmeres: rücksichtslos-liebevolle Einverleibung/Annektion. Ich habe die beiden Litteraturdenkmäler aus dem reaktionären Traditionsbett gelöst, sie kühn an die eigene Brust gerissen und sie neu beatmet - wollen sehen, inwieweit das der weiteren Überlieferung gut tut. [Peter RÜHMKORF, Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich] Hier nun liegt der Hase im Pfeffer: Betrachtet man Werke renommierter Historiker wie Arno BORST, Jaques DALARUN, George DUBY und Barbara TUCHMAN, erkennt man unschwer, wie überaus gelungen der Versuch ist, aus trockenem Datenmaerial eine geradezu fesselnde Geschichte zu machen, wohingegen man den renommierten Literaturhistorikern den Versuch als gelungen attestieren darf, aus fesselnden Geschichten trockenes Datenmaterial fischmehlartig zu kondensieren. In diesem Rahmen sei nur auf die klassische Stoffelei von Bert NAGEL (Staufische Klassik) und das bereits erwähnte Werkchen von Max WEHRLI verwiesen. Da nun, wie häufiger verdeutlicht, das Produkt der Filologie gleichermaßen anämisch wie ungenießbar ist, das Mittelalter aber noch weiterhin unverstanden und damit unerklärbar und unerzählbar darnieder liegt, was liegt näher, als das Vertraute hineinzulegen, gleichsam durch eine Transfusion die alte Zeit wenigstens persönlicher zu gestalten. Da ich nur von Büchern rede, die ich selbst besitze, greife ich mir Dieter KÜHNs Ich Wolkenstein heraus und bin schon unschlüssig: Welches und wessen Ich spricht oder will mit mir sprechen? Schnell wird klar, es ist KÜHN selbeine, der als reziproker Anachronismus nach Campitello stolpert und ernsthaft bemüht ist, alles einäugig, also durch das Auge OSWALDs zu verstehen. Kommen wir nun zu den Professorenromanen, den leserlichen Mittelalteradaptionen oder intellektuellen Purgatorien langgeknebelter ungebundener Rede. J. R. R.

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TOLKIEN ist Herausgeber solch exzellenter mittelenglischer Erzählungen wie Sir Gawain and the Green Knight, den ich mit großem Vergnügen immer wieder zur Hand nehme, aber das Kultbuch all derer, die ihren Märchenprinzen totgeküßt haben (Der Herr der Ringe), habe ich nicht mit der Kneifzange anrühren wollen. Da lob ich mir doch eher den Beelzebub von W. GOLDING. Alois BRANDSTETTER habilitierte sich mit der Untersuchung Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman, und ich muß hinsichtlich meines Exemplares beklagen, daß der Buchbinder den Titel ein klein wenig zu genau genommen hat. Möglich aber auch, daß man bei ATHENÄUM allgemein gerne klittert, denn Fischartsche Metamorphosen zeigt auch mein Exemplar von Dieter SEITZ' Johann Fischarts Geschichtklitterung. BRANDSTETTERS Roman Die Burg aber war die beste Neupublikation, die ich 1985 gelesen habe. Ein Werk voller gelehrt-witziger Anspielungen, von denen ich nur eine herausgreifen möchte: "Schrecklich" aber und "schaurig" beschreibt vor allem Friedrich Schiller ungefähr 600 Jahre später in seiner Ballade "Der Handschuh" einen "Löwengarten" und das "Kamp/spiel", das König Franz und mit ihm die "Großen der Krone", "und rings auf hohem Balkone die Damen in schönem Kranz" beobachten: "Und wie er winkt mit dem Finger, Auf tut sich der weite Zwinger, Und hinein mit bedächtigem Schritt Ein Löwe tritt, Und sieht sich stumm rings um, Mit langem Gähnen, Und schüttelt die Mähnen Und streckt die Glieder Und legt sich nieder. Und der König winkt wieder, Da öffnet sich behend ein zweites Tor, Daraus rennt Mit wildem Sprunge ein Tiger hervor, Wie er den Löwen erschaut, Brüllt er laut, Schlägt mit dem Schweif einen furchtbaren Reif, Und recket die Zunge, Und im Kreise scheu Umgeht er den Leu Grimmig schnurrend, Darauf streckt er sich murrend Zur Seite nieder..." und in diesem Tone geht es Schillerisch balladesk weiter, mit zwei Leoparden, die sich mit "mutiger Kampfbegier" auf das Tigertier stürzen. Das Tigertier aber "packt sie mit seinen grimmigen Tatzen". In dieses Inferno der "greulichen Katzen" wirft dann die schöne Kunigund "spottenderweis" "von des Altans Rand" einen Handschuh "zwischen den Tiger und den Leun mitten hinein". "Und der Ritter" (Delorges) "in schnellem Lauf Steigt er hinab in den furchtbaren Zwinger Mit festem Schritte, Und aus der Ungeheuer Mitte Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger" - "Und mit Erstaunen und mit Grauen Sehens die Ritter und Edelfrauen, Und gelassen bringt er den Handschuh zurück. Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde, Aber mit zärtlichem Liebesblick - (er verheißt ihm sein nahes Glück) - Empfängt ihn Fräulein Kunigunde Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht: 'Den Dank, Dame, begehr ich nicht', Und verläßt sie zur selben Stunde." [Alois BRANDSTETTER, Die Burg, S. 24 ]

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Das Verhalten des Ritters Delorges scheint ja übrigens auf den ersten Blick höchst befremdlich. Mit einiger Berechtigung hatten wir doch wohl immer geglaubt, einziger Sinn der Existenz des Ritters sei es doch gerade, Damen zu helfen, sie zu beeindrucken, sie für sich zu gewinnen. Sollte SCHILLER dies etwa nicht begriffen haben? Ist es am Ende gar so, daß SCHILLER, nur um der Gedankenlosigkeit gelangweilter Burgfräuleins, um derenwillen kühne Ritter sich überflüssigerweise in Lebensgefahr begeben müssen, eins auszuwischen, diesen einen Ritter die Hofetikette vergessen läßt? Mitnichten, und es ist beileibe auch nicht so, daß SCHILLER womöglich keinen blassen Schimmer vom Mittelalter und seinen Handlungsgesetzen gehabt hätte. Im Gegenteil zeigt gerade diese Ballade, vergleicht man sie mit der unvollendeten von WOLFRAM VON ESCHENBACH, wo der Ritter Schionatulander wegen eines beschriebenen Brackenseils, das seine Dame Sigune (wir werden ihr noch begegnen) zuende lesen will, auf der Strecke bleibt, daß SCHILLER durchaus den gleichen Gesetzen folgt. Ja, es scheint so, als habe SCHILLER seinen Protagonisten um just diese Kenntnis bereichert, habe ihn sozusagen in Kenntnis seiner gescheiterten Vorgänger handeln lassen. Stellen wir uns also die zentrale Frage, weshalb Delorges die Belohnung in Form von Kunigunde ausschlägt und die Dame darüber hinaus auch noch schwer beleidigt. Eigentlich hätte er ja sein Glück mit beiden Händen packen können, denn im Gegensatz zum Ritter Schionatulander hat er seinen Auftrag erfolgreich beendet. Die einfachste Antwort auf diese Frage würde lauten, daß er der Dame zeigen will, daß sie es nicht wert ist, daß man für sie Leib und Leben riskiert, daß er sich zu schade dazu ist, dieses leichtfertige Fräulein durch eine so mutige Tat aufzuwerten. Doch, und das haben allzu leichte Antworten nun mal so an sich, dann könnte es durchaus so aussehen, als fühle sich Delorges nach dieser Wahnsinnstat seinerseits plötzlich der ehemals so heiß Begehrten gegenüber derart überlegen, daß er es sich erlauben könne, es nun bei einer Besseren und Schöneren zu versuchen. Da bliebe doch ein übler Nachgeschmack, und richtig, das lag bestimmt nicht in der Absicht SCHILLERs. Deshalb dürfen wir den einfachen Schluß ziehen, daß Delorges schon in dem Moment, da er aufsteht, weiß, daß er Kunigunde den Handschuh ins Gesicht wirft. Hätte er hingegen laut gedacht, jetzt habe er die Chance, durch diese Tat endlich Kunigunde zu bekommen, SCHILLER hätte ihn genauso unten gelassen wie den Taucher. Und jetzt deutet sich vielleicht schon etwas deutlicher ab, was im Verlaufe dieses Buches endgültig klar werden wird. SCHILLER läßt seinen Protagonisten nur deshalb mit dem Leben davonkommen und derart rüde handeln, um unmißverständlich Kritik an einer platten Erwerbsform zu üben. Soviel sei hier schon gesagt: Der schematische Vollzug einer Tat im Hinblick auf ein gesetztes Ziel, also die Umsetzung eines Vorhabens, um etwas Bestimmtes zu bekommen, mißlingt in einer Ballade grundsätzlich. Damit ist übrigens diese Ballade, nicht etwa, weil sie von Rittern

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handelt, überraschend mittelalterlich, denn nichts anderes ist das Thema der großartigsten Romane des Mittelalters. Doch davon später mehr. Und zurück zu BRANDSTETTER und der Gefahr, Überflüssiges in wohlgesetzte Worte zu bringen. BRANDSTETTER beschreibt sich in der durchaus glaubhaften Rolle eines Mediävisten, der nun nicht Mittelalterliches aus dem Grabe zerrt, sondern der sich gegenüber deren Renaissance und ihren Folgen in ständigen alptraumhaften Rückzugsgefechten befindet. Überall jedoch wird er von einem unwirklichen, modernen Mittelalter eingeholt, dem auch der Experte hilflos gegenübersteht. Wäre nicht sein Weib, nein, seine Frouwe Ginover, hätte er am Ende wenig Trost an einer Epoche, die wie durch einen Yankee aus Connecticut bearbeitet scheint. Wie stark ihn in dieser Rückschau das Thema seiner Habilitation beschäftigt hat, das belegt der zitierte Ausschnitt. Kommen wir zuletzt zum eigentlichen Leckerbissen in dem bewußten Genre, zu ECOs Roman Der Name der Rose. Unter dem gleichen Titel gibt es noch eine hörenswerte Hörspielfassung und einen Spielfilm ... mein Gott!!, so etwas Dümmelndes habe ich seit Winnetou nicht mehr gesehen: Wenn dort die apokalyptische Pointe plötzlich suggeriert, der heiligen Jungfrau hätte es gefallen, ein gar ketzerisch Feuer zu legen an all die, die just jene unheilige Johanna (mit Schlachten hat die ja auch zu tun, die echte und die BRECHTs) dem Scheiterhaufen zuführen wollen, die doch für Adson Gelegenheit war, in Salomonis Weise eine Frau mit der Topographie Palästinas zu verwechseln, kurz, wenn dort die Bibliothek abbrennt, und der ohnehin unbelesene Durchschnittsbürger nicht das Gefühl klammheimlicher Befriedigung spürt über die einzige Erleuchtung, zu der die Scholastik in der Lage ist, wenn die einzig mögliche Erkenntnis die fatale Umkehrung unserer Erfahrung in die Diktion besteht, dort, wo man Menschen verbrennt, da darf man auch Bücher verbrennen, dann muß man sich fragen dürfen, weshalb dieser Film nicht den passenden Titel bekommen hat, etwa: Feuer am Stiel oder Sex in the Cathedral! Den Vorwurf muß ECO sich wohl gefallen lassen: Wenn die Lira rollt, spielt die Lyra schräge Töne. Auch sonst scheint mir das Buch besonders am gelehrten Publikum vorbeigeschrieben zu sein. Es hat ihnen furchtbar viel zu denken gegeben, dabei wollte es bloß erzählen, erzählen von dem, wovon man nicht theoretisch sprechen kann, eine Einsicht mithin, die, wie es auch heißt, Reife voraussetzt. Trotzdem hat sich ein enormer Haufen von Gelehrten hingesetzt um das Kunstwerk zu öffnen, um theoretisch von dem zu sprechen, wovon lediglich zu erzählen sich einer der hellsten Köpfe Europas beschied. Um denn mal zu sehen, wie sich unsere Gelehrten so geschlagen haben, kaufte ich mir für 12,80 DM ein Groschenheft: Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium. Hrsgg. v. HAVERKAMP u. HEIT. Und tatsächlich, die spezialisierten Fährtensucher waren angetreten. Nehmen wir mal Michael THOMAS, Die mystischen Elemente und ihre Funktion im Roman > Der Name der Rose SS- > AS schließen kann. Andererseits soll Kudrun nachher nicht ihren Bruder Ortwin heiraten, weshalb als stellvertretender Subjektaktant Herwig inauguriert wurde, der immer noch nicht mit Kudrun verheiratet ist, weshalb er auch nur eben der Vize ist. In der oben geschilderten Diskussion geschieht nun nichts anderes, als daß zwei Subjektaktanten mit unterschiedlicher strukturaler Vorbelastung über den nächsten Schritt debattieren. Ortwin will auf einen Rückerwerb mit AS hinaus, denn seine Familie hat bereits die beiden SS hinter sich. Herwig hingegen hat hinsichtlich des Objektaktanten (Kudrun) erst ein SS erlebt, wen wundert es, daß er das gleiche Mittel, andersherum angewendet, für völlig ausreichend hält. Recht haben beide, aber entscheidend bleibt die Stimme dessen, der länger mitgespielt hat, der verpflichtet ist, jetzt im Kampf den Objektaktanten endgültig zu arretieren. Danach wird allenthalben geheiratet, sogar einem der letzten Entführer, Hartmut, der auch nur von seinem Vater angestachelt wurde, wird nicht nur verziehen, er bekommt sogar zu allem Überfluß eine Braut ab. Hier müßte sich nun große Ratlosigkeit breitmachen, die ganze Zeit über Gemetzel und Gemorde, Hektoliter vergossenen Blutes greifen aktiv in Bodenbildungsprozesse ein, verwandeln Pseudogley in Terra rossa, und dann das! Bevor wir nun, wie immer, eine durchaus einleuchtende und plausible Erklärung für diese scheinbare Unstimmigkeit finden, lohnt mal wieder ein Blick auf jene, die das, was sie nicht erklären können, einfach interpretieren und so zu recht kapriziösen Ansichten über das gesamte Werk gelangen.

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Einem Adolf BECK fiel folgendes dazu ein: Und diesmal setzt sie gleich die wirksamste Waffe, die letzte Reserve ein, die Ihr im Dienst des Geistes der Versöhnung zu Gebote steht: sie sprach 'vil liebiu muoter, daz nieman sol mit übele ir sult iuwer tugende (1595)

gedenket an daz, deheines hazzes lônen, an dem künege Hartmuoten schônen'.

Es ist, als täte sich mit diesen Worten ein bis dahin verhüllter Hintergrund auf, woraus ein Strahl der Macht hervordränge, die Kudruns Handeln bestimmt. Es ist das Gebot, Böses nicht mit Bösem zu vergelten: das christliche Ethos der Vergebung. Dieses Ethos ist es letztlich, was Kudrun, und mit ihr der Dichter, über das persönliche Mitleid hinaus dem dunklen Ruf des Rachegeistes entgegensetzt. [A. BECK, Die Rache als Motiv und Problem in der > Kudrun

KRISE (FS-)

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Wir sollten uns mm den wichtigsten Satz der ganzen Geschichte noch einmal vergegenwärtigen, für Liebhaber des Altfranzösischen zweisprachig, die Verse 641 f.: Od li s'en vait en Avalun, Ceo nus recuntent U Bretun, En un isle ki mut est beaus. La fu raviz li dameiseaus ! Nuls hum n'en oї plus parler Ne jeo n'en sai avant cunter. Mit ihr geht er fort nach Avalon, das erzählen uns die Bretonen, auf eine Insel, die sehr schön ist. Dorthin wurde der junge Edelmann entrückt! Niemand hörte mehr von ihm (sprechen), und auch ich weiß über ihn nichts weiter zu erzählen. Wir dürfen diese letzte Sentenz ausnahmsweise einmal ganz wörtlich nehmen, denn dies ist nicht einfach das Ende dieser Geschichte, es wäre beinahe auch das Ende der Literaturgeschichte gewesen, hätte man nicht die Lösung für folgendes Problem gefunden: Niemandem dürfte die genuine Verwandtschaft dieser Erzählform mit geistlichen Legenden- und Märtyrererzählungen verborgen geblieben sein, und wir wollen hier so wenig wie Nathan ein Urteil darüber fällen, was zuerst da war. Was aber in der Legende erzähltechnisch die Notbremse darstellt, die Entrückung des Heiligen nach dem Tod, der seine Heiligkeit ja erst inauguriert, hätte fast den Exitus der profanen Literatur bedeutet. Was soll alles Erzählen, wenn es erst dort seinen Sinn erfährt, von wo aus niemand mehr berichten kann, wo bleibt am Ende das Abenteuerliche, wenn man nur lethargisch der ENTRÜCKUNG harrt? Diese Beschwerde ist in jeder Hinsicht berechtigt, und offensichtlich leidet ja auch der Lanval darunter. Von der Liebe darf nichts berichtet werden, und am Ende kann über ihn

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nichts mehr berichtet werden. Und obwohl alle wissen, daß zumindest die Lais erfunden sind, bliebe alles Erzählen, das vom Jenseitigen berichtet, unglaubwürdig, es sei denn, man nimmt die Visio Tnugdalis oder die Divina Comedia, die aber echte Einzelfälle bleiben. Mit Rittern aber hat das alles schon gar nichts zu tun, und so lautet das erzähltechnische Problem, wie man die Wendung des christlichen Legendentypus in das ritterethische Erwerbskonzept wandelt, wie die profane Wendung des exemplarischen Todes in eine Überlebensgarantie in der KRISE gelingen kann, und wie dies gelingt, zeige ich nun am ersten Aventiureroman des Mittelalters, der leider immer noch im Streckbett des Spielmannsepos leidet, aber das ist inzwischen wohl nicht mehr von Bedeutung, denn was sich nun eröffnen wird, ist so weit entfernt von der rezenten Analyseakne der LW, daß jegliches Zurückgreifen auf diese Wissenspusteln für mich kaum in Frage kommt.

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HERZOG ERNST oder alrêrst nu âventiurt ez sich Der Herzog Ernst (HE) ist der erste Roman in deutscher Sprache, der detailliert ausführt, wie man in eine Krise hineingerät und welches probate Mittel wieder hinausführt, ohne den Helden für immer dahin zu entführen, von wo aus niemand wiederkehrt. Aber erzählen will ich zunächst, wie es überhaupt dazu kam: Durch die Heirat seiner Mutter wird Ernst Stiefsohn Kaiser Ottos. Dieser Kaiser ist Mittelpunkt des Römischen Reiches: er truoc mit grôzen êren vor fürsten die krône. der keiser rihte schône beidiu witwen und weisen vor aller hande vreisen. sîn gebot stuont bî der wide. er schuof den aller besten fride beide vür unde wider der ê oder sider oder immer mê werde ûf der Sahsen erde. [HE, 186 ff. Ehrenvoll trug er die Reichskrone vor den Fürsten. Der Kaiser setzte Witwen und Waisen vor allen Verbrechen in ihr Recht. Sein Gesetz galt weit im Umkreis. Er schuf einen Reichsfrieden über die Grenzen hinaus, wie er früher und seither bis in alle Zukunft Bestand hat und haben wird.] Damit kennen wir nun den Helden (Ernst) und die Instanz (Otto); und nun folgt das Problem, das den Impetus für eine spannende Geschichte liefert: Ernst wird an den kaiserlichen Hof gebeten und von Otto folgendermaßen empfangen: der keiser gap im dô gewalt vil maneger grôzer richheit. er sprach "jungelinc gemeit, ez ist dir saeliclîch ergân. ich wil dich zeime sune hân die wîle und wir bêde leben. ich wil dir lîhen unde geben sô vil mînes guotes, daz du dîns holdes muotes

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nimmer entwîchest mir. ez suln immer an dir stên alliu mîne dinc. vil hêrlicher jungelinc, got hât dich mir gesant. über lîp und über lant gebiut weldeclîche und hilf daz ich daz rîche sô bewar und sô geslihte, daz ieman dar inne rihte weder roup noch den brant: des ich dir, edele wîgant, mit triuwen immer lônen wil." [HE, 580 ff. Der Kaiser übertrug ihm damals die Herrschaft über einträgliche Ländereien. Er sagte dazu: "Stattlicher Jüngling, großes Glück ist dir widerfahren, wisse, ich will dich als meinen Sohn anerkennen (Das bedeutet, er ist rechtmäßiger Thronfolger), solange einer von uns lebt. Als Lehen und als Stammland überlasse ich dir so viel von meinem Besitz, daß du mir deine gute Gesinnung niemals entziehst. Alle meine Angelegenheiten und Verpflichtungen darfst auch du übernehmen. Vollkommener Jüngling, du bist wahrhaft ein Geschenk Gottes. Über das Land und die Untertanen herrsche nach weltlichem Recht, und hilf, daß ich das Reich solchermaßen betreue und in ihm das Recht durchsetze, daß niemand es wagt, zu rauben und zu brandschatzen: dafür will ich dir, teurer Held, immer meine Huld und Gnade gewähren."] Sie sehen, geduldiger Leser, da hat Ernst mehr Glück als Verstand, denn obwohl der Kaiser seine verwitwete Mutter ehelichte, ist er ja keinesfalls verpflichtet, in als eine Art Bastard überhaupt zu tolerieren, denn eine automatische Adoption wie heutzutage war insbesondere in Bezug auf Erbadel und Thronfolge gar nicht vorstellbar, und was Ernst da widerfährt, sind mindestens sechs Richtige im Lotto plus Zusatzzahl oder so viel wie eine Fee im Lanval. Es gibt hier nun aber nicht einmal ein weltfernes Tabu, sondern nur die völlig legitime Treuepflicht. Da Ernst sich aber in allen Reichsbelangen bewährt, genießt er zu recht die Huld Ottos. Dem recken was der keiser holt.

[HE 627]

Das geht eine gute Weile gut, aber da die Geschichte ohne Hindernisse kein erzählenswerter Parcours wäre, mithin nicht einmal die LW auf die Nase fallen könnten, nimmt das Unheil bereits seinen Anlauf. Heinrich ist ebenfalls Berater des Kaisers, im Gegensatz zu Ernst aber Blutsverwandter Ottos; als sein Neffe (steht ledig-

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lich zu vermuten an), war er, da Otto kinderlos ist, sogar wahrscheinlicher Kandidat für die Thronfolge. Wie gesagt, ist dies alles nur interpolierbar, denn der Autor expliziert dies nicht, und so ist zu vermuten, daß er die Handlungsmotivationen auch bewußt verschweigt. Auch daß Ottos verstorbene Gattin Ottegebe kinderlos das Zeitliche segnete, geht nur daraus hervor, daß ein Kind und direkter Nachkomme nirgends erwähnt wird. Zum nunmehr einsichtigeren Neid und Haß Heinrichs lesen wir dies: des keisers neve und sîn rât was der selbe boese zage, er begunde denken alle tage, wie er den helt maere dem keiser machte unmaere, daz er im wurde gehaz. daz tete er niwan umbe daz und durch anders keine schulde, wan daz er des keisers hulde sô gnaedeclîchen habete. do gedâhte er waz er sagete, dâ mite er imz gewande und in alsô geschande, daz er im von herzen wurde gram, wan man in ze hove niht vernam sô wol alse dô vorn: daz was im leit unde zom unde muote in und die sîne. [HE, 652 ff. Der Neffe des Kaisers und Kronrat war ein mieser Feigling. Jeden Tag heckte er, wie er unseren Helden beim Kaiser so anschwärzen könne, daß dieser ihm ein Dorn im Auge wäre. Das alles unternahm er wegen nichts anderem und aus keinem anderen Anlaß als wegen des Zutrauens, das Ernst beim Kaiser genoß. Daher suchte er nach einem Vorwurf, um ihm dies zu entziehen, und ihn so zu entehren, daß er dem Kaiser aus tiefster Seele verhaßt würde, denn er selbst hatte im Rat nicht mehr das Gewicht, das er zuvor hatte. Das bereitete ihm Wut und Ärger und ließ ihn und seine Anhänger nicht ruhen. (Schweigen will ich von den Übersetzungskünsten B. SOWINSKIs.)] Nun ist der folgende Sachverhalt nicht ganz unwichtig. Die älteste vollständige Fassung B, nach der auch ich vorgehe, ist nachweisbar eine Überarbeitung. In wenigstens einem ganz zentralen Punkt weicht sie nachweisbar von einer älteren Fassung A ab. In diesem Kontext tut sie es hingegen nicht, und so ist einigermaßen sicher davon

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auszugehen, daß dem Autor und dem Redaktor daran gelegen war, die wahre Motivation Heinrichs zu verheimlichen. Es wäre aber reine Spekulation zu vermuten, das mittelalterliche Publikum sei derart standesbewußt gewesen, und die Zuhörer seien grundsätzlich adlig gewesen, daß man bei detaillierter Information gegen den Emporkömmling voreingenommen gewesen wäre, Ernst also nicht als Held und Sympathieträger akzeptiert hätte. Kurz und gut, die Verleumdungskampagne Heinrichs hat den gewünschten Erfolg, Otto glaubt, Ernst sei der Kopf einer Verschwörung gegen ihn. Ohne zu zögern, schickt er ein Heer gegen Ernst. Wir dürfen dies, liebe Leser, nicht für blinde Wut halten, denn wenn es wirklich zu einer Verschwörung gekommen wäre, darf man für den Machterhalt keine Sekunde zögern. Welchen Zweck aber hätte die Befragung eines Verschwörers, der schon immer nur so tat als ob. Ich bin mir sicher, daß es nur einen spätmittelalterlichen Ritterroman gibt, wo aufgrund einer Verleumdung eine geradezu modern anmutende Beweisführung zur Verteidigung vorgebracht wird, und dieser Roman ist zufällig von einem Gerichtsdiener namens Georg WICKRAM und heißt Ritter Galmy. Derart einmal anrüchig geworden, muß jedes Mittel der Überzeugung versagen, wieder also steht der Held vor einem Dilemma. Und obwohl Gegner und Instanz von dieser Welt sind, erreichbar im Gegensatz zu einer Fee, sind Ernst doch die Hände gebunden, wenn es gilt, seine Unschuld zu beweisen. Klug folgt er dem Rat seines Freundes und Vasallen Wetzel: Dô sprach grâve Wetzel sîn man "tuot ir nû dâ wider iht, sô muget ir iuch entreden niht, so ir ze rehte soldet stân, irn haetet wider daz rîche getân, und belibet in der schulde. sus muget ir des rîches hulde verrer baz erwerben. wil er iuch über daz verderben, sô weiz man", sprach der helt guot, "daz iu der keiser gwalt tuot. ich enrâte iu nû deheine wer, wan möhtet ir hân tûsent her, ir solt iuch wider in niht setzen." [HE, 918 ff. Da riet sein Vasall Graf Wetzel: "Wenn ihr jetzt irgendwas gegen ihn unternehmt, dann werdet ihr nie erklären können, falls ihr vor einem Richter steht, ihr hättet nichts gegen den Kaiser unternommen, sondern ihr wäret zurecht schuldig. So könnt ihr weiterhin Besseres unternehmen, um die HULD des Kaisers zu ERWERBEN. Will der euch aber weiterhin ans Leder, so weiß man wenigstens",

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sprach der gute Mann, "daß der Kaiser nur euch Gewalt angetan hat. Deshalb rate ich, von jeder Gegenwehr Abstand zu nehmen, und euch nicht zu widersetzen, auch wenn ihr tausend Heere hättet."] Es müßte nun offensichtlich sein, und das ist das Perfide an Heinrichs Strategie, daß jede Gegenwehr praktisch einem Schuldbekenntnis gleichkäme, sozusagen den Beweis nachliefert. Andererseits kann man sich nicht geduldig abschlachten lassen (dann wären wir im Legendenroman), um durch den freiwilligen Tod die eigene Unschuld zu beweisen, und sich von jeder Schuld zu reinigen. Diese todsichere Beweisführung eignet bekanntlich der wohl logischsten Errungenschaft unserer Deduktionsfähigkeit, den HEXENPROZESSEN. Ich hatte aber versprochen, daß keiner unserer Helden sich derart hochnotpeinlichen Martern aussetzen muß, um wieder das zu ERWERBEN, was ihm entzogen wurde, in diesem Falle eben die HULD. Der Versuch, die Mutter von Ernst Einfluß auf Otto nehmen zu lassen, schlägt fehl, immerhin erfährt man so von der Rolle Heinrichs. Auch eine Petition etlicher Fürsten wird von Otto abgelehnt. Nun bleibt Ernst scheinbar kein anderer Ausweg, nun sinnt er darauf, dem Kaiser doch zu schaden: "nu muoz ich werben sînen schaden".

[HE, 1217].

Mit zwei erprobten Kämpfern geht er nach Speyer, wo Otto Hof hält, erreicht den Raum, wo der sich allein mit Heinrich berät, und: vil balde zucten si diu swert und zerstôrten dar inne daz gespraeche mit unminne. derkünic entran vil kûme. [HE, 1280 ff. Sofort rissen sie die Schwerter aus der Scheide und unterbrachen drinnen das Gespräch mit wenig Zuneigung. Der König konnte mit knapper Not entkommen.] Heinrich wird getötet, und jetzt bricht ein offener langer Krieg aus. Ernst hat keine Verzeihung mehr zu erwarten: er sol des gewis sîn, ez gestêt im niht vergebene. [HE, 1382 f. Darauf kann er sich verlassen: Pardon wird nicht gegeben.] Über fünf Jahre erstrecken sich blutige Kämpfe, allein, eine Entscheidung wird nicht erreicht, und wenn wir Otto und Ernst einmal als gegnerische Subjekt-aktanten be-

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trachten wollen (was sich aber aus zwei Gründen verbietet), dann erreicht die KONFRONTATION nie das Stadium der DOMINATION. Wir merken schon, dies ist eine entscheidende Stelle in der Geschichte, Grund genug, uns ein wenig intensiver mit der Problematik auseinanderzusetzen, ein wenig deutlicher das auszusprechen, was der Autor als sein Sinnkonzept geflissentlich verschweigt. Was wir jetzt formulieren, ist provokant, doch nichtsdestoweniger einleuchtend: Die Geschichte des Krieges, den Ernst gegen den Kaiser führt, ist struktural gesehen völlig sinnlos, denn sie kann niemals ein sinnvolles Ende legitimieren. Was Ernst nämlich als Rezept probiert, ist uns hinlänglich als AKTANTENSCHEMA geläufig, es hat nur den einen Haken, und deshalb sträubte ich mich, die beiden Kontrahenten Subjektaktanten zu nennen, diese Erwerbsform kann hier unter keinen Umständen greifen. Zum einen erklärt Wetzel die Zusammenhänge überaus einsichtig, wie oben geschildert. Zum anderen aber liegen die Gründe auf Strukturebene mal wieder etwas klarer. Wenn wir uns recht entsinnen, war und ist Otto eine INSTANZ, die Güter und HULD lediglich GEWÄHRT. Das hat nichts mit einem idealisierten Herrscherbild zu tun, das versucht, die traurige Realität zu rehabilitieren, es handelt sich um eine struktural notwendige Modifikation und Kategorisierung, und wir werden genügend Gelegenheit haben, weitere Implikationen dieses Herrscherbildes an der Figur des ARTUS zu erkennen. Als Instanz ist Otto aber nur in der Lage, HULD und dergleichen figural (FS) zu gewähren oder zu entziehen (KRISE). Als Empfänger dieser Werte ist es Ernst nun wieder benommen, und hier liegt der Hase im Pfeffer, dieselben Werte aktantiell von dieser Instanz zu ertrotzen, die Instanz zum gegnerischen Subjektaktanten zu degradieren und hohe Werte damit veräußerlich zu machen. Dies ist der Grund, weshalb ich zur Verdeutlichung zunächst übertrieben spitz formuliert meinte, dieser Kampf sei struktural gesehen völlig deplaziert und könne kein sinnvolles Ende legitimieren. Es wäre aber eine nur zu geläufige Torheit, so etwas behaupten zu wollen, konnten wir doch immer zeigen, daß in den Geschichten so ziemlich alles seinen SINN, nur halt nicht immer inhaltlich, hat. So auch hier: Alles, was diese Kämpfe nur allzu deutlich zeigen, ist ihre Sinnlosigkeit; ihre Funktion ist es, das Versagen des aktantiellen Erwerbs bezüglich einer Sache zu belegen, die sich derartiger Erwerbsmodi vollkommen entzieht. Und dies ist der Grund, weshalb der Autor sich der Mühe unterzieht, dies unmißverständlich deutlich zu machen, ohne es hingegen explizieren zu dürfen; denn wüßten wir sogleich, was weshalb geschieht, wo wäre das AhaErlebnis. Der Herzog Ernst ist der erste mir bekannte deutschsprachige Roman dieser speziellen Struktur, wen also will es wundern, daß der Autor sich etwas Zeit läßt, Ernst, und mithin auch uns, behutsam zu der Erkenntnis reifen zu lassen, daß der Erwerb von HULD und dergleichen so jedenfalls nicht zu bewerkstelligen ist.

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Es wäre eine unverzeihliche Unterlassungssünde, würde ich hier nicht schon im Ansatz all jene Mißverständnisse entkräften, die hinsichtlich jenes Heterogenitätspostulats WARNINGs aufzukeimen sich erdreisten. Das alles klingt ja auch verdächtig nach jener Unvereinbarkeit von WARNINGs Aktanten- und Figuralschema, und abgesehen von seiner definitorischen Stoppelei und Kontamination, mit etwas gutem Willen steckt, wie ich damals erwähnte, eben auch ein Quentchen Wahrheit drin. Würden wir uns nun aber seiner Argumentation anschließen, so wäre, was diese Geschichte uns zu bieten hätte, die PERPETUIERUNG von Ungereimtem, mehr schlecht als recht vom Erzähler kaschiert. Wir wollen in den Geschichten lieber etwas Lesbares und Spannendes vermuten, wollen hingegen WARNING nicht ungetröstet in die Wüste schicken: Wir zögen leicht mehr schöner Sittenlehren Aus der Geschichte noch heraus: Allein wir lassen gern den Leser selbst gewähren. Wer eine Nase hat - spürt sie unfehlbar aus; Die ändern können sie entbehren. * Wohl dem, der sich um einen kleinen Preis Am Schlechten selbst zu laben weiß! [WIELAND, Aspasia, ders., Der verklagte Amor ] Delektieren wir uns nun lieber an den Geschichten selbst, an der Weise, wie sie uns den Weg aus der Krise des Helden zum Faszinosum gemacht haben, und vergessen wir den hoffentlich unnachahmlichen Versuch WARNINGs, dem den Boden zu entziehen, was die Romane ausmacht. Wir haben nämlich den ersten Roman vor uns, in dem die âventiure den Schauplatz der Literatur betritt, und nun soll es uns doch gelingen herauszufinden, was es meint: der âventiure meine! Schauen wir nunmehr, ob Herzog Ernst etwas gelernt hat, das, sofern er es in die Tat umsetzt, auch uns mithin zur Belehrung gereicht: nu suln wir wîslîchen dem keiser entwîchen, wir sîn nu gar âne wer. daz wir füeren über mer, dar stêt vaste mir der muot. ob ez iuch herren dunket guot, sô sol uns des durch got gezemen

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daz wir durch ihn daz kriuze nemen ze dienste dem heiligen grabe, sô kmnen wir sîn mit êren abe, ê wir uns sus vertrîben lân. wir haben wider gote getân daz wir im billîch müezen ûf sîn hulde büezen, daz er uns die schulde ruoche vergeben her nâch, obe wirz geleben, und wider heim ze lande komen, swaz uns der keiser hât benommen, daz wirt uns allez wider lân. [HE (B,) 1807 ff. Nun sollten wir klugerweise zusehen, daß wir dem Kaiser entkommen. Ich habe den festen Vorsatz gefaßt, über das Meer zu segeln. Wenn es euch gut dünkt, nehmen wir um Gottes willen das Kreuz auf uns, dem Heiligen Grab zu dienen. So ist unser Rückzug ehrenhafter als heillose Flucht. Wir haben GOTT zuwidergehandelt, so daß wir zurecht in bezug auf seine HULD büßen müssen. Auf daß er uns später unsere Schuld vergeben möge, wenn wir mit dem Leben davonkommen. Alles, was uns der Kaiser genommen hat, wird uns wieder gegeben.] Langmütiger und aufmerksamer Leser, vielleicht haben Sie sich beim Lesen dieses Zitates gelinde gewundert und ihre Stirn ungehalten in Falten gelegt: recht so! Ich will Ihnen auch gleich sagen weshalb, und warum ich diesmal extra die Fassung (B) gekennzeichnet habe und wieso ich in der Übersetzung Formulierungen kursiv gesetzt habe, die Sie vielleicht irgendwie vertraut anmuten. Zunächst zum Einfachsten: Wider alle Erwartung werden wir hier im voraus mit der Vorgehensweise des Protagonisten vollständig vertraut gemacht. Wir erfahren also den Grund der Krise, den Weg aus ihr heraus und die Endstation mit dem Rückerwerb von allem. Wenn dies nun tatsächlich so geschähe, könnten wir das Buch beruhigt aus der Hand legen, etwas überraschend Neues würde nicht mehr passieren. Aber, und deshalb habe ich ja die Fassung (B) gekennzeichnet, hier liegt eine gutmeinende Überarbeitung in geradezu HAUGscher Manier vor, ein Grund, weshalb ich einige Sentenzen besonders unterstrichen habe. Wir haben es hier mit einer netten Reimfassung des altbekannten Vaterunser zu tun, die ein Redaktor einfügte, der Literatur als Kreuzzugsaufruf mißverstanden wissen wollte. Aus diesem Grund taucht hier ein Gott auf, der bislang gar nicht mitgespielt hatte, und wir dürfen dieses blasphemische mitspielen sogar wörtlich nehmen, denn tatsächlich wird ER im Gregorius und im Parzival eine ROLLE spielen. So nun kommt sein Einsatz zwei Romane zu früh, und entsprechend unpassend und unvereinbar ist sein Auftritt. Denn nicht wider gote wurde gehandelt (Es sei, wir verstün-

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den dies als allgemeinen Gebotsübertritt a là du sollst nicht töten, nur würden dann alle Geschichten bei Golgatha enden, was als literarisches Ausflugsziel ob des einsetzenden Gedränges auf absehbare Zeit ausgebucht wäre), sondern gegen den Kaiser; der ist und bleibt die relevante INSTANZ, weshalb auch er nur vergeben kann, wohingegen Gott nicht plötzlich sein OK geben kann und nach dem Motto wer gibt, dem wird gegeben Ernst seine Ländereien überschreiben darf (Welcher Gelehrte mir nun die vier Finger des Schriftsinnes triumphierend hochhält, dem kann ich nur anagogisch den fünften an die Stirn legen!). Wie heißt es doch so einleuchtend: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und ...! Also, SEIN Reich ist nicht von dieser Welt, Herzog Ernst ist keine Legende, und wir werden sehen, was die älteste Fassung (A) dazu zu sagen hat: ig nemag mig ime langer niet irweren. nu will ig varen over mere ind sûchen dat heilige graf ind wil dâ jâr inde dag an godes dienste sîn. [HE (A). Ich kann ihm (Kaiser) nicht länger standhalten. Ich will nunmehr über das Meer fahren, das Heilige Grab besuchen und den Rest meines Lebens Gott dienen.] Sehen Sie, Ernst erkennt die Zwecklosigkeit weiteren Widerstandes, sieht wohl auch, daß so zumindest die Huld des Kaisers nicht zu bekommen ist, ist entsprechend ratlos und macht nun nichts anderes, als schlicht und ergreifend den Lehnsherrn zu wechseln, der von seiner Unschuld nicht noch überzeugt werden muß. Dies klingt schon eher nach der verschwommenen Motivation, die zu erwarten war. Wir werden übrigens am Ende der Geschichte beobachten können, wie sehr dem Redaktor seine göttliche Motivationskomödie noch purgatorische Mühen auferlegen wird, allein, er wird versagen. Summa summarum wirkt der Entschluß von Ernst mehr wie der vertrautere Gang zur Fremdenlegion, lassen wir ihn ziehen, und beachten wir von nun an ganz genau, was er tut. Auf der nun begonnenen Reise kommt Ernst erst gar nicht in die Verlegenheit, für Glauben, Gott und Grab zu kämpfen, ein Sturm bringt ihn von diesem Pfad ab, und er landet an etwas bizarreren Gestaden. Daran kann aber auch der Redaktor in Fassung (B) nichts ändern, und dafür garniert er jeden Schritt der Helden mit got, durch got und got, daß Dr. Murke seine helle Freude an einer Überarbeitung hätte. Man landet in Grippia, keine Menschenseele ist zu entdecken, statt dessen erblickt man morgenländische Pracht und Luxus. Die ausgemergelten Helden raffen an Speise zusammen, was das Schiff faßt, und fühlen sich wie Schneewittchen, da aber kommen sie, nicht die Zwerge, sondern:

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die wâren an ir lîben, sie waeren junc oder alt, schoene unde wol gestalt an füezen und an henden und in allen enden schoene und hêrlîch, wan hals und houbet was gelîch als den kranichen getân. [HE, 2851 ff. Die waren nun dergestalt, man hätte sie durchaus für jung oder alt, schön und gut gebaut halten können, und an ja beinahe allen Gliedmaßen für edel und einnehmend, hätten nicht Hals und Haupt an einen Kranich erinnert.] Solchermaßen als Chimäre kategorisiert, kann dies keinen ordentlichen Platz in Gottes Schöpfungsplan haben, und tatsächlich, Böses führen sie im Schilde. Sie haben den König von Indien überfallen, getötet, sein Schiff versenkt und nur seine wunderschöne Tochter mitgenommen: diu behielt das leben alleine dâ (der andern einez niht genas, swaz ir in dem Schiffe was) durch die schoene an ir lîbe. dâ wold er sie hân ze wîbe der rîche künec von Grippîâ. [HE, 2908 ff. Die allein wurde wegen ihrer schönen Gestalt verschont, während von den übrigen nicht einer mit dem Leben davonkam, denn der mächtige König von Grippia wollte sie zum Weibe.] Jeder Ornitologe kann Ihnen bestätigen, daß das nicht gut geht; dieses schönste Mädchen auf der Erde denkt gleiches und weint bitterlich. Das dämmert auch Ernst, der bedenkt: sol disiu frouwe wol getan in disem eilende belîben an ir ende daz waere ein wunderlîch geschiht. [HE, 3278 ff. Sollte diese herrliche Jungfrau bis an ihr Lebensende in dieser fremden unpassenden Umgebung bleiben müssen, so wäre dies eine völlig absurde Begebenheit.]

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Dreimal dürfen Sie raten, was nun passiert. - Falsch, voll auf den Leim gegangen; mit der ersten Vermutung liegen Sie zwar noch richtig, aber Sie haben sich natürlich keine Gedanken über die Konsequenzen gemacht! Nun aber der Reihe nach: wir slahen den künic tôt und loesen sie von dirre nôt, dise frouwen wol getân: die bringen wir vil wol dan ê daz sie komen ze wer. [HE, 3303 ff. Wir erschlagen einfach den König und befreien diese herrliche Jungfrau: die haben wir bestimmt in Sicherheit gebracht, ehe sie sich wehren können.] Grundsätzlich wird das auch so gehandhabt, aber Wetzel rät, die Festlichkeiten abzuwarten und den König allein in der Kemenate zu erschlagen (ein Vorgehen, daß sich bei beiden wachsender Beliebtheit zu erfreuen scheint), um die Jungfrau nicht zu gefährden. Kurz und gut, der König wird getötet, und bei Vers 3883 endet diese Episode. Ich bitte all jene um Nachsicht, die mit dieser Geschichte nicht vertraut sind, aber ich kann unmöglich berichten, was danach geschieht. Würde ich es nämlich sofort tun, würde Sie die Erklärung des Geschehens abenteuerlicher anmuten als das Geschehen selbst. Deshalb bitte ich um ein wenig Geduld, lassen Sie sich erst das Folgende erzählen, da es das Vorangegangene erhellt. Im weiteren Verlauf wird Ernstens Mannschaft dezimiert. Erst scheitert man am Magnetberg, wo alle bis auf sechs verhungern. Mit Hilfe des Vogels Greif kann man bis auf einen Mann entrinnen, flößt sich noch einen unterirdischen Strom hinab und landet im Land Arimaspi. Daselbst wird man freundlich aufgenommen, und bis auf die Tatsache, daß jeder der Bewohner nur ein Auge sein eigen nennt, sind sie von ausgesuchter Höflichkeit, Sitte und Anstand. So nett der König von Arimaspi auch ist, er lebt in der ständigen Furcht vor Übergriffen seiner Nachbarn, deren einzig liebenswerte Eigenschaft folgende Stelle beschreibt: sie truogen keiner slahte schuoch. swann ungewiter wolde werden, sô leite er sich ûf die erden: sô hebet er einen fuoz über sich. daz was genuoc wunderlich.

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so im das weter lange war, den andern fuoz hebte er dar, sô im dirre muode wart, alsô wâren sie bewart daz in ze keiner stunde kein weter geschaden künde. [HE, 4678 ff. Sie trugen keinerlei Fußbekleidung (reines Konfektionsproblem). Wann immer aber ein Unwetter heranzog (Für Karl Kraus-Kenner: ..der Abend, der "es" werden will...), legte er sich auf den Boden: sodann legt er einen Fuß über sich. Das ist völlig skurril. Wenn das Gewitter länger dauert, hebt er den zweiten Fuß dorthin, sobald der erste müde ist. Solchermaßen sind sie geschützt, daß ihnen niemals ein Gewitter schaden kann.] Um es kurz zu machen: es geht gegen sie in den Krieg, Herzog Ernst tut sich besonders hervor, man gewinnt, er kann dort seine Zelte aufschlagen und alle bösen Nachbarn besiegen, allen guten Nachbarn im Kampf gegen böse Nachbarn helfen. So geht es gegen die Platthufe, gegen die Langohren, für die kleinen Prechami gegen die Kraniche, dann wieder gegen die Riesen von Kanaan. Nach und nach erweitert Ernst sein Kuriositätenkabinett, und es ist allenfalls erwähnenswert, daß die Pflege, mit der er einen der Riesen aufpäppelt, motivverwandt ist mit Episoden im Eckenlied und im Garel von dem blühenden Tal. Sechs Jahre bleibt er in Arimaspi, und als sich ein Schiff dorthin verirrt, sticht er heimlich in See. Hierauf hilft er dem christlichen König vom Mohrenlande gegen die Heiden von Babylon, er selbst fängt den heidnischen König, der ihm später sicheres Geleit nach Jerusalem gibt. Dort geht es immer wieder siegreich gegen die Heiden, und so vergeht ein weiteres Jahr. Betrachten wir aber nunmehr die Taten Ernstens etwas genauer, so fällt zunächst auf, daß sie sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Die einzige Abwechslung scheint tatsächlich darin zu bestehen, daß Ernst nach und nach seine Chimärenarche füllen kann. Ansonsten aber sind seine Taten das, was man schlicht als Helfertaten bezeichnen kann. Wenn es hingegen bei dieser dürftigen Beschreibung bliebe, wäre die Deutung mithin so platt, daß sie vor Regen schützen könnte. Dann wäre somit der Sinn der Abenteuerfahrt eine Wiedergutmachung im Alibikostüm, denn Otto hat herzlich wenig davon. Hat denn dann wenigstens, so könnten wir fragen, Ernst etwas davon, hat er am Ende etwas gelernt? Das glaube ich nun weniger, er ist der Gleiche wie zuvor, und das wirklich Witzige ist, er tut das Gleiche wie zuvor. Trotzdem, vergessen wir nicht, daß hier der wohl erste Versuch vorliegt, der diese neue Struktur durchspielt, ein Grund mithin, weshalb er so wenig Variierung entfalten kann, trotzdem ist der Weg des Helden paradigmatisch. Ernst setzt nämlich in allen Helfertaten das gleiche Mittel ein. Kampf, Gewalt und Blutvergießen, gemein-

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hin bekannt unter dem Begriff Aktantenschema. Und doch besteht ein erheblicher Unterschied zu seinen Versuchen, sein Recht so gegen Otto durchzusetzen. Erstens nämlich war Otto INSTANZ, von der schon mal gar nichts ertrotzt werden kann, geschweige mit Gewalt. Zweitens hat Ernst durch seinen Krieg Unfriede gebracht. Hier nun sind einige Bedingungen modifiziert: Erstens streitet er hier (Arimaspi etc.) nicht für sich, sondern für andere, was bedeutet, nicht er erwirbt etwas nach gelungener DOMINATION. Zweitens ist er in der Lage, das AKTANTENSCHEMA nutzbringend zu verwenden; was ihm in der Anwendung in eigener Sache zum Schaden gereichte, nicht funktionierte, ja ins Gegenteil ausschlug, kann hier, wo es gilt, Frieden zu schaffen, Recht durchzusetzen, rehabilitiert werden. Nur geht es hier um Recht und Gesetz, das den Charakter eines Objektaktanten hat. Was Ernst hingegen daheim durchsetzen wollte, war sein persönliches Recht, das ihm kein gegnerischer Subjektaktant nahm, sondern eine unangreifbare Instanz entzog. Kurz, das AS als Erwerbsmodus ist modifizierbar in eine Konfrontationsform, wo die Domination einem anderen nützt: ihn rettet, wenn er Objektaktant ist, ihm sichert oder gewinnt, wenn es um Objektaktanten wie Frieden u.a. geht, wohingegen der erfolgreiche Subjektaktant (Ernst) eben nicht das erwirbt, wofür er in der KONFRONTATION dominiert hat. Winner take nothing darf die Devise in diesem Schema lauten, das wir von nun an INDIREKTES AKTANTENSCHEMA (IAS) nennen werden. Dieser etwas kompliziert scheinende Sachverhalt aber ist der Grund, weshalb ich Ihnen das Schicksal der indischen Prinzessin bis hier her vorenthalten zu müssen glaubte. Nicht wahr, etliche von Ihnen dürften mit der Erzähllogik in diesen Geschichten nunmehr so vertraut sein, daß sie völlig richtig schließen mußten, wenn Ernst den König der Kranichköpfe tötet, also über den gegnerischen und unsympathischen Subjektaktanten dominiert, dann hat er ja automatisch die Prinzessin, den Objektaktanten attribuiert. - Völlig richtig, hätte er wohl müssen, ich weiß es aber nicht genau, denn .... sie stirbt beim Befreiungsversuch. Sehn Sie, er darf auf diesem Weg nichts attribuieren, was Objekt irgendwelcher Konfrontationen ist, weil er damit automatisch im AS handelt. Zudem würde ihn jede ATTRIBUTION sozusagen erzählerisch lahmlegen. Sie war ja der Endpunkt in den Brautwerbungsromanen, und wie also sollte er dann an das eigentliche Ziel, die Wiedergewährung der kaiserlichen HULD kommen, wenn er z.B. König von Indien würde. Er würde mit dem AS allerhand erwerben können, nur würde das halt nur seinen Reichtum mehren, nicht aber das, was aus der Ferne zur relevanten Instanz dringt. Wir nähern uns unaufhaltsam dem Ende der Geschichte und damit der Lösung des Knotens. Zuvor jedoch haben wir noch das Problem zu bebändern, das uns der frömmelnde Redaktor in (B) hinterlassen hat. Wie Sie sich erinnern werden, wurde Ernstens Auszug mit Dienst für Gott und Glauben motiviert. Was er im Endeffekt

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tat, ist uns bekannt, daß es mit Gott verdammt wenig zu tun hatte, ist evident. Eines ist in diesem Zusammenhang aber äußerst interessant. Wenn diese getürkten Stellen dem mittelalterlichen Publikum nicht aufgefallen sind, und davon kann man ausgehen, dann haben die tatsächlich geglaubt, der Sinn der Geschichte läge in der gütigen Vermittlung von Gott nach bravem Dienst unter dem Kreuz. Dann aber ist (B) eine Propagandafassung, die eher klerikalen Interessen dient, als daß sie profaner Erzähllogik folgte. Wie nun aber klerikale Interessen mit profaner Erzähllogik kollidierten, zeigt das eigentümlich launische Ende der Geschichte. Vernehmen wir somit das Pendant zum Kreuzzugsaufruf und Gottesdienst: Dem keiser wart alsô nôt, als ez von himele got bôt, durch der künigin Adelheiden bete, daz er im unreht tete, Ernest dem herzogen: und daz in haete verlogen der phalzgrâve Heinrîch. do enbôt im der künic rîch daz er tougenlîche kaeme vür daz rîche: al daz er im haete genomen, daz wolde erm wider lâzen komen und wolde dem tiurlîchen degen alles sîn dinc vergeben und ergetzen immer mit guote: [HE, 5741 ff. Dem Kaiser wurde plötzlich schmerzlich bewußt, wie es ihm GOTT im Himmel gebot und auf Bitten von Königin Adelheid, daß er Herzog Ernst Unrecht getan hatte, und daß ihn der Graf Heinrich verleumdet hatte. Da bot er ihm (Ernst) an, heimlich zurückzukommen. Alles, das er ihm genommen hätte, das wolle er zurückerstatten, und er wolle dem Helden auch alle Untaten vergeben und ihn mit Gütern zufriedenstellen.] Das paßt wie die Faust aufs Auge, sollte uns aber keinen Sand hineinstreuen, denn, wie gesagt, dies rundet lediglich die völlig deplazierte Motivation für den Kreuzzug ab. Solches kommt immerhin auch Ernst zu Ohren, der nun auch glaubt, daß Otto oftmals Gott darum bittet, er möge Ernst zurückschicken. Also reist er zurück, doch statt sofort zum Kaiser zu gehen und zu sagen: "Da bin ich", wird ein seltsames und angesichts des Wunsches des Kaisers, Ernst wiederzusehen, absurdes Spiel während einer Messe inszeniert:

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dise ensumten sich niht mêre: sie kâmen wullen und barfuoz. sie vielen dem künige an sînen fuoz: sîner gnâden sie in bâten. die fürsten dar zuo trâten und manten in sunderlîchen daz er durch got den rîchen und durch sîne marter hêre und durch des heiligen tages êre in sîn hulde lieze hân. "swaz er mir nu hât getân, haete er mir genomen mîn leben, daz sî im durch got vergeben. ich will michs gên im begeben." niht erkande er den degen: er rihte in ûf zuo der stunt und kuste in an sînen munt. des gnâdet er im tugentlîch. do erkande in derfürste rîch, do er im under ougen sach. ez gerou in deiz gesach. [HE, 5922 ff. Die warteten nun nicht länger: Sie waren im härenen Hemd und barfuß (Büßergewand). Sie fielen dem König vor die Füße und erflehten sich seine Gnade. Die Fürsten traten hinzu und gemahnten ihn dazu noch, er möge um Gottes willen, um seiner Leiden und um des heiligen Tages willen ihnen seine HULD gewähren. "Was immer dieser Mensch mir auch angetan hat, und wenn er mir das Leben genommen hätte, es soll ihm um Gottes willen vergeben sein. Ich will ihm gegenüber von allem absehen." Unseren Helden hatte er dabei nicht erkannt. Er hob ihn sogleich auf und küßte seinen Mund. So erwies er sein Wohlwollen auf die vorgeschriebene Weise. Da aber erkannte ihn der Herrscher, als er ihm in die Augen sah. Da bereute er, daß er verziehen hatte.] Das ist, alles zusammengenommen, ein abstruses Verwirrspiel. Erst gebietet Gott Otto, Ernst zu vergeben. Dann gebietet Otto Ernst, zu kommen, komischerweise soll dies heimlich geschehen. Dann kommt Ernst heimlich, Otto vergibt jemandem, erkennt darin Ernst, bereut die Vergebung und muß von den Fürsten an die Einhaltung der Schwurzeremonie erinnert werden. Dann aber ist alles wieder eitel Sonnenschein. Wir wollen erst gar nicht versuchen, die Gründe für dieses Hin und Her in Ottos Psyche zu suchen, denn es gibt sie so wenig wie ihn. Wir wollen dies auch nicht, wie

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mein Prof., auf Defizite bei dem Erzähler zurückführen, der nicht das Ganze im Blick hatte, sondern nur den zu gestaltenden Abschnitt, weil ich nicht so schielend argumentieren kann und weil ich solches für die selbstsicherste Möglichkeit halte, auf seinen hohlen Kopf zu pochen. Wieder also der alte Vorwurf, die Geschichten seien zusammengestückelt, nicht durchdacht, seien ohne Sinn aneinandergereihte Episoden. Dieses aber kann man ziemlich sicher konstatieren. Die Einschränkung, Ernst solle heimlich zurückkommen, ist eine vorverlegte Paraphrase dessen, was Ernst in einer älteren Fassung tatsächlich tut. Niemals ist in einer älteren Fassung im voraus Verzeihung gewährt worden, die Rückkehr erbeten worden, oder gar von GOTT irgendwas befohlen worden. Tatsächlich ist das Ende so rekonstruierbar: Ernst kommt heimlich und unerkannt ins Reich zurück. Mit Hilfe der Mutter und einiger Fürsten will man während einer Messe Vergebung erwirken, denn inzwischen hat sich im Reich herumgesprochen, was für Taten Ernst vollbracht hat. Unerkannt wird sie gewährt. Kaum wiedererkannt, will der Kaiser dem Begnadigten seine Gnade entziehen, weil er sich gefoppt fühlt. Am Ende aber steht er zu seinem Wort und muß es nicht bereuen, weil Ernst seine Gnade nach allem, was er in der Ferne geleistet hat, letztendlich ja auch verdient. Interessant ist es nun, wie auch hier wieder das Motiv des Nicht-Wiederer-kennens zum Zuge kommt, nur daß es etwas anders funktioniert und überdies im höfischen Roman eine tragende Funktion hat. Es ist hier nämlich genau anders herum: Erst wird einem Unbekannten die Huld gewährt, dann erkennt man ihn, und dann endlich dürfen seine Taten für ihn sprechen, die für Otto wie für das Publikum die verliehene Huld in gewisser Weise legitimieren. Es ist sogar gut möglich, daß die Abenteuer und Taten Ernstens im Reich bekannt wurden, aber es war erzähltechnisch einfach nötig, den Konnex zwischen wiedergewährter Huld (FS) und den Taten, die dies zu legitimieren scheinen (IAS), auf keinen fall als direktes Ursache-Wirkung-Verhältnis darzustellen, denn sonst würden Huld und Gnade am Ende doch als etwas erscheinen, was mit dem richtigen Modus erwerbbar ist. Eigentlich aber ist das IAS nämlich nur eine Art Eskapismus aus der Lethargie, eine Möglichkeit, das Ritterethos nach Versagen des AS zu restaurieren und immerhin eine Brücke herzustellen zwischen Krise (FS-) und Huld (FS). Das ist der Grund, weshalb in dieser Situation einmal nicht die Taten für den bekannten Ritter sprechen dürfen. Wir werden spätestens im Iwein sehen, welch unglaublich wichtige Rolle dieser Sachverhalt noch spielen wird. Um es unmißverständlich klarzumachen: Ernst muß unerkannt Verzeihung erlangen, damit nicht der Eindruck entsteht, seine Taten (die ich nicht umsonst indirekt tituliert habe [IAS]) seien die direkte Ursache dafür. Später werden wir sehen, was die Ritter anstellen müssen, wenn doch die Taten sprechen müssen (dann müssen die Taten anonym vollbracht werden, damit sie nicht

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mit dem Protagonisten in Verbindung gebracht werden können). Damit sieht das Schema des Herzog Ernst wie folgt aus: FS > KRISE(FS-) > {AS} > IAS > IAS > IAS > FS Untermauert wird die INDIREKTHEIT des Verfahrens schließlich auch durch die topographische Ferne und kulturelle Fremdheit der Gegend, da der Held seine Taten vollbringt. Diese Gegenden sind so vollkommen anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, daß alles, was dort geschieht, eben in keiner Weise einen Zusammenhang bedeuten kann und will mit dem, was zuvor im Kreise der INSTANZ geschah. Diese Gegenden sind erkennbare erzähllogische Konstruktion, insofern sie dem Helden Erfolg für gerade die Methoden garantieren, die angesichts seines individuellen Problems versagten, sie sind zudem dergestalt, daß sie trotz allem nicht zum Verweilen einladen, mithin keine Möglichkeit bieten, sein Glück zu machen, eine Einäugige oder eine Langohrige zu ehelichen und sich zur Ruhe zu setzen. Im Gegenteil, Unruhe ist Kennzeichen dieses Weges in der kulturellen Anökumene. Eines aber dürfte trotz aller Ferne garantiert sein: Wir hören von unserem Helden, denn anders als im Lanval ist die INSTANZ von dieser Welt, wohingegen nun die Taten in Entrückung geschehen, nur eben nicht so weit weg, daß von dem Helden nichts mehr zu erzählen bliebe. Es wird hiernach ein halbes Jahrtausend währen, bis eine bunt zusammengewürfelte Rotte Menschen eine literarische Fiktion zu ihrem geopolitischen und heilgeschichtlichen Credo verunstalten wird, deren nur vorläufiger Höhepunkt ein Führer war, der eine politische Sendung mit einem Drehbuch aus Durch-haltefilmen geradezu epidemisch verwechselt. Es ist ein Land, wo der Traum jedes Ziel legitimiert und wo das Erwachen jedes Mittel zum Alptraum werden läßt. Es ist das Land der märchenhaften Reichtümer, mit dem man den Pöbel lockte, das Land, wo alle Straßen mit Gold gepflastert sein sollten. Wer kam, mußte drei Dinge erkennen. Erstens waren die Straßen nicht mit Gold gepflastert, zweitens gab es keinerlei Straßen und drittens mußte man sie selbst pflastern. Bleibt mir die traurige Mahnung an all jene, mit denen man sie pflasterte. Es ist das Land, dessen Mythos die Ausbreitung von Recht und Gesetz in der unaufhaltsamen Frontier war, das Land, wo die Segnungen des Sechsschüssers final den Schnellsten in anachronistischer Manier als den Gerechten sanktionierten, das Land, das, gefüllt mit kulturell Enterbten, den Gesetzlosen als Reinkarnation des Chevalier errant begriff und so durch seine literarische Produktivität letztlich nichts anderes unter Beweis stellte, als daß man überlebensfähig bleibt, wenn man Literatur zwar nicht versteht, sie aber als probates Rezeptbuch für aktuelles Handeln deutet, womit wir wieder bei der Forschungsmethode der mediävistischen Literaturwissenschaft wären. Denn zu keinem anderen mittelalterlichen höfischen Roman hat man solche Mengen an unfaßbar makabren, an un-

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glaublich impotenten, an unerträglich ertragslosen Deutungen verfaßt wie zu HARTMANNs VON AUE Erec.

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EREC oder Ein Macho mit vorlauter Konkubine? Wie am Herzog Ernst deutlich wurde, hatte sich zwar der ritterliche Umweg etabliert, aber wo, bitte schön, werden Sie mit Recht fragen, wo bleibt das, was wir aus dem Mittelalter ausschließlich zu kennen glauben, das, was als Sammelbegriff der mittelalterlichen Literatur schlechthin gilt, die MINNE. Wir hatten ja im Herzog Ernst die traurige Erfahrung machen müssen, daß dieser werte Ritter mit ihr so wenig am Hut hat, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke blieb. Seien Sie getrost, das soll uns hinfort nicht mehr zustoßen, von nun an nämlich ist die deutsche Literatur kongeniale Schülerin französischer Minnekultur. Der wichtigste Lehrer ist CHRESTIEN DE TROYES, seine besten Hausaufgaben sind Erec et Enide, Yvain ou Le Chevalier au Lion, Cligés, Lancelot oder Le Chevalier de la Charrete sowie Perceval oder Le Conte du Graal. Als Einleitung wäre ich um ein Haar versucht, Ihnen HEINEs Bemerkungen zu diesen Romanen aus Der romantischen Schule zu präsentieren, allein die folgende Einsicht hält mich davon ab. HEINE war selbst nur Kind seiner Zeit, selbst noch halber Romantiker, wer wollte es ihm verübeln, daß er diese Literatur mit dem Herzen las, nicht mit dem Verstand. Nun will es das unbeugsame Schicksal, daß HEINEs Erkenntnisse insgesamt, nur sprachlich reifer, die sterilen Fortschritte bis heute umreißen. Da ich es aber auf jeden Fall vermeiden möchte, meinen über alles geliebten HEINE ungewollt in die verdiente Prügel für die miteinzubeziehen, die nach ihm nichts Bemerkenswertes mehr zustande brachten, mag ich ihn nicht einmal als Meßlatte für 150 Jahre gediehene akademische Verwahrlosung mißbrauchen. Wir aber wenden uns dem ARTUSROMAN zu und seinem ersten Vertreter auf mittelalterlichem deutschen Boden. Wie schon erwähnt, fehlt uns zu diesem Roman der Prolog, anderen Leuten fehlt es aber nicht an naivster Phantasie, darin geheimnisvolle Verweise auf den Inhalt zu erkennen, vergessen wir die ganz schnell wieder, und tun wir das gleiche wie unsere einzige Quelle, gehen wir in medias res. Der Königssohn Erec befindet sich am Hof des Königs Artus in einer Art Internat für höfische Zucht und Sitte. Wie viele andere harrt er einer Gelegenheit, seine erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an die Frau zu bringen. Wenig vielversprechend scheint ihm die Teilnahme an der Jagd auf den weißen Hirsch, der seinem Bezwinger neben der Trophäe auch einen Freikuß an der schönsten Dame einbringt. Dies ist zwar eine Übernahme aus keltischen Kupplungs- und Fruchtbarkeitsriten, nichtsdestoweniger aber lediglich als schmückendes Motiv, mitnichten jedoch symbolische Chiffre für bislang unverstandene Romane, dann könnte ja jeder Jägersmann daherkommen und uns so einen Roman mal kurzerschossen erklären.

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Nein, Erec hat, nichts anderes zeigt der Verzicht auf Teilnahme, entweder mit Frauen gar nichts im Sinn, hat am Ende noch gar nicht geübt, was ihn vor versammelter Tafelrunde bei einem Kußpatzer für immer blamieren würde, oder er findet keine adrett genug, sie durch einen Kuß auszuzeichnen. Kurz, er begleitet Königin Ginover nebst Zofe (allein wäre es undenkbar) auf einem Spazierritt. Auf einer Heide sichtet man einen Ritter in voller Kriegsbekleidung, begleitet von einem Zwerg und einer schönen Dame. Kennenlernen wolle sie sie, meint Ginover, und schickt die Zofe. Der Zwerg ist ein Datenschützer, verrät nichts und schlägt die Ärmste mit der Peitsche. Das macht die Sache nur interessanter, aber auch Erec, zudem unbewaffnet, kommt am Zwerg und seiner Peitsche nicht vorbei. Er kann sich aber mangels Waffen keine Genugtuung verschaffen, läßt Ginover zurückreiten und verfolgt nun den Ritter, eine Gelegenheit suchend, ihm das heimzuzahlen. In einer Stadt wird er von einem freundlichen, völlig verarmten Grafen aufgenommen, der ihn über das Gewerb des Ritters (Ider) aufklären kann. Der kommt alle Jahre wieder zu einem Turnier, wo man einen Sperber gewinnen kann. Dieser ist nur für die schönste Dame bestimmt, aber, und das ist der ganze Witz dabei, über den jeweiligen Geschmack muß man streiten. Ästhetik war also schon damals etwas, das wie heute von Lautstarken eingebläut wird, Iders Dame hätte Cundries Schwester sein können, sie hätte den Vogel abgeschossen, wie zweimal bewiesen, da sich niemand an den guten Geschmack des Herrn Ider zu appellieren traute. Alles, was Erec nun für seine Genugtuung benötigt, ist eine Dame, und da seine Rache gerechtfertigt ist, darf sie viel schöner sein als die von Ider, und eine Rüstung. Beides stellt ihm der Graf zur Verfügung, und Erec verspricht Enite die Ehe. Am nächsten Tag erscheint man beim Turnier, Ider, Widerspruch nicht gewöhnt, reitet zum Sperber, um ihn seiner Dame zu bringen, da meldet sich Erec und bittet ihn, den Vogel mit dem Anblick dieser Frau nicht scheu zu machen. Der Wechselrede Ergebnis ist der Kampf, dessen Ergebnis der Sieg Erecs, Ider bittet um sein Leben, und Erec setzt ihm auseinander, wie er es behalten kann, kurz, die Überheblichen werden gedemütigt, der Nobody hat sich erfolgreich gerächt und seine persönliche Ehre verteidigt. Damit ist diese Ehre als Objekt-aktant beschreibbar, die gesamte Tat mithin als ein Aktantenschema. Erfolgreich kehrt Erec an den Artushof zurück, und da Enite das wirklich wunderschönste Mädchen ist, müssen wir uns nicht wundern, daß Artus, der den weißen Hirsch erlegt hat, dies eindrücklich unter Beweis stellt, und daß Erec sich nach dem Hochzeitsfest nur noch von Enite erhebt, um die Messe zu hören und Essen zu fassen. Eines Tages, Erec erholt sich etwas, hört er Enite mit halbem Ohr jammern. Er will den Grund hören und erfährt, daß er seine Ehre verloren habe, weil er keine ritterlichen Taten mehr begehe und was zum Pensum der Ritter noch so gehören mag, kurz, ihn trifft der Vorwurf des verligen. Das trifft ihn tief, und kurzentschlossen befiehlt er Enite, sich zu kleiden mit dem besten, das sie hat, er selbst ruft:

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Nu brinc mir her vil balde mîn ros, mîn îsengewant Das ist natürlich DER VON KÜRENBERG, aber er paßte grad so gut. Tatsächlich heißt es bei HARTMANN: er jach er wolde rîten ûz kurzwîlen. des begunden si dô îlen, dô wâpnete er sich verholne unde truoc verstolne under der wât sîn îsengewant. sînen helm er ûf bant überz houbet alsô blôz. sîn vlîz was ze helne grôz: [...] dô enwas aber niemen der sich des mohte verstân wie sin gemüete was getân. abe einer wende nam er beide schilt unde sper und begunde kroiieren, als er wolde bûhurdieren. [EREC, 3061 ff. Er erklärte, er wolle der Abwechslung halber ausreiten. Da beeilte man sich gern. Da aber rüstete er sich heimlich und versteckte seine Rüstung unter der Kleidung. Seinen Helm setzte er sogar auf das bloße Haupt (Da spürt man jeden Hieb). Mit größter Sorgfalt verheimlichte er alles. (...) Da war aber auch nicht einer, der seine Absicht durchschaut hätte. Von der Wand nahm er Schild und Speer und begann ein Kriegsgeschrei, als ginge es auf ein Turnier.] Mit der Zusicherung, zur Vesper zurück zu sein, geht es in den Wald. Dort macht er Enite eine Auflage, die seither die geschwätzigsten Gelahrten auf den Plan rief, Enite sozusagen durch ihre dusselige Schwafelei zu dispensieren: mit solher rede er ûz reit und gebôt sînem wîbe niuwan bî dem lîbe, der schoenen vrouwen Enîten, daz si muoste vür rîten, und verbôt ir dâ zestunt

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daz ze sprechenne ir munt zer reise iht ûf kaeme, swaz si vernaeme oder swaz si gesaehe. dise kumberlîche spaehe muoste si geloben dô wan si vorhte sîne drô. [EREC 3093 ff. Mit diesen Worten ritt er los und befahl seiner schönen Frau bei nicht weniger als ihrem Leben, ihm voranzureiten, verbot ihr zugleich, ihren Mund während der Reise zum Sprechen aufzumachen (Luftholen ist erlaubt), was immer sie höre oder sehe. Diese befremdliche Verhaltensweise mußte sie aber befolgen, denn sie nahm seine Drohung ernst.] Alles, was uns der Erzähler lapidar zum Vorhaben Erecs bescheidet, ist dieser poetische Eindruck: schône schein der mâne. nâch âventiure wâne reit der guote kneht Erec. [EREC, 3110 ff. Der Mond hatte alles in sein weiches Licht getaucht. Nach âventiure wâne sehen wir den braven Ritter Erec unterwegs. (Nein, schelten Sie mich nicht wegen der fehlenden Übersetzung, denn dies ist der Komplementärbegriff zum Buchtitel und damit noch nicht verstehbar!)] Trennen wir uns kurz von dem schweigenden Paar in der blauen Mondnacht, sie werden sowieso zu spät zur Vesper kommen. Von dem Moment an, da Erec aus dem Bett aufs Pferd sprang, Order gab und in den Mondaufgang ritt, sind nach meiner Uhr nicht mehr als drei, höchstens aber vier Stunden vergangen. Von dem Moment, da sich der erste weltferne Gelehrte an die Deutung dieses sonderbaren Aufbruchs machte, mögen über hundert Jahre ins Land gegangen sein. Seitdem geistert Erec, einem Gespenste gleich, unerlöst durch die spärlich erleuchteten Mondnächte, reitet nach âventiure wâne, und niemand gibt ihm den verdienten Seelenfrieden, der âventiure meine! So reitet und rittert er noch heut durch die verworrenen Romanpläne triefiger LW, trabt er mutlos durch den wirr gesteckten Parcours vernagelter Filologen, müde sind Ross und Reiter, die Ehe ist zerrüttet und unser Held eine verkrachte Existenz. Ach, lieber hätte er verschollen bleiben mögen, als nun solcherart den Spott einer Geisteswissenschaft ohnmächtig über sich ergehen lassen zu müssen, wie dereinst den Geißelstreich des anderen miesen Zwerges. Wizze got, lieber Leser, nichts rechtfertigt diese Dauerfolter, fröhlich draufgehauen, frisch ans Werk, helfen wir Erec aus der Motivationspatsche, befreien wir

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ihn aus der zweckentfremdeten Zwangsjacke der Wissenschaftler, und bitten wir mit WIELAND die geknebelte Muse um Nachsicht und Humor: Von irrenden Rittern und wandernden Schönen Sing, komische Muse, in freier irrenden Tönen! Rekapitulieren wir, was wir an Informationen haben, welche Informationen uns der Autor durch seinen Erzähler, und welche er uns durch seine Figuren gibt, aber vergessen wir NIE, dahinter steht immer HARTMANN mit einem Augenzwinkern und denkt nicht daran, uns den SINN seines Werkes zu verraten. Wir sind nur so schlau wie Enite, und die versteht begreiflicherweise die Welt nicht mehr. Die Forschung glaubt aber Enite aufs Wort und ist mithin der festen Überzeugung, ihr Vorwurf des verligen sei der wahre Grund und Auslöser für das nun stattfindende Gegenteil. Gestützt wird diese Annahme der Wissenschaft durch jemanden, der somit als der Urvater der Mediävistik gelten muß, als der, von dem es heißen darf: ich waene, er sîne wîsheit ûz Pegases urspringe nam von dem diu wîsheit elliu kam. ine hân sîn selbe niht gesehen; nu hoere ich aber die besten jehen die, die bî sînen jâren und sît her meister wâren, die gebent im einen prîs: er inpfete daz erste rîs von tiutischer zungen witze. [Ich meine fast, er schöpfte seine Weisheit aus dem Pegasus (Sinnbild dichterischer Phantasie), dem Quell jeglicher Weisheit. Selbst habe ich ihn zwar nicht kennengelernt, aber alle, die seinerzeit und heutzutage hochgelehrt waren, erkennen ihm den Ehrenplatz zu: Er nämlich legte den ersten zarten Keim der Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur. (Da es sich hier um eine kleine Parodie handelt, kann sie nicht mit TRISTAN 4730 ff. gekennzeichnet werden.)] Dieser Stammvater aller so eifrig weitergehegter Irrtümer gab eines Tages einem Freund einen guten Rat, und während den Filologen dieser Rat teuer ist, kommt er die schlecht Beratenen teuer zu stehen. Wir werden dies im nächsten Kapitel genau erfahren, hier will ich nur an meine Ausführungen in der Einleitung erinnern und nun den ersten Mediävisten selbst zu Wort kommen lassen:

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geselle, behüetet daz enzît daz ir iht in ir schulden sît die des werden gezigen daz sî sich durch ir wîp verligen. kêrt ez niht allez an gemach; als dem Hern Erecke geschach, der sich auch alsô manegen tac durch vrouwen Eniîen verlac. wan daz er sichs erholte sît als ein rîter solte, sô waere vervarn sîn êre. der minnete ze sêre. Ir hât des iuch genüegen sol: dar under lêr ich iuch wol iuwer êre bewrnm. ir sult mit uns von hinnen varn: wir suln turnieren als ê. mir tout anders iemer wê daz ich iuwer künde hân, sol iuwer rîterschaft zergân. [IWEIN, 2786 ff. Freund, verhindert rechtzeitig, daß Ihr Euch etwa dem gleichen Verdacht aussetzt, des die bezichtigt werden, die um ihres Weibes willen Müßiggang treiben. Betreibt nicht ausschließlich Biederkeit, wie es Herr Erec zu tun pflegte, der etliche Zeit wegen seiner Gattin Enite auf der faulen Haut lag. Hätte er sich nicht eines Besseren besonnen und ritterlicher Pflicht genügt, so hätte er sein Ansehen ruiniert. Der war sprichwörtlich liebestoll. Ihr habt Euch nun reichlich Befriedigung verschafft: Unter dieser Voraussetzung rate ich Euch, die Ehre nicht aus den Augen zu verlieren. Schließt Euch uns an, dann werden wir wie früher von Turnier zu Turnier pilgern. Andernfalls würde ich mich mein Leben lang schämen, daß ich Euch kenne, falls Euer Ritterruhm vergeht.] Nun, der da spricht, der da wiewohl gutgemeinten Rat erteilt, ist Gawein, Musterritter der Tafelrunde, aber ein notorischer Junggeselle, Schürzenjäger, Turnierschreck, kurz, ein Hans Dampf in allen Gossen! Nun will ich um Himmels willen nicht psychologisch argumentieren und gar behaupten, so einer tauge nichts und sein Rat schon mal gar nicht: - Weit gefehlt, was ich Ihnen hier unterbreitet habe, ist das literarisierte Bild dieser einzigen Figur im Mittelalter, die als Unruhepol durch beinahe sämtliche Artusromane geistert, als höfische Chiffre derart flexibel bleibt, daß er mehrere Frauen heiraten kann, ohne nun für einen nächsten Auftritt gebunden zu sein. Das bedeutet, daß das höfische Publikum ihn als erzähltechnischen Ausputzer,

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nicht als Figur mit nachvollziehbarer Vita gesehen haben muß, bis HEINRICH VON DEM TÜRLIN ihm in Diu Crône einen Protagonistenplatz einräumt. Wie wir noch sehen werden, taugt sein Rat nichts; wie wir hier zeigen werden, seine Erec-Deutung (die ihm natürlich HARTMANN in den Mund legt) noch weniger. Dennoch, Generationen von Gelehrten haben hinter ihrem Brett immer nur auf diese Äußerung geschielt, haben diesem Eulenspiegel brav vertraut und belehren nun die Lehrer Ihrer Kinder. Und haben die mittelalterlichen Zuhörer noch herzlich über solche Schoten gelacht, so wäre bei der heutigen Sachlage selbst ein Gawein verblüfft ob des Ernstes, mit dem man ihm begegnet. Machen wir uns jetzt aber einmal klar, was es bedeutete, wenn Gawein und unsere Gelahrten recht behielten. Dann wäre das ritterliche Abenteuer doch eine ritualisierte Ersatzhandlung für zu eifriges Sexualgebaren. Dann ginge es im Artusroman am Ende gar um den prälutherischen Ratgeber in Sachen Sex und Beruf, um sichere Auskunft hinsichtlich des großen Menschheitsproblems: WIE OFT?! Wenn aber das Turnier eine Art vorbeugende Therapie darstellt, wie uns dieser freundliche Herr glauben machen will, wieso hilft es erstens Iwein nicht, und wieso geht Erec nicht aufs nächste Turnier, weshalb tut er so heimlich, weshalb nimmt er überhaupt Enite mit, weshalb soll sie gar vorausreiten und weshalb schließlich bekommt sie Redeverbot? Alles Fragen, die unsere Gelahrten entweder übersehen oder völlig ausgerastet beantwortet haben, weshalb diese Deutungen so sehr verstandesgefährdend sind, daß ich hier nicht die Verantwortung übernehmen mag, sie auch nur dem Titel nach zu nennen. Deutlich wird in der tristen Alternative zwischen Weib und Pferd aber einmal mehr das Erbe der Romantik, die Posthornferne und das Kuschelzimmer a la EICHENDORFF: Der erste, der fand ein Liebchen, Die Schwieger kauft' Hof und Haus; Der wiegte gar bald ein Bübchen, Und schaute aus heimlichem Stübchen Behaglich ins Feld hinaus. Dem zweiten sangen und logen Die tausend Stimmen im Grund Verlockend' Sirenen, und zogen Ihn in der buhlend Wogen Farbig klingenden Schlund. [EICHENDORFF, Die zwei Gesellen (Ausschnitt)] So unerreicht vollkommen die Lyrik Eichendorffs einen Begriff von Ferne und dem Sog von Weite gibt, so gehört derlei Gedankengut doch mitnichten in den höfischen

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Roman, und noch deplazierter ist das alles in sogenannter Forschungsliteratur. Bevor wir aber das Geheimnis um Erecs Aufbruch lüften, der ja durchaus einen Plan verfogt, wollen wir uns seine ersten vier Abenteuer anschauen, dann wird entweder von selbst klar, was Erecs Absicht ist, oder ich kann es wenigstens besser beweisen. nû wîste si der wec : in einen kreftigen walt: den hâten mit gewalt drîe roubaere. deiswâr swer in waere zuo den zîten widerriten dem si möhten hân gestriten sô hâten si den wec behuot daz si im umbe daz guot naemen êre unde lîp. [EREC, 3113 ff. Nun führte sie der Weg in einen gewaltigen Wald: Dort eben trieben drei Räuber ihr Unwesen. Wahrlich, wer immer ihnen damals begegnet wäre, dem sie überlegen waren, dem hätten sie die Weiterfahrt verhindert, damit sie ihm wegen seiner Habe Leben und Ehre nehmen könnten.] Enite gerät in Gewissensnot, endlich aber warnt sie Erec. Die Räuber indes frohlocken wegen der probablen Beute und verteilen sie schon einmal unter sich. Der erste Räuber will bloß die Frau und reitet als erster gegen Erec. Erec tötet ihn wie die übrigen, wendet sich gegen Enite, die sein Gebot mißachtete, vergibt ihr für dieses Mal noch und läßt sie, zur Strafe, wie es heißt, die Pferde führen. Doch schon lauern nunmehr fünf Räuber, die ihre Beute begutachten: si vüeret driu ros an der hant: si ist, hân ich ez rehte erkant, dem ambet ungezaeme. mich wundert wâ er naeme sô seltsaenen schiltknecht. man sol si im nemen, daz ist reht. als ich ez verre mac gespehen, ich enhân nie schoener wîp gesehen. ir herren, die sult ir mir lân, wan ich si von êrste ersehen hân. [EREC, 3326 ff. Drei Rösser führt sie am Zaum, und wenn ich mich nicht irre, ist sie für derlei Aufgaben ungeeignet. Ich frage mich, wo er (Erec) so seltsame Schildknappen rekrutiert. Dann ist es nur recht, wenn man sie ihm nimmt. Wie ich es aus

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dieser Entfernung beurteilen kann, habe ich nämlich nie eine schönere Frau gesehen. Meine Herrn, die gehört mir, denn ich habe sie zuerst gesehen.] Wieder kann sich Enite nicht zurückhalten und plärrt eine Warnung hinaus. Da kommt schon der erste, den Erec sogleich erlegt. Die übrigen folgen jeweils in kurzen Abständen. Und wieder faucht Erec sein Weib an, weil sie nicht den Mund halten konnte, läßt sie sinnvollerweise aber leben und gibt ihr nunmehr acht Pferde zur Aufsicht. Kaum dem Wald entronnen, lehnt er die Gastfreundschaft eines Grafen ab und kehrt in einem Gasthaus ein. Der kennt das seltsame Gebaren Erecs von einem Knappen, der beiden vor dem Wald begegnete. Dieser fragte Erec, ob er Enite die Pferde führen dürfe, und erhielt dies zur Antwort: Erec sprach: "knabe, daz sult ir lân. jâ enist ez doch niht getân garwe âne sache. si muoz mit ungemache leben ze disen zîten." [EREC, 3590 ff . Erec erwiderte: "Knappe, das könnt Ihr schön bleiben lassen. Ich werde schon meine Gründe dafür haben. Sie muß momentan nun mal eben Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen." (Erwarten Sie bitte nicht, daß Erec irgendjemanden über die Gründe aufklärt.)] So informiert, wundert sich der Graf dennoch, daß beide im Gasthof an getrennten Tischen sitzen. Zuvor jedoch war er schon in begehrlicher Liebe zu Enite entbrannt, und er beschließt nun, Enite abspenstig zu machen. Im Glauben, auf dankbar offene Ohren zu stoßen, beklagt er ihr Unglück und bietet ihr Ehe und Habe, macht ihr jedoch auch gleich deutlich, daß er eine härtere Gangart einschlagen kann. Enite ist sogleich wieder in Sorge um Erec und bittet sich eine Nacht Bedenkzeit aus, doch nur mit dem Hintergedanken, Erec mal wieder zu warnen. Der ist wieder stinksauer auf Enite, und so langsam keimt in uns der Verdacht auf, daß er Enite wie einen Spielverderber behandelt. Interessant ist aber die Geschichte, die Enite dem Grafen aufbindet, die enthält nämlich alle Elemente, die so recht in Erecs Konzept passen würden: Raub vom Hof ihres Vaters, Mißhandlungen, so schlimm, daß Erec das Land verlassen mußte. Na, wenn das keine Extraeinladung ist. Als Erec Enitens Warnung vernimmt, scheint es ihm klüger, in der Grafschaft voller Feinde nicht zu bleiben. Sie fliehen, werden eingeholt, es kommt zum Kampf, Erec verwundet den in der Hast nur spärlich gerüsteten Grafen und tötet sechs seiner Männer, bevor sie von ihm ablassen. Während der Flucht hatte Enite ihren Mann

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wiederum vor den nahenden Feinden gewarnt, Erec reißt so langsam der Geduldsfaden, und Enite verspricht wie üblich Besserung: "Ach!" - rief sie - "Ach! Ich will es nun Auch ganz gewiß nicht wieder tun!" Sie tut es wieder und warnt Erec vor einem kleinen, aber sehr tapferen Mann. Zwar gibt auch hier der Erzähler vor, Erec habe daran ihre Treue erkannt, aber erstens steht Enite nach all ihrem Geplapper weniger zur Diskussion als ihr Gedächtnis und zweitens ist diese Warnung, wie wir sehen werden, noch überflüssiger als die vorangegangenen. Der kleine Mann versteht sich nämlich nicht nur auf höfische Sitte, er ist auch ein ausgezeichneter Beobachter, aber lesen Sie selbst: nû gruozte er vrouwen Enîten. als er Erecke sô nâhen kam daz er sîniu wort vernam, er sprach: "willekomen, herre, ir nâhen oder verre in disiu lant geriten sît, mich bedunket âne strît, ir muget wol ein degen sîn. daz ist an zwein dingen schîn: ir vüeret, sam mir mîn lîp, daz aller schoeniste wîp der ich ie künde gewan: wer gaebe die einem boesen man? dar zuo sît ir gewâfent wol, als ein ritter sol der ze deheinen stunden werlôs enwil werden vunden und der âventiure suochet." [EREC, 4323 ff. Dann entbot er der Dame Enite seinen Gruß. Als er Erec nahe genug gekommen war, daß er ihn verstehen konnte, sprach er: "Seid mir willkommen, Herr, woher ihr auch seid, ich sehe nämlich sofort, daß Ihr ein edler Held seid. Dies läßt sich an zwei Umständen unschwer erkennen: Ihr seid, bei meinem Leben, in Begleitung einer Dame, wie ich sie schöner nie kennengelernt habe: Wer vertraute die einem Schurken an? Zudem seid Ihr so ausgezeichnet gerüstet wie nur ein Ritter, der sich nicht einen Moment eine Blöße geben mag und der âventiure sucht."]

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Vollkommen ins Schwarze getroffen, in einem Punkt aber irrt er. Er bietet Erec einen Zweikampf, der den Ruhm des Gewinners mehrt. Erec aber will nicht! Erst, als der Kleine ihn bei seiner Ehre packt, erklärt er sich bereit: wert iuch durch iuwer schoenez wîp, welt ir behalten den lîp . [EREC, 4376 f. Nun kämpft doch wenigstens um Eurer schönen Frau willen (nicht „um Eure Frau“!!!), wenn Ihr nicht das Leben verlieren wollt.] Kurz, der Kleine verliert nach schwerem Kampf, beide sind verletzt. Der Kleine gibt sich also geschlagen und nennt seinen Namen, Guivreiz le pîtiz nennt man ihn, er ist König von Irland. Erec, so heißt es weiter, nahm ihn nicht zum Vasallen, statt dessen wird Freundschaft geschlossen. Das nun waren die angekündigten vier Episoden. Wer sich inzwischen mit den Schemata auskennt, weiß zumindest, was passiert ist, weniger hingegen, weshalb es so und nicht anders geschehen mußte. Räumen wir zunächst mit dem wichtigsten Vorurteil auf: Das verligen ist nicht das Manko, das Erec wettmachen will. Es ist eine Pseudo-motivation des Autors, wie immer an solchen Stellen, wo er mit dem wahren Grund dem Fortgang der Geschichte die Spannung nehmen würde. Da muß einfach ein nicht allzu abwegiger Anlaß her. Das gleiche betrifft die Vorgehensweise Erecs. Erzähler und Erec bewahren bewußt Stillschweigen, denn mit der Preisgabe des Planes wäre das Ziel eben auch schon evident, kein Grund mehr mithin, sich durch rund 10.000 Verse zu arbeiten. Deshalb erfahren wir nichts, aber auch rein gar nichts über den Grund von Erecs KRISE und seinen Weg aus ihr heraus. Fragen wir uns nun lieber, wie seine KRISE aussieht und wie sie begründbar ist, und lesen wir es ab an den Taten, die Erec begeht. Da wäre zunächst einmal die ausstaffierte Enite, die kein Wort reden darf. Ach, und schon plaudern die alten Gelehrten aus der Schule, was ihnen darin strengstens untersagt war, das muß die Strafe sein, weil Enite das mit dem verligen rausgerutscht ist, "Oh Enite, si tacuisses!", jammern die Mantelsäcke, hätte ich doch in der oder jener Prüfung auch das Maul gehalten, usw. usw.. Auch ihre Treue soll nicht getestet werden, wozu denn überhaupt? Was hätte sie davon, unter die Räuber zu fallen, das ist doch keine Frage der Treue. Seltsamerweise, und dies ist geradezu einmalig im höfischen Roman, weckt die niedliche Enite aber auch ständig die Begehrlichkeit anderer. Das ist so ungewöhnlich, daß es schon guter Gründe bedarf, und richtig, schön ist sie, aber wir werden bald merken, daß jede Protagonistin derart hyperbolisch beschrieben wird. Etwas anderes ist der Grund, als da wären, ihr Aufzug, die räumliche Trennung vom Mann, die fehlende Kommunikation und Vertrautheit, die Behandlung als Knecht und als Mätresse.

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All das soll bei anderen die Begehrlichkeit wecken, soll den Eindruck vermitteln, man sei nicht fest gebunden. Damit ist es raus: Erec macht aus ihr einen Lockvogel, er stellt sie zur Disposition und muß sie dadurch ständig neu verteidigen, neu erwerben, den Erwerb festigen und legitimieren. Abgesehen davon, daß Erec keiner Warnung bedarf, Enitens Verhalten zeigt amüsanterweise nämlich genau das Defizit an, das in ihrer Beziehung besteht! Erinnern wir uns doch, was damals bei dem Sperberkampf geschah: Erec erwarb im Aktantenschema lediglich seine verlorene persönliche Ehre zurück (die allgemeine war's nicht, die kann nur verliehen und entzogen werden) und stellte vielleicht noch nebenbei klar, daß Enite ganz adrett ist, das war's aber auch, und so stehen wir vor dem einmaligen Phänomen, daß ein Ritter eine Frau erwirbt, ohne einen Handschlag dafür zu tun (das ist nicht zu verwechseln mit der Huldgewährung einer Fee, zufällig ist Enite keine). So gesehen ist für mittelalterliches Denken diese Ehe gar nicht legitim, nicht gefestigt, und Enite hat keine Gewähr, daß sie nicht der Nächstbeste attribuiert. Das also muß Erec schleunigst nachholen, und das tut er wie gesehen bis jetzt dreimal. Damit stellt sich aber zugleich die Frage, wann man weiß, daß der Beweise genug geliefert wurden, aber das werden wir später erfahren. Zunächst müssen wir schauen, was für eine Art Krise vorliegt. Tatsächlich hat Erec nämlich durch das Erwerbsdefizit seine allgemeine Anerkennung bei der relevanten Instanz Artushof verloren. Bekanntlich kann er die nicht durch ein AS gewinnen. Das muß im Zuge des IAS geschehen, nur darf dies als Mittel, als Vermittlung zum figuralen Rückerwerb dem jeweiligen Ritter nicht bewußt sein, darf nur aus sich heraus vollbracht werden. Das genau ist der Grund für Erecs Zögern, als Guivreiz ihm den Kampf ehrenhalber anbietet, denn Erec kennt nur das AS und Enites Besitzlegitimierung. Deshalb läßt HARTMANN für uns erkennbar Guivreiz von âventiure sprechen, nur wird Erec dieser Zusammenhang nicht klar werden, sonst verlöre dieser Weg seine Indirektheit und damit seine Funktion. Daher auch der weißgott knappe Satz: Erec gevienc sîn niht ze man. [4478] Da Erec ihn nicht zum Vasallen macht, attribuiert er nach der Domination NICHTS, logo, daß hier ein IAS vorliegt. Damit haben wir die schwierigste Klippe überwunden, Erec aber noch lange nicht. Es folgt ein ungewollter, erzwungener Aufenthalt am Artushof, wo Erec seine Wunde leidlich kurieren kann. Dieser Aufenthalt mag Anzeichen dafür sein, daß Erec auf dem richtigen Weg ist, er mag aber auch daran erinnern, daß der Hof Erec nicht vergessen hat, insbesondere aber bei seinen IAS - Taten indirekt als Zeuge fungiert, denn so indirekt dieses Verfahren auch sein mag, eine gewisse Beziehung muß ja zwischen Instanz und Ritter bestehen, sonst verpuffen alle IAS im luftleeren Raum.

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Und vergessen wir nicht, wir haben es hier mit dem ersten höfischen Roman zu tun, der zudem noch den Aventiureweg unter zwei verschiedenen Schemata aufteilt, zwei Ziele anstrebt; da empfinde ich es jedenfalls als ungeheure Erleichterung, daß Erec gleich nach dem ersten IAS in den Artushof stolpert, gleichsam auch für die Stupidesten klar macht: Dieser Kampf mit Guivreiz galt nicht Enite, der war für die Instanz Artushof. Die Begegnung mit dem Artushof aber spielte sich so ab: Keie hatte sich Gaweins berühmtes Pferd für einen Spazierritt ausgeliehen, da begegnet er dem Paar. Er hält sie für leichte Beute und will sie zu Artus bringen, doch Erec stößt ihn mit dem stumpfen Ende der Lanze vom Pferd. Nur mittels tiefster Erniedrigung erhält Keie das Ross zurück. Gawein hört davon, und ihm gelingt es mit List und Höfischkeit, Erec an den Hof zu bringen. Wenn ich ihnen nun sage, daß Keie und Gawein unterschiedliche Erwerbsprinzipien verkörpern, werden Sie mir einen Vogel zeigen, weshalb ich mir erlaube, erst im Iwein näher darauf einzugehen. Damit sind wir bei dem nächsten Problem: Wann weiß Erec, daß er aufhören kann. Wir werden es gleich sehen. Nun folgt das nächste IAS. Erec hört die Klagerufe einer Dame. Hineilend hört er, ihr Mann Cadoc sei von zwei Riesen entführt. Er nimmt die Verfolgung auf, tötet beide Riesen, befreit den Ritter, bringt ihn zu seiner Dame, trägt beiden auf, Königin Ginover zu berichten (hat doch irgendwie begriffen, wie's funktioniert), schleppt sich noch schwer verwundet zu seiner Enite und bricht ob seiner Wunden (schein-)tot zusammen. Nun jammert Enite, lauter gar als Ginover, während ihr Gasozein unter den Rock faßte, was der Graf Oringles hört, der nachschaut und noch gerade ihren Suizidversuch verhindern kann. Doch als dieser sich jetzt erdreistet, Enite zu heiraten, tut er Schlimmeres als alle seine Vorgänger, denn hier hat niemand absichtsvoll den Lockvogel gespielt, im Gegenteil, die Enge der Bindung zwischen Erec und Enite war nie deutlicher sichtbar als in diesem Moment seines vermeintlichen Todes, das Spiel ist ungewollt ernst geworden. Um es abzukürzen, diesmal wird alles, was zuvor aufgesetzt oder erzwungen war, wieder in seinen natürlichen Zustand erhoben. Als der Graf, der alles für die Ehezeremonie vorbereitet hat, Enite gar mit Schlägen zur Raison bringen will, wecken ihre Schreie den nebenan aufgebahrten Erec, und so makaber die Trauungszeremonie angesichts des (Schein-) Toten ist, so heillos ist das Entsetzen, als Enitens Jammern erstmals eine nützliche Folge hat, denn plötzlich steht der Totgeglaubte rachedurstig unter den geladenen Gästen, packt sich ein Schwert und erschlägt den Hausherrn samt seinen Nachbarn. Nun ist auch dem Erzähler seine Freude anzumerken, denn die Beschreibung des Tumultes, der sich angesichts der Wiederauferstehung des Toten bildet, gehört zum Köstlichsten, was jemals in deutscher Sprache geschrieben wurde, nur leider aufgrund von Humorlosigkeit und Einfalt der Filologen verschüttet war:

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dâ warte niemen deheiner zuht: man sach dâ niemen hôher stân: "herre, weit ir vür gân," wande swem der wec wart, der huop sich an die vart. [EREC, 6625 ff. Plötzlich kümmerte sich niemand mehr um seine Kinderstube: Niemand da, der durch Höflichkeit im Ansehen steigen wollte und sprach:"Mein Herr, bitte nach Ihnen ", sondern wem sich eine Schneise zeigte, der machte, daß er davonkam.] Mit vielen Bildern, die gerade an das Vorstellungsvermögen des mittelalterlichen Publikums appellieren, schildert HARTMANN uns dieses Gedränge apokalyptischen Ausmaßes: nû sprechet, swâ ein tôter man, mit bluotigen wunden, gerêwet, in gewunden houbet unde hende, vüeze an einem gebende, mit einem swerte alsô bar ûf ein ungewarnte schar in aller gaehe liefe und wâfen über di riefe, er vlühe swem et waere der lîp ze ihte maere: und waere ich gewesen bî, ich hete gevlohen, swie küene ich sî. [EREC, 6669 ff. Urteilt selbst, wo urplötzlich ein Toter, bedeckt mit blutigen Wunden, in feierlich sakralem Gewand, mumienhaft eingewickelt an Kopf, Händen und Füßen, ein gezücktes Schwert in der Hand, blitzschnell auf eine völlig ahnungslose Gruppe liefe und Zeter und Mordio brüllte, da flüchtete doch im Nu, wem das Leben lieb ist: Wäre ich dabei bewesen, so mutig ich bin, ich hätte Fersengeld gegeben.] Resurrektion, Wundmale, das Schwert (wenn auch nicht im Mund), das war mehr, als die gläubige Seele mittelalterlicher Menschen unvorbereitet (Posaunen) vertrug, war schlicht die Horrorvision ständiger, latenter eschatologischer Grundhaltung. Erec aber findet Enite, seine Rüstung und unerwartet auch sein Streitross, auf dem beide entfliehen. Deutlich nun auch, wie die Distanz beider jetzt vollends aufgehoben wird, denn es wäre dem Autor ja ein Leichtes gewesen, zwei Pferde zur Verfügung zu stellen. Wir ahnen mithin, daß der Weg der Besitzlegitimierung durch die

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vier Aktantenschemata beendet ist, aber der Autor will sicher gehen, daß wir dies begreifen, setzt somit ein unmißverständliches Zeichen, das das Ende diesen Handlungsstranges beglaubigt. Auf dem Ritt erfährt Erec von seiner Frau die Umstände, die ihn zu diesem Zombieauftritt zwangen. Von da an endete sich ihr hartes Los, der Grund für die Verstellung existierte nicht mehr, und wir wissen ja auch, weshalb. HARTMANN läßt folgendes verlauten: ez was durch versuochen getan ob si im wcere ein rehtez wîp. nû hâte er ir lîp ersichert genzlîchen wol. [EREC, 6781 ff. Das war nur geschehen, um zu beweisen, daß sie rechtmäßig sein Weib ist. Nun hatte er ihren Besitz vollständig legitimiert.] Natürlich kann man diese Passage auch anders übersetzen, gerade so, als hätte Erec nichts als eine Treueprobe Enitens im Sinn gehabt; ich halte dies aber aus den dargelegten Gründen für völlig weltfremd und diesem Kunstwerk für absolut unangemessen. Mag sein, daß die Herren Ordinarii die Treue ihrer Küchenmagd an dem Maß erkennen, wie sie das Maul hält, wenn der Maulheld doziert, mag grundsätzlich auch sein, daß diese Approbierten probieren, ob ihr Dummerle nicht auf den Postboten wartet, Tatsache ist doch, daß diese Berufsprüfer gar nicht auf die Idee kommen können, es könne Sinn ergeben, wenn man nicht andere prüft, sondern sich selbst. Nun sind diese Romane mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für jeden, nur eben nicht für Germanistikprofessoren verfaßt worden. Wenn Sie den einfachen Versuch unternehmen, einen Einbrecher zu fragen, welchen Grund einer haben könnte, seinem Begleiter jegliche Äußerung zu verbieten, dann erfahren Sie in wenigen Minuten mehr, als Generationen von Berufsverdammten zuwege gebracht haben. Meinetwegen hören Sie sich, sofern Sie ein Paar sind, beim Autofahren, beim Überholen und Rückwärtseinparken gelegentlich zu, dann sind Sie schon wesentlich näher an den tatsächlichen Gründen für Erecs Befehl, Enite möge gefälligst mal das Plappermaul halten. Wir aber schauen, mit welchem Handlungsmittel der Autor das untermauert, was er den Erzähler bereits resümieren ließ, das Ende des aktantiellen Erwerbs. Während beide fliehen, wurde Guivreiz über das Geschehen informiert, der nimmt sich dreißig Ritter, um seinen Freund zu retten. Zufällig begegnet man sich im Dunklen, Erec läßt, als er den Lärm vernimmt, Enite absteigen, denn er muß glauben, es handle sich um Verfolger. Schwach, wie er ist, stellt er sich zum Kampf, bereit, seine Geliebte mit letzter Kraft zu verteidigen. Mit eingelegten Lanzen reiten sie gegeneinander, und so sehr sich Erec bemüht, Enite zu verteidigen, er wird meterweit hinter das

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Pferd geschleudert, was ihm noch nie zuvor geschah. Der Sieger nimmt dem am Boden Liegenden den Helm ab, um ihn zu erschlagen, da wirft sich Enite über ihren Geliebten. Sie erfleht sein Leben, und da erkennt Guivreiz sein Mißgeschick, den er retten wollte, hat er besiegt. Nun ist es aber so, daß dieser Sieg Erec nicht gefährdet, ihm nichts nimmt, ja, ihm nichts nehmen kann, denn längst ist sein Besitz von Enite legitimiert. Dies zeigt diese Begebenheit überdeutlich an, Enite wird nie wieder Objektaktant sein, wird nie wieder zur Disposition stehen. So ist es die einzige Möglichkeit, die scheinbare Kettenreaktion von AS zu unterbrechen, wenn man den Helden einmal nicht gewinnen läßt, ohne ihn und seinen Besitz zu gefährden. Dergestalt ist der Felsen, an dem Erec scheitert, zugleich seine Rettung: so klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte. [GOETHE, Tasso, letzter Akt, letzter Auftritt, letzter Satz.] Damit wir diesen Zusammenhang aber auch richtig begreifen, hat Hartmann (wie übrigens CHRESTIEN genauso vor ihm) das letzte Abenteuer völlig parallel konstruiert. Nachdem man sich erholt hat, will man schnurstracks zu Artus nach Karidol reiten, doch man kommt versehentlich an der Burg Brandigan vorbei. Das reut Guivreiz sehr, denn er weiß, welch schreckliche âventiure dort einen Ritter erwartet. Von ihm hört Erec die unerhörte âventiure, sie hat den Namen Joie de la curt und etliche Ritter das Leben gekostet, denn noch niemand konnte sie bestehen. Freundlich werden sie auf der Burg empfangen. Drinnen sitzen achtzig wunderschöne Damen, die aber alle Kummer haben, und es stellt sich heraus, daß dies die Damen all der Ritter sind, die bei der âventiure ihr Leben ließen. Sagen Sie, aufmerksamer Leser, fällt Ihnen gar nichts auf? Wenn nicht, so macht das nichts, Sie befinden sich in hochdekorierter Gesellschaft. Es ist in der Literatur des Mittelalters eher die Ausnahme als die Regel, daß der Ritter mit seiner Dame auf âventiure unterwegs ist. Zunächst ist es ja mal so, daß die âventiure, die eine bestimmte strukturale Funktion hat, hier geradezu maßgeschneidert auf unseren Helden wartet. Plötzlich nämlich tauchen neben dem Riesenabenteuer gar noch achtzig solcher Paare auf. Das gibt zu denken, und bis auf das Paar Orilus/Jeschute gibt es dann nur noch das Motiv der gefangenen Frauen in Clinschors lit marveile, die aber gar keine Ritter hatten, davon aber später mehr. Dies zeigt also lediglich Parallelität an, ist aber mitnichten Ritteralltag oder Romantopos. Erec erfährt, welche Bewandtnis es mit Mabonagrin hat, der da im Garten der Freuden sitzt und einen Ritter nach dem anderen erschlägt. Die Ausgangssituation schildert er so:

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ob mir got der êren gan daz ich gesige an disem man, sô wirde ich êren rîche. und merket wie ungelîche uns giltet daz selbe spil. ez giltet im unnâch sô vil zem zwelften teile als ez mir tuot. [EREC, 8560 ff . Wenn Gott mir die Ehre zuteil werden läßt, daß ich ihn besiege, so steigt mein Ansehen. Seht ihr, wie ungleich uns die Ausgangssituation desselben Spieles ist. Er kann nicht einmal den zwölften Teil dessen gewinnen, der mir ins Haus steht.] Der Grund wird klar, als Erec nach seinem Sieg über Mabonagrin dessen Geschichte erfährt. Die wunderschöne Dame, mit der er in diesem goldenen Käfig lebt, lernte er als Kind kennen. Man verliebte sich, und sie ließ sich von ihm entführen (SS). Aus einem bestimmten Grund verlangte sie von ihm den Rückzug in diesen hermetisch verschlossenen Garten, wo er von nun an Ritter erschlug. Wir wollen bitte nicht glauben, daß HARTMANN den Mabonagrin die wahren Gründe kennen läßt, das würde sein Schlachten zur Absurdität werden lassen und es uns zu einfach machen, die strukturale Beziehung zwischen beiden Paaren zu entdecken. Tatsächlich aber erinnert uns diese Geschichte ein wenig an die Notlüge Enitens, als der erste böse Graf sie bedrängte. Entführung war das Stichwort in beiden Fällen (SS). Nun ist Mabonagrin gezwungen, ständig Beweise dafür liefern zu müssen, daß er sie zu Recht besitzt (AS, AS, AS...). Wer wird je ein Ende setzen können, sagen, zwanzig genügen, oder hundert müssen es schon sein. Es ist die gleiche Klemme, aus der Guivreiz Erec befreite. Indem nun Erec Mabonagrin besiegt, ohne beispielsweise dessen Weib zu attribuieren, handelt er im Rahmen des IAS (nur Konfrontation und Domination), gewährleistet er die Wiederverleihung der höfischen Anerkennung (FS) für sich und setzt den Kreislauf des AS (NICHT mit Warning velwechsern, der meinte, ein AS löst beim Besiegten eine Mangelsituation aus, die der befriedigt, indem er einem anderen etwas nimmt, worauf der sich woanders bedient...! Es ist der Zimmerwechsel in dem Hotel mit unendlich vielen Zimmern, die alle belegt sind. Ein neuer Gast kann nur ein Bett bekommen, wenn alle einen Raum weiter ziehen) bei Mabonagrin außer Kaft, der, einmal begonnen, eine Eigendynamik der Sinnentleerung in Gang setzt, die von außen gestoppt werden muß, damit sie ein Ende, einen Zweck (nicht den Selbst-), einen Sinn bekommt. Deshalb wird mit Erecs Sieg mehr gewonnen, ist sein Gewinn wenigstens zwölfmal höher anzusetzen, denn Mabonagrin kann mit einem eventuellen Sieg immer nur so weitermachen wie bisher, eingeschlossen warten, kämpfen und töten.

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Womit auch wir am Ende wären, Erec ist vor dem Artushof rehabilitiert (FS), von nun an kann er sich verligen, wie er will, niemand würde es stören, nie wieder muß er nach âventiure wâne reiten, denn er hat der âventiure meine begriffen. Damit sieht die Struktur des EREC so aus: AS (pers.Ehre)/0 (Enite) > KRISE (FS-) > AS > AS > AS > IAS > AS > IAS > FS Ich halte den Moment für gekommen, Sie, verehrter Leser, an einige strumpfige Deutungen der Mediävistik heranzuführen, die, gleich Viren ihre Wirtskörper, den Roman dahingehend sinnentstellen und zweckentfremden, als er gezwungen wird, immer wieder nur diesen Selbstzweck und gefährlichen Unfug zu produzieren, der mit dem Virus identisch ist, bis am Ende der Wirtskörper dabei draufgeht. Ganz intrikat ist das aber bei den Strukturalisten, den Retroviren unter den parasitären Filologen, die eine harmlose Symmetrie basteln, die erst auf den Roman angewandt ihre verheerende Entstellungsmaschinerie in Gang setzt. In der Hoffnung, Sie aktiv immunisiert zu haben, indem ich Ihnen einige tote, hohle Viren verabreicht habe, kommen wir also zu den Retros, die am schwierigsten zu packen sind, und das hat folgende Gründe. Wir greifen uns zu diesem Zweck den Paradeaufsatz der deutschen Strukturalisten heraus, er trägt den Namen Erec und stammt aus der Feder Hugo KUHNs. Wie bereits erwähnt, hat er bei den Forschungskollegen eine dermaßen hysterische Begeisterung ausgelöst, daß KUHN selbst ein wenig mulmig wurde: Es hat mich zeitlebens gewundert, daß nicht nur mein 1948 veröffentlichtes Strukturschema von Hartmanns Erec fast unbesehen akzeptiert (und bis zur Verfremdung verwendet) wurde, sondern damit auch der Schlußpunkt der Joie de la curt als allegorische Zusammenfassung des Erzählten. Ich selbst war mir sowohl der Richtigkeit wie vor allem der historischen und systematischen Bedeutung oder Geltung dieses Schemas nie so sicher,... [H. KÜHN, Allegorie und Erzählstruktur, in: KÜHN, Kleine Schriften Band 3, Liebe und Gesellschaft, 1980, S. 106] Ich denke, man darf angesichts dieser Bescheidenheit den großen alten Mann der Mediävistik würdigen, und dennoch, es bleibt das ungute Gefühl, daß er angesichts der oben formulierten Einsicht der Nachwelt mehr schuldig geblieben ist als das Eingeständnis einer gewissen Unsicherheit. Einen Großteil der Schuld trifft dabei seine Schüler ebenso wie das Promotionsprinzip an deutschen Universitäten. Entweder sind die Schüler zu dumm oder zu feige, Theorien ihres Doktorvaters zu kritisieren, traurige Tatsache ist jedenfalls, daß im Endeffekt ein jeder Professor in einge-

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reichten Dissertationen am liebsten das liest, was er selbst einmal geschrieben hat. Sei es also Feigheit, Dignität oder Dummheit, die Sterilität in der Forschung hat ihr Fundament. Dies alles ist der Hauptgrund, weshalb die Forschung KUHNs Ergebnisse unreflektiert übernahm, ständig als Grundlage der eigenen Ergebnisse angab, nur um sich der Notwendigkeit zu entziehen, diese Deutung zu referieren oder gar zu kritisieren, was die doppelte Arbeit wäre. Keiner aber stellte gar eine Theorie dagegen, was, wie ich weiß, die zehnfache Arbeit bedeutete. So wundert man sich nur, daß die Ergebnisse und die Methode unübertragbar sind, wie oben geschildert. Daß man sich darüber wundert, gibt allein Kunde von dem Geisteszustand der Geisteswissenschaftler. Ein Roman ist ein Produkt wie jedes andere, er will Verbreitung finden, will geschätzt, richtig benutzt und verstanden werden. Damit unterliegt er gängigen Marktgesetzen. Funktionierte der nun nicht nach überindividuellen Gesetzen, nach transferierbaren und analogen Gesichtspunkten, wäre er ein Ladenhüter. KUHN hat nun mit Hammer und Meißel eine Schraube aus einer Wand gehauen, dabei Wand und Schraube zerbrochen und entstellt. Alle anderen Schrauben sind aber unterschiedlich groß und überdies in eine Metallwand gedreht. Hammer und Meißel versagen, aber noch immer hält man sie für das richtige Werkzeug. Als ich meinem Prof den Satz Schraubenzieher überreichte, meinte er, damit könne man keine Schraube aus einer Wand hauen, und recht hatte er! Nun aber können wir daran gehen zu schauen, was denn Adson und KUHN gemein haben, was ihre Sichtweise besonders auszeichnet. Das Grundprinzip, das beiden eignet, ist, daß sie den Sinn einer wie immer gearteten Sache im Ornat suchen, im reinen, ja im teilweise nur zufälligen Schmuck, im Äußerlichen, im womöglich sogar nachträglich Aufgesetzten. Auf den Erec angewendet, bedeutet dies, daß man nicht nach dem Sinn einer einzelnen Tat im Hinblick auf das Ganze fragt, sondern daß man die einzelne Tat daraufhin untersucht, ob sie rein äußerlich Ähnlichkeit mit anderen hat. Ich betone den Aspekt des rein Äußerlichen, denn daß ritterliche Taten hinsichtlich des Erwerbsmodus miteinander verwandt sein müssen, versteht sich inzwischen wohl von selbst. Nur das eben meint KUHN gar nicht. Er vergleicht die Taten hinsichtlich der Besetzung, des Zeitpunktes und des Ausganges und was er an Kleinigkeiten sonst noch bemerkt. Und genau bei dieser Beschäftigung fällt ihm auf, daß zweimal Zwerge auftauchen, zweimal Räuber, zweimal Grafen und zweimal klagende Frauen. Jetzt offenbart sich dem naiven Blick noch, daß die zweiten Glieder jeweils etwas gesteigert erscheinen, und schon wird aus etwas Schmuck und dem Umstand, daß die Spannung zum Romanende natürlich steigen muß, daß im Endeffekt keine Tat am Ende leichter sein darf als eine zu Beginn, das sinnkonstituierende Prinzip der Geschichte.

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Und der Sinn dieses Romans ist dann der, daß sich jedes Geschehen wiederholt, in der Wiederholung etwas schwieriger ist, vom Helden somit mehr (rein quantitativ) verlangt, so daß man vermuten darf, daß er sich in der Steigerung bewährt hat. Überspitzt formuliert, muß dies bedeuten, daß es scheinbar nicht genügt, zehn Männer zu erlegen. Erlegt der Ritter beim nächsten Mal derer zwanzig, dann hat er seine Lektion begriffen. Um dieses Prinzip durchgängig zu gewährleisten, ist es dann noch nötig, die Korrespondenz selbst symbolisch zu verklären, ganz so, wie es Adson von Melk so schön und eben auch lesbar vorführt. Wollten wir dies hier im einzelnen untersuchen, wäre es vertane Zeit und Mühe, schließlich gibt es das alles überhaupt nicht, ist lediglich die übliche Hirnschwurbel. Ich zitiere jetzt einen Ausschnitt aus KUHN, den Sie leicht einordnen können: Schauen wir auf die erste [Episode] zurück: das doppelte Räuberabenteuer. Die genaue Wiederholung dabei ist wie absichtlich nur durch die Zahl der Räuber variiert - so, als ob sich nur die Zahlen unterscheiden sollten. Was bedeutet das? Versuchen wir es nachzudenken! Der Dichter will Erec und Enite auf ihrer Reise zweimal denselben Weg flihren. Wenn er nun an den Anfang das mit fast verletzender Absichtlichkeit verdoppelte Räuberabenteuer stellt - ist das nicht etwas, was man einen 'epischen Doppelpunkt' nennen könnte? Eine Mahnung an die Hörer also: Merkt auf Wiederholungen! Sollen sie nicht, wenn dann das zweite, dritte und vierte Abenteuer ohne Entsprechungen vergingen, sich beim fünften, sechsten und achten um so deutlicher erinnern: Hier kommt ja die Verdopplung wieder - aber sie bezieht sich nun auf den ganzen Weg (und damit auf die Daseinsstufen des Paares)? Gibt es ein episches Mittel, solch Programm vordeutend auszusprechen und doch noch verhüllt? Um aber den Beweis zu schließen: ist es Zufall, wenn auch die B-Reihe [Das, was nach dem Scheintot Erecs geschieht] wieder mit einer Verdopplung einsetzt: in 5 [Tag mit dem bösem Grafen, der die Scheinwitwe haben will] wird Cadoc zuerst tot geglaubt und von seiner Freundin beweint - dann Erec tot gesehen und von Enite beweint bis zum Selbstmord. Der 'epische Doppelpunkt' ist beim zweiten Einsatz des 'doppelten Kursus' [meint das Beschriebene, daß auf dem Weg alles doppelt und entsprechend zum Kontraste geschieht] wiederholt. Was hier beschrieben wird, ist von einer gefährlichen Logik, denn der einfachste je zu konstruierende Sinn ist der Kurzschluß zwischen zwei isoliert betrachteten diskreten Dingen. Durch geschickte Formulierung wird ein Zusammenhang dann teilweise zwingend. Kennzeichen dieser Scheinlogik ist immer ihre Digitalisierbarkeit, sie bestehen nur aus zwei Elementen, im schlimmsten Fall nur graduell unterschieden, wie 3 und 5 Räuber. Dabei kann dann alles in einen Topf geworfen werden, Hauptsache, es gibt eine Art tertium comparationis, so das Jammern zweier verschiedener

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Frauen, da zwei verschiedene Ritter gefährdet scheinen. Auf der anderen Seite zwei Räuberbanden, die demgegenüber wenigstens beide vom Helden erschlagen werden. So könnte man auch erwähnen, daß am ersten Tag der Mond scheint, und am fünften Tag ebenfalls, daß da eine Beziehung sein muß, die KUHN entgangen sein dürfte. Aber Scherz beiseite: Das Problem kennt man in den Naturwissenschaften längst, es nennt sich falsche Korrelation. Das lernt man im ersten Semester an diesem Beispiel: Eine falsche Korrelation liegt vor, sobald jemand überhaupt Schlüsse aus diesen beiden Statistiken zieht - die eine zeigt in Schleswig-Holstein den Geburtenrückgang, die andere zeigt daselbst mit gleichem Gefälle den Rückgang der Störche! Nun lachen Sie nicht, ich weiß ja, daß Sie dahingehend aufgeklärt sind. Aber auch ein verwandteres Beispiel entlarvt die Methode: Ein Medizinmann aus der Kalahari war ein paar Tage in Deutschland. Folgendes berichtet er den staunenden Stammesgenossen: Zweiund-zwanzig Krieger laufen mit einer schwarz-weißen Lederkugel über ein rechteckiges saftiggrünes Feld mit magischen symmetrischen weißen Linien, und ihr werdet mir nicht glauben, es dauert keine fünf Minuten, da regnet es schon. Entdeckbar ist solcher Schwachsinn im Verfahren der reziproken Anthropologie, und es zeigt uns die Konstruktion solcher Fehlkausalität. Sie besteht aus etwas, dessen Sinn man nicht versteht, verknüpft mit dem, was rein zufällig geschieht, aber von gewisser Bedeutung für den Beobachter ist. Und genau so, wie unser Medizinmann in der Kalahari auch mit Bundesligafußball versagen muß, wenn es ums Regenmachen geht, so versagt auch KUHNs Modell nach dem ersten zufälligen Platzregen schon beim Iwein, erst recht aber bei den vielen, vielen anderen Romanen. Verlassen wir wieder unsere Literaturmänner, und wenden wir uns ab von Beschwörungsversuchen des Numinosen, lassen wir ihnen die Freude, hoffen wir aber, daß einer mal das Zauberwort trifft, zum Beispiel das der Circe, ach, wäre das passend! Kommen wir jetzt zum Höhepukt des ritterlichen Krisenromans, zum Iwein. Auch er stammt aus der Feder HARTMANNs VON AUE und ist die konsequente Fortführung des Erec - Modells, denn war dort der Weg noch auf zwei Ziele gerichtet, die mit verschiedenen Erwerbsmodi erreicht werden mußten, so genügt hier für zwei Ziele ein Modus. Das klingt nach Rückschritt, ist es aber schon deshalb nicht, weil endlich die Minneauffassung inthronisiert wird, die die Krone der âventiure sein wird.

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IWEIN oder Der Ritter mit der Stechuhr? Sicher erinnern Sie sich, werter Leser, an einen gewissen Kalogrenant, den wir nach seiner fachmännischen Definition des Begriffes âventiure in der unangenehmen Gesellschaft des Waldschrates zurückgelassen hatten. Wie wir uns weiter erinnern, erzählte er gerade eine höchst seltsame Begebenheit aus seiner ritterlichen Karriere, und alles, was wir ohne weiteres daraus schließen konnten, war die Tatsache, daß er dieses Erlebnis nicht mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln bewältigen konnte, ein Grund mithin, daß er es sich sozusagen von der Seele redet. Weiterhin war offensichtlich, daß der Umstand des Erzählens ihn als Versager kennzeichnet, was wiederum ein bezeichnendes Licht auf seine Kompetenz bezüglich âventiure warf. Inzwischen sind wir ja auch schon so weit, daß wir wissen, daß man âventiure nicht suchen kann, daß man sie als Erfahrender auch gar nicht begreift, sondern daß sie allenfalls von einer INSTANZ als Zeichen für die Würdigkeit des Helden begriffen wird. âventiure hingegen als eine Erwerbsform für Ruhm und Frauen zu betrachten, heißt sie - auch literarisch - mißzuverstehen, heißt eigentlich, wie ja auch das Beispiel Kalogrenants zur Genüge beweist, versagen zu müssen, bedeutet für einen auserwählten Ritter so sehr wie für uns, lernen zu müssen, was sie bedeutet und was ihr Ziel ist. Dieses alles eingedenk, kann ich das Wort wieder an Kalogrenant weitergeben, dessen Erzählung folgendermaßen weitergeht. Der Waldschrat weiß nun zwar nicht, was âventiure ist, sonst wäre er nicht, was er ist, aber zumindest hat er Kunde von einer Sache, die für ihn wenigstens so skurril ist wie Kalogrenants Definition. Von einer Quelle weiß er zu berichten, nahebei und von herrlicher Beschaffenheit. Gleich bei einer kleinen Kapelle, und von einer köstlichen Linde vor jeder Witterung geschützt. Darob ein zierlicher Stein steht. Von einem Ast hängt ein goldenes Gefäß herab, und wer damit etwas Wasser auf den Stein gießt, der kann seinen Mut unter Beweis stellen. Das klingt einfach, Kalogrenant ist es Musik in den Ohren, er gibt dem Ross die Sporen, trifft an diesem locus amoenus ein und tut, wie geheißen, nein, wie gewarnt. Um es kurz zu machen, es bricht ein Unwetter los, das die Platthufler aus dem Herzog Ernst fortgespült hätte, ein Unwetter, das eine Wasserversion der Apokalypse zu sein scheint: Vnd der Engel nam das Reuchfas / vnd füllet es mit fewer vom Altar / vnd schüttets auff die erden. Vnd da geschahen stimmen und donner vnd blitzen vnd erdbebung. [Die Offenbarung S. Johannis, VIII]

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Nach kurzer Zeit aber ist der Spuk vorbei, und alles ist friedlich wie zuvor. Schon müssen wir uns fragen, ob das alles war, was das mit âventiure zu tun haben soll, da erscheint ein grimmiger Ritter, der Kalogrenant regreßpflichtig macht. Es kommt zum Kampf, und: daz beste heil daz mir geshach, daz was daz ich mîn sper zebrach. vil schône sazte mich sîn hant hinder daz ors ûfdaz lant, daz ich vil gar des vergaz ob ich ûf ors ie gesaz. [IWEIN, 741 ff. Alles was ich ausrichtete, war, daß ich meinen Speer an ihm zerbrach. Dafür befördete er mich so sauber hinter mein Pferd auf den Boden, daß mir nicht klar war, ob ich überhaupt schon drauf gesessen hatte.] Der grimmige Ritter konfisziert das Ross und läßt einen sehr nachdenklichen Kalogrenant zurück, schließen wir uns ihm an und überlegen wir zudem auch, weshalb sich HARTMANN die Mühe macht, uns diese, doch irgendwie programmatische Episode zu erzählen. Unschwer ist hier âventiure als Zentralbegriff auszumachen, ebenso leicht war zu ermitteln, daß sich dieser Begriff nicht nur einem Definitionsversuch entzieht, sondern noch mehr einem Okkupationsversuch! Das zu zeigen und zu beweisen, lieber Leser, ist nun aber nicht nur die Aufgabe meines Buches, weshalb ich mich gern schwer tat, Ihnen mit einer Definition des Begriffes zu kommen, wollte ich doch nicht so unsanft belehrt werden wie Kalogrenant. Das zu zeigen und zu erzählen, also das Mißverhältnis hinsichtlich der Präokkupation des âventiure-Begriffes erzählerisch zu entlarven und den Begriff selbst erzählerisch zu rehabilitieren, ist Sinn und Aufgabe all dieser wundervollen Romane. Und weil das ein so überaus gelungener und wahrer Satz war, ersparen Sie es mir, verständnisvolle Leser, ihn mit einem Appendix aus dem Verdauungstrakt der Forschung operationsbedürftig zu machen! Ich würde Ihnen aber ein falsches Bild von der mittelalterlichen Romanprogrammatik vermitteln, wenn ich nicht hier schon auf das hinweisen würde, was die subtilen Fragen des jungen Parzival zum erhabensten Zentralthema der Literatur des Mittelalters machen werden: "ôwê muoter, waz ist got?" Wir dürfen nun auf keinen Fall glauben, Kalogrenant habe mit seiner Geschichte irgend jemanden aufklären wollen über das, was wir soeben konstatiert haben. Ebenso wenig dürfen wir annehmen, HARTMANN hätte den Leser durch seine Figur

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Kalogrenant aufklären wollen, dazu soll schließlich der gesamte Roman dienen, und ich weise nur auf die Wichtigkeit dieser Stelle hin, weil ich den Roman nicht nur gut kenne, sondern vor allem, weil ich ihn verstanden habe. Unter den Zuhörern Kalogrenants befanden sich sein Vetter Iwein, Königin Ginover (Von dieser hat's der König vernommen) und Keie, der Hofknigge. Erlauben Sie mir, Näheres zu dieser Romangestalt zu sagen, denn sie wird uns in den Romanen so häufig begegnen wie Gawein. Er ist komplementär zu Gawein gestaltet und verkörpert im Gegensatz zu diesem das unhöfische Prinzip. Beide Gestalten tauchen regelmäßig an Zentralstellen der Romane auf, wie wir es im Erec sehen konnten. Ich komme jetzt auf den Vogel zurück und behaupte jetzt, daß Keie in der Nähe gelungenen aktantiellen Erwerbs auftaucht, wohingehend Gawein im Umfeld des indirekten Aktantenschemas eine Rolle spielt. Dies wird sich in Kürze zeigen. Iwein faßt nach Hören dieser Geschichte sofort den Entschluß, seinen Vetter zu rächen, und erklärt: er sprach "neve Kâlogrenant, ez rihtet von rehte mîn hant swaz dir lasters ist geschehen. ich wil auch varn den brunnen sehen, und waz wunders dâ sî." [IWEIN, 805 ff. Er erklärte: "Mein Vetter, es ist mein Vorrecht, was dir an Schande widerfuhr, auszubügeln. Ich ziehe los, den Brunnen zu sehen und was es Wunderliches damit auf sich hat".] Das ruft den Spott Keies auf den Plan, und da Artus beschließt, mit seinen Rittern der Quelle einen Besuch abzustatten, ist Iwein nun in Zugzwang, da er befürchtet, Gawein könne als Kämpfer den Vorzug bekommen, wodurch er selbst den Spott Keies nicht rächen könnte. Also ist Eile geboten und, was wohl schwerer wiegt, ein Erfolg, der für ihn spricht, womit wir den Weg Iweins zur Quelle überspringen und den Faden dort wieder aufnehmen können, wo wir ihn kurz aus der Hand legten. Wie Sie sich erinnern werden, sah HARTMANN sich außerstande, uns den Kampf zwischen Iwein und dem grimmigen Ritter detailliert zu beschreiben, da der eine ihn nicht überlebte, Iwein hingegen nie davon erzählen könnte. Jetzt können wir auch sehen, weshalb es für ihn ausgeschlossen ist, von seinem Kampf zu berichten. Erstens verbietet es höfische Gesittung von selbst, hinzu kommt in dieser speziellen Situation die verbale Herausforderung Keies, und die auf gleicher, also verbaler Ebene widerlegen zu wollen, hieße, sich auf eben diese Stufe hinabzubegeben, hieße mehr als nur Maulheld zu sein. Demzufolge muß ein Beweis her, der aussagekräftiger ist als ein verbeulter Schild. (Wir werden in meiner nächsten Publikation sehen, wie wenig beweiskräftig der wäre, wenn wir Maere und Fabliau mit diesen Titeln

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lesen: Beringer und De Berangier au Ion Cul.) Iwein gelingt es zwar, seinem Gegner eine tödliche Wunde beizubringen, aber dieser wendet sein Pferd zur Flucht und scheint Iwein um seine Trophäe berauben zu wollen. Da denkt Iwein, und weil sich HARTMANN so große Mühe gegeben hat, dies zu motivieren, dürfen wir das auch so akzeptieren, bei sich solches: do gedâht her Iwein, ob er in niht erslüege od vienge, daz ez im danne ergienge als im her Kei gehiez, der niemens ungespottet liez: und was im sîn arbeit töhte, sô er mit niemen enmöhte erziugen dise geschicht (wan dâne was der liute niht): [IWEIN, 1062 ff. Da fiel Iwein ein, wenn er ihn nicht erlegte oder finge, daß ihn dann das Schicksal erwartete, das ihm Keie prophezeit hatte, der niemanden mit seinem Spott ungeschoren ließ; und wozu er sich hier abrackerte, wenn ihm nichts bliebe, womit er seinen Sieg beweisen könnte, denn es gab sonst keine Zeugen.] Und deshalb macht er dies: her Iwein jaget in âne zuht [IWEIN, 1056] Auch dies ist ein Satz, der etliche Gemüter erregte, den niemand mit letzter Sicherheit übersetzen kann, weil der Sinn des ganzen Romans davon abhängt und andersherum. Die dümmste Übersetzung führt J. KNOPF in seinem Buch Frühzeit des Bürgers (S.119) an und gibt sie so wieder: Herr Iwein verfolgt seinen Gegner erbarmungslos [aber nicht unritterlich], er reitet [sozusagen] mit hängenden Zügeln, keine hohe Schule. Da sind dem Übersetzer glatt die Pferde durchgegangen, Zorro reitet wieder, da müssen die Hände fürs Lasso frei sein, da mischt sich GOETHE wiehernd mit KARL MAY, ... ich aber sehe heiße Tränen fließen herab von den Augenwimpern der Jammererfüllten, den unsterblichen Rossen des Aiakiden. Die hohe Schule des Reitens, das ist so witzig wie absurd, das könnte aus dem Mund eines Reporters bei der Dressur stammen, nur hier wird halt gekämpft, und zwar nicht auf Zeltern, die im Paßgang reiten, sondern auf Pferden, die auch auf bloßen Schenkeldruck parierten. Tatsächlich aber ist folgender Sachverhalt gemeint. Einen Gegner zu töten, der sich nicht ergeben will, ist legitim. Wer aber einen tödlich Getroffenen, einen Wehrlosen, ja meinetwegen auch einen Feigling noch verfolgt, der verstößt so eklatant

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gegen die Gesetze der Ritterlichkeit, die nur deshalb heute nicht mehr bekannt zu sein scheinen, weil es sich um ungeschriebene Gesetze handelt. Und so ritterlich hatte sich ja auch Askalon selbst Kalogrenant gegenüber verhalten. Erinnern Sie sich an die Wiederauferstehung Erecs, wo auch von zuht die Rede war. Dort zeigte sich die Überlegenheit im höflichen Zurückstehen, um Geringeren den Vortritt zu lassen, und allgemein können wir formulieren, daß sich Überlegenheit niemals am Unterlegenen dadurch beweist, daß man sie ausspielt; es sei denn, man glaubt, der Tag des Jüngsten Gerichtes sei angebrochen, und da drückt auch HARTMANN gern ein Auge zu! Beide offenzuhalten, aufmerksamer Leser, muß nun aber unsere Devise sein, denn wie HARTMANN das Folgende, mithilfe dessen das Ende des Romans legitimiert wird, gestaltet, ist so unglaublich subtil und gekonnt, daß ihm natürlich jeder, der sich an einer Deutung versuchte, bereitwillig auf den Leim ging, und ich mich daher nicht enthalten kann, HARTMANN dafür meinen größten Respekt zu zollen. Iwein jagt also dem Todwunden hinterher, kann ihn aber nicht überholen, da der Burgpfad zu schmal ist. Unvermittelt wird jedoch aus dem Fänger ein Gefangener, denn Iwein löst ein Fallgitter aus, das ihn nur deshalb nicht erschlägt, weil er weit vorgebeugt reitend dem Gegner noch einen Schlag versetzt. Das Gitter erschlägt sein Pferd, sein Gegner löst noch ein zweites aus, und Iwein sitzt im Käfig. Dort wäre er sicher von den Leuten seines Burgherrn getötet worden, hätte er sich nicht einst gegen eine Zofe namens Lunete vorbildlich verhalten. Die dankt es ihm nun mit einem Ring, der unsichtbar macht. Auf diese Weise überlebt unser Held und erlebt zudem die Trauer der Witwe Laudine über den Tod ihres Gatten. Da sie sich in ihrem Schmerz fast entblößt, ist Iwein mit einem Mal bis über die Ohren in sie verliebt. Nach einigem Hin und Her gelingt es Lunete schließlich nicht nur, Laudine von der Notwendigkeit zu überzeugen, einen neuen Verteidiger der Quelle zum Manne zu nehmen, sie schafft es sogar, Iwein selbst schmackhaft zu machen. Als auch die Edlen die Wahl billigen, wird Hochzeit gehalten, turniert und auf die Ankunft von Artus mit seinem Heer gewartet. Der findet sich ein, Keie darf den ersten Tjost wagen und wird vom Pferd gehoben. Wie sehr diese Handlung, der Sieg über Keie, symbolhaft ist, wird im Verlauf meines Buches noch deutlich werden. So viel aber sei hier schon verraten, ein Sieg über Keie bedeutet, daß der Held nie wieder im Rahmen des Aktantenschemas erwerben kann oder muß. Nachdem also diese Rechnung beglichen ist, gibt Iwein sich zu erkennen (Wir wissen mit diesen Verspätungen ja inzwischen etwas anzufangen), es folgen Schulterklopfen und der bereits geschilderte gute Rat Gaweins. Iwein befolgt ihn aufs Wort, aber wir wissen bereits, daß die Situation Iweins mit der Erecs aber auch gar nicht vergleichbar ist und daß dieser Rat auch wenig nützt. Iwein zieht dann auch fort und vereinbart mit Laudine die Rückkehr über ein Jahr. Sollte er aber säumen, sagt Laudine, wäre ihm ihr Haß gewiß. Natürlich versäumt er den Termin und ist mit einem Mal völlig von Sinnen,

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als er dies bemerkt. Zudem erscheint Lunete am Artushof, bezichtigt Iwein der Unehre und der Schande und verbietet ihm, sich je wieder bei Laudine blicken zu lassen. Iwein wird verrückt und läuft nackt in den Wald, wo er einem Tier gleich vegetiert. So viel, lieber Leser, zum ersten Teil des Iwein. Das ist zugegebenermaßen ziemlich viel Stoff auf einmal, Stoff zudem, der zwar eine recht glaubhafte Geschichte für mittelalterliche Maßstäbe beinhaltet, aber für den, der inzwischen mit dem Schematismus der Romane vertraut ist, doch ein wenig wunderlich, konfus, wenn nicht gar etwas platt. Es sieht ja nach allem, was wir gelesen haben, so aus, als sei die Spannung des ersten Teils durch den Sieg über Keie gelöst. Da kommt Gawein und baut die nächste auf. Ja, man könnte meinen, der Sinn des ersten Teils läge im Beweis der Tapferkeit, und man könnte logisch folgern, der Sinn des zweiten Teils müßte nun aus dem Beweis der Pünktlichkeit bestehen. Tcha, wie soll ich sagen, es sieht tatsächlich so aus! Während der bald folgenden Taten wird Iwein in große Terminnot kommen, und Sie werden es nicht für möglich halten, aber er ist wie verwandelt, pünktlich auf die Sekunde. Haben wir wirklich so wenig gelernt, glauben wir wirklich an eine Message HARTMANNs bezüglich einer Tugend, die erst wir durch intensive Schulung zu einer Zier gemacht haben? Sollte der âventiure meine aus einer Strafarbeit bestehen, hundertmal schreiben: Ich soll nicht säumen, Ich soll nicht....! Dann aber frage ich mich, weshalb aus keiner Strafarbeit Weltliteratur geworden ist, aber ich weiß so immerhin, weshalb für die Filologen Weltliteratur Strafarbeit geworden ist. Erinnern wir uns lieber an die Bastelanleitung für den Detektivroman, an die zwei synchronen Geschichten und an die Rolle des Detektivs als Entdecker der vertuschten Sachverhalte und der vertauschten Motivationen. Hier wie dort besteht die Spannung aus dem Gefälle zwischen zwei Versionen, zwischen Schein und Sein, zwischen dem Vordergründigen und dem Grund. Ohne große Spitzfindigkeiten werden wir an Iweins Taten noch etwas Bedeutsameres entdecken als einen Hang zur Pünktlichkeit. Wenn wir uns zudem vergegenwärtigen, wie der Zustand beschreibbar ist, in dem Iwein sich nunmehr befindet, so ist er unschwer als KRISE erkennbar. KRISE war als Entzug figural verliehener Werte (FS-) definiert worden, und schon wird verständlich, weshalb Pünktlichkeit nicht das angemessene Mittel sein kann, dererlei Werte wieder teilhaftig zu werden. Der Zustand Iweins ist recht gut mit dem Lanvals vergleichbar, denn erstens sollen beide einen Tabubruch begangen haben, und zweitens verfallen beide in einen Zustand der Lethargie. Aber so, wie man im Lanval erkennen konnte, daß der Tabubruch nur marginal das eigentliche Vergehen andeutet, so ist das Terminversäumnis im Iwein schon vollendete Irreleitung, Hilfskonstrukt, um vom Offensichtlichen abzulenken.

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Im Lanval ging es weniger um die Einhaltung eines Schweigeversprechens gegenüber einer Fee als um die Einhaltung höfischer Gesetze, die es verbieten, sich einer Sache zu rühmen, die erstens nicht beweisbar und zweitens ja wohl nicht das Verdienst dieses Ritters ist, sondern eine Gnade. Den ganz Gescheiten wird eine Korrespondenz zwischen beiden Geschichten schon hier evident werden, wir wollen aber langsam und schrittweise vorgehen. Bleiben wir zunächst bei Iwein und seinem Zustand des Wahnsinns, der eine Folge des Entzuges figuraler Werte darstellt, und fragen wir uns, wie er denn da wieder herauskommt. Es ist traurig aber wahr, allein auf sich gestellt würde er sein Leben im Wald verbringen, seines Sinnes und seiner Kleider entblößt, unfähig diesen Zustand abzuschütteln. Helfen könnte seine Minneherrin Laudine, aber dann gäbe es keine âventiure, dann würde Iwein wie Lanval ohne Zutun vergeben, wiedergegeben, er würde entrückt, und wir könnten nichts mehr über ihn erfahren. Um ihn also wieder handlungsfähig zu machen, benötigen wir jemand, den wir, weil er noch im Parzival, im Willehalm von Orlens und im Partonopier und Meliur auftreten wird, KRISENHELFER nennen wollen. Diese Person lindert die schlimmste Begleiterscheinungen der Krise und versetzt den Helden in die Lage, seine Lethargie abzustreifen und ritterlich tätig zu werden. Eines Tages liegt unser Held schlafend am Wegesrand, da kommt die Gräfin von Narison vorbei, und eine ihrer Dienerinnen identifiziert den Verwilderten anhand einer bekannten Narbe als Iwein. Nun wird diese Gräfin gerade von dem Grafen Aliers bedrängt, der sie mit Waffengewalt zur Frau machen will, und man kommt überein, sich von Iwein helfen zu lassen. Dazu reibt man ihn mit einer Zaubersalbe ein, legt ihm Kleidung zurecht und wartet in der Nähe. Iwein kommt zu sich und hält seine Vergangenheit für einen Traum. Das ist auch gut so, sonst könnte er, machte er sich das Geschehen bewußt, womöglich gleich wieder dem Wahnsinn verfallen. Indem er aber sich selbst zunächst nicht erkennt, seine Vita denn auch für einen Traum, für eine literarisierte Chiffre hält, kann er wenigstens Konsequenzen daraus ziehen. er sprach 'mich hat gelêret mîn troum: des bin ich gêret, mac ich ze hamasche komen'. [IWEIN, 3569 ff. Er sprach: "Mein Traum beinhaltete eine Lehre; ich könnte bei Befolgung dieser Lehre) zu Ehren kommen, hätte ich eine Rüstung."] Dies alles, lieber Leser, ist natürlich nur eine Hilfskonstruktion, sie ermöglicht es dem Autor, Iwein in einer Weise handeln zu lassen, die nicht in direkter Beziehung zum Vergangenen und zum Verlorenen steht. Von diesem Augenblick, da Iwein erwacht, ist er für geraume Zeit ein Nobody, er kennt sich selbst nicht, hat, da er

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keine Kleidung trägt, kein Etikett, das auf die Kaufhauskette verweist, ihm fehlen Ausweispapiere, Führerschein und Versicherungskarte. Schlimmer noch ist, daß er sein Gedächtnis verloren hat, alles, was er weiß, ist für ihn ein Traum, keine Realität, keine tatsächliche Vergangenheit, schon gar nicht seine eigene! Zudem wird er auch nicht von der Gräfin von Narison mit Namen angesprochen, geschweige, daß er mit seiner Vita konfrontiert würde. Den wir bislang als Iwein kannten, gibt es in diesem Moment nicht, vor uns liegt ein unbeschriebenes Blatt, mal sehen, wie der Nobody es ausfüllt. Nun aber müssen wir uns vergegenwärtigen, daß etwas ganz Ungeheuerliches geschieht: Dieser schmutzige Kerl, der noch dazu an Anamnese leidet, nichts besitzt außer einem Traum und der Kühnheit, diesen in die Tat umsetzen zu wollen, erdreistet sich tatsächlich, einer adeligen Dame beistehen zu wollen. Es sei hier mal kurz erwähnt, daß sich das einfach nicht gehörte. Schuld nun trifft ihn dabei eigentlich nicht, denn schließlich wird er explizit gebeten, der Gräfin beizustehen. Selbstverständlich hilft Iwein der Gräfin. Er besiegt den Grafen Aliers, der sich in die Gefangenschaft der Gräfin von Narison begeben muß. Darauf widerfährt Iwein solches: si besach in ofte und dicke: und wolder lônes han gegert, des waerer dâ gewert: sîne versaget im lîp noch guot. sone stuont ab niender sîn muot; ern wolde dehein ander lon. dô diu vrouwe von Nârison ir nôt überwant von sîner gehülfigen hant, do begunder urloubes gern. [IWEIN, 3794 ff. Immer wieder betrachtete sie ihn intensiv. Hätte er irgendeinen Lohn begehrt, so war ihm der gewährt worden. Sie hätte ihm weder ihren Körper noch ihren Besitz versagt. Das entsprach aber nicht seiner Einstellung: Er wollte überhaupt keinen Lohn. Nachdem die Gräfin von Narison durch seine rettende Hand ihre Not überwunden hatte, bat er, Abschied nehmen zu dürfen.] Sehen Sie, da ist es wieder. Die Gräfin, von dem Subjektaktanten Aliers, der sie im Kampf erobern will, zum Objektaktanten degradiert, wird trotz eindeutiger Angebote nicht von Iwein attribuiert. Wir sollten im Umgang mit dem INDIREKTEN AKTANTENSCHEMA inzwischen genügend vertraut sein, um zu wissen, weshalb die Attribution abgelehnt werden muß. Auch wenn Iwein es noch nicht wissen kann, wir wissen, daß sein Streben Laudine und der höfischen Ehre gilt, nicht dem Erwerb von Frauen oder Besitz.

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Und doch ist das Verhalten Iweins erstaunlich. Bedenken Sie bitte immer wieder, lieber Leser, daß Sie momentan erheblich mehr wissen als unser braver Held. Der weiß nicht mehr, als daß er mit einer Rüstung zu Ehren kommen kann, dann bekommt er auch noch diese einmalige Chance, und was tut er, er packt die erstbeste Gelegenheit, die sich ihm als Bauer (dafür nämlich hält er sich) bietet, nicht beim Schöpfe und verschmäht die unzweideutigen Angebote. Alles, was wir uns hier also merken müssen, ist, daß er unbewußt, nichtsdestoweniger aber ganz richtig handelt, und so wissen wir, daß er keinen Plan verfolgen kann, da er gar keinen hat. Alles, was Iwein tut, das tut er ohne Ziel, ohne einen Verlust ausgleichen zu wollen und ohne eine KRISE überwinden zu wollen. Damit sind wir nun in der Lage, sicher zu formulieren, welches die genauen Ursachen seiner KRISE waren. Machen wir uns zunächst klar, daß Iweins KRISE doppelt angelegt ist. Auf der einen Seite hat er die Anerkennung des Hofes verloren, weil er Askalon erschlug. In unserer Terminologie gesprochen, hat er nämlich den Dreischritt des Aktantenschemas geradezu in Verruf gebracht, weil er den letzten Schritt, die Attribution, in übelster Weise überstrapaziert hat, weil er sich nicht mit dem Sieg allein begnügte und dem, was ihm zugefallen wäre, sondern den Zweikampf mit einem Trophäenerwerb verwechselte. Mit dieser Diskreditierung des AS selbst bringt HARTMANN schon genug Zündstoff in den höfischen Roman, doch geht er noch weiter. Im Erec war das AS ja noch probates Mittel, den Erwerb Enitens zu legitimieren. Nun wird der Erwerb der Frau an den Pranger gestellt, jetzt soll das AS sich als völlig untauglich erweisen, das zu erwerben, was auch wirklich nur gewährt werden kann, LIEBE. Jetzt, verehrter Leser, sind wir mitten im Thema nicht nur dieses Romans, jetzt erfahren wir langsam aber sicher, was diese Romane eigentlich so überdauernd wertvoll und schön macht, denn jetzt wird sich zeigen, daß das ritterliche Kampfritual vor allem dem versagen muß, was wirklich erstrebenswert ist, und dazu gehört ja wohl insbesondere die Liebe. Um dies deutlich zu machen, hat HARTMANN Laudine mit allen Kennzeichen einer Fee versehen, die einen Ritter benötigt, um ihr Reich zu schützen. Als Fee aber kann sie ihre Huld nur gewähren, niemals jedoch ist sie erwerbbar. Mit Recht werden Sie nun bemängeln, daß es aber so aussah, daß der Anschein erweckt wurde, der Erwerb Laudines sei direkte Folge des Sieges Iweins über Askalon. Ist er aber nicht! Um diesen Zusammenhang zu verdecken, hat HARTMANN nämlich den ganzen faulen Zauber mit Lunete und dem Ring eingeführt. Weil Laudine alle Attribute einer Fee hat, mußte der Zusammenhang zwischen der Tötung Askalons und Iweins Heirat möglichst gedehnt und vermittelt werden. HARTMANN wollte nämlich zwei Dinge auf einmal erreichen. Erstens sollte es so aussehen (besonders für Iwein und für uns), als sei der Erwerb Laudines die Attribution im AS. Dann aber wäre Laudine nichts als Trophäe, die Keie den Wind aus den Segeln nehmen soll. Zweitens aber mußte Laudine INSTANZ bleiben, sonst hätte sie Iwein ihre Liebe und Huld nicht

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entziehen können. Eine Instanz aber kann man nicht erwerben, sie muß sich freiwillig gewähren. Um dies beides gemeinsam anzudeuten, ohne daß es so deutlich wird, daß es sich sofort ausschließt, schiebt HARTMANN Lunete als Vermittlerin ein, setzt er Iwein zunächst matt, damit dieser nicht als Sieger die Burg betritt und Laudine im Sturm zu erobern sucht. Kurz, für Laudine muß es so aussehen, als habe sie durch die Überredung seitens Lunete ihre Liebe diesem Herrn Iwein gewährt, wodurch ihr Status als gewährende Fee unangetastet bleibt. Nur sieht die Sache für Iwein so aus, als habe er sie erobert, indem er ihren Vorbesitzer erschlug. Die so angelegte Spannung entlädt sich nicht sofort; um sie auch nicht aufzudecken, erfindet HARTMANN die Geschichte mit dem Terminversäumnis, im guten Glauben, es würde schon niemand so blöd sein, zu meinen, dies würde Minneverlust und Verlust der höfischen Anerkennung rechtfertigen können. Um Iwein wieder der Liebe Laudines und der Anerkennung des Hofes teilhaftig werden zu lassen, führt er ihn einen Weg, der aus mehreren âventiuren besteht, entlang, läßt er ihn Taten vollbringen, die allesamt als IAS identifizierbar sind, die aber nicht nur die Wiedergewährung von Minne und Anerkennung vermitteln, sondern die auch dadurch den topischen Attributionscharakter des AS geradezu karikieren, daß Iwein sich der Verpflichtung, befreite Burgfräuleins zu ehelichen, nur durch Flucht entziehen kann. Hinzu kommt, daß Iwein, sogar als er sich seiner wieder bewußt wird, alle Taten anonym vollbringt, wodurch seine Taten seine Person ausmachen, eine Person mithin, der man irgendwann gern Liebe und Anerkennung zollen wird. Beachten wir also, daß unser Held die ersten Taten vollbringt, ohne daß er etwas von sich weiß. Sein unbewußtes Handeln erscheint daher natürlich und richtig, es verfolgt keine Absicht, und es folgt keinem Erwerbsziel. In dem Moment, wo er sein Gedächtnis zurückerlangt und dennoch anonym weiteragiert, festigt er diese neue Einstellung, weist er uns darauf hin, daß er das Prinzip verstanden hat. Iwein nimmt den Namen Ritter mit dem Löwen an, denn als er einen Löwen im Kampf gegen einen Drachen unterstützt, beweist das Tier seine Dankbarkeit, indem es ihm sein Zutrauen schenkt und ihm nicht mehr von der Seite weicht. Hierin ist bereits Iweins Weg antizipiert, denn jedem dürfte klar sein, daß die unfreiwillige Unterwerfung eines Löwen nur mit dem Tod eines der beiden Kontrahenten enden kann. Der Löwe aber schenkt ihm sein Vertrauen, das auf keine andere Art zu erwerben ist als durch selbstloses Handeln, durch ritterlichen Kampf ohne ein Erwerbsziel. Selbstverständlich sind alle weiteren Taten Iweins als Indirektes Aktantenschema (IAS) beschreibbar. Zwei davon stehen in indirektem Zusammenhang mit der Rückgewinnung der Artuswürdigkeit, die übrigen verweisen entweder wie die erste durch die strikte Ablehnung einer Attribution auf Laudine oder finden sogar in ihrer Umgebung statt.

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Die zweite dieser Helfertaten spielt sich direkt unter den Augen von Laudine ab, wobei Iwein selbstverständlich weiterhin unter dem Pseudonym Ritter mit dem Löwen auftritt, denn hier ist die Ferne zur Instanz, wie wir sie im Herzog Ernst kennengelernt haben, einfach durch Anonymität ersetzt. Dies macht es später leichter, dem Helden all die vormals verlorenen Werte zu gewähren, und man vermeidet Brüche wie im Herzog Ernst. Indem ich aber Pseudonym sagte, habe ich deutlich gemacht, daß er in dem Moment, wo er diese Helfertat begeht, sich seiner wieder bewußt ist, nicht lediglich kosmetisch korrigiert. Zum einen nämlich findet das Folgende nicht nur vor Laudine statt, es geht zum anderen um Lunete, jene Dienerin, Heiratsvermittlerin und Unglücksbotin aus dem ersten Teil. Der begegnet Iwein an der Zauberquelle, an der er sich seiner selbst so schmerzlich bewußt wird, daß er vom Pferd in sein eigenes Schwert fällt. Seine Klagen hört Lunete, die wegen ihrer Kupplerei und deren Folgen zum Tode verurteilt wurde und nun in der Kapelle wartet, ob sie nicht doch einen Kämpfer für ihre Sache findet, denn niemand am Artushof, und das ist beileibe seltsam genug, konnte ihr helfen. An seinen Untaten erkennt man sich gegenseitig, und Iwein verspricht, für ihre Sache zu kämpfen, die ja auch die Seine ist. Da während des Kampfes gegen die drei Ankläger Laudine zugegen sein wird, soll dies alles geschehen, ohne daß sie seine wahre Identität erfährt. Fragen wir uns, weshalb Iwein hier ganz bewußt sein Pseudonym einsetzt. Unsere Gelahrten würden natürlich psychologisch argumentieren und behaupten, er habe Angst, ihr unter die Augen zu treten, nicht zuletzt deshalb, weil dies ausdrücküch in Lunetes Schmährede verboten wurde. Sollen sie es denken, nur hat dieses Argument den einen Haken; unser Held hat da aber auch rein gar nichts zu verlieren, wohl aber etwas verloren! Genau darum aber geht es: Würde Iwein unter seinem wahren Namen streiten, sähe sein Sieg sehr anrüchig nach einem unverhohlenen Versuch aus, seine Schuld zu tilgen und seine Unschuld zu beweisen. Würde er in diesem Kampf als Iwein gewinnen, dann sähe es zudem so aus, als hätte er nicht für jemand anderen (Lunete) etwas getan, sondern für sich selbst. Was immer er aber für sich selbst tut, das darf nur indirekte Wirkung zeigen, darf nicht bewußt von ihm als Mittel der Rehabilitation eingesetzt werden. Keinesfalls also darf der Eindruck entstehen, er könne sein Recht erkämpfen. In dieses Recht kann er nur wieder eingesetzt werden, es kann ihm gewährt werden, doch erstreiten kann und darf er es nicht. Iweins Frage, weshalb Lunete sich nicht am Artushof um einen Kämpfer wie Gawein bemüht hat, verweist auch auf die nächste âventiure. Wir erfahren, daß ein Ritter die Königin Ginover entführt hat, ein Vorkommnis, das sich Artus mit seiner sprichwörtlichen Freigiebigkeit häufiger einhandelt, weshalb sich nach vergeblichen Bemühungen solcher Ritter wie Keie, Kalogrenant, Segramors und anderer schließlich Gawein selbst auf den Weg machen mußte. Iwein verspricht, morgen zum angesetzten Termin zur Stelle zu sein und reitet weiter, bis er an eine Burg gelangt. Dort

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wird er trotz der allgemein herrschenden Trauer freundlich aufgenommen. Die Trauer aber wird so überdeutlich, daß Iwein nicht umhin kann, nach ihren Ursachen zu fragen und seine Hilfe anzubieten, um sie zu bekämpfen. (Es lohnt sich übrigens, diese Stelle im Gedächtnis zu behalten, um sie im Kapitel über den Parzival wieder griffbereit zu haben.) Er sprach "saget mir, herre, durch got waz iu werre, und waz dirre wehsel diute: daz ir und iuwer liute sô niuwelîchen wâret vrô, wie hât sich daz verkêret sô?" [IWEIN, 4435 ff. Er fragte: "Um Gottes willen sagt mir, Herr, was Euch bedrückt und was diese Wandlung zu bedeuten hat; Ihr und Eure Leute waren vor einem Augenblick noch frohgemut, wieso hat sich dies schlagartig geändert?"] Er erfährt, daß der Riese Harpin um die Hand des Burgfräuleins geworben hat. Auf die Ablehnung hin hat er das Land verwüstet, hat sechs Söhne des Burgherren gefangen und zwei getötet. Morgen will er die übrigen Söhne vor seinen Augen töten, um endlich die Herausgabe der Tochter zu erzwingen, die er dann aber nur dem niedrigsten Knecht geben will. Auch hier konnte vom Artushof keine Hilfe erbeten werden, da dieser wegen der Ginover-Entführung in heller Aufregung war. Und gerade Gawein, der sogar der Schwager des Burgherrn ist, ist ja fortgeritten, um die Königin zurückzuholen. Trotz des enormen Zeitdruckes will Iwein den Kampf wagen, doch der Riese ist unpünktlich und die Spannung steigt. Als er endlich erscheint, gelingt es Iwein mit seinem Löwen in hartem Kampf Harpin zu töten. Nun bleibt wenig Zeit, er muß zu Lunete. Doch der Burgherr hätte ihm allzugerne seine Dankbarkeit erwiesen: dô antwurt er und sîn wîp beidiu guot unde lîp vil gar in sîne gewalt. [IWEIN, 5097 ff. Da übereigneten er und seine Gattin ihr Leben und ihren Besitz seiner Verfügungsgewalt.] Natürlich lehnt unser Held auch diese Attribution ab. Statt dessen bestellt er Grüße an seinen Freund Gawein, doch formuliert er sie seltsamerweise so, dass dieser noch nicht erkennen kann, von wem sie stammen, kennt er doch das Pseudonym Iweins nicht:

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vrâger iuch wiech sî genant, sô tuot im daz erkant daz ein lewe mit mir sî: da erkennet er mich bî. [IWEIN, 5123 ff. Fragt er Euch nach meinem Namen, so erklärt ihm, daß mich ein Löwe begleitet: Daran wird er mich erkennen."] Auch hier wieder diese Anonymität, obwohl er hier doch keine Angst zu haben brauchte, sich erkennen zu geben, wie wir das einmal rein hypothetisch bezüglich des Kampfes vor Laudine angenommen hatten. Mehr und mehr müssen wir den sicheren Eindruck gewinnen, daß sich Iwein einen neuen Namen macht, einen Namen, für den andere und bessere Taten sprechen als für seinen alten. In letzter Sekunde erreicht unser Held den Gerichtsplatz, wo Lunete gerade ihr letztes Gebet spricht. Er erklärt sich zum Kämpfer für ihre Sache und siegt mit seinem Löwen nach schwerem Kampf über die drei Ankläger, die dafür nach geltendem Recht selbst den Tod leiden müssen. Nach dem Kampf spricht er sogar mit Laudine: doch bat sî in vil verre, sî sprach 'lieber herre, durch got belîbet hie mit mir: wand ich weiz wol daz ir und iuwer lewe sît starke wunt: lât mich iuch machen gesunt.' Sus sprach der namelôse dô 'ichn gewinne gemach nochn wirde vrô niemer mê unz ûf den tac daz ich wider haben mac mîner vrouwen hulde: der mangel ich ân schulde.' [IWEIN, 5459 ff. Mit Nachdruck bat sie ihn und sprach: "Lieber Herr, bleibt um Gottes willen hier bei mir; ich weiß doch auch, daß Ihr und Euer Löwe schwer verletzt seid; laßt mich Euch gesund pflegen." So antwortete der Namenlose darauf: "Ich kann keine Bequemlichkeit oder Freude jemals wieder annehmen bis zu dem Tag, wo ich wieder die Huld meiner Herrin genieße; die entbehre ich ohne Schuld."] Mit dieser Episode hat HARTMANN wieder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zunächst ist evident, daß Iwein im Zweischritt von Konfrontation und Domination gehandelt hat, und um das IAS zu verdeutlichen, wird jegliche Attribution verweigert. Schlechterdings kann Iwein das Angebot Laudines aber auch gar nicht annehmen, da die Tat dann wieder anrüchig nach einem AS aussehen würde.

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Immerhin aber erfahren wir in diesem Gespräch noch, daß Laudine einem Mann wie ihm verzeihen würde. Das gibt zu hoffen, muß aus strukturalen Gründen aber noch warten, bis es inszeniert werden kann. Hinzu kommt aber, daß Iwein seinen zweiten Verlust noch nicht ausgebügelt hat, denn noch fehlt ihm die Anerkennung des Artushofes. Und weil die Minne Laudines wichtiger ist, muß sie den Schlußpunkt des Romans bilden. Die zweite Fliege aber bezieht sich auf Lunete. Hier ist nun bewiesen, daß ihr Rat an Laudine, Iwein zum Manne zu nehmen, nicht verkehrt war, wodurch sie als Ratgeberin auch im Hinblick auf das Ende des Romanes rehabilitiert ist. Hinzu kommt, daß damit gezeigt werden konnte, daß Iwein nicht etwa der falsche Mann für Laudine war, sondern daß er allenfalls einen bestimmten Fehler gemacht hat. Wenn wir uns nun erinnern, welcher Fehler Iwein vorgeworfen wurde, dann zeugt der letzte Satz im obigen Dialog nicht von der Unein-sichtigkeit Iweins, sondern von seinem nunmehr guten Glauben. Wenn seine Schuld tatsächlich das Terminversäumnis war, dann hätte Iwein tatsächlich Recht, dann wäre er zu unrecht verstoßen worden. Aber, liebe Leser, dies bezieht sich nur auf HARTMANNs Scheinmotivation, auf den Vorwurf des Terminversäumnisses, auf seine Unpünktlichkeit, und nicht auf die Schuld, die auf strukturaler Ebene verborgen liegt. Würde nämlich tatsächlich kein anderer Anklagepunkt gelten als dieser, dann wäre die Geschichte hier zuende. Schön, daß HARTMANN uns nicht allein läßt, daß er uns hie und da kleine Hinweise gibt, die uns hinter seine Vordergründe blicken lassen. Ich persönlich finde es geradezu entzückend, wie HARTMANN mit der Terminproblematik taktiert. Er hatte sie ja anfangs benötigt, um irgendwie plausibel zu machen, daß unser Held einen Fehler begangen hat. Um nun auf die tatsächlichen Ursachen hinzulenken, die erst am Ende des Romanes deutlich werden sollen, muß das vorgeschobene Defizit, das Versäumnis, langsam aber sicher und auch für die Schwerfälligen begreifbar seiner Bedeutung beraubt werden. Und wie stellt HARTMANN das an? Er läßt unseren Helden pünktlich wie eine Stechuhr von Termin zu Termin hasten und... und trotzdem kommt niemand, der sagt: "Braver Mann, pünktlicher Mann, Sie sind wirklich ein artuswürdiger Idealritterl" Wenn Iwein dereinst wieder im Besitz höfischer Anerkennung und der Huld Laudines ist, wird tatsächlich nicht seine Pünktlichkeit für ihn sprechen, sondern sein Pseudonym und alle Taten, mit denen er sich einen Namen gemacht hat. Iwein aber scheint inzwischen zu wissen, wie wichtig seine Taten für die Wiedergewährung der Huld Laudines sind, und daher verabschiedet er sich mit den folgenden Worten: er sprach 'ich wil sîn erkant bî mînem lewen der mit mir vert. mirn werde ir gnâde baz beschert, sô wil ich mich iemer schamen

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mîns lebens und mîns rehten namen: ich will mich niemer gevreun. îch heize der rîter mittem leun: und swer iu vür dise tage iht von einem riîer sage des geverte ein lewe sî, da erkennet mich bî.' Diu vrouwe sprach 'wie mac daz komen daz ich von iu niht hân vernomen und daz ich iuch nie mê gesach?' der rîter mittem lewen sprach 'daz iu von mir niht ist geseit, daz machet mîn unwerdekheit. ich möhte mittem muote mit lîbe und mit guote gevrumet hân diu maere daz ich erkander waere. wirf mîn gelücke alsô guot sô mîn herze unt der muot, ich weiz wol, sô gedien ich daz daz ir mich erkennet baz.' [IWEIN, 5496 ff. Er sprach: "Man soll mich nach meinem Löwen nennen, der mich begleitet. Sollte mir ihre Gnade nicht erneut gewährt werden, dann werde ich meine Identität und meinen wahren Namen für immer verleugnen, und nie mehr glücklich sein können. Ich heiße der Ritter mit dem Löwen, und wer immer Euch von nun an etwas von einem Ritter berichtet, der in Begleitung eines Löwen ist, dann erkennt Ihr daran mich." Die Dame sprach: "Wie kommt es, daß ich nichts von Euch gehört habe oder Euch nicht häufiger traf?" Der Ritter mit dem Löwen erklärte: "Daß ich ein unbeschriebenes Blatt bin, liegt an meinem geringen Ruhm. Ich werde alles daransetzen, daß ich mir einen Namen mache. Ist mein Glück so tadellos wie mein Herz und meine Einstellung, so bin ich sicher, ich erreiche es, daß Ihr mich besser kennenlernt."] Zwar drückt sich Iwein hinsichtlich seiner Hoffnung bewußt sibyllinisch aus, aber das Verfahren und die Wirkungsweise des IAS werden deutlich genug. Klar wird wieder, daß es nicht genügt, sich einen neuen Namen zuzulegen, man muß sich vielmehr einen machen. Ruhm aber erwirbt nur der, der nichts erwerben will, der nicht das erste eroberte Burgfräulein heiratet und in der Versenkung verschwindet. Gerade diesen wichtigen Aspekt macht HARTMANN ganz besonders in der nun folgenden âventiure deutlich. Terminnöte aber spielen von nun an keine Rolle mehr,

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die meisten Leser werden begriffen haben, daß sie auch niemals eine Rolle spielten, Zeitdruck gibt's nicht mehr, und unser Held kann sich beim Kämpfen etwas mehr Zeit lassen. Unversehens gelangt er an eine Burg, wo ihn eine schreckliche âventiure erwartet. Alle Bewohner raten ihm vom Verweilen ab, denn wer bleibt, findet unweigerlich den Tod. Dreihundert edle Damen gilt es zu befreien, die als Geiseln für das Leben eines jungen Ritters hier von zwei Gesellen des Teufels untergebracht wurden. Daselbst müssen sie für Hungerlohn unter unwürdigsten Bedingungen Fronarbeit leisten. Der Burgherr ist mit alledem nur lose verbunden, er selbst ist nicht der Bösewicht, doch scheint er mir von HARTMANN mit allen Attributen eines Frühkapitalisten ausgestattet. Er zahlt Hungerlöhne (vier Pfennige vom Pfund), liegt selbst mit seiner Frau im Garten und läßt sich von seiner wunderschönen Tochter Geschichten vorlesen. Das Gesprächsthema der beiden Alten scheint zeitlos: dô redten aber die alten, sî waeren beidiu samet alt und der winter wurde lîhte kalt: sô soldens sich behüeten mit rûhen vuchshüeten vordem houbetvroste. [IWEIN, 6532 ff. Da erzählten die beiden Alten, wie alt sie nun schon beide seien und daß der nächste Winter bestimmt frostig würde: daher wollten sie sich rechtzeitig mit pelzigen Fuchskappen vor Frost am Kopfe schützen.] Sonst haben die aber keine Sorgen, würden wir heutzutage schnell sagen, doch wir irren, insbesondere der Vater ist besorgt, seine hübsche Tochter unter eine Haube zu bringen, die nicht aus Pelz besteht. Mit ihr hat es nämlich die Bewandtnis, daß nur der sie zur Frau gewinnen kann, der die beiden Riesen (Teufelsbündler) besiegt. zwêne risen die sint hie: desn ist dehein mîn gast erlân erne müese sî bestân; daz sî noch nierman überwant! und ist iedoch alsô gewant: waere dehein sô saelec man der in beiden gesigete an, dem müese ich mîne tohter geben. und solde mich der überleben, der gewünne michel êre (ichn hân niht kindes mêre)

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und wurd im allez diz laut. ouch ist ez leider sô gewant: unz sî unüberwunden sint, sône mac ich mîn kint deheinem manne gegeben. wâget, rîter, daz leben. [IWEIN, 6598 ff. Hier gibt es nun zwei Riesen, und keiner meiner Gäste kommt drumherum, mit ihnen zu kämfen. Daß die aber auch noch keiner besiegt hat! Es ist nämlich so: Gäbe es einen solch tollen Mann, der beide schlagen kann, dem muß ich meine Tochter geben. Wenn meine Tage dann gezählt sind, würde er eine gute Stellung und alles Land erhalten, denn ich habe sonst keinen Erben. Doch sieht es leider so aus, daß ich sie nicht unter die Haube kriege, solange die Riesen unbesiegt sind. Riskiert doch bitte Kopf und Kragen, edler Ritter.] Wir können diesen unfrommen Wunsch eigentlich unkommentiert lassen, wird doch deutlich genug, daß dieser Herr nicht die Befreiung der 300 unterbezahlten Damen im Kopf hat, sondern zuerst den nächsten Winter und dann einen genehmen Universalerben. Iweins Erwiderung läßt aber keinen Zweifel an der Ablehnung einer Attribution zu: ichn ger iuwer tohter niht. [IWEIN, 6630. Ich will Eure Tochter nicht haben.] Nachdem Iwein der Sieg über die beiden Riesen gelungen ist, wird der alte Herr deutlicher: "ir müezt sî nemen," sprach der wirt, "ode ir sît gevangen;" [IWEIN, 6812 f. "Ihr habt sie zu heiraten", sprach der Burgherr, "oder ich bringe Euch hinter Gitter."] Gottlob kann sich unser Held dieser Attributionsverpflichtung entziehen, und ich finde, deutlicher wurde nie der Charakter der IAS herausgestellt. Dafür erinnert Iwein den Mann daran, daß er nun die 300 Damen freilassen muß. Sieben Tage bleibt Iwein noch zu Gast und erholt sich, dann reitet er gemütlich zur letzten Auseinandersetzung. Auch Iweins letzter Kampf ist ein Kampfordal, ist ein Kampf auf Leben und Tod am Artushof, um eine Erbstreitigkeit zweier Schwestern zu entscheiden. Die entrechtete jüngere Schwester vertritt Iwein (wie könnte es auch anders sein), und die hart-

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herzige ältere vertritt Gawein (Das muß uns doch sehr wundern, ist er doch der Inbegriff der Idealität). Wenn Sie jetzt staunen, daß die beiden Freunde gegeneinander kämpfen wollen, dann wundern Sie sich zu recht. Gut, wir wissen, daß Iwein sich immerhin ein Pseudonym zugelegt hat. Leider reicht dies hier nicht aus, denn er hatte unter diesem Namen vor kurzem der Familie Gaweins geholfen, was sich natürlich herumgesprochen hat. Gawein selbst hatte damals nicht helfen können, weil alle Mann die entführte Königin Ginover suchten. So müssen wir uns nicht wundern, daß Iwein vor dem Kampf seinen Löwen versteckt. Klar ist, daß unser Held gegen Gawein antreten muß, um seine Artuswürdigkeit zu beweisen; klar ist auch, daß wissentlich keiner der beiden gegen den anderen kämpfen würde. HARTMANN läßt daher unseren Helden so handeln, daß es zum Kampf kommen kann, er gibt ihnen also keine Psyche, sondern eine Aufgabe! Das wäre alles nicht leicht zu bewerkstelligen, wenn nicht auch der andere Kämpe, Gawein, beschlossen hätte, völlig unmotiviert eben solches zu tun: her Gâwein, der sich helen bat, der hete sich selben sô verholn und hete sich vor enwec gestoln, und hôrten in des alle jehen, ern möhte den kampf niht gesehen von ander unmüezekeit. alsô heter sich entseit, und hete sich wider gestolen dar mit fremden wâfen also var daz in dâ niemen ân die maget erkande: der het erz gesaget. [IWEIN, 6884 ff. Herr Gawein hatte (die ältere Schwester) darum gebeten, (beim Kampf) unerkannt erscheinen zu dürfen, er hatte sich versteckt gehalten und sich zuvor weggeschlichen, wobei alle ihn sagen hörten, er könne dem Kampf wegen anderer Geschäfte nicht beiwohnen. So hatte er sich verleugnet und sich wieder zurückgeschlichen mit fremder Rüstung und falschem Wappen, so daß ihn niemand als die ältere Schwester erkannte, die er ja eingeweiht hatte.] Wir dürfen uns jetzt ganz dumm fragen, weshalb Gawein diese Show abzieht! Es scheint irgendwie eine sehr dumme Frage zu sein, denn vergebens suchte ich bei den Gelehrten nach ihr, steif und ein wenig verblödet stehen sie wie Parzival herum und fragen nichts. Wir wollen ihnen solches inzwischen nicht mehr verübeln, es reicht meines Erachtens völlig aus, daß sie uns zur Erheiterung dienen. Antworten auf

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Fragen von ihnen zu verlangen, die sie aus Furcht, sich zu blamieren, erst gar nicht stellen, hieße sie und ihren Berufsstand weiterhin ernst zu nehmen. Wenn Iwein die Artuswürdigkeit wiedererlangen will, muß er gegen Gawein kämpfen, den Mann, der das IAS repräsentiert, so wie Keie das AS vertritt. Dabei wird Keie als Zeichen gelungenen Erwerbs immer besiegt, Gawein, als Zeichen des letzten IAS, als Stufe zur Artuswürdigkeit, natürlich nicht. Andererseits darf Iwein auch nicht verlieren, kurz, die Gegner müssen ebenbürtig sein. Würden sich beide vor diesem Kampf als Iwein und Gawein erkennen, würden sie erst gar nicht beginnen. Würde Gawein den Löwen sehen, täte er es auch nicht, da er weiß, daß dieser Ritter seiner Familie half. Natürlich geht der Kampf unentschieden aus, keiner kann, keiner soll schließlich den anderen übertreffen. Jetzt raten Sie aber mal, weshalb Iwein, als er und Gawein sich gegenseitig zu erkennen geben, seinen richtigen Namen nennt und sein Pseudonym verschweigt. Schließlich hatte er gegenüber Laudine erklärt, er würde so lange seine wahre Identität verschweigen, bis er die Gunst seiner Dame wiedererlangt hätte. Sehen Sie, geneigte Leser, derlei Textstellen gehören zum Interessantesten in der Literatur überhaupt. Man erkennt sie vornehmlich daran, daß die Forschung an ihnen mit der Bemerkung vorübergeht, diese Unstimmigkeiten seien auf fehlende Übersicht des Autors zurückzuführen und was wir an Euphemismen für das Versagen der LW noch die Gnade haben zu erfahren. Tatsächlich erkennen wir, daß solche Unstimmigkeiten immer nur an zwei Stellen im Text auftauchen, dort nämlich, wo die KRISE motiviert wird, und natürlich da, wo der Held figurale Werte wiedererlangt. Den Grund dafür kennen wir inzwischen ebenfalls. HARTMANN überlagert das Strukturschema des Romans, das eine absolut stringente Logik aufweist und daher bei Aufdeckung den Plan der Geschichte enthüllen würde, mit einer pseudologischen Motivation. Mehr und mehr aber, insbesondere gegen das Ende hin, verläßt er die Pseudomotivationen, um das Verstehen der Geschichte nicht zu gefährden. Derart vom Erzähler alleingelassen, fehlen den LW natürlich die Pseudomotivationen am Ende, die Entsprechungen der Krise, was denn auch der Grund dafür ist, daß wissenschaftliche Spekulation sich in enorm kostspieligen Publikationen Bahn bricht, sich ihr blindes Umherstolpern und Herumrätseln in unzähligen Schriften bezahlen läßt. Wir aber, die wir solchen Motivationen keine Bedeutung beigemessen haben, dürfen uns hier die Hände reiben, uns läßt HARTMANN am Ende nämlich nicht im Regen stehn, im Gegenteil, all das, was sich so gar nicht mit der Pseudo-motivation reimen will, ist konsequente Fortführung seines strukturalen Romanmodells. Um dies deutlich zu machen, um das Ende und das Ziel unverfälscht dem strukturalen Sinn zuzuordnen, läßt HARTMANN die Figuren unvermittelt handeln, denn von nun an und von hier aus rückblickend soll die Tat für sich sprechen, den Roman erhellen, nicht aber seine Erzählerkommentare und Pseudomotivationen.

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Und so liegt der Grund für die scheinbar überflüssige ANONYMITÄT beider Kämpfer, Iweins und Gaweins, in der strukturalen Notwendigkeit begründet, dem Leser deutlich zu machen, daß der Vertreter des Artushofes und der, dem die Anerkennung des Hofes zufallen wird, in keiner offensichtlichen Beziehung zueinander stehen, die Einfluß auf die vorurteilsfreie Gewährung von figuralen Werten haben könnte. Daß man nachher in dieser Person erstens Iwein und zweitens den Löwenritter erkennt, macht diese Gewährung im Nachhinein für den Rezipienten nur verdienter und gerechter. Hätte unser Held aber nach dem Kampf mit Gawein sein Pseudonym genannt, hätte er auf seine Tat bei Gaweins Familie aufmerksam gemacht. Er hätte sich nicht an seinen Taten erkennen lassen, sondern hätte sich mit ihrer Hilfe selbst bekannt gemacht, sich mehr oder weniger gebrüstet. Gawein ist ihm nämlich seit der Hilfe für seine Verwandten verpflichtet und daher bei der Beurteilung der Artuswürdigkeit nicht objektiv, wenn ihm dies unterbreitet würde. Die Gewährung von figuralen Werten darf also immer nur indirekt mit den Taten des Helden zusammenhängen, am besten fungieren die Taten als nachträgliche Legitimierung für eine Gewährung gegenüber einem Unbekannten, der sich dann als ehemaliger Unwürdiger und dann um so deutlicher als Würdiger entpuppt, wie es hier geschieht, als plötzlich Iweins Löwe angelaufen kommt. Da nun reimt sich für Gawein und den Artushof alles fein zusammen, und sie sind allesamt froh, einen Helden mit diesem Ruf in ihrer Mitte zu wissen. Und nun schauen wir uns an, wie HARTMANN völlig parallel die Gewährung der Huld Laudines konstruiert hat. Iwein ist wild entschlossen, Laudines Huld zu bekommen, da er meint, ohne sie nicht leben zu können. Er reitet zur Quelle und begießt sie immer wieder. Natürlich gibt es wieder das übliche Donnerwetter, aber niemand ist da, die Quelle und das Land vor Frevlern zu schützen. Lunete drängt daraufhin Laudine, endlich einen Beschützer für die Quelle zu akzeptieren, am besten natürlich den Löwenritter, von dem man so viel sah und hörte. Den aber kann man nur dann verpflichten, wenn ihm seine Herrin verzeiht, die ja niemand kennt, außer dem Ritter selbst und außer Lunete, die ja die wahren Verhältnisse kennt, und außer uns natürlich. Daher inszeniert Lunete dies: doch ist mir ein dinc wol erkant: ezn hulfe niemannes list, unz im sin vrouwe ungnaedec ist, daz er vüere durch in weder her ode hin, ern taete im danne Sicherheit daz er nâch rehter arbeit mit allen sînen dingen

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dâ nâch hulfe ringen, ob er durch iu iht taete daz er wider haete sîner vrouwen minne.' diu vrouwe sprach 'die sinne der mir unser herre gan, die kêr ich alle dar an, beide lîp unde guot, daz ich im ir zornmuot vertrîbe, ob ich iemer mac. des enpfâch mînen hantslac. [...] 'Ob der rîter her kumt und mir ze miner nôt gevrumt, mit tem der lewe varend ist, daz ich ân allen argen list mîne maht und mînen sin dar an kêrende bin daz ich im wider gewinne sîner vrouwen minne. ich bite mir got helfen sô daz ich iemer werde vrô, und dise guoten heiligen.' [IWEIN, 7876 ff./ 7925 ff. "Über einen Sachverhalt bin ich nun zufällig genau informiert: Niemandes Überredungskunst reichte aus, solange er bei seiner Dame in Ungnade bleibt, daß er irgendwo hin zöge, wenn man ihm nicht zusagte, daß man alles daransetzte, ihm bei der Wiedergewährung der Minne seiner Dame zu helfen, damit er Euch zuliebe einen Finger krümmt". Die Dame (Laudine) sprach: "Alle Sinne, die mir Gott verlieh, sowie Leben und Gut wende ich auf, um ihm ihre Ungnade zu vertreiben, so gut ich irgend kann, darauf gebe ich mein Ehrenwort." (...) "Wenn der Ritter zu mir kommt, der in Begleitung des Löwen ist, und mir in meiner Not beisteht, verpflichte ich mich ohne Hintergedanken, alles, was in meinen Mächten steht und was mein Verstand zuläßt, zu tun, daß ich ihm die Gunst seiner Dame zurückbringe. So wahr mir Gott helfe, bei meiner Glückseligkeit und bei diesem Heiligen."] Sehen Sie, die beiden Personen, die in diesem Eid angesprochen werden, stehen in keinerlei erkennbarer Beziehung zueinander. Der Löwenritter ist ein Pseudonym, die relevante Dame ist sogar anonym. Laudine darf nicht wissen, daß sie selbst die angesprochene Dame ist, und sie darf auch nicht wissen, daß sich unter dem Löwenritter

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Iwein verbirgt, denn auch sie muß die Huld, die sie verleiht, völlig vorurteilsfrei vergeben, durch nichts anderes beeinflußt, als durch den guten Ruf des Ritters, denn wäre der nicht diesem Ruf gerecht, würde sie durch diesen Eid den ihren zerstören. Damit ist ihr Eid gerechtfertigt, aber damit hat sie gleichzeitig einem Mann ihre Liebe zurückgegeben, der sie weiß Gott verdient, sie aber nicht verdienen durfte. Indem sie also vorurteilsfrei den Ritter mit dem Löwen für die Huld einer Dame für würdig hält, hat sie unbewußt die Voraussetzung dafür geschaffen, ihre Liebe gestehen zu müssen, denn die ist von dem Moment an legitimiert, wo sie in dem ausgezeichneten Ritter ihren ehemals geliebten Gatten erkennen muß. Als Iweins Identität nun auch gelüftet werden darf, ist Laudine zunächst so erschrocken und abweisend, wie wir es im Herzog Ernst bei Kaiser Otto sehen konnten, womit nun auch die letzten Zweifel hinsichtlich der tendenziösen Umgestaltung der Fassung (B) beseitigt sein sollten. Damit ist das Paar verdientermaßen wieder vereint, die Liebe der Dame hat ihren neuen Stellenwert eindrucksvoll unter Beweis gestellt, ich denke, wir sollten uns die delektierlichen Torheiten der unberufenen Berufsfilologen ersparen, und so bleibt mir dazu vorerst nicht mehr zu sagen, wan got gebe uns saelde und êre.

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GREGORIUS oder Die Spielwiese der Sündenprofis Die Romane, die wir bis zu diesem Moment kennengelernt haben, bilden in ihrer Reihung unverkennbar eine Entwicklung. Diese Entwicklung wird getragen von der Bedeutung und der Wertung das aktantiellen Erwerbs. Das Aktantenschema erwies sich in den Brauterwerbsromanen als ultima ratio, wenngleich wir immer schon gewisse Skrupel da spürten, wo es dem Schwiegervater ans Leder hätte gehen müssen. Der Aventiureroman etablierte erstmals die INSTANZ, die Werte verlieh oder entzog, Werte, die aktantiell nicht erwerbbar waren. Zugleich wurde das IAS eingeführt, ein kastriertes Aktantenschema, dem der letzte Schritt, die Attribution fehlt. Beides aber, das Figuralschema (FS) als Wertespender und das IAS als vermittelnder Weg, stellte das Wesen und den Wert des AS zur Diskussion. Besonders deutlich wurde die Hecklastigkeit des AS im Iwein, die das AS als Trophäenattribution anprangerte. Damit war hinsichtlich des AS das WIE des Erwerbs hinreichend diskutiert, es fügt sich kein weiterer Roman dieser Art an. Dennoch geht die Diskussion um das AS weiter. In den nächsten beiden Romanen wird die Frage nach dem WAS und nach dem VON WEM des aktantiellen Erwerbs aufgeworfen werden. Dies aber sind Fragen, für deren Beantwortung der Artushof keine Kompetenz mehr besitzt, für deren Bewertung und, was wichtiger ist, für deren Beurteilung im Hinblick auf die KRISE und den Weg aus ihr heraus der Artushof nicht im mindesten mehr die Legitimation der INSTANZ innehat. Von nun an ist nur noch eine Instanz entscheidend, sie wird die nächsten beiden Romane regieren, doch keine Sorge, das Artusrittertum hat noch lange nicht abgedankt, es hat sich eine völlig neue Strategie ausgedacht. Der nun folgende Roman, der Gregorius, der ebenfalls von HARTMANN VON AUE stammt, ist eigentlich ein Legendenroman, das bedeutet, er zeigt das Ritterliche nur bis zu dem Moment, wo es versagt, danach geschieht, wie wir es bei der Behandlung des Lanval bereits angesprochen haben, nichts Erzählenswertes. Dieser Roman läßt aber hinsichtlich der Deutlichkeit seiner Aussage kaum eine Frage offen, ein Grund mithin, weshalb die LW ihn ein wenig, ein ganz klein wenig verstehen konnten. Woran das liegt, mache ich Ihnen gleich in der ersten Zeile deutlich. Von dem ich iu nû sagen wil, des schulde was grôz unde vil, daz si vil starc ze hoerenne ist. [GREGORIUS, 50 ff. Welcher nun der Held meiner Erzählung ist, dessen Schuld war so unglaublich groß und vielfältig, daß schon das Hören schwer zu ertragen ist.]

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Gregorius, der Held unserer Geschichte, der so unfaßbare Schuld auf sich laden wird, ist die Frucht einer inzestuösen Beziehung zweier Königskinder. Beide sind verwaist, und so wirkt sich die fehlende Betreuung aus. Als die Schwangerschaft bemerkt wird, wird ein alter Ratgeber eingeweiht. Der schickt den Bruder sofort ins Heilige Land, wo er bald stirbt, denn er wird, besonders als Erbe des Königreiches, nicht mehr benötigt. Sie hingegen bringt heimlich ein wunderschönes Kind zur Welt, das aber auf Geheiß des Ratgebers in einem kleinen, dichten Fäßchen, versehen mit 20 Goldmark (Wert eines Gutshofes) dem Meer übergeben wird. Hinzu fügt sie eine Tafel, auf der so deutlich, wie es der Anstand gebietet, das Wie und Woher des Kindes berichtet wird, ohne Namen oder Orte zu nennen. So ausgerüstet und auf einem Nachen verstaut, sticht der kleine Seemann in See. Kaum ist die Nachricht vom Tode ihres Bruders eingetroffen, melden sich die ersten Bewerber um die Alleinerbin, die sie jedoch alle ablehnt. Nur einer ihrer Nachbarn, ein ebenbürtiger Mann, wollte sich nicht abweisen lassen: nû wânde er si gewinnen sô: mit urliuge und mit drô sô bestuont er si zehant und wuoste ir daz laut. er gewan ir abe die besten stete und ir vesten unz er si garwe vertreip daz ir niht mê beleip niuwan eine ir houbetstat. diu was auch alsô besat mit tägelîcher huote, ez enwelle got der guote mit sînen gnaden understân, si muoz auch die verloren hân. [GREGORIUS, 909 ff. Nun bildete er sich ein, sie so für sich gewinnen zu können: Mit Krieg und Einschüchterung trat er ihr alsbald entgegen und verheerte ihr Land. Er entriß ihr die besten Städte und Burgen und vertrieb sie ganz und gar von ihrem Besitz, bis auf die Hauptstadt. Die belagerte er ebenso mit ununterbrochener Aufmerksamkeit. Hätte Gott es in seiner Gnade nicht verhindert, sie hätte auch die verloren.] So etwas kennen wir nun schon von der Gräfin von Narison im Iwein, und wir werden derlei auch im Parzival wiedersehen. Ein Mann macht eine Dame zum Objektaktanten eines Aktantenschemas, und wir wissen, daß diese Erwerbsform durch das WIE längst indiskutabel ist. Aber seltsam genug, gerade hier, wo es spannend wird,

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wo alle auf den Musterritter warten, der sie befreien wird, da unterbricht HARTMANN seinen Bericht. Nun frage ich Sie aber, wie sollte eine Ehe zwischen einem unvorbelasteten edlen Ritter und einer Dame, die ein Kind von ihrem Bruder gebar, gutgehen, bliebe da nicht ein Mißverhältnis, an dem der Befreier unschuldig wäre, und das ausgebügelt werden müßte? Richtig, aber HARTMANN wird jemanden finden, der die gleiche Schuld trägt wie die Dame, eben unseren Helden Gregorius, den Sohn dieser Dame, zu dessen Lebensweg er nun umblendet. An fernen Gestaden entdecken Fischer den Nachen mit dem Fäßchen und nehmen es an Land. Der Abt eines nahegelegenen Klosters, dem sie zinspflichtig sind, entdeckt das Faß und seinen Inhalt. Er liest die Tafel und dankt still Gott für diesen Fund. Mit den Fischern vereinbart er, der ärmere der beiden Brüder, der selbst mehrere Kinder hat, solle es mit seinen aufziehen und es als das Kind der einzigen Tochter seines Bruders ausgeben, die fern verheiratet ist. Er selbst legt den Großteil des Geldes gewinnbringend an, tauft das Kind auf seinen Namen und übernimmt daher auch die geistige Fürsorge für Gregorius. Im Alter von sechs Jahren holt ihn der Abt ins Kloster, wo er sich als überdurchschnittlich begabter Schüler erweist und alle übertrifft. Bis zum fünfzehnten Lebensjahr gelingt es dem Fischer, die wahre Herkunft des Gregorius zu verschweigen, nur sein Weib hatte er aufklären müssen. Da Gregorius in jeder Hinsicht vorbildhaft ist, muß ein Zufall her, um die Sache, das Unglück ins Rollen zu bringen. Als er versehentlich einem Kind des Fischers weh tut, erregt sich die Mutter derart, daß sie das Geheimnis dabei ausplaudert. Gregorius, der versehentlich Zeuge dieser Szene wird, fordert vom Abt Aufklärung und will Abschied nehmen: ich weiz nû daz ich niene bin disses vischaeres kint. nû waz ob mîne vordern sint von selhem geslähte daz ich wol werden mähte ritter, ob ich haete den willen undz geraete? weizgot nû was ie mîn muot, haete ich geburt und daz guot, ich würde gerne ritter. [GREGORIUS, 1494 ff. Ich weiß nun, daß ich mitnichten das Kind des Fischers bin. Was nun, wenn meine Ahnen von solchem Adel sind, daß ich das Recht habe, Ritter zu werden, wenn ich den Willen und die Ausrüstung hätte? Nun war es, bei Gott, von jeher mein Ziel, hätte ich die Herkunft und den Besitz, ich würde liebend gern Ritter.]

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Der Abt aber warnt Gregorius, indem er ihm vorhält, daß der, der sich von seinem Orden und Gott abwendet, um Ritter zu werden, nicht umhin kann, Leib und Seele zu verwirken. Dâ nement genuoge ir urhap, die in dem Wunsch Gregorius' ein Abwenden von Gott sehen wollen, um damit seine Schuld zu belegen. Nun haben wir ja schon aus Diu Crône vernommen, wie es gemeinhin um die Glaubwürdigkeit der Pfaffen bestellt ist. Dieser hier kann auch nicht anders, er will den gelehrigen Knaben zur Ehre des Ordens behalten, und obwohl Gregorius nicht das Gelübde abgelegt hat, behandelt er ihn wie einen Renegaten. Moderner gesprochen will Gregorius unbedingt Lokomotivführer werden, und der Abt singt Never Marry a Railroad-Man von Shocking Blue. Das alles ist Topos, aber nie eine Erklärung für eine Schuld. Uns aber, die wir inzwischen einen Kenntnisstand zur Literatur im Mittelalter haben wie die damaligen Rezipienten, sollten genügend Ritter begegnet sein, die ihr Seelenheil nicht verwirkt haben, und so ahnen wir, daß auch hier eine Art Pseudomotivation für eine Krise gegeben werden soll. Der Rat, den der Abt gibt, wird jedoch in den Wind geschlagen, so sehr er sich auch windet und nach wenig überzeugenden Argumenten sucht. Was wir aber von einem expliziten Rat in der Literatur zu halten haben, sollte inzwischen keiner Diskussion mehr würdig sein. Die Argumente, die Gregorius ins Feld führt, sind ohnehin geistreicher, womit zumindest seine intellektuelle Erziehung im Kloster ihre ersten Früchte trägt: Grêgôrjus antwurte im dô: 'ritterschaft daz ist ein leben, der im die mâze kan gegeben, sô enmac nieman baz genesen. er mac gotes ritter gerner wesen danne ein betrogen klôsterman [GREGORIUS, 1530 ff. Gregorius erwiderte daraufhin: "Die Ritterschaft ist ein Weg, der jedem zum besten Heil verhilft, der sie angemessen betreibt. Der kann jedenfalls mehr für Gott erreichen, als ein verblendeter Mönch."] Der Abt versucht nun, mangelnde Erfahrung in Sachen Ritterschaft seitens Gregorius entgegenzuhalten. Doch nun erhalten wir einen exzellenten Einblick in das klösterliche Leben: iedoch sô man mich sêre ie unz her zen buochen twanc, so turnierte mîn gedanc. sô man mich buoche wente, wie sich mîn herze sente

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und mîn gedanc spilte gegen einem schilte! auch was mir ie vil ger vür den griffel zuo dem sper, vür die veder zem swerte: daz ist des ich ie gerte. mînen gedanken wart nie baz dan sô ich zorse gesaz und den schilt ze halse genam und daz sper als ez gezam und daz undern arm gesluoc und mich daz ors von sprunge truoc. [GREGORIUS, 1582 ff. Aber so sehr man mich bislang auch mit Wissen vollpfropfte, mit meinen Gedanken war ich beim ritterlichen Treiben. Wenn man mich pauken meinte, dann sehnte sich mein Herz weg, und meine Gedanken traktierten einen Schild. Auch war mein Verlangen nach einem Speer immer stärker als nach einem Griffel, nach einem Schwerte stets größer als nach einer Feder. Das war alles, was ich wollte. Nie hatte ich schönere Vorstellungen, als wenn ich hoch zu Ross saß, wenn ich den Schild zur Deckung hochnahm, wenn ich die Lanze ordnungsgemäß einklemmte und mich das Ross im Nu davontrug.] Dies kann nimmermehr Musik in den Ohren des Abtes sein, und es stellt sich mithin die Frage, wo Gregorius dieses fremde Gedankengut her hat. Wühlen wir in unserer eigenen Vergangenheit, wühlen wir meinetwegen auch bei A. ANDERSCH im Vater eines Mörders nach, dann erkennen wir, wie sehr die Lektüre gewisser Schriften den Charakter verdirbt. Auch ich gestehe, ich habe unter der Bettdecke K. MAY verschlungen, doch habe ich mein Bittersalz von Arno SCHMIDT gern eingenommen und mich von dieser homoerotischen Verstopfung befreit. Wo wir aber schon mal bei ANDERSCH sind, darf gegen die leichtfertige und leichtfallende Diskriminierung von MAY-Romanen durch unsere Gelehrten, die die Dichotomisierung von Literatur sowieso nur an den Verkaufszahlen festmachen können, mit ANDERSCH auch gleich mal gefragt werden: schützt Humanismus denn vor gar nichts, und da ja offensichtlich nicht, wer schützt uns eigentlich vor solchen Humanisten! Wir dürfen getrost annehmen, daß Artusromane und dergleichen in Klöstern nicht geduldet waren, daß sie keine tolerierte Lektüre für Novizen waren, daß aber sicherlich der eine oder andere Bruchstücke besaß, Teile gehört hatte und auswendig wußte. Solchen Mönchen, die im gelehrigen Klostermuff Abwechslung suchten, verdanken unsere Gelehrten das Bruchstück des Hildebrandliedes, aber was taten sie damit, welaga nû, waltant got, wêwurt skihit, kaum der Nachbarschaft von Sapientia

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Salomonis und Jesus Sirach entronnen, befinden sich die 68 stabenden Langzeilen germanischer Heroik wieder im tiefsinnigsten Rahmen filologischer Knebeltechnik. Immerhin werfen solche Einblicke ein helles Licht auf die trüben Versuche eines HAUG, Romane wie den König Rother vom klösterlichen Index zu kratzen. Wie jedoch das Wissen um heimliche Lektüregewohnheiten einigermaßen nutzbringend im Kloster Einzug hielt, wollen wir nun zeigen: Wie bekannt und beliebt der Artusstoff geworden war, geht aus einer hübschen Erzählung des Caesarius von Heisterbach hervor. Als einst etliche Mönche und Brüder bei der geistigen Unterweisung eingeschlafen seien und einige von ihnen sogar angefangen hätten zu schnarchen, habe der Abt Gevart seine Ansprache mit den Worten unterbrochen: "Es war einmal ein König, der hieß Artus...", worauf alle hellwach geworden seien und die Ohren gespitzt hätten. Das muß um das Jahr 1200 gewesen sein; Caesarius schrieb es um 1220 nieder (>Dialogus Miraculorum < IV, ed. J. Strange, Köln 1851, 1, S. 205.) [K.O. BROGSITTER, Artusepik, S. 2 ] Wenn diese Geschichten von Artus alle so einen enormen geistigen und geistlichen Tiefsinn gehabt hätten wie HAUG gerne glauben machen möchte, hätte Gevart seine Predigten wohl immer gleich mit diesen Worten beginnen dürfen, um dem Schlafe vorzubeugen. Um Sie vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, fahre ich auch gleich wieder fort. Wir dürfen jetzt aber keinesfalls glauben, wenn später wieder von der Schuld des Gregorius die Rede ist, sie sei auf heimliche Lektüre und Abwesenheit beim Lernen zurückzuführen. Die einzigen, die ich auf Anhieb als echte Opfer ihrer Lektüre im Purgatorium finden könnte, sind Francesca von Rimini und Paolo, der Bruder ihres Gatten Gianciotto Malatesta: Es ist vielleicht jetzt erlaubt den Meister Gottfried unbedingt zu rühmen und zu preisen. Zu seiner Zeit hat man sein Buch gewiß für gottlos und ähnliche Dichtungen, wozu schon der Lanzelot gehörte, für gefährlich gehalten. Und es sind wirklich auch bedenkliche Dinge vorgefallen. Francesca da Polenta und ihr schöner Freund mußten teuer dafür büßen, daß sie eines Tages miteinander in einem solchen Buche lasen; die Gefahr freilich bestand darin, daß sie plötzlich zu lesen aufhörten! HEINE, Romantische Schule, Erstes Buch ] Sie erlauben, daß ich HEINE dem DANTE vorziehe, wer es nachlesen möchte, was immer zu empfehlen ist, wenn man nicht aufhört, DANTE, La Divina Comedia, Inferno, canto V, 127 ff.

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Es gibt jedoch einen kleinen, aber feinen Hinweis auf die Provenienz der ritterlichen Vorstellungswelt bei Gregorius, der zugleich einen der gängigsten Dünkel gegenüber den Artusstoffen anspricht: 'Sun, dû hâst mir vil geseit, manic tiusch wort vür geleit, daz mich vil sêre umbe dich wundem muoz, crêde mich, und weiz niht war zuo daz sol: ich vemaeme kriechisch als wol. unser meister, der dîn phlac mit lêre unz an disen tac, von dem hâstû si niht vemomen. von swannen si dir zuo sî komen, dû bist, daz merke ich wol daran, des muotes niht ein klôsterman. [GREGORIUS, 1625 ff. Mein Sohn, du hast mir viel erzählt, etliche Dinge deutsch vorgetragen, daß ich mich sehr über dich wundern muß, glaube mir, ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, das sind böhmische Dörfer für mich. Von unserem Lehrer, der dich bislang erzog, hast du sie bestimmt nicht. Woher du sie auch immer hast, ich merke daran, daß du nicht die richtige Grundeinstellung für einen Mönch hast.] Diese Passage gewährt tiefe Einblicke in die Bildungskultur des Mittelalters; ausgehend davon erhellt sie so manches dünkelhafte Mißverstehen unserer braven Gelehrten, denen es um nichts besser geht, als diesem gottesfürchtigen und weltfremden Abt. In der Zeile manic tiusch wort vür geleit spiegelt sich nämlich der Terminator der mittelalterlichen Bildungsvorstellungen. Egal, wo diese Geschichte im Endeffekt spielen mag, tiusch bezeichnet nichts als die jeweilige Landessprache, und da HARTMANN für ein deutsches Publikum schrieb, mußte es hier nun das Deutsche sein. Die Sprache aber, in der sich der Abt mit Gregorius die ganze Zeit und ohne, daß wir dies merkten, ohne daß HARTMANN dies einer besonderen Erwähnung wert hielt, unterhielten, war natürlich das Latein. Eine andere Sprache wurde innerhalb des Klerus weder gesprochen, noch scheint man den jeweiligen Landesdialekt irgendwie gepflegt zu haben. Dieser Dünkel geht so weit, daß man vorgibt, anderes als Latein nicht zu verstehen. Die Sprache der Gebildeten war durchgängig Latein, jeder Studierte schrieb und dachte so, und es hat Jahrhunderte gedauert, bis auch in deutschen Universitäten die Sprache Einzug halten konnte, die die Masse verstand, wenngleich sich dadurch leider die Inhalte überhaupt nicht geändert haben. Der Leipziger Jurist und Philosoph Christian

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THOMASIUS wagte, als er feststellte, daß kaum einer seiner deutschen Hörer des Deutschen mächtig war, das beinahe Revolutionäre, er kündigte 1687 trotz heftigster Proteste seiner Fakultät eine Vorlesung in deutscher Sprache an. Wenn ich mich nicht irre, waren es neben mir nur wenige, die dies zum Anlaß nahmen, eine Flasche zu entkorken. Aber so gut gemeint dies von THOMASIUS vor 300 Jahren war, die Universität hinkte gute 200 Jahre hinter der Reformation hinterher, war Gottes Wort nun wenigstens den Alphabeten zugänglich, die Wissenschaften hatten guten Grund, ihren Mumpitz vor Uneingeweihten zu verbergen. Haben wir denn wenigstens heute die Vorgabe des THOMASIUS eingelöst? Nein, noch immer verhehlen die Wissenschaften ihre Nutzlosigkeit vor dem Steuerzahler, indem sie weder eine befriedigende Antwort, die ihre Unfähigkeit unter Beweis stellen würde, noch irgendeine Antwort in verständlicher Sprache abzugeben in der Lage sind. Mein Vorwort hat davon Kunde gegeben. Lateinische Sprache war jahrhundertelang der Inbegriff von Wahrheit überhaupt, Inhalte wurden nicht hinterfragt, die Sprache sprach für den Sprecher. Dementsprechend schwer war es gerade für die Dichter dieser Zeit, die doch ein großes Publikum ansprechen mußten, um nicht zu verhungern, sich von dem Verdacht zu reinigen, sie seien unseriöse Lügner etc., weil sie im Volksmund schrieben. Gerade unser HARTMANN wird nicht müde zu erwähnen, daß zumindest seine Quellen lateinisch waren und er mithin zu den Gebildeten gehört: Ein ritter sô gelêret was daz er an den buochen las swaz er dar an geschriben vant: der was Hartmann genant, dienstman was er zOuwe. [DER ARME HEINRICH, l ff. Ein Ritter war so studiert, daß er lateinische Bücher lesen konnte, egal welchen Inhalts: der hieß Hartmann und war höherer Beamter zu Aue.] Buoch war im Mittelalter gleichzusetzen mit einem lateinischen Text, einer wissenschaftlichen Abhandlung der Theologie und der Philosophie, der Juristerei und der Medizin. Jeder, der wissenschaftlich tätig war und irgendwie glaubhaft sein wollte, schrieb in Latein. Der Unterschied wird in einer Textstelle in dem mittelhochdeutschen Gedicht Von dem übeln Wibe deutlich: swie ich der buoche niene kan, ich hân doch tiutsche gelesen:

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[VON DEM ÜBELN WIBE, 92 f. Wenn ich auch kein Latein kann, Deutsch kann ich wohl lesen.] Das dichterische Selbstbewußtsein, ja man kann sagen, die intellektuelle Avantgarde dieser Zeit, Menschen, die dichten und denken konnten, ohne scholastische Verdummung hinter sich zu haben, die versetzten dem einfältigen Bildungsdünkel dieser Zeit den Todesstoß, indem sie Weltliteratur schufen und dem begeisterten Publikum demonstrativ, wie WOLFRAM, sagten: swer des von mir genuoche, drn zels ze keinem buoche ine kan decheinen buochstap. dâ nement genuoge ir urhap: disiu âventiure vert âne der buoche stiure. ê man sie hete für ein buoch, ich waere ê nacket âne tuoch, sô ich in dem bade saeze, ob ichs questen niht vergaeze. [PARZIVAL, 115,25 ff. Wer möchte, daß ich fortfahre, der halte dies für keine wissenschaftliche Publikation mit Wahrheitsanspruch, da ich keine wissenschaftliche Ausbildung (Lateinunterricht) genossen habe. Das betrachten schon zu viele als Legitimation (um Schwachsinn als Wahrheit zu verkaufen). Diese Geschichte hat keinen pseudowissenschaftlichen Background. Ehe man diese Geschichte mit anderen Machwerken in einen Topf wirft, würde ich mich eher demonstrativ auch meiner Kleider entblößen wie in dem Badezuber (um deutlich zu machen, daß ich nichts zu verbergen habe), wenn ich wenigstens einen Quasten dabei hätte.] Wer heutzutage Gelehrte filzt, könnte da noch auf alte Spickzettel aus den Prüfungsjahren stoßen, WOLFRAM hingegen kann die nackte Wahrheit zeigen. Es darf uns denn auch nicht wundern, daß unsere hochgebildeten Filologen mit dem blanken Hintern WOLFRAMs wenig anzufangen wußten, man war um Ausreden nicht verlegen, man suchte die Bildung dieses Dichters mit allen Mitteln zu retten, aber ach, alles was man tatsächlich zu retten versuchte, war die eigene schwer erkämpfte und so unglaublich überflüssige Gelehrsamkeit. Diese Versuche, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, sind dann aber auch so unfaßbar entlarvend und erschütternd, daß ich Ihnen hier keinen Skalp präsentieren mag. So viel nur sei noch gesagt: Wer tatsächlich meint, mit lateinischer Gelehrsamkeit solchen Meisterwerken der Literatur beikommen zu können, wer meint, sie seien von Gebildeten für Gebildete geschrieben worden, der beweist nur zu gut, daß die, die jeden Muskel eines

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Körpers benennen können, im Endeffekt wahre Grobmotoriker sind! Lassen Sie uns dieses Bild ruhig einmal weiterspinnen. Seit geraumer Zeit betrachte ich das Unwesen des BODYBUILDING aus dem Blickwinkel des Kulturkritikers, und die naheliegende Frage lautete immer, auf welchen Denk- und Sichtweisen derlei Nutzlosigkeiten wohl fußen mögen. Dabei zeigte sich, daß athletisch geformte Körper durchaus als FORM begriffen werden können, also als Produkt von INHALT(Leistungsvermögen) und TECHNIK (Training). Eigentlicher Sinn dabei ist der INHALT, der sich in der FORM manifestiert. Wie nun schon einmal angedeutet, erfährt diese Trias im Zuge des Technischen Zeitalters eine vehemente Umgewichtung. Der Begriff der FORM geht verloren, und die Formel schrumpft auf einen Torso wie: TECHNIK = INHALT. Was vormals FORM war, erscheint als Form, besser bekannt unter dem Namen DESIGN, als der Versuch, der Technik eine dergestalte Form zu geben, daß sichere Rückschlüsse auf Pseudoinhalte möglich werden, eine ständige Schulung erfordert, aber nichts anderes scheint mir die Mode zu leisten. Gut geschult, wie wir inzwischen sind, sind wir jederzeit in der Lage, von der Karosserie eines PKW auf seine Motorisierung, sprich Technik zu schließen. Betrachtet man unter diesen Aspekten das Design des Bodybuilders, so wird offensichtlich, daß der ehemalige INHALT, das Leistungsvermögen, zur puren Farce geworden ist, denn alles, was diese Leute zu leisten imstande sind, ist das geschwollene Resultat von TECHNIK, sprich Training. Erlauben Sie mir nun den kühnen Sprung vom Körper zum Geist, vom Kraftraum zur Universität. Inaugurieren wir sogleich einen neuen Begriff für langgeübte Tätigkeiten, ich halte BRAINBUILDING für durchaus passend. Dann erscheinen plötzlich die Kathederübungen der Filologen in einem neuen Licht, dann wird deutlich, daß wir es häufig nur noch mit Kontraktionsübungen eines zum Muskel degradierten Gehirnes zu tun haben, dessen einziger Sinn es noch sein kann, hart und dick zu werden. Und so, wie der Körper des Bodybuilders zu keiner anderen Tätigkeit taugt als zum Selbstzweck Training, das nur hie und da zur erbärmlichen Pose erstarrt, so taugt das Wissen des Brainbuilders zu nichts anderem als zur Selbstdarstellung. Um aber zum Disput zwischen dem Abt und Gregorius zurückzukommen, es ist in höchstem Maße wahrscheinlich, daß HARTMANN nur verdeutlichen wollte, daß das, was dem Abt so fremd in den Ohren klingt, nichts anderes war, als rezitierte Verse aus irgendeinem höfischen Roman, vielleicht aus dem Erec, und vielleicht diese:

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als er daz sper ze hant genam (sîn schilt im wol ze halse zam), […] daz ros begunde er wenden daz ez in gegen dem ritter truoc. daz sper er undern arm sluoc. [EREC 798 f., 807 ff. Als er die Lanze genommen hatte (sein Schild lag fest am Kinn), (...) wendete er das Ross, daß es ihn in die Richtung des Gegners führte, und schlug die Lanze unterm Arm ein.] Dem Abt aber scheint jedes Mittel recht zu sein, Gregorius an der Reise zu hindern. So verschweigt er ihm zunächst sein Vermögen. Als dies auch nichts fruchtet, gibt er scheinbar klein bei und händigt Gregorius seine ganze Habe aus, darunter auch das Täfelchen mit dem Bericht über seine Herkunft. Diese Entdeckung löst bei ihm tiefe Trauer aus, und da stellt er dem Abt die zentrale Frage: 'ouwê, lieber herre, ich bin vervallen verre âne alle mîne schulde. wie sol ich gotes hulde gewinnen nâch der missetât diu hie vor mir geschriben stât?' [GREGORIUS, 1779 ff. "Oh weh, lieber Abt, ich bin ohne eigenes Verschulden der ewigen Verdammnis anheimgefallen. Wie soll ich bloß nach dieser Sünde, die hier geschrieben steht, jemals Gottes Gnade erringen?"] Natürlich rät der fromme Abt zu einem Leben hinter Klostermauern, aber gottlob lehnt Gregorius ein solches Ansinnen ab, und auch wir dürfen uns freuen, denn so gibt es wenigstens etwas zu erzählen; auch hörte ich nie von einem berichten, den Gottes Gnade gerade im Kloster ereilt hätte, der nichts wagte und nichts erkannte, der so biederhaft und philiströs war wie der unverlorene Sohn. Zudem soll aber auch etwas ganz anderes aus Gregorius werden als ein Lateinlehrer für unschuldige Novizen. Und so begibt er sich auf See und wird von einem Sturm in eben das Land verschlagen, wo seine Mutter die letzte Stadt regiert. Er erfährt, wie es um die Stadt, ihre Bewohner und die Königin steht, und sagt erfreut: er sprach: 'sô bin ich rehte körnen. daz ist des ich got ie bat daz er mich braehte an die stat dâ ich ze tuonne vunde,

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daz ich mîn junge stunde niht müezig enlaege. dâ man urliuges phlaege. gerouchet es diu vrouwe mîn, ich wil gerne ir soldenaere sîn.' [GREGORIUS, 1868 ff. Er rief: "Dann komme ich ja wie gerufen. Um nichts anderes habe ich Gott immer gebeten, als daß er mich dorthin führte, wo es Arbeit anzupacken gilt, damit ich meine Jugendkraft nicht müßig vertue, wo man gewohnt ist zu kämpfen. Wenn es meiner Herrin genehm ist, wäre ich gern ihr Streiter."] Schnell lernt er den perfekten Umgang mit den Waffen und ist präpariert für den Entscheidungskampf, denn dies pflegt der Belagerer regelmäßig zu tun: nû was daz sîn gewonheit daz er eine dicke reit durch justieren vür daz tor. dâ tet erz ritterlichen vor: wande swelh ritter guot durch sînen ritterlîchen rnuot her ûz justierte wider in, den vourte er ie gevangen hin zer burgaere gesihte und envorhte si ze nihte. des hete er alles vil getriben daz in niemen was gebliben der noch bestüende mêre: doch versuochte erz dicke sêre. [GREGORIUS, 2009 ff. Nun hatte er dies zu seiner Gewohnheit gemacht, dass er häufig allein vor das Tor ritt, um die Kräfte im Tjost zu messen. Dort bewies er seine ritterlichen Fähigkeiten: Wann immer irgendein braver Ritter wegen seiner ritterlichen Einstellung herausritt, um gegen ihn zu kämpfen, den führte er in schöner Regelmäßigkeit vor den Augen der Bürger gefangen ab und fürchtete sie mitnichten. Das hatte er so oft getan, daß ihnen niemand geblieben war, der sich ihm hätte entgegenstellen können: Doch noch immer bot er häufig die Gelegenheit dazu.] Wie wir inzwischen zur Genüge wissen, hat so ein Zweikampf den Vorteil, ein Aktantenschema in Reinform darzustellen, es kommt zu keinen langen Schlachtszenen, wie wir sie vor Alischanz kennengelernt haben. Dies lag auch gar nicht im Interesse HARTMANNs, der die Belagerung der Stadt, die sich über fünfzehn Jahre hinzog, auch in epischer Breite hätte erzählen können. Dies aber vermeidet er aus guten

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Gründen, und so werden wir nur einen, den einzigen und den wichtigsten Kampf dieser Geschichte erleben, und zu dem kommt es so: Grêgôrijus sichs vil gar bewac daz er ez deheinen tac wolde vristen mêre: durch got und durch êre wolde er verliesen sînen lîp oder daz unschuldige wîp loesen von des herren haut , der ir genomen hâte ir lant. [GREGORIUS, 2067 ff. Gregorius kam mit sich überein, daß es keinen Tag Aufschub duldete: Um Gott und der Ehre willen beschloß er, entweder im Kampf zu fallen oder aber die unschuldige Dame von des Ritters Gewalt zu befreien, der ihr ihr Land geraubt hatte.] Es kommt natürlich zum Zweikampf, und, was außer uns niemand erwartet hat, Gregorius besiegt den Herzog und führt ihn gefangen in die Stadt. Dort legt der Gefangene das Gelöbnis ab, nie wieder etwas gegen die Landesherrin zu unternehmen und alle Ländereien zurückzugeben sowie alle Schäden wieder gutzumachen. Hier, wie an so vielen Stellen in den Romanen wird einmal mehr deutlich, daß WARNING uns mit der Zirkelhaftigkeit des Aktantenschemas, die auf immer neu geschaffenen Mangelsituationen beruhen soll, einen ganz fürchterlichen Bären aufgebunden hat, nicht aber, um uns zu veräppeln, nein, schlimmer, er glaubt das tatsächlich. Dieser Herzog aber hat genug, er begnügt sich mit seiner Mangelsituation, und wir werden nichts mehr von ihm hören. Die Fürsten des Landes aber sind verunsichert und wüßten sich gerne vor weiteren Übergriffen jedweder Angreifer geschützt. Daher beschließen sie, ihrer Herrin dazu zu raten, daß sie ihre Verweigerung gegenüber den Männern aufgibt und im Hinblick auf Thronerben und die Sicherung des Landes endlich doch heiratet, lediglich die Wahl des Mannes bleibt ihr überlassen. Diese letzte Option, liebe Leser, dürfen wir keineswegs für Höflichkeit, braven Anstand oder Landessitte halten. Erstens einmal ist natürlich für jedermann klar, auf wen diese Wahl fallen dürfte, zweitens jedoch darf niemals der Eindruck entstehen, ein wie immer geartetes Problem, das mit dieser Wahl zusammenhängt, sei ursächlich woanders zu suchen, als bei unseren Hauptprotagonisten Gregorius und seiner Mutter. Kein wie immer gearteter Zwang ist Auslöser der folgenden Katastrophe, nichts verfälscht hier das penible Bild, das HARTMANN zeichnet, es wird nur einen einzigen Grund geben, und den werden wir nun herausfinden. Die Trauung findet mit Zustimmung aller statt, Gregorius wird ein weiser und vortrefflicher Herrscher, er sichert das Land, und beinahe wäre alles

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so prima weitergegangen, keiner hätte etwas gemerkt, und schon wird der Leser, der bewußt über die verwandtschaftlichen Verhältnisse aufgeklärt wurde, mit Recht unruhig. Was nützt alles weise Herrschen und gottgefällige Leben, da ist doch der Wurm drin! Richtig, aber hier erscheint keine Figur, kein blinder Seher, der die KRISE einläutet, es gibt lediglich eine neugierige Dienerin, der auffällt, daß Gregorius jeden Tag gut gelaunt in seine Kammer geht, um traurig wieder herauszukommen. In seiner Abwesenheit sieht die Gattin nach, findet den Anlaß, eben jenes Täfelchen, das sie ihrem Sohn als Begleitschreiben mitgab, man erkennt zusammen die entsetzliche Wahrheit und reagiert ohne zu zögern. Wie gesagt gab es in den vorausgegangenen Romanen immer irgendeine vorgeschobene Motivation für die KRISE, sei es ein verligen oder ein Versäumen. Diese Motivation setzte dann eine Folge von Taten in Gang, die rückblickend die eigentliche Ursache der KRISE offenbarte. Hier nun, und so viel darf ich vorwegnehmen, fehlt beides, die Pseudomotivation und solche Taten, die unmißverständlich deutlich machen: dies war der Anlaß! Halt, glauben Sie ja nicht, der Anlaß ließe sich so einfach damit hinreichend erklären, daß Gregorius seine Mutter heiratete, denn dies, auch wenn es blas-phemisch klingen mag, ist das Zeichen, das Bedeutende, nicht das Bedeutete. Das leuchtet Ihnen nicht ein? Well, dann darf ich Sie bitten zu überlegen (Wenn Sie meinen, daß Gott gerechter ist als unser Autor HARTMANN VON AUE), weshalb dann die Geschichte nicht bereits nach dem ersten Inzest zuende war oder weshalb der erste Inzest nicht eine tolle Befreiung des Heiligen Grabes durch den Vater von Gregorius ausgelöst hat, denn ich bitt schön, eine kleine Sünde war das auch. Wir sehen also, die Tatsache des Inzests allein ist nicht der Grund für die Krise des Gregorius, dessen Schicksal hier mehr im Mittelpunkt steht als das der Mutter, die ja, nebenbei gesagt, auch noch weit mehr am Stecken hat. Der Anlaß der KRISE ist somit etwas, das Gregorius ganz allein auszeichnet, etwas, das er weder mit seiner Mutter, noch mit seinem Vater gemein hat (also die Schwester, die Frau und den Bruder). Natürlich werden Sie mir jetzt mit all den Warnungen des Abtes kommen, der ja schon damals meinte, daß jeder Ritter sein Seelenheil verwirke. Das wäre ein wenig zu platt für eine Geschichte, die nicht einmal Thomas MANN so recht verstanden hat. Ich betone nochmals, alles, was der Abt vom Stapel läßt, sind allgemeine topische Warnungen wie geh nicht allein durch stille Straßen oder das Böse kommt auf leisen Sohlen und das Leben kommt bekanntlich aus einer Zelle... und was es an gut gemeinten Warnungen noch so geben mag. All das, insbesondere die Meinung, jeder Ritter verscherze automatisch sein Seelenheil, wenn er nur aufsitzt, ist reines Blabla. Eine einzige natürliche Warnung hätte der Abt Gregorius mit auf die Reise geben können, und die wiederum nur, wenn er wenigstens ein wenig Ahnung von höfischen

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Romanen gehabt hätte. Die aber formulieren wir erst, wenn wir genau wissen, wie die KRISE begründet ist, was man eigentlich verloren hat, und daher auch, wer denn die INSTANZ ist, denn der Artushof scheidet hier ohne Punktgewinn sofort aus. Wie ich früher ausgeführt habe, gehört es zum Ritterethos, seine Taten für sich sprechen zu lassen, Namen und Herkunft aus dem Spiel zu lassen. Zu diesen Taten zählte bekanntlich das AS, jener Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution, eine Erwerbsform, die in den letzten Romanen bereits heftiger Kritik ausgesetzt war, weil das WIE des Erwerbs anrüchig war, und dem zur Besserung das IAS entgegengestellt wurde, das sich durch Attributionsverzicht auszeichnete. Wurde also zuvor das WIE des Erwerbs kritisiert, so ist es nun das WAS, es ist hier im wahrste Sinne des Wortes die Tücke des Objekts, der verhängnisvolle Objektaktant, den Gregorius durch seinen Kampf gegen den Belagerer gewann. Und eben dies wird hier am Schicksal des Gregorius gezeigt, daß der ritterliche Erwerb üble Folgen haben kann, was aber nicht das Rittertum an sich schmähen soll, sondern lediglich eine literarische Diskussion weiterführt zu einem Punkt aber, von dem aus kein ritterlicher Weg hinausweist, wo kein IAS mehr hilft, wo das Ritterethos seine Schranken gewiesen bekommt. Denn, vergessen wir das nicht, die INSTANZ ist kein ritterliches Tugendtribunal wie der Artushof, ist keine minnespendende Fee wie Laudine, diese Instanz hier ist die letzte und einzige, sie ist GOTT. Der Schaden, der hier entstanden ist, ist nicht mit komplementären Mitteln zu beheben, es stellt sich eigentlich die Frage, ob überhaupt noch etwas zu retten ist, wie man das, was man verlor, die Gnade Gottes, jemals zurückgewinnen kann, und wer und was man sein wird, wenn es jemals geschehen könnte. Immerhin ist sich Gregorius völlig über die Ursachen im klaren, er weist seine Mutter an, Klöster zu stiften und schwerste Buße zu tun. Er selbst erlegt sich das Härteste auf, das er sich vorstellen kann. Nun aber sind wir auch so weit zu sagen, wie genau die Warnung des Abtes hätte aussehen müssen, um dieses Schicksal abzuwenden. Er hätte schlicht erklären müssen, daß Gregorius sich vor dem Attributionsautomatismus des AS hüten solle, denn jeder erworbene Objektaktant könnte eine Verwandte sein. Gregorius aber tut alles von sich, was er jemals erworben hat, nichts kann und will er zurückbehalten, alles was er von nun an bekommt, ist für ihn einzig eine Gnade Gottes, in dessen Hand er sich völlig begibt. Ich meine einmal mehr, jeglichem Spekulieren Ihrerseits, werter Leser, Einhalt gebieten zu müssen, denn ich ahne, daß so mancher unter Ihnen hierin eine bloße Kopie dessen sehen wird, was so ziemlich jeden Heiligen in der Nachfolge der Jünger Jesu auszeichnet, nämlich das alleinige Vertrauen in Gott und die Absage an alle irdischen Güter. Doch so sehr die Ähnlichkeit verblüffen mag, hier hat die Weggabe allen Besitzes einen viel schwerwiegenderen Grund.

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Vergegenwärtigen wir uns nochmals, daß Gregorius, indem er sieht, daß er seine Mutter geheiratet hat, klar wird, daß er alle Gnade Gottes verloren hat. Nur hat er diese Gnade nicht verloren, weil er seine Mutter heiratete, vielmehr ist diese Heirat das Ergebnis einer Grundeinstellung, eines Ethos, das mit Gott so wenig gemein hat, daß er dem, der diesem Ethos folgt, die Gnade entzieht. Und dieses Ethos, das damit heftigst kritisiert wird, ist das aktantielle Erwerbsprinzip, das jeden automatisch zum Besitzer des Objektaktanten macht. Weil aber hier der Erwerbsmodus anhand des Erwerbsobjektes kritisiert wird, was liegt für Gregorius näher, als all das, was er inzwischen besitzt, seit er die Mutter heiratete, wegzugeben, als sei es kontaminiert. Nun dankt er für Schelte mit der gleichen Inbrunst wie für ein Stück Brot oder ein warmes Lager, nichts, was von Gott kommt, weist er von sich, er stellt sich einzig unter seinen Schutz und dankt mit jedem Tag der Gnade, zu leben, und da er nunmehr das niedrigste Geschöpf Gottes auf der Erde ist, von seiner Gnade allein abhängig wie sonst niemand, ist er zugleich der Höchste, ist er Gott näher als irgend ein Wesen um ihn herum. Auf einem einsamen Fels in der See läßt er sich von einem mißgünstigen Fischer anketten, der den Schlüssel in die See hinabwirft. Der arme Grêgôrjus, nû beleip er alsus ûf dem wilden steine aller gnâden eine. er enhete anderen gemach, niuwan der himel was sîn dach. er enhete deheinen scherm mê vür rîfen noch vür snê, vür wint noch vür regen niuwan den gotes segen. im wâren kleider vremede, niuwan ein haerin hemede: im wâren bein und arme blôz. er enmöhte der spîse die er nôz, als ich iu rehte nû sage, weizgot vierzehen tage vor dem hunger niht geleben, im enwaere gegeben der trôstgeist von Kriste der im daz leben vriste, daz er vor hunger genas. ich sage iu waz sîn spîse was.

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ez seic ûz dem steine wazzers harte kleine. dar under gruop er ein hol: daz wart mit einem trunke vol. ez was sô kleine dazz nâch sage zwischen naht unde tage vil kûme voll ez geran. daz träne der gnâdenlôse man. sus lebete er sibenzehen jâr. [GREGORIUS, 3101 ff. Der arme Gregorius blieb somit auf dem rauhen Fels zurück, jeglicher Behaglichkeit beraubt. Er hatte keine andere Annehmlichkeit als den Himmel als Dach. Er hatte sonst keinen Schutz vor Rauhreif und Schnee, vor Wind und Regen als einzig Gottes Gnade. Kleider besaß er keine bis auf ein härenes Hemd: Arme und Beine waren unbedeckt. Von der Speise, die er zu sich nahm, hätte er weiß Gott, wie ihr mir glauben könnt, unter normalen Umständen vor Hunger keine vierzehn Tage überlebt, hätte ihm nicht Christus seinen tröstenden Geist gesandt, der ihm das Leben erhielt, so daß er nicht verhungerte. Dies aber war seine Nahrung. Aus dem Felsen sickerte ein dünnes Rinnsal Wasser. Darunter grub er eine Vertiefung: die faßte genau einen Schluck. So klein war sie, daß sie über Nacht gerade voll wurde, wie man erzählt. Das trank der unglückliche Mann. Auf diese Weise lebte er siebzehn Jahre lang.] So also sieht, verehrter Leser, der Leidensweg des Gregorius aus, es gibt keine ritterliche Wiedergutmachung, kein Spiel mit Anonymität und Pseudonymen, denn Gott ist keine Instanz, die auf solche Weise gut gestimmt werden kann, deren Objektivität unter Beweis gestellt werden müßte, wenn es um die Wiedergewährung von Huld und Anerkennung geht. Wenn es aber gerade um Anerkennung geht, so sind es bei Gregorius nicht mehr irgendwelche Taten, die für ihn sprechen, sind es eben nicht mehr vermittelnde Werke, die den Helden in anderem Licht erscheinen lassen; diese Möglichkeit hat abgedankt, doch nicht etwa der Schwere des Vergehens halber, sondern einzig, weil die Instanz nun Gott ist, nicht eine literarische Chiffre, nichts hinter Nebeln einer wie immer gearteten Märchenwelt, sondern der einzige und für das damalige Publikum unzweifelhaft reale Gott. Und dies ist das so ungemein Revolutionäre in der Aussage des Dichters, es gibt keinen noch so heroischen oder altruistischen Weg, der zwischen Sünder und Gott vermitteln könnte! Das absolute Gegenteil ist der Fall, einzig das unvermittelte Sichin-die-Hand-Gottes-begeben, ohne Wenn und Aber, das Entblößen des puren Ich schafft in der grenzenlosen Schuld Gottferne die unvermittelte und unmittelbare Nähe zwischen dem Individuum und seinem Schöpfer.

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Ich bitte Sie nochmals, das Gesagte nicht allzu leichtfertig mit geläufigen Vorstellungen von Sühne, Askese und Eremitendasein zu verwechseln, denn das Schicksal des Gregorius ist völlig einmalig, es weist lediglich einen Weg, eine Nähe zu Gott wieder zu erfahren. Und das Wunderbare ist hier dann auch, daß Gott nicht ein Mal in all den siebzehn Jahren sein niedrigstes Geschöpf vergißt oder ihm seine Gnade und Liebe verweigerte. Weil aber Gregorius siebzehn Jahre mit Gott allein war, ist er allein würdig für die höchste Gnade, die es im Gottesreich gibt. Die aber wurde bislang so vergeben: dô starb, als ich ez las, der dô ze Röme bâbest was. alse schiere dô er starp, ein jeglich Rômaere warp besunder sînem künne durch des guotes wünne umbe den selben gewalt. ir strît wart sô manicvalt daz si beide durch nît unde durch der êren gît bescheiden niene kunden wem si des stuoles gunden. Nû rieten si über al daz si liezen die wal an unseren herren got, daz sîn genâde und sîn gebot erzeicte wer in waere guot ze rihtaere. [GREGORIUS, 3143 ff. Da starb, wie ich es las, der Inhaber des Heiligen Stuhles zu Rom. Im selben Moment, da er verschieden war, bemühte sich jede der römischen Familien einzig für ihre Sippe um dieses Amt wegen der Aussicht auf den zu erwartenden Reichtum. Der Streit artete derart aus, daß sie schließlich aus Neid und Ehrsucht überhaupt keine Einigung darüber erzielen konnten, wer Inhaber des Stuhles werden sollte. Nun entschieden sie gemeinsam, daß sie dem Herrgott die Wahl überlassen wollten, daß seine Gnade und sein Gebot ihnen anzeigen möge, wer das höchste Amt bekleiden soll.] Nun wissen wir, nach welchen Maßstäben das Gemensch seinen Papst auswählt, und wir ahnen nunmehr, welche Maßstäbe Gott anlegen wird. Wer wollte es ihm verübeln, daß er den erwählt, der ihm am nächsten ist, der einzig ihm vertraut und dem

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Gott daher selbst so vollkommen trauen kann, daß er denjenigen zu seinem Stellvertreter auf Erden bestimmt, der von seiner Gnade weiß und der das Übel des Erwerbs von weltlichen Gütern erkannt hat. Ich muß an dieser Stelle nochmals betonen, daß Gregorius diese Gnade in einem Kloster sicherlich nicht erfahren hätte. Also weist Gott den Weg mit allen Zeichen, die auf den größten Sünder dieser Welt hinweisen, Zeichen, die auch jener Fischer deutlich erfährt, der sich einst so von Gregorius verabschiedet hatte: er sprach: 'daz weiz ich âne wân, swenne ich den slüzzel vunden hân ûz der tiefen ünde sô bistû âne sünde unde wol ein heilic man.' [GREGORIUS, 3095 ff. Er erklärte: "Das weiß ich genau, sollte ich diesen Schlüssel wiederfinden, aus der tiefen See, dann mußt du ohne Sünde sein und ein heiliger Mann."] Die zwei Abgesandten treffen auch bei diesem Fischer ein, der ihnen einen frisch gefangenen Fisch vorsetzt, ihn ausnimmt und den Schlüssel wiederfindet. Der Fischer erkennt seine Verblendung und erzählt den Gesandten die ganze Geschichte, die nun wissen, wo ihr Papst zu finden ist. Noch einmal rechnet HARTMANN mit der Weltlichkeit in der Gesinnung dieser Römer ab: Des morgenes vil vruo kêrten si dem steine zuo. dô si mit arbeiten die boume zuo bereiten daz si ûf den stein kâmen und des war nâmen war Grêgôrjus waere, der lebende martaere: einen harte schoenen man dem vil lützel iender an hunger oder vrost schein oder armuot dehein, von zierlîchem geraete an lîbe und an der waete, daz nieman deheine von edelem gesteine,

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von sîden und von golde bezzer haben solde, wol ze wunsche gesniten, der mit lachenden siten, mit gelphen ougen gienge und liebe vriunt emphienge, mit goltvarwen hâre, daz iuch in zewâre ze sehenne luste harte, mit wol geschorenem barte, in allen wîs alsô wol getân als er ze tanze solde gân, mit sô gelîmter beinwât sô si zer werlde beste stât, den envunden si niender dâ: er mohte wol wesen anderswâ. [GREGORIUS, 3371 ff. Früh am nächsten Morgen fuhren sie in Richtung des Felsens. Dort präparierten sie mit großer Mühe die Masten, damit sie auf den Felsen klettern und sehen konnten, wo Gregorius wäre, der lebende Märtyrer: Den wunderschönen Mann, an dem nicht die geringste Spur von Hunger, Frost oder Armseligkeit offenbar wurde, mit herrlichster Pracht an Leib und Kleidung, daß niemand an Edelsteinen, an Gold und Seide besser bestückt sein könnte, maßgeschneidert, der jovial und mit übermütigem Blick einherschritte, um alte Bekannte zu empfangen, mit goldfarbenem Haar, daß euch sein Anblick höchste Lust bereitet hätte, mit modisch gestutztem Bart und insgesamt so ausgerüstet, als ob es zur Party ginge, mit trefflich verarbeiteten Hosen, der letzte Schrei, den fanden sie damals nicht: der muß wohl gerade woanders gewesen sein.] Ich meine, das ist deutlich genug und bedarf keines Kommentares meinerseits. Aber was sie finden, die verfilzte und nackte Kreatur, das schamvolle und ängstliche Wesen, das ist einer, der mit anderen Augen angesehen wird: sus vunden si den gotes trût, einen dürftigen ûf der erde, ze gote in hôhem werde, den liuten widerzaeme, ze himele vil genaeme. [GREGORIUS, 3418 ff. Dergestalt fanden sie, den Gott liebt, den Armseligsten auf Erden, den Begnadetsten vor Gott, den Widerwärtigsten für die Menschen und den Erwählten des Himmels.]

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Seine Tafel, die er in der Hast bei dem Fischer verloren hatte, findet er wieder, und sie beglaubigt seine unermeßliche Sünde vor den Boten. Drei Tage vor seiner Ankunft in Rom beginnen alle Glocken von selbst zu läuten und verkünden das Nahen des Heiligen. Von diesem Papst empfängt schließlich seine Mutter Vergebung, natürlich ohne ihn zunächst zu erkennen, denn der ihr die Absolution erteilt, ist in erster Linie der Vertreter Gottes, dann erst ihr Sohn und Gemahl. Dies, liebe Leser, war die Geschichte von Gregorius, und ich kann nicht umhin, sie für die schönste des ganzen Mittelalters zu halten. Sie ist die klarste Darstellung nur eines Gedankens, der selbst wieder so universal ist, daß er leicht bis in unsere Zeit seine Gültigkeit behält, ob man sich mit dem Ritterethos auskennt oder nicht. Und dennoch, es ist nach allem, was wir bis hierher über die geistigen Strangulationen der Filologen erfahren mußten, von beinahe unfaßbarer Peinlichkeit, wie unsere Gelahrten den Gregorius zugerichtet haben. Vielleicht wird nun verständlich, weshalb ich es für so entnervend stupide halte, wenn diese in jede mittelalterliche Geschichte ihre theologischen Phrasen aus dem Konfirmandenunterricht pressen, wenn sie gar die Geschichte des guten Sünders mit allen patristischen und scholastischen Hebern aufknacken wollen. Dies alles ist philiströs, so bar jeglichen Verstandes, daß ich wünschte, sie mit keiner Silbe erwähnen zu müssen. Doch befindet sich in meinem Regal leider zufällig die Dissertation von K. D. GOEBEL, Untersuchungen zu Aufbau und Schuldproblem in Hartmanns Gregorius. (PHILOLOGISCHE STUDIEN UND QUELLEN). Was da stellvertretend für die Filologie angerichtet wird, ist die Zelebrierung eines neuaufgelegten Inquisitionsverfahrens zur Schuldfrage des Gregorius. Objektive Schuld und subjektive Schuld, Erbsünde und Tatsünde, Buße und Sündenschicksal, voluntas perficiendi, propassio, passio, culpa und delinquare, peccatum per igiiorantiam oder per imperativum, enormitas peccatorum und magnitudo culparum.......... ..mea culpa, mea maxima culpa, und so lesen sich diese, ich muß doch sagen, Motherf... gegenseitig die Leviten! Nirgends, aber auch nirgends nur ein Sterbenswörtchen, das unserem Gregorius auf seinem Felsen weiterhülfe, das HARTMANN irgend gerecht würde, statt dessen schwingt sich dieses Gemensch zu einer Instanz auf, die das Problem nie lösen kann, weil die Instanz es längst getan hat, die das miserere des Gregorius erhört hat und die ihm in seiner wortlosen Demut ihre Gnade schenkte. Die Geschichte von Gregorius aber ist die schönste Ausarbeitung des 51. Psalms im Mittelalter und in der Neuzeit, sie ist in eine Reihe zu stellen mit den phantastischen Vertonungen eines

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ALLEGRI und eines BIGAGLIA! Und dieser Psalm lautet so in der Vulgata, nach deren Zählung er noch der 50. Psalm ist: 3

Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam; et secundum multitudinem miserationum tuarum, dele iniquitatem meam.

4

Amplius lava nie ab iniquitate mea, et a peccato meo munda me.

5

Quoniam iniquitatem meam ego cognosco, et peccatum meum contra me est semper.

6

Tibi soli peccavi, et malum coram te feci; ut justificeris in sermonibus tuis, et vincas cum iudicaris.

7

Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum, et in peccatis concepit me mater mea.

8

Ecce enim veritatem dieixisti; incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti mihi.

9

Adsperges me hysopo, et mundabor; lavabis me, et super nivem dealbabor.

1O Auditui meo dabis gaudium et laetitiam, et exultabunt ossa humiliata. 11

Averte faciem tuam a peccatis meis, et omnes iniquitates meas dele.

12 Cor mundum crea in me, Deus, et spiritum rectum innova in visceribus meis. 13 Ne proicias me a facie tua, et spiritum sanctum tuum ne auferas a me.

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14 Redde mihi laetitiam salutaris tui, et spiritu principali confirma me. 15 Docebo iniquos vias tuas; et impii ad te convertentur. 16 Libero me de sanguinibus, Deus, Deus salutis me, et exsultabit lingua mea justitiam tuam. 17 Domine, labia mea asperies; et os meum adnuntiabit laudem tuam. 18 Quoniam si voluisses sacrificium, dedissem utique; holocaustis non delectaberis. 19 Sacrificium Deo spiritus contribulatus; cor contritum et homiliatum, Deus, non despicies. 20 Benigne fac, Domine, in bona voluntate tua Sion, ut aedificentur muri Jerusalem. 21 Tunc acceptabis sacrificium iustitiae, oblationes et holocausta; tunc imponent super altare tuum vitulos. Und nach der Lutherischen Übertragung von 1545 so: LI. 1

Ein Psalm Dauids / vor zu singen /2Da der Prophet Nathan zu jm kam / Als er war zu BathSaba eingegangen.

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GOtt sey mir gnedig/ nach deiner Güte / und tilge meine Sünde / nach deiner grossen Barmhertzigkeit. 4

Wassche mich wol von meiner Missethat / Vnd reinige mich von meiner Sünde. 5

Denn ich erkenne meine Missethat / Vnd meine Sünde ist jmer fur mir. 6

An dir allein hab ich gesündigt / Vnd vbel fur dir gethan. Auff das du recht behaltest in deinen worten / Vnd rein bleibest / wenn du gerichtet wirst. 7

SJhe / Jch bin aus sündlichem Samen gezeuget / Vnd meine Mutter hat mich in sünden empfangen. 8

SJhe/ du hast lust zur Wahrheit die im verborgen ligt / Du lessest mich wissen die heimliche Weisheit. 9

Entsündige mich mit Jsopen / das ich rein werde / Wasche mich / das ich schnee weis werde.

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10

Las mich hören freude vnd wonne / das die Gebeine frölich werden / die du zerschlagen hast.

11

Verbirge dein Andlitz von meinen Sünden / Vnd tilge alle meine Missethat.

12

Schaffe in mir Gott ein rein Hertz / Vnd gib mir einen newen gewissen Geist.

13

Verwirff mich nicht von deinem Angesichte / Vnd nim deinen heiligen Geist nicht von mir.

14

Tröste mich wider mit deiner Hülffe / Vnd der freidige Geist enthalte mich.

15

Denn ich wil die Vbertretter deine Wege leren / Das sich die Sünder zu dir bekeren.

16

ERrette mich von den Blutschulden Gott / der du mein Gott vnd Heiland bist / Das meine Zunge deine Gerechtigkeit rhüme.

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17

HERR thu meine Lippen auff /Das mein Mund deinen Rhum verkündige.

18

DEnn du hast nicht lust zum Opffer / Jch wolt dir es sonst wol geben / Vnd Brandopffer gefallen dir nicht.

l9

Die Opffer die Gott gefallen sind ein geengster Geist / Ein geengestes vnd zuschlagen Hertz wirstu Gott nicht verachten. 20

Thu wol an Zion nach deiner Gnade / Bawe die mauren zu Jerusalem.

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Denn werden dir ge fallen die Opffer der gerechtigkeü /Die Brandopffer vnd gantzen Opffer / Denn wird man Farren auff deinen Altar opffern. Es wäre nebenbei gesagt überaus instruktiv, den gesamten Wortlaut LUTHERS in seiner Vorrede auf den Psalter hinzuzufügen, hier aber soll dieser Hinweis genügen: Auff das / wer die gantzen Biblia nicht lesen kündte / hefte hierin doch fast die gantze Summa verfasset in ein klein Büchlin. Aber vber das alles / ist der Psalter edle tugent vnd art / Das andere Bücher wol viel von wercken der Heiligen rumpeln / Aber gar wenig von jren worten sagen.

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Lassen wir die bibelfesten Sündenprofis brav weiter rumpeln, begnügen wir uns mit der Einsicht, daß HARTMANN nicht für Theologieprofessoren schrieb, sondern für Leute, die bestenfalls den Psalter kannten. Für einige Leser mag nun aber mein Diktum, der Gregorius handle von dem Problem des WAS beim aktantiellen Erwerb, vielleicht zu streng erscheinen, weil schließlich die Krisenfolgen so gänzlich unritterlich gemeistert werden. Ja, werden einige sagen, Eremiten gibt's wie Sand am Meer, und daß jemand nach verlorener Schlacht das Büßergewand anzieht, ist uns seit dem Simplizius mehr als geläufig. Ich finde es natürlich persönlich schade, daß HARTMANNs Aussage Ihnen nicht ganz einleuchten mag, aber ich hätte mich niemals an diese Publikation gewagt, hätte nicht ein anderer Dichter den Zusammenhang zwischen ritterlichem Erwerb und dem Verlust von Gottes Hulde etwas langsamer, zum Mitschreiben und Miterleben gestaltet. Hier kommt das Rittertum wieder zu seinem Recht, der Leser mithin voll auf seine Kosten. Die Rede ist von dem Meisterwerk unter den Artusromanen, dem Parzival WOLFRAMs VON ESCHENBACH.

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PARZIVAL oder Von Elstern und anderen schrägen Vögeln Lieber Leser, wir haben vor uns einen Roman der Superlative, einen Roman, der den Abschluß einer thematischen Ritterdichtung darstellt, im Verweisen auf ein neues Konzept für die Zukunft aber gleichzeitig einen Wendepunkt bezeichnet. Zugleich ist es ein Werk just jenes Autors, dessen Verspottung des Bildungsdünkels bis in unsere Zeit seine Schärfe zwar nicht verloren hat, aber leider seine Wirkung, denn wer sich zum Sachwalter dieses Genius gemacht hat, besser, sich erdreistete zu machen, sind die Notzüchter des Verstandes, die Konservatoren ihrer literaturwissenschaftlichen Erbsünden. Die sind aber auch so dusselig, sie polieren noch die Guillotine, die ihre Köpfe fordert. Ich bin ja, wie häufiger erwähnt, für meine Forschungen wiederholt angefeindet worden. Ursache war natürlich die blasse Ahnungslosigkeit seitens der Literaturmännlein, Anlaß aber war der aufgedeckte Schematismus in der mittelalterlichen Literatur, die stringente Konzeption der Romane, die dem überbezahlten Rätselraten und Deutungshokuspokus dieser Leute den Boden entzog. Wie dürftig es um das Erkenntnisinteresse jener bestellt ist, beweist die kontradiktorische Trennung von Ästhetik und Struktur. Ich muß aber gleich die Ästhetik in Schutz nehmen, die schließlich nichts gegen ihren Mißbrauch unternehmen kann. Bekanntlich erfreut sich die Literaturwissenschaft seit Jahrhunderten einer liebevoll gepflegten Erkenntnisverweigerung, ja man muß konstatieren, daß sie geradezu das Unvermögen, irgend-etwas zu verstehen, derart internalisiert und kultiviert hat, daß man inzwischen Ästhetik als Pseudonym und Euphemismus für das Unerklärbare benutzt. Das entsetzliche Credo dieser Leute lautet, daß Kunst sich dem definitiven Erkennen entzieht. Was man nicht erkennt, muß daher Kunst sein, und wenn sich etwas dem wissenschaftlichen Geiste entzieht, dann greifen hier nur noch die Parameter der Ästhetik. Daß Erkennen ein wahrer Genuß sein kann, ein lux in tenebris, können diese Leute, die ihre Bücher genauso mümmeln wie die fade Mensakost, einsichtigerweise denn auch niemals bemerken. Und dann warf man mir vor, ach du Habs Herrgottle von Biberach, daß ja nun alles Schöne weg sei, die Ästhetik dahingeschlachtet, in ihrem Blute liegend, nur um das Skelett herauszuschälen. Doch auf die Frage, wo denn ihre Vorstellungen vom Schönen und Positiven geblieben seien, lasse ich KÄSTNER zu Wort kommen: Und immer wieder schickt ihr mir Briefe, in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt: Herr Kästner, wo bleibt das Positive? Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

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Noch immer räumt ihr dem Guten und Schönen den leeren Platz überm Sofa ein. Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen, gescheit und trotzdem tapfer zu sein. Die Spezies Mensch ging aus dem Leime und mit ihr Haus und Staat und Welt. Ihr wünscht, daß ich's hübsch zusammenreime, und denkt, daß es dann zusammenhält? Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln. Die Zeit ist schwarz. Ich mach euch nichts weis. Es gibt genug Lieferanten von Windeln, und manche liefern zum Selbstkostenpreis... Nun hat sich im Verlauf dieser Untersuchung herausgestellt, daß ein Schematismus nicht nur auf Organisationsebene der Romane virulent ist, sondern sinnigerweise das Thema dieser Romane insofern bildet, als hier der Schematismus aufs Korn genommen wurde, sei es, daß er sich in ritterlichen Taten oder in ihrer definitorischen Selbstauffassung widerspiegelte. Es wird aber den meisten verborgen geblieben sein, daß zumindest der sprachliche Schematismus, wie er sich in Definitionen eines Kalogrenant manifestiert, nichts anderes darstellt als eine Anspielung auf kodifiziertes Wissen, kurz, auf Gelerntes, auf das, was damals wie heute als Lehrinhalt nur Weltferne beweist. Noch immer prangt über unserem Schulsystem der Spruch: non scholae, sed vitae discimus doch ist es schon Thema dieser Romane, die solcherart vernebelten Zusammenhänge aufzuklären zu der Einsicht: Nicht die Schule kann uns lehren, das tut das Leben selbst! Das Verhältnis zwischen dem Schematismus des Wissens, der sich in der Sprache der Etablierten niederschlägt, und der Absurdität dessen auch im ritterlichen Alltag, ist nirgends so konsequent ausgestaltet wie bei WOLFRAM VON ESCHENBACH. Dies macht er einerseits durch seine bereits erwähnte Kritik am Bildungsdünkel deutlich, zum anderen aber, und dies macht seine enorme Popularität im Mittelalter erst nachvollziehbar, ist es seine eigene Sprache, die seine Kritik untermauert. WOLFRAM ist daher der unzweideutigen Kritik des GOTTFRIED VON STRASSBURG ausgesetzt gewesen, der diesen Stil ablehnte:

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wir ensuln ez nieman lâzen tragen, sîniu wort ensîn vil wol getwagen, sîn rede ensî ebene unde sleht, ob ieman schône unde ûfreht mit ebenen sinnen dar getrabe, daz er dar über iht besnabe. […] ir rede ist niht alsô gevar, daz edele herze iht lache dar. […] sône hân wir auch der muoze niht, daz wir die glôse suochen in den swarzen buochen. [TRISTAN, 4659 ff. Wir dürfen ihn (Lorbeerkranz) niemandem verleihen, dessen Sprache nicht rein (elaborierter Code) ist, dessen Ausdruck nicht stilisiert und ausgefeilt ist, daß nicht jemand, der brav verschult und stolz alphabetisiert ist, mit seiner Einfalt darüber ins Straucheln gerät. (...) Seine Sprache ist nicht so beschaffen, daß der Biedermann sich daran erfreuen könnte. (...) Schließlich haben wir auch keine Zeit, daß wir uns denn Sinn seines Ausdrucks womöglich in Beschwörungsbüchern suchten.] Es war leider nicht zu vermeiden, GOTTFRIEDs Kritik an WOLFRAM so zu übersetzen, daß deutlich wird, daß seine Schelte fehl am Platze ist. Die Sprache WOLFRAMs ist nämlich das, was wir restringierten Code nennen würden, die Alltagssprache, die Ausdrucksweise, die sich erst nach LUTHERs Schauen auf des Volkes Maul etablieren durfte. Es ist angesichts dieser Sprache entzückend, mit anzusehen, wie unsere hochgebildeten Gelahrten denn so ihre Schwierigkeiten damit haben. Sie nennen es dunklen Stil und so was und halten ihn in ehrfürchtiger Anbetung. Mein Beispiel mag nun übertrieben sein, aber wenn nach 800 Jahren noch immer diese Strauchdiebe der Literatur etwas zu sagen haben werden, dürfen wir sicher sein, daß die Sprache von Charles BUKOWSKI mit dunklem Stil gleichgesetzt wird: Ich habe hier meine rote und goldene Farbe doch wie Shakespeare schon sagte: Es ist fast immer ein ständiges Rühren in der alten Scheiße.

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Oder wie wär's mit einem Tagelied: Mongolische Mondlandschaft Mongolische Küsten schimmern im Licht Ich höre den Pulsschlag der Sonne Der Tiger ist fiir uns alle dasselbe Und hoch, so hoch oben In den Zweigen Singt unser Pirol So, und für die, die Charles BUKOWSKI nicht kennen oder nur mit Fusel und FuckMachine identifizieren, etwas thematisch Verwandtes: Wahre Geschichte Sie lasen ihn auf, als er eine Schnellstraße entlang ging, vorne ganz rot. Mit dem Deckel einer rostigen Blechbüchse hatte er sich alles gekappt, als wolle er sagen: Nach dem, was ihr aus mir gemacht habt, könnt ihr auch noch den Rest haben! Er hatte sich die Teile in die Hosentaschen gesteckt, und so fanden sie ihn neben der Straße. Sie übergaben ihn den Ärzten. Die versuchten, die Teile wieder anzunähen, aber die Teile waren ganz

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zufrieden, so wie sie waren. Ich mußte an all die schönen festen Hinterteile denken, die den Monstern der Welt vorbehalten bleiben. Vielleicht war es sein Protest dagegen vielleicht sein Protest gegen alles. Ein SoloFreiheitsmarsch, nichtmal eine Spalte wert zwischen Konzertkritiken und Baseball ergebnissen. Gott oder sonstwer steh ihm bei. [Charles BUKOWSKI, Flinke Killer, hrsgg. u. übers, v. C. Weissner] Doch ich glaube, es hat wenig Sinn, diesen Stoffeln auch noch den Hämor-rhoidenBlues zu singen. Nur so viel sei noch gesagt, was K. BERTHAU für tote Witze hält, ist lebendigste Sprache. Die aber, aufmerksame Leser, angemessen zu übersetzen, ist so gut wie unmöglich. Versuchen wir unser Bestes, auch dieses Werk so gut als irgend möglich zu verstehen, und hüten wir uns gerade hier vor jedem, der BUKOWSKI nicht gelesen hat, der nicht weiß, wie es ist, wenn es heißt: Der Verleger klopft an Bukowskis Tür. WOLFRAMs Parzival ist nun aber auch von der Anlage her nicht leicht zu durchschauen, besteht er doch eigentlich aus drei verschiedenen Geschichten mit drei Protagonisten. Davon sind lediglich die Erzählungen von Parzival und Gawein in-

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haltlich und struktural näher verbunden, die von Gahmuret, Parzivals Vater, ist zwar spannend, doch für uns bis auf die sich aus ihr ergebenden Implikationen für das Leben Parzivals ohne Bedeutung. Das zentrale Thema dieses Romans jedoch ist eine Einstellung, die im Gregorius nicht angsprochen wurde, die dort wegen des Fehlens jeglicher Alternative ganz bewußt vermieden wurde, hier aber nun erzählerisch ausgestaltet wird. Es geht um das, was im 12. Vers des 51. Psalms angesprochen wird, und das LUTHER so kommentiert: (Gewissen) Das ist / Ein Geist der im glauben on zweiuel vnd der Sachen gewis ist/ vnd sich nicht irren noch bewegen lesst / von mancherley wahngedancken / leren etc. Als die Dünckler und Zweiueler sind. Diesen gewissen Geist hatte Gregorius. Der Parzival aber beginnt so: Ist zwîvel herzen nâchgebûr, daz muoz der sêle werden sûr. [PARZIVAL, 1,1 f.] Wie der Volksmund so richtig sagt, es kann der Frommste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, so meint WOLFRAM: [Wenn die Ungewißheit der unangenehme Zimmernachbar des Herzens ist, hat die Seele ihre Nachtruhe verloren.] Es wird aber noch schwieriger: gesmaehet unde gezieret ist, swâ sich parrieret unverzaget mannes muot, als agelstem varwe tuot. der mac dennoch wesen geil: wande an im sint beidiu teil, des himels und der helle. der unstaete geselle hât die swarzen varwe gar, und wirt auch nâch der vinster var: sô habet sich an die blanken der mit staeten gedanken. [PARZIVAL, 1,3 ff.] Das ist nie so recht verstanden worden, macht aber nix, wir versuchen mal ne neue Version:

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[Es gereicht zur Schande wie zur Zierde, wo immer sich Rittertugend als so heterogen zeigt, wie es die Flecken auf der Elster tun. Aber auch solch einem kann geholfen werden: denn an dem haben Himmel und Hölle noch gleichen Anteil. Wer aber auf die schiefe Bahn gerät, wird ganz schwarz, da gibt's keinen Hoffnungsschimmer. Wer aber den Willen zum Guten hat, der orientiert sich an den weißen Flecken.] Ich biete hier gern die Alternative von HAUG, die wenig nützt und Dinge übersetzt, die nicht im Text stehen, aber das sind wir ja gewöhnt. Ich muß nur um aufmerksamste Lektüre bitten: Schändliches und Schönes findet sich da beisammen, wo männliche Unverzagtheit sich [mit seinem Gegenteil] mischt wie die Farben der Elster. Er darf dennoch hoffnungsfroh sein, denn er hat an beidem teil, am Himmel und an der Hölle. Wer sich freilich ganz der Unbeständigkeit überläßt, der ist völlig schwarz und wird auch der Finsternis verfallen, während die weiße Farbe den Menschen kennzeichnet, der in seinem Geist nicht schwankt. [HAUG, Literaturtheorie im Mittelalter, S. 156] Nach HAUG mischt sich da also Schändliches mit Schönem, männliche Unverzagtheit mit ihrem Gegenteil, was gleichzusetzen ist mit schwarz und weiß, mit nbeständigkeit und nicht schwanken. Wir dürfen also mitraten: könnte oder müßte jenes ominöse Gegenteil dann männliche Verzagtheit bedeuten? Dann besteht somit die männliche Elsterchimäre aus Verzagtheit und Unverzagtheit, Beständigkeit und Unbeständigkeit. Also, ich weiß nicht, aber zwischen WOLFRAM und FREUD liegen fast 700 Jahre, ersterer wird das nie gemeint haben, und letzterer wüßte für den, der das glaubt, gewiß Rat. Doch als ob WOLFRAM es geahnt hätte, fährt er fort: diz vliegende bîspel ist tumben liuten gar ze snel, sine mugens niht erdenken: [PARZIVAL, 1,15 ff. Ein solchermaßen geflügeltes Büd ist für Dussel dann doch zu hoch, sie können es nicht mit ihrer Vorstellungswelt verbinden.] Und er sagt erläuternd: wand ez kan vor in wenken rehte alsam ein schellec hase. zin anderhalb an dem glase geleichet, und des blinden troum:

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die gebent antlützes roum. doch mac mit staete niht gesîn dirre trüebe lihte schîn: er machet kurze vröude alwâr. [PARZIVAL, 1,18 ff. Denn es entzieht sich ihnen wie ein scheuer Hase. Wie im Spiegel oder im Traum eines Blinden (Eigentlich dürfte der gar nichts Visuelles träumen. Da ein Blinder aber noch nie ein fremdes Gesicht gesehen haben kann, wird er sich allenfalls sein eigenes vorstellen können.) sehen die nur sich selbst (oder gar nichts). Doch haben solche trüben Bilder keine Beweiskraft und sind bald langweilig.] Gegen seine Kritiker wendet er darauf dies ein: wer roufet mich dâ nie kein hâr gewouchs, inne an mîner hant (?) der hât vil nâhe griffe erkant. spriche ich gein den vorhten och, daz glîchet mîne witzen doch. [PARZIVAL, 1,26 ff. Wer meint, bei mir Haare spalten zu können, wo mir keine wachsen, wie zum Beispiel an meinen Handflächen, der müßte schon ein inziges Messerchen mitbringen. Sollte ich mich davor fürchten, würde ich mich doch intellektuell mit denen auf eine Stufe stellen.] Ich habe mich hier bemüht, das Bild, das WOLFRAM hier entwirft, in neuere Vorstellungen zu übertragen. Haare an nackten Körperteilen wie an einer Glatze oder an der Handinnenfläche zu rupfen, ist ein sprichwörtliches Bild für die Unsinnigkeit eines zum Scheitern verurteilten Unterfangens. Heute sind Bilder gebräuchlicher wie: Bananen in Alaska züchten oder Kühlschränke an Eskimos verkaufen. WOLFRAM aber ging es aber wahrscheinlich weniger darum, die Vergeblichkeit solchen Tuns herauszustellen, als vielmehr um die Entlarvung des Typus Textwissenschaftler oder Textkritiker, der ungeachtet eines gänzlich fehlenden Objektes, sich höchst gelehrt über dieses äußert. Deutlich wird der Ausdruck nâhe griffe, wenn man einen anderen Sachverhalt gegenüberstellt. Im Großen Lexer findet sich der Ausdruck manic man hât gar wîten grif ûf grôze dinc, was soviel bedeutet wie: manche Menschen verfügen über einen umfassenden Einblick in große Zusammenhänge. Wir können uns nun lebhaft vorstellen, welch nâher griffe es bedarf, um beispielsweise auszurechnen, wie viele Englein auf einer Nadelspitze Platz finden. Daher ist auch eine Version wie die folgende durchaus akzeptabel:

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Derjenige, der auch dort Haare spaltet, wo keine wachsen, kann nur ein höchst subtiler Krümelkacker sein (Filologe). Wer solche Leute ernst nimmt, stellt sich eigenhändig ein Armutszeugnis aus. Um jedes Mißverstehen zu vermeiden, lasse ich nun einen moderneren Zyniker zu Wort kommen, der an beinahe jeder Stelle dieses Buches Platz fände, nâhe griffe auf den Punkt zu bringen: Sie haben Witz und können ihn nicht halten. Sie wissen vieles, was sie nicht verstehn. Man muß sie sehen, wenn sie Haare spalten! Es ist, um an den Wänden hochzugehn. Sie wissen ganz genau, daß Kreise rund sind und Invalidenbeine nur aus Holz. Sie sprechen fließend, und aus diesem Grund sind sie Tag und Nacht - auch sonntags - auf sich stolz. In ihren Händen wird aus allem Ware. In ihrer Seele brennt elektrisch Licht. Sie messen auch das Unberechenbare. Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht! Sie haben am Gehirn enorme Schwielen, fast als benutzten sie es als Gesäß. Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen. Die Liebe treiben sie programmgemäß. [Erich KÄSTNER: Zeitgenossen, haufenweise.] Es ist begreiflich eines meiner Lieblingsgedichte, und es beginnt mit einer Einsicht, der ich mich beim Verfassen dieses Buches nie entziehen konnte: Es ist nicht leicht, sie ohne Hass zu schildern, und ganz unmöglich geht es ohne Hohn. Ein heftiger Disput mit Enite hat mich zum Einlenken gezwungen, geneigter Leser, und daher liefere ich auch zu den übrigen Zeilen die Alternative, bin dann aber sogleich gezwungen, näher auf eine bestimmte Stilform einzugehen. HAUG also übersetzt die folgenden Verse in dieser Weise:

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Dieses fliegende Gleichnis ist fiir unwissende Leute viel zu schnell. Sie können es mit ihrem Verstand nicht einholen, denn es entwischt ihnen wie ein hakenschlagender Hase. Zinn auf der Rückseite eines Glases (d. h. ein Spiegel) und der Traum eines Blinden narren einen: sie können zwar ein Antlitz zur Erscheinung bringen, doch ist dieses flüchtig-trübe Bild ohne Festigkeit; es erfreut nurför einen kurzen Augenblick. Wer will mich da raufen, wo ich keine Haare habe, nämlich an der Innenfläche meiner Hand? So jemand versteht es wirklich zuzugreifen! Da muß ich wahrlich vor Angst aufschreien, wie dies zu meiner Geistesart paßt! Ist das nicht einfach unglaublich verständnislos übersetzt? Ist das nicht schon eine Unverschämtheit, aus sinnvollen Sätzen solch ein Gestammel ohne jeden Sinn zu machen? Wo, frage ich mich, kommt die Erkenntnis her, daß einen ein Spiegel narrt, wer ist einen, wen narrt am Ende der Traum eines Blinden! Die einzigen Verbindungen zwischen narren und Spiegeln gibt's im Eulenspiegel. Ansonsten vertraue ich mich häufig einem Spiegel an, beim Rasieren und beim Autofahren. Wen aber soll weshalb der Traum eines Blinden narren? Jesus, es geht hier nicht ums Narren, so passend das angesichts dieser Torheiten ist, sondern um das, was die Blöden tatsächlich sehen, und das liegt nicht am Material, sondern an ihnen selbst! Und diesen Leuten kann ich wieder einmal nur einen kleinen Rat mit auf ihren Irrweg geben. Das einzige, wovor Ihr Euch angesichts eines Spiegels hüten mußt, ist die allzu naheliegende Velwechsrung von lechts und rinks. Im letzten Abschnitt unterstellt HAUG dem Autor schließlich Ironie. Das ist ein wohlfeiles Mittel, dem Autor etwas zu unterstellen, was er nie sagen wollte, es stellt die Dinge auf den Kopf und erlaubt so ziemlich jede Deutung. Dagegen spricht, daß Ironie, wird sie angewandt, nach deutlichsten Hinweisen verlangt, die sie erkennbar macht. Nirgends, außer in HAUGs eigenem Kommentar, findet sich ein solcher Hinweis. Nun haben wir ja bemerkt, wie schwer WOLFRAM auch für Profis zu verstehen ist, wie schwer seine Bilder nachvollziehbar sind. Wer möchte eigentlich WOLFRAM da unterstellen, zudem plötzlich noch ironisch zu werden? Das bedeutet nämlich nichts anderes, als das Risiko einzugehen, in keiner Weise mehr ernst genommen zu werden. Sind dies etwa Nachwirkungen von WARNING, seiner skurrilen Idee von einem ironischen Vermittler von Heterogenem? Ist wohl zu vermuten, denn die Idee, Heterogenes, kurz, Unverständliches, mit einem Mal durch unterstellte Ironie seiner Aussage zu berauben, muß für diese Holzhacker eine magische Faszination haben. Ich habe rund zwanzig mittelalterliche Romane gelesen, aber Ironie, wie HAUG und WARNING sie verstehen, ist mir nie begegnet. Zynismus, Sarkas-mus, Übertreibung, Understatement, Anspielungen, all dies ist mir begegnet, aber daß ein Dichter zur Delektion sporadisch etwas Gegenteiliges von dem meint, was er sagt, das

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würde keiner riskieren, er würde sich der Gefahr aussetzen, vom ohnehin überforderten Publikum nicht mehr ernst genommen zu werden. Gerade die höfischen Romane sind ein wahres Feuerwerk an Esprit, sie versprühen Witz mit intelligentesten Mitteln, Ironie aber wäre nach Auffassung dieser Professoren das billigste, das platteste Mittel, leicht nachvollziehbare Witze für Blöde zu machen. Dort, wo die Anspielungen aber beinahe das Letzte vom Leser fordern, ist sie dann geradezu verderblich. Stellen Sie sich jetzt einfach mal vor, im folgenden Zitat seien die letzten drei Verse ironisch gemeint, WIELAND möge als Kenner der Abderiten gnädig mit mir sein: Indessen, wenn uns gleich von manchem Phänomen, Aus Mangel des Fensters, das Momus an unserer Brust vermisset, Die innern Räder und Federn entgehn, Und mancher vielleicht im Bild andächtiglich geküsset Und fleißig beräuchert wird, der, kennten wir ihn recht, Im Grunde ein armer Sündenknecht Wo nicht was ärgers war: soll dies uns irre machen? Wir sehen auf Stoff und Form, nicht auf die Farbe der Sachen: Was Kunst ist, was Natur, ist allen offenbar, Und unverfälschtem Sinn ist nur das Wahre wahr. [WIELAND, Der neue Amadis, Sechzehnter Gesang, 4] Lassen Sie sich nicht irre machen, sporadische Ironie in der erzählenden Dichtung ist so gut wie ausgeschlossen, im Drama hingegen, in der wörtlichen Rede, ja besonders in der Anklagerede ist sie oftmals notwendig: ANTONY Friends, Romans, countrymen, lend me your ears; I come to bury Caesar, not to praise him. The evil that men do lives after them, The good is oft interred with their bones. So letit be with Caesar. Tlie noble Brutus Hath told you Caesar was ambitious; If it wereso, it was a grievous fault, And grievously hath Caesar answer'd it. Here, under leave of Brutus and the rest, [For Brutus is an honourable man, So are they all, all honourable men] Come I to speak in Caesar's funeral. [SHAKESPEARE, Julius Caesar, III, 2]

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Das, was in eckigen Klammern steht, das ist tatsächlich hinterhältigste und offenste IRONIE ! Auch ich würde im Zuge dieses Buches nie zum Mittel der Ironie greifen, denn sie ist zu unsicher. Würde ich verlauten lassen: Denn Haug, das ist ein ehrenwerter Mann, und alle Professoren ehrenwerte Männer, so dürfte den meisten Lesern eindeutig klar sein, wie ich's meine, aber, nichts für ungut, lieber Leser, verlassen würde ich mich darauf eben nicht. Mir ist die Form des Understatements dann doch viel sicherer, wenn ich nicht explizit zu sagen wage, was ich meine, denn ich will künftig anderes als Gnadengesuche schreiben. Den ehrenwerten Männern empfehle ich Untersuchungen zur Ironie im Prolog von HARTMANNs Erec. Damit wir fürderhin aber auf dem Boden bleiben, wollen wir uns ganz kurz einmal klarmachen, was denn eigentlich das Funktionsprinzip der so vielbemühten IRONIE tatsächlich ist. Bei Lichte betrachtet, legt die Verwendung des Mittels der IRONIE grundsätzlich nur eine bestimmte erwartete Schlußfolgerung des Hörers oder Lesers nahe. Diese notwendige Schlußfolgerung aber steht in krassem Widerspruch zu etwas zuvor Geäußertem. Wie aber wird dieser Widerspruch evoziert? Denkbar einfach: Der Autor berichtet beispielsweise völlig wertfrei oder sogar apologetisch von Handlungen oder Einstellungen bestimmter Menschen oder Gruppen, die auf den Hörer oder Leser jedoch negativ wirken müssen. Daraufhin fügt er einfach noch das gängige und positive Bild, das diese Menschen oder Gruppen in der jeweiligen Öffentlichkeit haben, auf solche Art und Weise hinzu, daß der konsekutive Charakter beider Informationen als Absurdität erscheint. Wenn nun dergestalt unabweisbare Tatsachen und herrschende Meinungen sich der Verschmelzung entziehen und statt dessen einen krassen Widerspruch offenbaren, dann wird automatisch der Verdacht nahegelegt, die herrschende Meinung müsse notwendig falsch sein. Der Verursacher eines solchen Verdachtes ist dabei unangreifbar, ja, er stellt sich schließlich scheinbar auf die Seite der Entlarvten, indem er deren Bild von sich, die herrschende Meinung, ohne negativen Kommentar an das wirksame Ende einer Argumentation stellt. Sein Schutzmantel ist dabei zugleich seine vernichtendste Waffe, es ist die Naivität, die er an den Tag legt, um die wie immer gearteten offensichtlichen Widersprüche zu harmonisieren, und die es dem Rezipienten ermöglicht, sich durch die selbständige Schlußfolgerung über diese Naivität zu erheben. Die delektierlichsten Beispiele für eine durchgängige Beherrschung dieses Prinzips in der Literatur sind A modest proposal for preventing the children of poor people from beeing a burthen to their parents or the country and for making them beneficial to the publick von Jonathan SWIFT und Candide ou l'optimisme von VOLTAIRE. Es sollte nunmehr klar geworden sein, daß es für das Konstatieren von Ironie hie und da in einem Werk nicht ausreichen kann, wie WARNING oder HAUG schlicht den Verdacht zu haben, der Dichter könne etwas völlig anderes gemeint haben als

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das, was er sagt, vielmehr ist es notwendig, daß der Dichter selbst den Verdacht nahelegt, eine von zwei evident disparaten Äußerungen könne ja wohl schlechterdings nicht den Tatsachen entsprechen. Doch so viele Worte um eine Ironie, die es hier gar nicht gibt. Da lohnt es sich auf der anderen Seite sicherlich, noch ein paar Worte über die zu verlieren, die dieses Gerücht in die Welt setzten, denn wenn Sie sich kurz noch einmal die Übersetzungen von mir und von HAUG ansehen, so wird klar, woher die Ironie kommt, schlicht und ergreifend aus dem Unvermögen HAUGs, richtig zu übersetzen, allgemein gesagt sogar, etwas richtig zu verstehen. So weit die Ausführungen für Enite, die mal wieder dazwischengeplappert hat, nun aber schenken wir unsere ganze Aufmerksamkeit wieder WOLFRAM und seinem Parzival. Dort nämlich erwartet uns ein weiteres verschlüsseltes Bild, das diesmal seinen Erzählstil und die Ordnung seiner Geschichte verteidigen soll. Wieder werden hier Anspielungen auf die Kritik GOTTFRIEDs VON STRASSBURG deutlich, der übrigens seine Geschichte von Tristan und Isolde derart weitschweifig und langatmig erzählt, daß ich noch nicht mit ihr fertig geworden bin. Nannte sich das erste noch Elsterngleichnis, so bekommen wir es nun mit dem sogenannte Bogengleichnis zu tun. Der Originaltext lautet: Wer der selbe waere, des vreischet her nâch maere. dar zuo der wirt, sîn burc, sîn laut, diu werdent iu von mir genant, her nâch sô des wirdet zît, bescheidelîchen, âne strît und ân allez vür zogen. [PARZIVAL, 241,1 ff.] Dies leitet zum Gleichnis über, wird also auch übersetzt, diesmal von C. M. WIELAND, wie wir es bereits lesen konnten. [Wer der sei (Anfortas), danach erkundigt euch später. Auch über den Burgherrn, seine Burg, sein Reich, Die übrigen werden vor euerm günstigen Blicke Sich stellen, wie es dem Schöpfer und Herren von ihrem Geschicke, Zum Besten des Ganzen, worin sie bloße Räder sind, nützt.] ich sage die senewen âne bogen. diu senewe ist ein bîspel. nu dunket iuch der boge snel: doch ist sneller daz diu senewe jaget.

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ob ich iu rehte hân gesaget, diu senewe gelîchet maeren sleht: diu dunkent ouch die liute reht. swer iu saget von der krümbe, der wil iu leiten ümbe. swer den bogen gespannen siht, der senewen er der slehte giht, man welle si zer biuge erdenen sô sie den schuz muoz menen. swer aber dem sîn maere schiuzet des in durch nôt verdriuzet: wan daz hât dâ ninder stat, und vil gerûmeclîchen pfat, ze einem ôren în, ze dem andern vür. mîn arbeit ich gar verlür, ob den mîn maere drunge: ich sagte oder sunge, daz ez noch baz vernaeme ein boc oder ein ulmiger stoc. [PARZIVAL, 241,8 ff. Ich erzähle einen Erzählstrang ohne alle Umschweife. So ein Strang ist eine Geschichte. Nun findet ihr vielleicht solche Umschweife aussagekräftig: Doch bedeutender ist, was der Erzählstrang für eine Absicht verfolgt. Wenn mein Bild passend ist, ist so ein Erzählstrang recht platt: so etwas genügt dem Pöbel. Wer euch aber einen Knoten hinein macht, der will euch auf etwas hinweisen. Wenn man einen Bogen mit eingespannter Sehne betrachtet, erscheint sie ja auch schnurgerade. Will man hingegen etwas in einer bestimmten Zielrichtung aussagen, muß man sie beugen und dehnen. Wer aber jemanden mit einer überdehnten Geschichte vergrault, muß ihn notwendig überdrüssig machen. So etwas kommt einfach nicht an, das findet einen freien Weg in ein Ohr rein, zum andern heraus. Meine Mühe aber wäre fehl am Platz, wenn ich jemanden mit einer Geschichte ersticken wollte. Ob ich so etwas sänge oder erzählte, das geeignetste Publikum wäre ein Bock oder ein fauler Knüppel.] Geduldiger Leser, auch hier mußte doppelt übersetzt werden, zum einen aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche, zum ändern aus der Bildsprache in Alltagssprache. Ich hoffe, daß klar wurde, wie WOLFRAM sich gegen drei Erzählweisen abgrenzt, gegen die weitschweifige, die platte, die überfrachtete, wobei ich erstes und letztes als durchaus passend zu GOTTFRIED erachte. Dies alles kann man aber auch ganz anders übertragen, besonders, wenn man entweder den Großen Lexer nicht besitzt oder einfach nicht hineinschaut. So bezeichnet mhd. umbe einen Zweck,

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etwas Finales, und schiuzen heißt nicht schießen, sondern vergällen. Aber was soll's, wenn die Meister vom Himmel fallen, müssen sie da ja wohl den Halt verloren haben. Wie man bei WOLFRAMs klarer Abgrenzung gegenüber anderen Erzählweisen so ins Straucheln geraten kann, wie GOTTFRIED es erahnte, zeigt wie immer in solchen Fällen der Beste unter den Mediävisten: Mein Erzählen ist wie eine Sehne, nicht wie ein Bogen. Die Sehne ist als Gleichnis gemeint. Euch scheint der Bogen schnell zu sein: aber schneller ist das, was die Sehne abschießt. Wenn das richtig ist, dann kann man die Sehne als Bild für eine geradelaufende Erzählung nehmen, wie sie von den Leuten ja auch geschätzt wird. Wer euch da von Krümmung redet, der will euch an der Nase herumführen. Wer einen gespannten Bogen sieht, der muß zugeben, daß die Sehne gerade ist, es sei denn, daß man sie zum Abschießen des Pfeiles krümmt. Wer aber seine Erzählung jemandem zuschießt, der sie von vornherein ablehnt, bei dem bleibt sie nicht haften, sie geht vielmehr auf freiem Weg zum einen Ohr hinein und zum ändern hinaus. Meine Mühe wäre verloren, wenn ich so jemanden für meine Erzählung zu interessieren versuchte. Ob ich da reden oder singen würde, ein Bock oder ein fauliger Strunk wären bessere Zuhörer. Mal abgesehen davon, daß ein Bock ein besserer Gärtner ist als HAUG, kommt jetzt wieder der übliche Verweis mit dem fauligen Strunk: Der Bogen als literaturtheoretische Metapher ist keine Erfindung Wolframs. Es handelt sich vielmehr um einen Topos der bibelexegetischen Tradition. [...] In der Tradition wird der durch die Sehne gebeugte Bogen auf das Gesetz des Alten Testamentes hin ausgelegt, dessen Härte durch das Neue Testament gebeugt wird. Und das bedeutet zugleich, daß der Literalsinn des Alten Testaments durch das Neue Testament einen zweiten, geistigen Sinn erhält. Die Pfeile aber, die von der Sehne abgeschossen werden, verweisen auf die Apostel oder die göttliche Verkündigung… Ja, das animiert zum Weitermachen, dann wäre der Bock wohl Lucifer, der ulmige stoc müßte das Kreuz Jesu sein, das aber seinen Vorverweis im blühenden Rosenstock hat, uswusf. Wissen Sie, liebe Leser, das erinnert mich stark an die Geschichte von dem kleinen Buben, der, vom Pfarrer gefragt, was das wohl sei, das einen langen buschigen Schwanz hat und von Ast zu Ast hüpft, antwortet, er meine, eigentlich müsse dies ein Eichhörnchen sein, da er aber in der Kirche sei, sei es wohl eher das liebe Jesulein. Ach ja, das fromme Kind. Sehen Sie, HAUG will wissen, was für Speisen in einem Restaurant geboten werden, doch anstatt in die Speisekarte zu schauen, kratzt er im Hinterhof Essensreste

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aus der Mülltonne. Schaut man hingegen in die Speisekarte des Mittelalters, lesen wir: DJIHIMEL ERZELEN die Ehre Gottes / Vnd die Feste verkündiget seiner Hende werck. 3 Ein Tag sagts dem andern / Vnd ein Nacht thuts kund der andern. 4 Es ist kein Sprache noch Rede / da man nicht jre stimme höre. 5 Jre Schnur gehet aus in alle Lande / Vnd jr Rede an der Welt ende / [LUTHER, Psalm XIX ] So erschreckend deutlich sich bis hierher das Bild des Gelehrten herausgeschält hat, der mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nur deshalb so viel lesen kann oder muß, weil er sich nicht der Mühe unterzieht, das Gelesene verstehen zu wollen, so meine ich dennoch nicht umhin zu können, Ihnen einen noch tieferen Einblick in die marode Gedankenfabrik nicht nur dieses, sondern sämtlicher WOLFRAM-Übersetzer aufzubürden. Dem aufmerksamen Leser wird ja nun schwerlich entgangen sein, daß nicht nur wie nicht anders denkbar - zwei völlig verschiedene Versionen der Übersetzung des Bogengleichnisses vorliegen, sondern daß - wie auch nicht anders möglich - die von HAUG schlicht und ergreifend sinnlos ist, während meine nicht nur nachvollziehbar und sinnvoll ist, sondern das aussagt, was WOLFRAM meint. Zwar habe ich an einigen mittelhochdeutschen Vokabeln bereits gezeigt, daß es nicht verkehrt sein kann, hie und da im Großen Lexer nachzuschlagen, dann wären zumindest die läßlichen Übersetzungssünden vermeidbar gewesen, doch heißt es nun, auch das Bild dieses Wörterbuches etwas zu relativieren, denn es enthebt auch den, der sich der Mühe des Nachschlagens und Nachlesens nicht entzieht gleichwohl nicht der Notwendigkeit des Nachdenkens. Wer beide Übersetzungen nämlich genau prüft, dem kann nicht entgehen, daß Wohl und Wehe der Übertragung vom Erkennen der wahren Bedeutung des Wörtchens snel abhängen. Schlägt man unter diesem Adjektiv im Großen Lexer nach, so findet sich ein Wortfeld folgender Spannweite:

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schnell, rasch, behende, frisch u. munter, gewandt, kräftig, streithaft, tapfer. Fast hat es also den Anschein, als behielten HAUG und die anderen recht, doch halt, unter den Verwendungsbeispielen findet sich der folgende Ausdruck: ich lêre in einen snellen list, ein schnell wirkendes, kräftiges mittel.

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list bezeichnet daselbst aber Sachverhalte wie Weisheit, Klugheit, Wissenschaft, Kunst und Lehre, seltener ist eine Art verschlagener Schlauheit konnotiert. Immerhin befinden wir uns also mit dem Substantiv bereits im Sinnbezirk des Verstandes, Grund genug, dem Übersetzungsversuch im Lexer Vorbehalte entgegenzubringen. Stolpern wir jedoch zunächst der Deutlichkeit halber nochmals zu HAUGs Übersetzung zurück, um zu sehen, ob auch wirklich nicht irgendwie ein Sinn drinstecken könnte: Euch scheint der Bogen schnell zu sein: aber schneller ist das, was die Sehne abschießt. Ich denke, mit dem Umstand, daß das, was die Sehne abschießt, in der Regel also ein Pfeil, überaus schnell ist, damit kann ich mich durchaus einverstanden erklären, das ist sachlich richtig, und doch - genau hier steckt der gedankliche Kurzschluß! Das allzu leicht nachvollziehbare Bild eines schnellen Pfeils (pfeilschnell) scheint eine derart faszinierende Wirkung auf diesen Herrn ausgeübt zu haben, daß er erstens vergaß, daß er es hier mit einem Gleichnis zu tun hat, also mit einer Textsorte, die Uneigentliches durch Sichtbares verdeutlicht, und zweitens, daß ja der Bogen auch eine adäquate Rolle spielen muß. Und genau damit hatte ich so meine Probleme: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie jemand - und WOLFRAM schon mal gar nicht - auf die Idee verfallen könnte, einen Pfeil und einen Bogen hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit in Beziehung zu setzen. Selbst wenn man dies auf der kurzen Distanz, die dem Bogen beim Zurückschnellen bleibt, vergliche, so wären Bogen und Sehne sogar ungleich schneller als der Pfeil. Bliebe noch der Wurf, und wollte man sich das zusammenreimen, so könnte das Bild des Mediävistikprofessors vor unseren Augen erstehen, der, die wenig geistreichen Pfeile im ohnehin schwach bestückten Köcher weit am Ziel vorbeigeschossen, nun wütend den mithin nutzlosen Bogen nach eben demselben wirft. Aber wer würde sonst noch mit einem Bogen werfen? Vergessen wir schleunigst dieses Szenario des Hubertusunglücks, und schauen wir also, ob es nicht Möglichkeiten gibt, Pfeil und Bogen in einem ihnen originär gemeinsamen Sinnkontext zu betrachten.

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Der Besitzer des Bogens Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß, und den er ungemein werth hielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! - Doch dem ist abzuhelfen, fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. - Und er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einem Bogen geschickt, als eine Jagd? Der Mann war voller Freuden. "Du verdienst diese Zierrathen, mein lieber Bogen!" -Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen - zerbricht, [G.E. LESSING] Ganz offensichtlich hat dieser bedauernswerte Mann die Bedeutung seines Bogens also in ganz ähnlicher Weise mißverstanden, wie heutzutage etliche Manta-fahrer ihr Fahrzeug. Und so können wir jetzt die große Frage stellen, die uns dem Verständnis jener scheinbar so dunklen Textstelle näherbringt: Was ist bedeutender, der Bogen oder der Umstand, daß man damit Pfeile verschießen kann? Was ist bedeutender, der Bogen oder sein Zweck? Wer jetzt noch glaubt, die Bedeutung von snel sei im Wortfeld der Geschwindigkeit erschöpft, dem rate ich an, bitte nicht alles, was unsere Jugend heutzutage für stark hält, an oder mit Pferdestärken zu messen. Um aber zuletzt noch den Großen Lexer richtigzustellen; der Satz: ich lere in einen snellen list muß richtig übersetzt heißen: Ich vermittele ihm ein bedeutungsvolles Wissen / Ich bringe ihm eine hohe Kunst bei. Nun wird es einige unter Ihnen, verehrte Leser, geben, denen der Wortlaut des sogenannten Elsterngleichnisses noch in den Ohren klingt: diz vliegende bîspel ist tumben liuten gar ze snel, Sine mugens niht erdenken: Wer hier, wie HAUG es natürlich tut, wie üblich das Adjektiv schnell einsetzt, verläßt sich eben mehr auf sein Laufvermögen als auf seine Intelligenz; aber wie heißt es so richtig: Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben! Das alles, liebe Leser, hat eigentlich nicht mehr Niveau als eine Provinzposse. Aber der, der solchen Unsinn zehn Jahre über sich ergehen lassen mußte, der Einblick genommen hat in die akademische Pfründesicherung, der weiß, daß der einzige Ernst dieser Wissenschaft aus dem besteht, der bei der Verteilung von Forschungsmitteln an den Tag gelegt wird. Ich kann aber an dieser Stelle nur jeden Leser, der mit dem

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Forschungsbetrieb nicht vertraut ist, bitten, sich völlig darüber im klaren zu sein, daß aussagelose Deutungen dieser Art bereits das Höchste darstellen, zu dem die LW in der Lage sind, und daß es niemandem auffallen kann, wenn mittelalterliche Textstellen übersetzt werden wie von einem Erstsemestler, nicht so, wie man es von einem C4-Professor erwarten dürfte. Diese Posse aber nimmt verheerende Züge an, wenn man die Rezension von Ch. HUBER aus dem Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 1988, betrachtet. So ist die anregende Wirkung von HAUGs faszinierendem Buch gar nicht abzusehen. Künftige Forschung wird sich an seinen Ergebnissen orientieren. Sie wird Fragen stellen und Antworten versuchen, die nur durch die resümierende und thesenbildende Kraft dieser Stellungnahme möglich geworden sind. Können wir so etwas wirklich noch guten Gewissens weiter dulden? Wir werden, vorläufig zumindest, und bis sich etwas ändert, kommt es sogar noch schlimmer. Nicht, daß der wackre Professor nun auch bald im englischsprachigen Raum seine Leser sucht, nicht, daß er nun auch dabei ist, der spätmittelalterlichen Literatur eine Grube zu graben, er verdient sich inzwischen ein Zubrot mit einem der geschmacklosesten Unterfangen auf dem deutschen Buchmarkt. Hier lohnt sich ein weiteres Ausholen. Der DEUTSCHE KLASSIKER VERLAG in Frankfurt hat einen generalstabsmäßigen Großangriff auf die Goldreserven der deutschen Zahnärzte geplant. Ein großzügig angelegter Editionsplan (Invasionsplan?) gibt lancierte Erfolgsmeldungen einzelner Truppenverbände. Die lauten wie folgt: ..kommt es geradezu einer kleinen Revolution gleich, wenn im Gedichtband der Eichendorff-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages alle diese Verse nun zum ersten Mal nach ihrer Entstehung oder nach ihrem ersten Druck, also chronologischhistorisch geordnet auftreten. Entstanden ist auf diese Weise eine Ausgabe, die allein durch ihr Verfahren das Klischee vom zeitlos vor sich hindichtenden Eichendorff beseitigen hilft und dazu ein neues, besseres Verständnis dieser Gedichte fördert, indem sie Literatur in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt. [Gerhard SCHULZ, F.A.Z.] Wenn jemand 23 Stunden am Tag schläft, ist es schon mal eine echte Revolution, wenn er eine Stunde verschläft. So sehr sich aber sämtliche Stellungnahmen bemühen, einer inhaltsbezogenen Sachlichkeit die Lanze zu brechen, uns gar glauben machen, wer meinte, STORM gelesen zu haben, habe gar nicht STORM gelesen,

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dies sei erst mit dieser vollständigen Ausgabe möglich, so wenig überzeugt diese Propaganda, wenn man kurz schaut, in welchem Verhältnis der Inhalt zum Preis steht. SCHILLERs Dramatischer Nachlaß kostet in Leinen gebunden 132,- DM SCHILLERs Dramatischer Nachlaß kostet in Leder gebunden 232,- DM Da unzweifelhaft das Hauptgewicht der Edition auf dem Einband beruht, ist trotz des dramatischen Nachlasses von 100,- DM bei Leinensocke gegenüber Lederstrumpf mit einem Wert des Textes nicht über 32,- DM zu rechnen. Auch wenn Walter HINDERER (F.A.Z.) nicht über den Buchbeschaffungsetat eines Dentisten verfügt, prinzipiell wirkt bei ihm schon der gleiche Kaufanreiz: Ich kann und will es nicht verhehlen: Mir gefallen die hübschen, sorgfältig hergestellten blauen Leinenbände des Deutschen Klassiker Verlags... Damit ist hinreichend bewiesen, daß diese Edition nicht für den Leser bestimmt ist, sondern als Tapetenersatz dient, bleibt somit die Frage offen, mit welch subtilen Mitteln einerseits den Zahnärzten das Geld für die Gesamtedition aus der Tasche gezogen wird, andererseits, wie dafür Sorge getragen wird, daß niemand darin liest. Gilbert Keith CHESTERTON wird diese Frage durch Pater Brown in der Geschichte Die Abwesenheit des Mr. Glass beantworten: Es gab Luxus: Auf einem eigenen Tischchen standen acht oder zehn Kästchen mit feinsten Zigarren, doch waren sie nach einem Plan angeordnet, daß jeweils die stärksten am nächsten zur Wand und die mildesten am nächsten zum Fenster liegen mußten. Ein Ständer mit drei Sorten Spirituosen, alles selbstverständlich vorzügliche Marken, befand sich stets auf diesem Luxustisch, aber phantasievolle und böse Zungen behaupteten, daß sich der Pegelstand beim Whisky, beim Kognak und beim Rum niemals veränderte. Es gab auch Poesie: Die linke Zimmerecke war mit einer ebenso vollständigen Sammlung der englischen Klassiker tapeziert, wie sie die rechte Ecke an englischen und ausländischen Physiologen vorzuweisen hatte, sobald man aber einen Band Chaucer oder Shelley aus dieser Sammlung herausnahm, irritierte einen sein Fehlen wie eine Lücke zwischen den Schneidezähnen eines Bekannten. Man konnte nicht sagen, daß die Bücher nie gelesen wurden; wahrscheinlich wurden sie es sogar, aber der Eindruck blieb, als wären sie an ihren Platz festgekettet wie Bibeln in alten Kirchen.

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Wenn derart unverschämt die Werbetrommel gerührt wird, dann weiß ich mit Schweyk einen anderen Text, den hammer im "Kelch" immer gesungn [...]: Hinter der Trommel her trotten die Kälber Das Fell für die Trommel Liefern sie selber. [BRECHT, Schweyk im Zweiten Weltkrieg, 7.] Doch nun zu HAUG und leider auch zum Parzival von WOLFRAM. Ich hätte Ihnen genauso gern wie mir den wenig erfreulichen Weg in die Machenschaften deutscher Verlage erspart, aber dieser Verlag rühmte sich ja nun mit exzellenten wortgetreuen Ausgaben der Klassiker. Das hätte ihm ja meinetwegen durchaus gelingen können, doch hat er sich als Herausgeber der Bibliothek des Mittelalters fürs Renommee gerade den Herrn herausgefischt, dem selbst immer die eklatantesten Verhunzungen ins Netz gehen. Das wäre hinsichtlich des mittelhochdeutschen Textes noch mit Fassung zu ertragen, doch bietet der Verlag diese Literatur nur mit Übersetzung an, und die stammt leider nicht zufällig von dem selbstberufenen Sprachakrobaten und postmodernen Mittelaltererneuerer Dieter KÜHN, dem hier leider die Gelegenheit gegeben wird, seine Parzival-Umdichtung, die der INSEL-Verlag gekürzt hatte, in Gänze feilzubieten. Was ich gegen diesen armen Teufel nun wieder habe, werden Sie fragen, ganz einfach, ich habe den dringenden Verdacht, daß er den Parzival im Original so gut wie nicht gelesen hat, geschweige, daß er auch nur ansatzweise versucht hat, ihn zu übersetzen. Freilich entschuldigt er sich im Nachwort im voraus: Ich hätte die lustvolle Mühe der Übertragung des Parzival Romans nicht auf mich genommen ohne die Anregung, ohne die entscheidende Motivation durch Walter Haug. Dafür habe ich ihm - in Wolframs Namen- [Welch eine Frechheit] zu danken. Auch dafür, daß er große Teile der Übertragung lektoriert hat; freilich, was ich aus seinen kritischen Hinweisen, aus seinen Vorschlägen machte, das blieb meine Entscheidung; ich habe Walter Haug die Druckfassung dieser Übertragung nicht vorgelegt. So übernehme ich auch allein die Verantwortung für die Kürzungen. Die vollständige Übertragung wird im Deutschen Klassiker Verlag erscheinen, in den Bänden 7 und 8 der Bibliothek des Mittelalters. Und schon bei den etwas anspruchsvolleren Stellen spricht KÜHN nicht mehr wie zuvor in WOLFRAMs Namen, sondern in HAUGs. Aber sehen und vergleichen Sie selbst:

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Lebt das Herz mit der Verzweiflung, so wird es höllisch fiir die Seele. Häßlich ist es und schön, wo der Sinn des Manns von Mut gemischt ist, farblich kontrastiert, gescheckt wie eine Elster. Und doch kann er gerettet werden, denn er hat an beidem teil: am Himmel wie der Hölle. Der Freund des schwankenden Gemütes: er ist völlig schwarz gefärbt und gleicht auch bald der Finsternis; dagegen hält sich an das Lichte, der innerlich gefestigt ist. Der Vergleich hier, so geflügelt, ist zu schnell fiir Ignoranten ihr Denken kommt hier nicht mehr mit, denn es schlägt vor ihnen Haken wie ein Hase auf der Flucht. So täuschen hinterm Glas das Zinn und auch des Blinden Traum: sie zeigen nur die Milchhaut des Gesichts kann ja nicht beständig sein; er macht zwar Freude, doch nur kurz. Wer rupft mich dort, wo mir kein Haar gewachsen, in der Innenhand? Der wüßte schon, wie man es packt... Rief ich au! vor lauter Schreck, es zeigte meinen Geisteszustand. [D. KÜHN, Wolframs Parzival, S. 429] Gleichermaßen nicht von KÜHN stammt die Übersetzung für das berüchtigte Bogengleichnis: Mein Wort ist eine Sehne - und nicht Bogen! Diese Sehne ist ein Gleichnis: der Bogen mag euch schnell erscheinen, was die Sehne schießt, ist schneller. Trifft dies zu, bedeutet "Sehne": ganz gradheraus erzählen.

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Und das gefällt dem Publikum. Wer euch in krummer Tour erzählt, der führt euch an der Nase rum. Ihr wißt, daß beim gespannten Bogen die Sehne ganz gerade ist, es sei denn, sie wird eingewinkelt, um den Pfeil dann abzuschnellen. Schießt man sein Wort auf Leute ab, die es nur verärgern kann, so bleibt nicht das geringste haften, es nimmt den breit-bequemen Weg: in ein Ohr rein, zum ändern raus. Wollt ich mich um die bemühn, war mein Erzählen ganz umsonst, da könnte ich genauso gut vor einem Geißbock rezitieren oder einem faulen Strunk. [D. KÜHN, Wolframs Parzival, S. 590 f.] Keine Sorge, lieber Leser, ich habe mir dieses Machwerk nicht zum ungerechtfertigten Ladenpreis gekauft, sondern fand es einst zu zwanzig Mark in einem Antiquariat. Den Besitzer habe ich schnell von dem zweifelhaften Wert des Buches überzeugen können und so lediglich zehn Mark ausgegeben. Der Kauf des Buches ist überflüssig, teils stehen die Übersetzungen bei HAUG, und nun wird's interessant, der Rest steht auch schon in diversen Übersetzungen geschrieben, kurz, alles was KÜHN (sich) geleistet hat, ist die nicht sehr ernstzunehmende Übertragung einer bereits bestehenden neuhochdeutschen Übersetzung des Parzival in KÜHNsches Sprachhalali, just so wie ich in meiner Schulzeit der Einfachheit halber SALLUST und CICERO mit einem Pons übersetzte und diesen Text lediglich paraphrasierte, damit mein Lateinlehrer ja nichts merkte. Sie sehen, die Grenzen sind fließend, in gewisser Hinsicht darf man KÜHN eine Eigenleistung unterstellen, nur, was bedacht werden muß, man bedarf ihrer nicht. Wenn aber für KÜHN die Mühsal des Übersetzens schließlich doch zu einer Art Zwangsvorstellung wird, eine Mühsal, die ja nie erlitten wurde, dann liegt es nahe, auch dabei Anleihen und zwar bei der Weltliteratur zu machen. KÜHN also simuliert folgendermaßen: Zuweilen kam es mir während der Arbeit so vor, als wäre mir eine Schraubzwinge ins Hirn gesetzt, von Wolfram persönlich, und er drehte die Schraube immer enger, und es tobten die zusammengepreßten grauen Zellen meines Sprachzentrums, ...

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Auch dieses Plagiat ist schnell entlarvt, es muß richtig heißen: Aber schon der nächste Tag brachte eine arge Enttäuschung. Törleß hatte sich nämlich am Morgen die Reclamausgabe jenes Bandes gekauft, den er bei seinem Professor gesehen hatte, und benutzte die erste Pause, um mit dem Lesen zu beginnen. Aber vor lauter Klammem und Fußnoten verstand er kein Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe. [R. MUSIL, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, rororo, S.80] Beenden wir diesen Exkurs fürs erste, KÜHN wird hinfort nur noch Galakti-sches Rauschen hören, und HAUG wird hundert Seiten später noch so fürchterlich einen auf die Finger bekommen, daß ich ihm vorerst eine kleine Verschnaufpause zubillige. Doch jetzt endlich zum Parzival selbst, den wir so kennenlernen: Dann über den vierzehenden tac diu vrouwe eins kindelîns gelac, eins suns, der sölher lide was daz si vil kûme dran genas. hie ist der âventiure wurf gespilt, und ir begin ist gezilt: wand er ist alrêrst geborn, dem diz maere wart erkorn. sîns vater vröude und des nôt, beidiu sîn leben und sîn tôt, des habt ir wol ein teil vernomen. nu wizzet wâ von iu sî komen dieses maeres sachewalte, und wie man den behalte. [PARZIVAL, 112,5 ff. Vierzehn Tage darauf gebar die Königin ein Kind, einen Sohn von so kräftiger Statur, daß sie ihn nur mit größer Mühe zur Welt brachte. (Was nun folgt, kann man sich auf der Zunge zergehen lassen, es sind Wortspiele im Bereich von Wurf im Sinne von Kälber werfen und Würfelspiel, werfen und zielen.) Hier nun krabbelt unsere Geschichte lebhaft aus dem Ei, ihr Beginn ist damit festgesetzt: Denn erst jetzt ist der geboren, dem unser ganzes Erzählen gilt. Das wechselvolle Leben seines Vaters, seinen Verlauf bis zum Tod habt ihr ausführlich vernommen. Nun aber erfahrt, aus welchem Grund euch der Protagonist auf

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diese Weise erschienen ist und wie man ihn aufzog (doppeldeutig: im Auge behalten soll).] Nicht wahr, das schien eine schwere Geburt gewesen zu sein, die sich aber voll bezahlt macht, denn wir haben nun Parzival vor uns, nicht die Nachgeburt, die sich die Filologie in die Krippe gelegt hat. Zur Geschichte Gahmurets sei nur soviel nachgetragen: Als nicht erbberechtigter Sohn machte er sein Glück als Ritter in fremden Diensten. Er erwirbt die Mohrenkönigin Belakane (AS), verläßt sie aber wieder, denn seine probablen KRISEN würden nicht interessieren, er zeugt einen Sohn namens Feirefiz, den wir später noch kennenlernen werden. Er erwirbt die Hand Herzeloydes nebst Königreich (AS) und stirbt im Kampf für seinen ehemaligen Dienstherrn, denn auch hier würde sonst nach der mittelalterlichen Erzähllogik eine Krise fällig sein. Immerhin motiviert dieser frühe Tod Gahmurets die Abscheu Herzeloydes vor allem, was irgend mit Rittern zu tun hat. Sie zieht sich mit ihrem Kind und einigen Dienern in die Einöde von Soltane zurück und verbietet jedem, den Begriff Ritter auch nur zu erwähnen. In diesem Friedenscamp wächst also unser Parzival zu einem wunderschönen und athletischen Jüngling heran, reinen Herzens und bar jeglichen Verstandes. Man verschont ihn mit Lese- und Rechtschreibübungen (wir wissen ja, was die Lektüre von Ritterbüchern anrichten kann, und auch das damalige Lehrbuch, die Bibel, ist ja auch nicht ohne), und die Belehrungen über Gott und die Welt seitens Herzeloyde haben den Abstraktionsgrad von HAUGs Deutungen. ôwê muoter, waz ist got" "sun, ich sage dirz âne spot. er ist noch liehter denne der tac, der antlitzes sich bewac nach menschen antlitze. sun, merk eine witze, und vlêhe in umbe dîne nôt: sîn triuwe der werlde ie helfe bôt. so heizet einer der helle wirt: der ist swarz, untriuwe in niht verbirt. von dem kêr dîne gedanke, und auch von zwîvels wanke." sîn muoter underschiet im gar daz vinster und das liehtgevar. dar nach sîn snellheit verre spranc. [PARZIVAL, 119,17 ff. "Oh Schreck, Mutter, was ist Gott?" "Mein Sohn, das erkläre ich dir ganz genau. Er ist heller als der Tag, der des Menschen Gestalt annahm.

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Sohn, merke dir diese Lehre genau, rufe ihn an, um dir in der Not Beistand zu sichern, seine Zuverlässigkeit ist der ganzen Welt immer die Rettung. Auf der anderen Seite aber gibt es den Fürsten der Hölle: der ist pechschwarz und enthält sich keiner Gemeinheit. Kehre dein ganzes Sinnen und Trachten von dem ab und auch von jedem Schwanken in der Verzweiflung." Seine Mutter setzte im haarklein den Unterschied zwischen hell und dunkel auseinander. Das nahm er in seiner raschen Auffassungsgabe mit Eifer auf.] Ich weiß, daß ich den Wortsinn des letzten Verses stark überdehne, aber mich hat die Erfahrung gerade mit WOLFRAM gelehrt, ihn assoziativ zu übersetzen, nicht wie andere einfach eine Interlinearversion zu erstellen, wo dann am Ende, wie bei SPIEWOKs Übersetzung der eigene Gedankensprung auf Parzival übertragen wird: Danach sprang er schnell davon. [RUB 3681, S. 206] Wer so übersetzt, muß sich fragen lassen, was uns das Bedeutsames mitzuteilen wünscht, denn daß WOLFRAM gar einfallslos etwas dahersagt, das in keiner Beziehung zur Unterweisung der Mutter steht, halte ich für schlechthin unmöglich. Selbstverständlich aber ist in meiner Übersetzung kein ironischer Unterton, WOLFRAM und ich meinen das durchaus ernst, sehr ernst sogar, aber was mal wieder aus diesem Ernstgenommenen wird, zeigt sogleich die nächste Episode: Eins tages gieng er den weideganc an einer halden, diu was lanc: er brach durch blates stimme ein zwîc. dâ nâhen bî im gienc ein stîc: dâ hôrte er schal von huofslegen. sîn gabylot begunde er wegen: dô sprach er "waz hân ich vernomen? wan wolte et nu der tiuvel komen mit grimme zorneclîche! den bestüende ich sicherlîche. mîn muoter vreisen von ihm sagt: ich waene ir ellen sî verzagt." alsus er in des stîges ger. nu seht, dort kom geschûftet her drî ritter nâch wunsche var, von vuoze ûf gewâpent gar. der knappe wânde sunder spot, daz ieslîcher waere ein got. dô stuont auch er niht langer hie, in den pfat viel er ûf sîniu knie.

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lûte rief der knappe sân "hilf, got, du maht wol helfe hân." der vorder zornes sich bewac, dô der knappe im pfade lac: "dirre toersche Wâleise unsich wendet gâher reise." [PARZIVAL, 120,11 ff. Eines Tages war er an einem hohen Hang auf der Pirsch: Er brach sich für Lockrufe einen Zweig ab. In seiner Nähe verlief ein Pfad: dort hörte er das Geklapper von Hufen. Er rief: "Was hör ich da? Das muß der Teufel sein in schrecklicher Wut! Mit dem werde ich schon fertig. Meine Mutter hat mir allerhand Schauriges von ihm erzählt: Ich glaube, sie wird auf ihre Jahre ängstlich." Also wartete er kampfbereit. Aber seht, da kommen drei Ritter hergaloppiert, hell glänzend von Kopf bis Fuß in Rüstung. Der Jüngling glaubte zweifelsfrei, ein jeder wäre ein Gott. Daher blieb er nicht länger stehen, mitten auf dem Weg fiel er auf die Knie. In voller Lautstärke rief er sodann: "Gott erbarm, du allein kannst Hilfe bringen." Der vorderste der Ritter wurde sauer, als er den Jüngling im Weg liegen sah: "Diese debilen Wallonen, schon ist es vorbei mit dem Vorwärtskommen."] Wie Sie sehen, hat Parzival sich alles, was ihm seine Mutter eingeschärft hat, genau gemerkt. Wieder hat der Schematismus seine Früchte getragen: Auf der einen Seite ist da die schematische Ablehnung des Rittertums durch Herze-loyde, auf der anderen schematisierte Vorstellungen von Teufel und Gott nebst der Weise, ihnen zu begegnen. Es wäre hier allemal übertrieben zu glauben, Parzival sei über die Maßen naiv und begriffsstutzig. Er ist vielmehr die Inkarnation des mittelalterlichen Begriffsschematismus, gepaart mit evidenten Wissensdefiziten. Das selbst zur Farce erstarrte Rittertum reagiert entsprechend auf Parzivals falsche Götzen und entblödet sich nicht, in Kalogrenants Manier lediglich ein paar Details klarzustellen. Nun nämlich reitet Karnahkarnanz, der Führer der Truppe, heran, den wir kurz K. nennen wollen. Wir erfahren, daß die Herren Ritter einer Hauptbeschäftigung nachgehen, die keinen Aufschub duldet, denn ein gewisser Meljakanz hat eine Dame namens Imane geraubt, die man ihm wieder abzujagen versucht. Mag es die Eile sein oder wieder Sprachlosigkeit, es folgt dieser Disput: der knappe wânde, swaz er sprach, ez waere got, als im verjach vrou Herzeloyd diu künegîn, do si im underschiet den liehten schîn, dô rief er lûte sunder spot

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"nu hilf mir, hilferîcher got." vil dicke viel er an sîn gebet fil li roy Gahmuret. der vürste sprach "ich bin niht got, ich leiste aber gerne sîn gebot, du maht hie vier ritter sehen, ob du ze rehte kundest spehen." der knappe vrâgte vürbaz "du nennest ritter: waz ist daz? hâstu niht gotlîcher craft, sô sage mir, wer gît ritterschaft?" "daz tut der künec Artûs. junchêrre, komt ir in des hûs, der bringt iuch an ritters namen, daz irs iuch nimmer durfet schamen. ir muget wol sîn von ritters art." [PARZIVAL, 123,21 ff. Der Jüngling glaubte nun, was immer der auch sagte (K), es müsse Gott sein, so wie ihn Königin Herzeloyde beschrieben hatte, als sie ihm Helligkeit auseinandersetzte. Da schrie er wieder in vollem Ernste: "Steh mir bei, gnädiger Gott." Der Sohn König Gahmurets versank in ein inbrünstiges Gebet. Der Fürst (K) antwortete: "Gott bin ich nicht, aber ich halte mich brav an die zehn Gebote. Wenn du genau hinschaust, kannst du hingegen vier Ritter erkennen." Der Jüngling hakte sofort nach: "Du hast Ritter gesagt: Was ist das? Wenn du schon keine göttliche Gnade verleihen kannst, sage mir wenigstens, wer für die Ritterwürde zuständig ist." "Das ist Metier von König Artus; werdet Ihr in sein Haus aufgenommen, so führt er Euch zum Rittertum, daß Ihr immer stolz sein könnt. Ihr scheint ja auch von ritterlichem Geschlecht zu sein."] Augenfällig ist nämlich Parzivals blendendes Aussehen, um das ihn K. sehr beneidet, um sein Gemüt hingegen weniger. Er erklärt ihm noch schnell die Funktionen seiner Rüstung und eilt weiter, die Dame zu befreien. Mir scheint, in diesem Dialog hat WOLFRAM wieder heftige Zivilisationskritik geübt. Rittertum ist zur Beschäftigung, zum Geschäft mit ernster Geschäftigkeit degeneriert, jeder kann unter gewissen Voraussetzungen mitspielen, Artus ist der Guru und Oberschiedsrichter. Von Gott kennt man die Gebote und weiß sonst nur, daß man selbst nicht Gott ist. Die Ausrüstung hingegen ist ganz praxisbezogen, und dementsprechend wird das Rittertum praktiziert. Schematismus, wo man hinschaut, eine Idee vom Rittertum klingt nirgends an. Das klingt alles einfach, das ist leicht zu begreifen und nachzuvollziehen, und tatsächlich ist es das auch. Eines können Sie mir glauben, verehrter Leser, der einzige Ritter, der mir begegnet ist und belesener

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war als ich, das war der sinnreiche Junker Don Quijote. Kurz und gut, Gott ist dem Jüngling nicht erschienen, dafür aber etwas, das er seiner fassungslosen Mutter so beschreibt: "muoter, ich sach vier man noch Hehler danne got getân: die sagten mir von ritterschaft. Artûses küneclîchiu craft sol mich nâch ritters êren an Schildes ambet kêren." [PARZIVAL, 126,9 ff. "Mutter, ich bin vier Männern begegnet, die noch viel strahlender als Gott waren: die haben was von Ritterschaft gesagt. Die Zuständigkeit von König Artus wird mich nach den ritterlichen Bestimmungen an die Ritterpflichten heranführen."] Jetzt haben wir gesehen, daß der Helligkeitsgrad kein geeigneter Parameter für ethische oder theologische Definitionen ist. Wie wenig greifbar solch ein Schematismus ist, zeigt sich da, wo die Dinge an ihrer Erscheinung tatsächlich gemessen werden, und das dann mit dem Ergebnis, daß ein Ritter viel heller und strahlender als Gott aussieht. Parzivals Aufbruch ist für ihn beschlossene Sache, wenngleich es seiner Mutter das Herz brechen wird. WOLFRAM läßt sie Parzival in ein Narrenkostüm stecken, damit ihn der Spott der Leute zurücktreiben möge. Doch die Weise, in der Parzival das Narrenkostüm als Rüstungsersatz genehm ist, soll eben nicht auf seine Naivität deuten, weitgefehlt, sie ist Signum einer leeren Hülse, eines Statussymbols, das jede Form des Erwerbs zu rechtfertigen scheint. Das Narrenkostüm ist also keine schlechte Rüstung, sondern die Rüstung ist allenfalls ein besseres Narrenkostüm. Hier können wir aber auch die Bedeutung der Tatsache verstehen, weshalb die Protagonisten wie Gregorius und Parzival abgeschnitten vom Treiben der Welt aufwachsen müssen. Die solcherart motivierten Idealvorstellungen vom Rittertum können dadurch wesentlich deutlicher in ihrer grundsätzlichen Relativität und Degeneration demaskiert werden. Dies wird sich unzweideutig auf Parzivals Weg zeigen, einem Weg, auf dem ihn noch gutgemeinte Ratschläge der Mutter begleiten, leere Hülsen auch sie, die Parzival in der ihm eigenen Art auszufüllen versteht, daß ihre Inhaltslosigkeit evident wird: "dune solt niht hinnen kêren, ich wil dich list ê lêren. an ungebanten strâzen soltu tunkel vürte lâzen:

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die sihte und lûter sîn, dâ soltu al balde rîten in. du solt dich site nieten, der werlde grüezen bieten. Ob dich ein grâ wîse man zuht wil lêren als er wol kan, dem soltu gerne volgen, und wis im niht erbolgen. sun, lâ dir bevolhen sîn, swa du guotes wîbes vingerlîn mügest erwerben unt ir gruoz, daz nim: ez tuot dir kumbers buoz. du solt ze ir kusse gâhen und ir lîp vast umbevâhen: daz gît gelücke und hôhen muot, ob si kiusche ist unde giiot. du solt auch wizzen, sun mîn, der stolze küene Lähelîn dînen vürsten abe ervaht zwei lant, diu solten dienen dîner hant, Wâleis und Norgâls. ein dîn vürste Turkentâls den tôt von siner hende enpfienc: dîn volc ersluoc unde vienc." [PARZIVAL, 127,13 ff. "Du sollst nun aber nicht hinausziehen, ohne daß ich dir einige Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg gebe. Meide auf unbefestigten Straßen dunkle Furten; die seichten und klaren aber benutze sogleich. Befleißige dich der Sitte, der Welt höflich entgegenzutreten. Wenn dich ein alter weiser Mann über Regeln aufklärt, die er beherrscht, so nimm sie willig auf, und sei nicht aufsässig. Sohn, laß dir dies besonders ans Herz gelegt sein, wo immer du einen Ring von edlen Damen und ihre Aufmerksamkeit erringst, greife zu; es hilft über manchen Kummer hinweg. Ziere dich nicht beim Küssen, und umarme fest ihren Körper; das bringt Glück und Freude. Du sollst noch erfahren, mein Sohn, daß der übermütige und freche Lähelin deinen Fürsten zwei Länder entriß, Walois und Norgals, die dir zustanden, einen deiner Fürsten, Turkentals, hat er eigenhändig umgebracht; deine Untertanen hat er erschlagen und versklavt."] Bevor Parzival sich auf sein Pferd schwingt, seiner Mutter Lebewohl sagt, sie zurückläßt und ihr das Herz bricht, nutzen wir den kurzen Moment für eine methodische Zwischenbemerkung. Bislang habe ich mich beim Aufdecken der Sinnstruktur

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immer relativ streng an den Handlungsablauf der Romane gehalten. Ich wollte dadurch vermeiden, daß durch allzu schnelles Vorwegnehmen und Erklären die genuine Spannung der Romane Schaden nimmt. Es war bislang bei den Beispielen Herzog Ernst, Erec und Iwein unumgänglich, die Funktion des âventiure-Weges bis zum Ende zu verheimlichen, da nur dieser Weg den wahren Grund der KRISE offenbarte, für die wir immer eine Pseudomotivation vorgesetzt bekamen. Da aber der wahre Grund der KRISE das Thema dieser Romane war, wollte ich dies nicht früher entdecken als der jeweilige Autor. Indem nun die Taten auf dem âventiure-Weg nicht nur die KRISE beheben, sondern sie auch in ihren Ursachen erhellen, können wir die Form der gesamten Sinngebung als durchgängige ERWERBSSTRUKTUR bezeichnen. Weiteres Kennzeichen ist die Tatsache, daß die Taten auf dem âventiure-Weg lediglich positive Modifikationen einer Erwerbsform darstellten (AS > IAS), grundsätzlich also das Potential des Rittertums zum Zuge kam. Gestützt wurde die Bedeutung der Erwerbsstruktur durch symbolische Gestalten wie Keie und Gawein. Das änderte sich schlagartig im Gregorius, wo der zweite Weg nicht mehr aus einer positiven Modifikation des ersten bestehen konnte, und das lag zum einen an der grundsätzlichen Kritik des ritterlichen Erwerbsmodus, zum anderen an der damit zusammenhängenden Instanz Gott. Diese Instanz machte nun aber auch eine Pseudomotivation unmöglich, da dieses Thema erstens keine korrespondierend erhellende Erwerbsstruktur duldete und zweitens eine Pseudomotivation hier einem Sakrileg gleichgekommen wäre. Stattdessen erhielten wir eine oberflächliche Motivation der Krise, die uns erst am Ende in ihrer wahren Tiefe offenbar wurde. Eine solche Form der Sinngebung wollen wir nunmehr SYMBOLSTRUKTUR nennen, sie wird auch im Parzival virulent und damit eine Konkurrenz zur ebenfalls integrierten ERWERBSSTRUKTUR. Und dies ist der Grund meines Einschubes, wir werden hier einmal die Erwerbsstruktur simultan analysieren, denn die Hauptsache spielt sich auf der anderen Ebene ab. Ich möchte an dieser Stelle jeden, der sich wann immer mit Mediävistik und dem Parzival beschäftigt hat, bitten, dies ja nicht mit der von (wer könnte es anders sein) HAUG apostrophierten Auflösung der Symbolstruktur im Parzival zu verwechseln, denn erstens meint der was ganz anderes damit, und zweitens ist es deshalb allein schon wieder eine Niete. Wenden wir uns aber rasch interessanteren Dingen zu, denn gerade küßt Herzeloyde ihren Sohn zum Abschied. Der reitet frohgemut davon, von seiner Mutter mit den Blicken verfolgt bis zu dem Moment, da sie ihn aus den Augen verliert und ihr der Trennungsschmerz das Herz zerreißt, sodaß sie tot zu Boden sinkt. Eine edlere Frau und liebevollere Mutter, meine lieben Leser, hat nach WOLFRAMs Beteuerung gewiß nie gelebt. Parzival reitet in den Wald von Briziljan, stets den Rat der Mutter vor Augen und die Zielvorgabe der Ritter im Herzen. Einen Bach, den ein Hahn durchwaten könnte, über-

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quert er nicht, da er durch Pflanzenschatten dunkel erscheint. Da Wolfram seine Geschichte dazu nutzt, häufig mal einen Blick auf die traurige Realität zu werfen, erlaube ich mir ähnliches und beklage nunmehr das Dasein unserer Bäche, die weiß Gott kein Schattendasein unter dichtem Pflanzenbewuchs mehr führen. Auf einer lichten Wiese gelingt die Überquerung, dort eben steht ein prächtiges Zelt, darin sich Jeschute, Gattin des Orilus von Lalant zum Schlafe ausgestreckt hat, nicht achtend der Decke, die sie nur notdürftig bedeckt. Völlig isoliert konditioniert sieht Parzival nur rote Lippen und einen Ring, und er handelt so konsequent wie ein Bundesligastürmer, er tritt den Ball voll ins Tor, halt nur ins eigene. Danken wir es der Prüderie Herzeloydes, daß Parzival keinen nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichtet, so jedoch nimmt er sich Küsse, Brosche und Ring, schlägt sich noch den Bauch voll, krönt das Ganze mit Abschiedskuß und der wenig tröstlichen Erklärung so riet es mir die Mutter und verschwindet. der knappe des roubes was gemeit. [PARZIVAL, 132,25. Der Jüngling war bannig stolz auf seine Beute.] Jeschute aber wird von ihrem Gatten der Untreue bezichtigt und fortan wie eine Sklavin gehalten werden. Natürlich können wir diese Erwerbung dem AS zuordnen. Sein Vater Gahmuret aber, so erwähnt WOLFRAM noch in Tjostmetapho-rik, hätte einen anderen Buckel ins Visier genommen und durchstoßen. Weiterreitend begegnet Parzival Sigune, die innerhalb der Symbolstruktur eine wichtige Rolle spielt. Daher betrachten wir sie mal näher. Sie schreit in allerhöchster Pein, was Parzival aufmerksam macht. Er sieht, wie sie sich vor Gram ihre herrlichen Zöpfe abreißt, und entdeckt in ihrem Schoß einen toten Ritter. Parzival grüßt mechanisch freundlich, doch dann fragt er mit wahrer Kennerschaft: "ich hân hie jaemerlichen vunt in iuewerm schôze vunden. wer gab iu den ritter wunden?" der knappe unverdrossen sprach "wer hât ihn erschozzen? geschach ez mit eime gabylôt? mich dunket, vrouwe, er ligt tôt. welt ir mir dâ von iht sagen, wer iu den ritter habe erslagen? ob ich in müge errîten, ich will gerne mit im strîten." [PARZIVAL, 138,28 ff. "Welch schreckliche Entdeckung mache ich da in Eurem Schoß. Wer hat Euren Ritter verwundet?" Ohne Pietät fragte er: "Wer hat ihn erlegt?

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Geschah es mit einem Wurfspeer? Mir scheint, Herrin, er ist tot. Wollt Ihr mir nicht erzählen, wer Euch den Ritter erschlagen hat? Wenn ich ihn erreichen kann, werde ich herzlich gern mit ihm kämpfen."] Nun hat WOLFRAM scheinbar jeden, den Parzival mit seinen Fragen löchert, egal in welcher Situation er sich gerade befindet, mit einer Engelsgeduld ausgerüstet. Nebenbei spricht ja auch Parzivals berückende Schönheit für edle Abkunft, und so wird ihm bereitwillig Auskunft gegeben, wie auch hier von Sigune. Sie erklärt ihm, daß dieser Ritter, Schionatulander, im Tjost fiel, nicht aber mit einem Sauspieß getötet wurde. Als sie seinen Namen erfahren will, antwortet er guter Sohn, geliebter Sohn, schöner Sohn. Da weiß Sigune, die seine Base mütterlicherseits ist, wen sie vor sich hat. Sie berichtet ihm von seiner Herkunft und nennt ihm seinen Namen. Nun muß sich Parzival nicht mehr einen Namen machen, er kann seinem, den Sigune mit Genau- mittendurch übersetzt, gerecht werden. Was immer das Ziel seiner Suche sein wird, es geht nicht um Namen oder Herkunft wie z.B. im Wigalois. Nun erzählt Sigune endlich, wie Schionatulander zu Tode kam. Orilus, der Bruder Lähelins, hat ihn wegen eines Brackenseils getötet. Auf dem, so berichtet WOLFRAMs Titurel, war eine Geschichte aufgezeichnet, die Sigune gerade las. Als der Hund mit der Leine weglief, forderte sie Schionatulander auf, um ihrer Liebe willen den Hund zu fangen. Dabei traf er auf Orilus und wurde getötet. Es lohnt sich schon, die Thematik des Fragment gebliebenen Titurel genauer zu untersuchen. Ritter, die in den Diensten ihrer Dame handelten, waren in der Regel mit Erfolgsgarantie versehen. Etwas anderes hätte niemand erzählt. Im Zuge der zunehmenden Diskussion des ritterlichen Erwerbsschematismus lag es aber scheinbar auf der Hand, das Ziel des Rittererwerbs im Tod zu sehen. Wie gesagt, blieb diese Geschichte Fragment, es war wohl ein dichterisches Experiment, das einige hundert Jahre zu früh kam. Betrachten wir diese Begegnung Parzivals mit Sigune (es folgen noch weitere) unter strukturalem Gesichtspunkt. Zunächst fällt auf, daß Parzival hier nichts erwerben kann (AS), daß er aber auch für ein mögliches IAS zu spät kommt. Er will den Toten zwar rächen, doch erstens hat niemand etwas davon, und zweitens verbietet sich eine solche Tat momentan für Parzival noch. Merken wir uns für später einfach mal, daß Sigune einen Versuch des IAS verhindert, indem sie ihn in eine falsche Richtung schickt. Daß übrigens Orilus just der Mann von Jeschute ist, spielt auch angesichts der Tatsache, daß in diesem Roman jeder mit jedem verwandt ist, keine Rolle, andere Verwandtschaftsbeziehungen spielen eine bedeutendere Rolle, ganz ähnlich wie im Gregorius. Auf seinem Weg zu Artus kommt Parzival nur deshalb bei einem geizigen Fischer unter, weil er ihm ein Beutestück von Jeschute gibt. Dafür begleitet er ihn bis zum Hof. Da WOLFRAM nichts Überflüssiges erzählt, ist zu vermuten, daß er hierdurch

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zeigen wollte, wie rasch Parzival die Bedeutung des Erworbenen schätzen lernt, wie schnell das, wenngleich auch unritterliche Raubgut zum Tauschobjekt für Anerkennung wird. Vor Nantes angelangt, begegnet Parzival einem Ritter, dessen gesamte Ausrüstung über und über rot ist, es ist Ither von Gaheviez, genannt der rote Ritter. Der hat in einer Erbangelegenheit den gesamten Hof, dessen Mitglied er ist, herausgefordert und dabei versehentlich Königin Ginover beleidigt. Das ist ein recht seltsamer Umstand, noch nie nämlich hörte man davon, daß eine Herausforderung an den Artushof nicht von außen an ihn herangetragen wurde, sondern von einem seiner Mitglieder ausging. Auch waren bisher alle Herausforderungen im Bezugsfeld von Ehre, Wunderbarem (Iwein, Zauberbrunnen) und höfischer Idealität angesiedelt, wodurch der Artushof in dieser Situation mit seinem eigenen INSTANZ-Ideal zur Handlungsunfähigkeit verdammt ist. Das eigene Ethos ist hier so entlarvend herausgefordert wie in der bereits vorgestellten Episode im Daniel von dem blühenden Tal. Was Ither vom Artushof kämpfend ertrotzen will, ist das, worüber jener gar nicht verfügt. Und das, was er vergeben kann, kann man bekanntlich so ja nun nicht erwerben, als da sind Ehre und Anerkennung. Mehr und mehr verstärkt WOLFRAM den Eindruck, die ritterliche Welt sei aus den Fugen. Parzival begegnet auch diesem Ritter mit seiner schematischen Höflichkeit, und dieser spult seine Höflichkeit herunter, selbst auch geblendet von Parzivals Schönheit. Er erzählt Parzival von seinem Rechtstitel und bittet ihn, Artus seine Herausforderung unmißverständlich beizubringen. In diese Mischung aus Tumult und Lähmung spaziert Parzival, hat von arturischer Idealität natürlich keinen blassen Schimmer, grüßt den gesamten Hof und bringt die Herausforderung Ithers vor. Seine Vorstellungen vom Zuständigkeitsbereich Artus' sind geprägt von den Hinweisen des Karnahkarnanz und Ither. Artus erscheint unserem Helden, modern ausgedrückt, wie ein Weihnachtsmann, und so sagt er: ôwî wan hete ich sîn gewant enpfahen von des künges hant! sô waer ich vröuden rîche: wan ez stet so ritterlîche. [PARZIVAL, 148,15 ff. Wow, hätte ich doch bloß seine Rüstung vom König bekommen. Ich wäre wunschlos glücklich: Denn sie macht so einen ungemein ritterlichen Eindruck.] Wir sehen, welchem verzeihlichen Irrtum Parzival unterliegt, ein Irrtum, über den ihn aber auch niemand ins Bild setzt. Die Rüstung des Ither erscheint als alleiniger Ausdruck von Ritterwürde, als Uniform, die vom König gestellt wird. Diesem Eindruck folgend, will Parzival sofort eine Rüstung haben, kurz, zum Ritter gemacht

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werden. Artus begreift natürlich den Schematismus in der Vorstellung Parzivals nicht, denn der geht sprachlich allzu leicht in seinen eigenen auf: "daz tuon ich gerne", sprach der wirt, "ob werdekeit mich niht verbirt. Du bist wol sô gehiure, rîche an koste stiure wirt dir mîn gâbe undertân. dêswâr ich solz ungerne lân. du solt unz morgen beiten: ich wil dich wol bereiten." [PARZ. 149,17 ff. "Das will ich gerne erledigen", sprach der König, "wenn meine Würde (bezgl. Ither-Problematik) unangefochten bleibt. Du bist so tadellos, in punkto Kosten wird dir meine Gabe nicht schmählicher erscheinen (als Ithers Rüstung). Das verspreche ich dir. Warte bis morgen, ich werde dich vollkommen ausrüsten."] Parzival aber will keinen Aufschub, er will noch heute Ritter sein, zudem hat er sich in den Kopf gesetzt, die rote Rüstung solle es sein, keine andere. König Artus, der in seiner Idealität häufiger mal einem Bittsteller einen Blankoscheck ausstellt, was im Iwein bekanntlich zum kurzfristigen Verlust seiner Gattin führt, läßt sich schließlich von Keie und Parzival breitschlagen. Er, der eigentlich nur Ehre verleihen kann, verfügt hier plötzlich über etwas, was ihm nicht gehört, was er also auch nicht verliert. In der Struktur bleibt Artus mit dem Verleihen und Gewähren seiner Rolle als Instanz figuraler Werte gerecht, was sich für ihn aber nicht gehört: er setzt eine Rüstung als Preis aus, macht also die Ritterwürde nolens volens zum Objektaktanten. Bevor nun die ERWERBSSTRUKTUR ihren verhängnisvollen Lauf nimmt, setzt WOLFRAM mit der SYMBOLSTRUKTUR ein wichtiges Zeichen. Bedenken Sie bitte, aufmerksamer Leser, daß für das mittelalterliche Publikum die Instanz, die in Romanen wie Erec und Iwein so grandios inthronisiert wurde, hier unübersehbar demaskiert wird, ja vollkommen ihren Anspruch verliert, unbestechlicher Richter über das ritterliche Ideal zu sein. Kurz, die Instanz, die in ihrer Rolle als Verleiher idealer Werte unangreifbar war, wird von innen heraus (Ither) degradiert und zum Subjektaktanten erklärt. Natürlich sträubt sich der Hof gegen diese Rollenzuweisung, weshalb auch kein Vertreter der Artusrunde bereit ist, einen Kampf auszufechten, der seinem Rollenverständnis widerspricht und es unwiederbringlich zerstören würde, ließe er sich auf diesen Kampf ein. So trickst man literarischen Schematismus aus, und wir werden sehen, daß sich die Rolle des Artushofes und der Artusidealität bis zum Daniel von dem blühenden Tal weiter auflösen wird.

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Wenn nun aber der Hof seinen Instanzcharakter verloren hat, ist für den Auffassungshorizont des Publikums das ZIEL der âventiure, der Ruhe- und Endpunkt ritterlicher Idealitätsansprüche in seiner Stabilität erschüttert und hinsichtlich seiner Urteilsfähigkeit entmündigt. Wenn es jetzt kein neues Ziel gibt, keine neue Instanz, dann würde jeder Schematismus aufgeweicht, jede Struktur zerrüttet, jedes Erzählen möglich und kein Sinn mehr konstituierbar. Aus diesem Grunde greift hier bereits die SYMBOLSTRUKTUR richtungweisend ein. Cunneware von Lalant, die Schwester des Orilus, hatte gelobt, nicht eher wieder zu lachen, als bis derjenige käme, der den höchsten Ruhm erworben hätte oder erwerben sollte. Diese neue Kassandra beginnt angesichts Parzivals zu lachen. Keie kann es nicht fassen und will es nicht glauben, er verprügelt sie, und Parzival verspricht ihr Genugtuung. Wir wissen somit, daß es ein höheres Ziel geben muß, verständlich ist, daß es die Artusgesellschaft nicht glauben will. Parzival aber eilt nun, sich die rote Rüstung zu holen. Mit dem Tod Ithers (diesen Ritter trifft im Gegensatz zu Schionatulander tatsächlich ein Sauspieß) zerplatzt eine weitere ritterliche Hülse (AS), die seit Kalogrenants Definition bekannt sein dürfte. Im Iwein aber war die Hülse, respektive das Schema wenigstens noch positiv modifizierbar (IAS), hier wird es gefällt. Parzival fleddert die Leiche, doch kann er die harte Schale nicht knacken. Iwanet hilft ihm, legt ihm die Rüstung an, gürtet ihm das Schwert um und legt ihm die Sporen an, womit Parzival de facto Ritter ist, denn dies sind die Insignien der Schwertleite. Es kommt noch trauriger, denn Iwanet erklärt Parzival kurz den Gebrauch der Waffen. Zur Lanze erklärt er: "swer gein dir zer tjoste kum, dâ soltuz balde brechen, durch sînen schilt verstechen. wiltu des vil getrîben, man lobt dich vor den wîben." [PARZIVAL, 158,8 ff. "Wann immer dir jemand im Tjost entgegenreitet, dann zerbrich sie an ihm oder stich sie durch sein Schild. Je häufiger dir dies gelingt, desto größer ist dein Ansehen bei den Damen.] Uns bleibt wirklich nichts erspart, lieber Leser, hier wird alles zur leeren Hülse, die jeder jedem überstreifen kann wie eine herrenlose Rüstung. Nun fehlt Parzival nur noch eine Frau. Damit aber das weibliche Geschlecht nicht genauso schlecht wegkommt, daran nämlich liegt WOLFRAM so wenig wie mir, erhält Parzival in einem Kurzlehrgang bei Gurnemanz den letzten Schliff. So amüsant die Schilderungen im einzelnen sind, ich denke nur an die Mägde, die Parzival baden, wir müssen sie im Interesse des Ganzen überspringen. Es ist aber auch Anliegen dieses Buches, die angeführten Romane jedem Interessierten zugänglich zu machen, ihn zur Selbstlek-

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türe anzuhalten, und so falsch die Übersetzungen allesamt an entscheidende Stellen sind, hier nach wird es nicht mehr lästig, sondern nur noch störend sein. Interessant aber sind die Lehren des Gurnemanz: "ir redet als ein kindelîn. wan geswîget ir iuwerre muoter gar und nemet änderre maere war? habt iuch an mînen rât: der scheidet iuch von missetât. sus hebe ich an (lât es iuch gezemen): ir sult niemer iuch verschemen. verschamter lîp, waz touc der mêr? der wont in der mûze rêr, dâ im werdekeit entrîset und in gein helle wîset. ir tragt geschickede unde schîn, ir mugt wol volkes hêrre sîn. ist hôch und hoeht sich iuwer art, lât iuwern willen des bewart, iuch sol erbarmen nôtec her: gein des kumber sît ze wer mit milte und mit güete: vlîzet iuch diemüte. der kumberhafte werde man wol der mit schame ringen kann (daz ist ein unsüez arbeit): dem sult ir helfe sîn bereit, swenne ir dem tuot kumbers buoz, sô nâhet iu der gotes gruoz. im ist noch wirs dan den die gênt nâch brôte aldâ diu venster stênt. Ir sult bescheidenlîche sîn arm unde rîche. wan swâ der hêrre gar vertuot, daz ist niht hêrentlîcher muot: sament er aber schaz ze sêre, daz sint auch unêre. gebt rehter mâze ir orden. ich bin wol innen worden daz ir râtes dürftic sît:

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nu lât der unvuoge ir strît. irn sult niht vil gevrâgen: ouch sol iuch niht betrâgen bedâhter gegenrede, diu gê rehte als jenes vrâgen stê, der iuch wil mit worten spehen. ir kunnet hoeren unde sehen, entseben unde draehen: daz solte iuch witzen naehen. lât erbärme bî der vrävel sîn (sus tuot mir râtes volge schîn). an swem ir strîtes sicherheit bezalt, ern habe iu sölhiu leit getân diu herzen kumber wesen, die nemt, und lâzet in genesen." [PARZIVAL, 170,10 ff. "Ihr redet wie ein Säugling. Wann hört Ihr auf, Eurer Mutter nachzuplappern, um mal was anderes zu hören? Folgt meinen Ratschlägen, die verhindern Fehltritte. Ich will mal damit anfangen (paßt ja gut auf): Übertretet nie die Regeln. Wer einmal die Regel verletzt hat, ist für immer unten durch. Sein Ansehen verschwindet wie das Haar in der Mauser, und ihm bleibt nur der Weg in die ewige Verdammnis. Ihr verfügt über Schönheit und Charisma, Ihr seid der geborene Herrscher. Je größer Eure Verantwortung wird, erinnert Euch daran, Erbarmen gegenüber den Notleidenden zu zeigen. Stellt Euch wehrhaft gegen jedes Leid durch Freigebigkeit und Barmherzigkeit; befleißigt Euch der Demut. Der edle Mensch, der in Not ist, muß erst seinen Stolz niederringen (bevor er um Hilfe bittet, was ihm sehr schwer fällt); bietet sofort Eure Hilfe an. Wenn Ihr dessen Not lindert, seid Ihr der Anerkennung Gottes gewiß. Er hat es ungleich schwerer als die, die betteln und hausieren gehn. Seid in jeder Finanzlage umsichtig. Sein Gut zu verprassen, ist kein Zeichen für Adel; genauso wenig ist es aber das Horten von Schätzen. Macht Euch Mäßigung zur Pflicht. Ich habe genau gemerkt, wie nötig Ihr der rechten Erziehung bedürft: nun widersteht Eurem ungehobelten Benehmen. Fragt nicht ständig so viel: Daneben enthaltet Euch nicht einer bedachtsamen Antwort, wenn Euch jemand aushorchen will. Ihr habt doch alle Sinne beieinander, das sollte Euch die Einsicht beschleunigen. Habt bei der nötigen Rücksichtslosigkeit auch das Erbarmen im Auge (so folgt Ihr meinem Rat in rechter Weise). Wer sich Euch ergibt, so nehmt seine Sicherheit und verschont ihn, wenn er Euch nicht großes Herzeleid angetan hat."] Dies, lieber Leser, sind die wichtigsten Lehren des Gurnemanz, die Parzival hinfort auch alle beherzigen wird. Man kann beinahe sagen, daß er dieses Wissen erwirbt,

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denn diese Erfahrungen wird er nicht selbst machen, ja er soll es ja auch nicht, denn das war die Aufgabe von Erec und Iwein. Dort haben wir erfahren können, was von Lehren und gutem Rat zu halten ist. Wir haben gesehen, daß sie mit Sinn versehen wurden und das Unheil so vermieden werden konnte. Diese Garantie des Gelingens bei richtiger Auslegung ist hier aufgehoben; wie wir Parzival kennen, wird er auch hier die Inhaltslosigkeit und Bedeutungslosigkeit dieser hohlen Hülsen durch fatale Entstellungen entlarven. Fast immer wird er damit Erfolg haben, wird das heilige Ritterethos diffamieren und erst durch seinen einzigen Mißerfolg zeigen, wo das bessere Ethos zu suchen ist. So zurechtgeschliffen erringt er die Hand Kondwiramurs, indem er Clamide (Kingruns Seneschall) und Kingrun selbst besiegt, verschont und sie zu Artus schickt. Dieser aktantielle Erwerb geht in Ordnung, auch WOLFRAM liegt daran, die Ehe selbst nicht zur Diskussion zu stellen. Parzival kann nun aber unmöglich bei ihr bleiben, denn im Erwartungshorizont des Publikums wäre nach den Maßstäben der ERWERBSSTRUKTUR dann eine KRISE unausweichlich, nur soll Parzival hier keine Krise ereilen, weshalb er sich verabschiedet, um nun freiwillig durch mehrere Taten, die als IAS beschreibbar sind, der alten Krisenmotivation vorzubeugen. Es folgt an erster Stelle, an symbolträchtigem Orte also, ein Begebnis, das ich erstmal unterschlagen werde, und dann, wenn alles klar sein wird, hole ich es wieder hervor. Auf seinem Ritt stößt Parzival auf ein seltsames Paar, fast hätte ich sie mit Erec und Enite verwechselt, aber nein, das ist unmöglich, bei genauem Hinsehen bemerkt man, daß der Ritter voranreitet, die Dame hingegen folgt. Dies nun aber gar nicht in ihrer besten Garderobe, große Mühe hat sie eher, die fadenscheinigen Lumpen über ihre göttlich geformten Rundungen zu raffen. Höflich grüßt Parzival sie, und obwohl er diesmal sein Repertoire um die Anweisung seiner Mutter beschneidet, erkennt sie ihn sofort, ist er doch nicht nur der schönste Mann auf Erden, sondern auch der Urheber ihres Unheils, kurz, da reitet Jeschute. Parzival besiegt Orilus, dessen Namen er nie erfährt, mithin auch nicht die Tatsache, daß er den Tod Schionatulanders verschuldet hat. Ich glaube aber, daß Sigune derart Symbolcharakter hat, daß man ihr Schicksal nicht innerhalb der ERWERBSSTRUKTUR bereinigen könnte. Orilus aber, der von der Gabe seiner Schwester weiß und mal nebenbei erwähnte, er würde gern mal mit dem kämpfen, der sie zum Lachen bringt, bezieht Prügel von genau diesem, erfährt Aufklärung hinsichtlich Jeschutes Unschuld und wird zum Artushof geschickt. Parzival hat alles wieder mit einem IAS ins Lot gebracht. Damit aber auch kein Zweifel daran bleibt, daß Jeschute ihre Unschuld behielt, legt Parzival an einem Schrein in der Klause eines Einsiedlers mit Namen Trevrizent diesen Eid ab:

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er sprach hân ich werdekeit: ich habe si oder enhabe ir niht, swer mich bî dem schilde siht, der prüevet mich gein ritterschaft. [PARZIVAL, 269,4 ff. Er erklärte: "Bei meiner Ehre, ob ich sie habe oder nicht, wer mich im Kampf sieht, mag meine Tauglichkeit zum Rittertum ermessen.] Auch hier sprechen wieder die Taten für den Mann und seinen Charakter, eine Sprache, die Orilus aber durchaus versteht. Was er jedoch nie verstehen kann, der den einzigen Wunsch hatte, einmal gegen den zu kämpfen, den seine Schwester Cunneware durch ihr Lachen als den Besten auszeichnet, ist die Tatsache, daß deren Wertung an völlig anderen Parametern gemessen werden wird. Der nächste Abschnitt auf Parzivals Fahrt hat nun schon gleiche Anteile an ERWERBS- wie an SYMBOLSTRUKTUR. Er wird nun den Erwerb Kondwiramurs durch ein IAS bestätigen, ohne daß sie anwesend ist, er wird in gleicher Weise seine Artuswürdigkeit bestätigen, und dies mit dem bekannten symbolischen Personal. Indem dies alles aber auf symbolischer Ebene geschieht, ist das Erreichte zum einen aus dem Sinnzusammenhang der ERWERBSSTRUKTUR eliminiert und dadurch nicht legitimierter Abschluß des Romanes, zum anderen aber ist es auf dieser alten Ebene noch genügend aussagekräftig, um dort unangefochten zu sein. Wie das möglich ist, werden wir jetzt sehen. Es folgt nun die Blutstropfenepisode, eine der Stellen im Roman WOLFRAMs, die mehr Blut, Schweiß und Tränen bei den Filologen fließen ließ, als da, mitten im Mai, auf dem Schnee, ganze drei an der Zahl, liegen und den Blick Parzivals so fesseln, daß er alles um sich nicht mehr wahrnimmt. Von der Kontemplation über drei Blutstropfen muß dringend abgeraten werden, sie ist in höchstem Maße ansteckend, als man alles um sich vergißt, ganz besonders aber seinen Verstand. Wie anders wäre es sonst zu erklären, daß ein jeder Literaturwissenschaftler dabei so sinnelos ward, daß wir allererlauchtesten und höchst symbolischen Unsinn vorgesetzt bekommen, der einem mitten im Mai das Blut in den Adern gefrieren läßt. Parzival ist nunmehr versunken in dieses leicht identifizierbare Abbild seiner Gattin. In solcher Pose verharrend, wird er von einem Knappen des Artushofes entdeckt, der dies als Herausforderung mißdeutet und den Hof alarmiert. Segramors reißt Artus aus dem Schlaf und fordert, die Herausforderung annehmen zu dürfen. Artus gibt widerwillig sein Einverständnis, Segramors reitet zu. Als er nach lauter Kampfansage keine Reaktion erhält, stürmt er los, das wiederum erschreckt Parzivals Pferd, dieser sieht nicht mehr das Bild seiner Frau und sticht sofort Segramors vom Pferd. WOLFRAMs Spott über Segramors Niederlage steht der Resurrektion Erecs in

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nichts nach. Als nächster folgt auf ähnliche Weise Keie nach, den es aber übler erwischt, er bricht sich ein paar Knochen. Auf diese Weise rafft WOLFRAM die übliche Bestäügung des aktantiellen Erwerbs der Frau zusammen, läßt Keie zudem noch für das Verprügeln Kunnewares büßen und läßt sogleich die Symbolfigur Gawein folgen, der das IAS vertritt und den figuralen Erwerb der Artuswürdigkeit antizipiert. Nur wird der nicht vom Pferd gestoßen, er deckt, selbst in Minnedingen bewandert wie kein zweiter, ein Tüchlein über die Blutstropfen, weckt Parzival auf, erklärt ihm die Geschehnisse und führt ihn der Artusrunde zu, wo er mit Glanz und Gloria aufgenommen wird. Offensichtlich bei den beiden Kämpfen ist die Gegenwart Kondwiramurs in den Sinnen Parzivals, wodurch wir wissen, auf welchen Objektaktanten sie sich beziehen. Unübersehbar ist aber auch die konstitutionelle Ferne zum begehrten Objekt, ganz so, als hätte Parzival ihre Gunst verloren. Hat er natürlich nicht, aber es ging WOLFRAM darum, durch Anklänge an die alte ERWERBSSTRUKTUR anzudeuten, wie wir den Sinn dieser Episode auffassen dürfen. Dabei unterstützt er uns durch das symbolische Personal Keie und Gawein genauso, wie HARTMANN es zum ersten Mal im Erec tat. Indem nun wieder unser bekanntes Symbol, der Hofknigge Keie, vom Ross katapultiert wird, sollte jedem klar sein, daß Parzival auf dem Wege des AS nichts mehr erwerben wird, und mehr noch, indem er während der Kämpfe in Gedanken bei seiner Gattin weilt, wissen wir zudem, daß deren Erwerb durch diese Bestätigung legitim ist. Zugleich macht die Verständigung mit dem zweiten Symbol, Gawein, deutlich, daß auch der Weg des IAS für Parzival abgeschlossen ist, und, indem sich auch diese Verständigung im symbolischen Beisein Kondwir-amurs vollzieht, darf man schlußfolgern, daß sie nicht, wie Laudine, Anlaß zu einer Krise werden kann. Damit ist auch der Weg des IAS für Parzival beendet, auch dieses Schema kann nie mehr nutzbringend zur Anwendung kommen. Und damit sind wir bei der interessantesten Frage dieses Romanes angelangt, denn wenn mit unserem Helden noch irgend Übles geschieht, wie kann er dann noch jemals da wieder heraus!? Im Rahmen der ERWERBSTRUKTUR aber ist nun alles im Lot, nichts wird mehr eine KRISE Parzivals auf dieser Ebene heraufbeschwören können, und da sie auf dieser Ebene erst gar nicht virulent werden durfte, hat WOLFRAM ihr so ganz geschickt den Boden entzogen, denn nichts darf den Blick des Publikums für die KRISE und ihre Gründe trüben, die sich jetzt unaufhaltsam nähert und Parzival in eine Tiefe hinabstoßen wird, in der noch kein Ritter jemals war. Da betritt Cundrie die Tafelrunde, eine hochgelehrte Jungfrau, die nur über keinerlei Liebreiz verfügt, da sie Ohren wie ein Bär, eine Nase wie ein Hund und Zähne wie ein Eber hat, um nur die hervorstechendsten Eigenschaften zu nennen. Sie ist die Unglücksbotin, die den völlig überraschten Parzival in die KRISE stürzen wird. Diese KRISE hat nur eben mit denen, die wir bereits kennen, so wenig gemein, wie

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Cundrie mit Lunete. Diese KRISE hat nichts mit der Artusrunde zu tun, nichts mit einer feengleichen Minneherrin. Die Instanz, in deren Auftrag Cundrie handelt, steht so weit über der Artusrunde, daß keine noch so hyperbolische Beschreibung einer wie immer gearteten Schönheit der Botin ausreichen könnte, ihr gerecht zu werden, weshalb WOLFRAM der Einfachheit halber diese nicht darstellbare ästhetische Distanz in Form krassester Häßlichkeit symbolisch entfaltet. Cundrie wendet sich zunächst an den Vertreter der alten Instanz: "fil li roy Utpandragûn, dich selben und manegen Bertûn hât dîn gewerp alhie geschant. die besten über elliu lant saezen hie mit werdekeit, wan daz ein galle ir prîs versneit. tavelrunder ist entnihtet: der valsch hât dran gepflihtet. KüncArtûs, du stüeende ze lobe hôhe dînen genôzen obe: dîn stîgender prîs nu sinket, dîn snelliu wirde hinket, dîn hôhez lop sich neiget, dîn prîs hat valsch erzeiget. tavelrunder prîses craft hât erlernt ein geselleschaft die drüber gap hêr Parzivâl der auch dort treit diu ritters mâl. ir nennet in den ritter rôt nâch dem der lac vor Nantes tôt: unglîch ir zweier leben was; wan munt von ritter nie gelas, der pflaeg sô ganzer werdekeit." [PARZIVAL, 314,23 ff. "Sohn König Utepandraguns, dich selbst und manchem Bretonen hat dein ganzes Streben nun Schande eingebracht. Die Würdigsten aller Länder säßen hier im Glänze ihres Ruhms, würde nicht ein Teil bitterster Galle ihre Auszeichnung beflecken. Die Tafelrunde hat sich selbst den Garaus gemacht: das Unrecht hat sich zu ihr gesellt. König Artus, eigentlich solltest du mit deiner Huld ein Vorbild vor deinen Mitgliedern sein: doch dein Ansehen mehrt sich nicht, es sinkt; deine sprichwörtliche Würde hinkt wie ein Vergleich (Katachrese), dein hoher Ruhm neigt sich nieder, deine Auszeichnung hat sich als falsch erwiesen. Die Fähigkeit der Tafelrunde zur Auszeichnung hat sich selbst Fesseln angelegt, als sie maß-

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verletzend Parzival Erhabenheit verlieh, der auch hier nur eine ritterliche Schale trägt. Ihr nennt ihn den roten Ritter nach dem, der vor Nantes starb. Doch welcher Unterschied besteht zwischen beiden; nicht einmal die Dichtung spricht von einem Ritter, der derart vollkommen ehrenvoll lebte."] Mit dieser Anklage läutet WOLFRAM unmißverständlich die Entwertung der Arturischen Instanz ein, die er die ganze Zeit über immer wieder subtil betrieben hatte. Damit relativiert er nicht nur ihre Kompetenz bezüglich der Wertung der alten ERWERBSSTRUKTUR, die WOLFRAM schon in finstersten Farben geschildert hat, er entmündigt sie erst recht als Preisrichter über leere Hülsen, die das Wahre im Menschen und Ritter gar nicht zu erkennen vermag. Der Artushof versteht nur die Sprache der Tat, sie beurteilt nur Ritter, deren Taten in dem für sie meßbaren Rahmen für eben denjenigen sprechen. Und da es, lieber Leser, die ganze Zeit ums Sprechen geht, reiche ich Ihnen nun, bevor wir mit der Anklage Cundries weitermachen, die Episode nach, die ich nach Parzivals Aufbruch von Pelrapeie, der Stadt seiner Frau Kondwiramurs, so eigenwillig unterschlagen hatte, das Geschehen mithin, auf das sich Cundries Anklage gegen Parzival bezieht. Und ich warne, wer jetzt nicht konsequent mitdenkt, der braucht erst gar nicht mitzukommen. Swer ruochet hoeren war nu kumt den âventiur hât ûz gevrumt, der mac grôziu wunder merken al besunder. [PARZIVAL, 244,1 ff. Wer hören möchte, vwohin nun der gelangt, den die âventiure herauskehrt, der kann höchst Bemerkenswertes ohnegleichen erleben.] Wie gesagt, habe ich Ihnen diese Episode unterschlagen, habe ich eben diese in der Romanchronologie bewußt übersprungen. Zum einen wollte ich dadurch das Verstehen erleichtern, zum anderen die Spannung erhalten, aber es gibt zudem noch einen weit wichtigeren Grund, ich wollte mich an das implizite Konzept WOLFRAMs halten. Woher ich das kenne?, ganz einfach, ich habe es Ihnen ja bereits übersetzt, denn genau hier, wo diese wichtige Episode einsetzt, hat WOLFRAM sein Bogengleichnis plaziert. Da aber lautete eine enorm wichtige und grundsätzlich falsch verstandene Stelle so: swer iu saget von der krümbe, der will iuch leiten ümbe. [PARZIVAL, 241,15 f. Wer euch aber einen Knoten hineinmacht, der will euch auf etwas hinweisen.]

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Sie erinnern sich in diesem Zusammenhang ja auch sicherlich an die Übersetzungen aus dem Hause HAUG & KÜHN, in welcher von solch verdächtigen Dingen wie an der Nase herumführen die Rede war - einer wirklich gelungen subjektive Sichtweise, denn indem sie falsch übersetzen, kommentieren sie erfrischend richtig ihr Tun. Mir war es jedoch mehr darum zu tun, WOLFRAMs Konzept so zu erklären, daß es Ihnen deutlich wird, und was liegt näher, als ebenfalls einen Knoten in die Geschichte zu machen, um Sie auf das Wesentliche hinzuweisen. Am Abend trifft Parzival einen prächtig gekleideten Fischer auf einem See und fragt ihn um Herberge. Er weist ihm den Weg zu einer unvergleichlich prächtigen Burg. Kontrastive Bezüge zu jenem geizigen Fischer, der Parzival nur um ein Beutestück zum Artushof führte, wo er solch unfaßbares Unheil anrichtete, sind unverkennbar und nötig, um die Diskrepanz zwischen SYMBOL- und ERWERBSSTRUKTUR zu untermauern. Erinnern wir uns nur, daß Parzival über aktantiell erworbene Beute zum Artushof fand. An diesem Hofe wird Parzival mit jeder erdenklichen Ehrerbietung empfangen, dann bittet man ihn zum Hausherrn, um das Mahl einzunehmen. Da nun geschehen seltsame Dinge. Ein Knappe trägt eine Lanze in den Saal, von deren Spitze Blut tropft, worauf allgemeines Wehklagen anhebt, das erst wieder verstummt, als der Knappe den Saal verläßt. Später wird mit prächtiger Zeremonie ein Gegenstand hereingetragen, den man den GRAL nennt, der alle irdischen Vorstellungen von Kostbarkeit übertrifft. WOLFRAM erläutert nun, wie sehr dies alles Parzivals Neugierde weckt, er aber der Lehre Gurnemanz' folgend keine überflüssigen Fragen stellt. Schließlich schenkt ihm der Hausherr ein überaus kostbares Schwert, von dem allein die Scheide tausend Mark wert sein soll. Es ist damit wertvoller als die Rüstung Eckes, die schon eine stattliche Burg wert war. Er erklärt, er habe es oft im Kampf getragen, bis er verwundet worden sei. WOLFRAM führt aus, er habe damit Parzival zum Fragen ermuntern wollen, aber bedauerlicherweise habe der geschwiegen, obwohl der Gastgeber durch eine einzige Frage von seinen Leiden hätte erlöst werden können. Parzival erlebt eine alptraumhafte Nacht, am nächsten Tag ist der Spuk vorbei, er begegnet keiner Menschenseele. Er glaubt, der Burgherr läge im Krieg, und will gern helfen. Er reitet aus der Burg, ein Knappe schlägt das Tor hinter ihm zu und beleidigt ihn wegen der unterlassenen Frage, ohne ihn jedoch über die Zusammenhänge aufzuklären. Parzival aber hat nur im Sinn, sich das geschenkte Schwert durch Kämpfe zu verdienen, doch bald hat er alle Hufspuren der ausgezogenen Ritter verloren. alrêrst nu âventiurt ez sich. [PARZIVAL, 249,4. Erst damit beginnt die eigentliche âventiure.]

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Parzival begegnet daraufhin Sigune, gleichwohl erkennt man sich nicht, obwohl es die zweite Begegnung beider ist. Durch die Frage, wo er die Nacht verbracht habe, erschließt Sigune die Zusammenhänge mit der Gralsburg, die sie, selbst dieser Symbolstruktur zugehörig, genauestens kennt. Sie weiß, daß nur von Gott Berufene die Burg finden können, sie erzählt einiges Wissenswertes über den siechen Burgherrn Anfortas, seinen Bruder Trevrizent, der ein Leben in Armut gewählt hat, doch über die anderen beiden Geschwister sagt sie nichts. Doch wenn dieser Erwählte zur Burg gelangt, dann, so folgert sie, müßte dies eingetreten sein: si sprach "hêr, waert ir komen dar zuo der jaemerlîchen schar, sô waere dem wirte worden rât vil kumbers den er lange hât." [PARZIVAL, 251,21 ff. Sie rief: "Herr, wenn Ihr wirklich zu diesen kummervollen Menschen gelangt seid, dann müßte ja dem Burgherrn endlich bei seinem langen großen Leiden Abhilfe geschehen sein."] Parzival gibt zu, all die Wunder gesehen zu haben. Da erkennt sie ihn, wie es heißt: bi der stimme erkante si den man. Do sprach sie "du bist Parzivâl. nu sage et, saehe du den grâl unt den wirt vröuden laere? lâ hoeren libiu maere. ob wendec ist sîn vreise, wol dich der saelden reise! [PARZIVAL, 251,28 ff. An der Ausdrucksweise erkannte sie den Mann. Sie sagte: "Du bist Parzival. Nun sag doch, hast du den Gral und den leidgeprüften Burgherrn gesehen? So erzähl doch schon die frohe Botschaft. Ist jetzt endlich sein Leiden beendet dank deiner heilbringenden Fahrt!] Parzival fragt verblüfft, woran sie ihn erkannt habe (schließlich ist er wie Galmy auf dem Höhepunkt seines Ruhms, mithin ein neuer und anderer), doch das einzige, das von ihrer langen Antwort verwertbar ist, ist dies: got lôn dir daz dich dô sô rou mîn vriunt, der mir zer tjost lac tôt. [PARZIVAL, 252,18 f. Gott vergelte dir dein Mitleid mit meinem Geliebten, der für mich im Zweikampf starb.]

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Als er aber endlich eingesteht, die entscheidende Frage nicht gestellt zu haben, da verdammt ihn Sigune genauso, wie es nun Cundrie vor der Artusgesellschaft tut, weshalb wir sie nicht ausführlich wiederholen wollen, letztlich läuft es immer auf die unterlassene Mitleidsfrage hinaus, die den Grund für Parzivals KRISE darstellt. Eines aber muß uns an dieser Stelle klar sein, nämlich daß die Mitleidsfrage nichts anderes als eine Art Zauberspruch sakraler Art darstellt, lediglich eine vordergründige Motivierung der KRISE ist, wenngleich nicht ganz so an den Haaren herbeigezogen wie das Terminversäumnis Iweins. Das Unterlassen der Mitleidsfrage ist nämlich nur Symbol und Zeichen für etwas ganz anderes, und ein Teil dieses ganz Anderen soll sich uns nun erschließen! Betrachten wir das Wiedererkennen zwischen Sigune und Parzival aber mal etwas genauer. Als er sie nach dem Verlassen der Gralsburg erneut antrifft, fragt er sogleich, ohne sie zu erkennen: "vrouwe, mir ist vil leit iuwer senelîchiu arebeit. bedurft ir mînes dienstes iht, in iuwerem dienste man mich siht." [PARZIVAL, 249,27 ff. "Herrin, Euer furchtbarer Kummer beschwert auch mich. Wenn ich Euch meinen ritterlichen Dienst anbieten darf, verfügt über mich."] Der aufmerksame Leser muß jetzt stirnrunzelnd bemerken, daß Parzival ja doch mitleidige Fragen stellen kann, ohne zu stocken, ja, die mit einem guten Gedächtnis werden sich wie Sigune daran erinnern, daß er schon bei der ersten Begegnung ebenfalls sein Mitleid mit dem Tod Schionatulanders bekundet hatte. Alles völlig richtig, und wir können uns darauf einigen, daß die unterlassene Mitleidsfrage nicht auf das Konto der Lehren von Gurnemanz geht, der Parzival gebot, keine überflüssigen Fragen zu stellen. Es muß sich also bei einer so evidenten Inkongruenz hinsichtlich der Mitleidsfragen wohl doch um einen anderen Sachverhalt handeln. Tapferer Leser, wir sind ebenso unversehens wie Parzival an den thematischen Gral dieses Romans gelangt, beten wir, daß wir nicht versagen, denn was jetzt folgt, ist der abstrakteste Gegenstand, der auch nur in der Literatur behandelt werden kann. Wir haben nun den Weg Parzivals zum Rittertum und zur Artuswürdigkeit verfolgen können, und ich habe Sie langsam an die Ablösung der ERWERBSSTRUKTUR, wie sie noch im Erec und im Iwein maßgebend war, durch die langsam deutlicher werdende SYMBOLSTRUKTUR herangeführt. Ein unabdingbares Merkmal der alten Erwerbsstruktur war die Tatsache, daß Ritter immer nur ihre Taten für sich sprechen lassen durften. Wenn Ritter sprechen dürfen, dann nur von ihrem Mißerfolg. Das Ritterdasein vollzieht sich stumm, es verurteilt sich selbst zum Schweigen, wie es

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auch Enite geboten wurde, um das Spiel nicht zu gefährden. Die ritterliche Auseinandersetzung folgt dem Prinzip erst schießen, dann fragen, einem Prinzip, dem nicht zuletzt Schionatulander zum Opfer fällt. Kurz, das Rittertum hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, mithin auch seine eigene Sprache, die aber eigentlich diese Bezeichnung nicht verdient. Sie ist schematisiert und nicht in der Lage, aufzuklären oder zu vermitteln. Auf Fragen erhält man vorgefertigte sprachliche Hülsen ohne Inhalt. Sprachliche Erfahrung wird nicht gesammelt. Wortlos kämpft eine Rüstung gegen die andere. Spricht einer mal, wie Keie zu Parzival, so hört dieser nicht hin, träumt von seiner Frau, ist halt für einen Moment gefangen in der Symbolsprache der Minne und wirkt für Außenstehende nur wie eine ritterliche Herausforderung. So läuft dann die Kommunikation entweder über abgenutzte Sprachhülsen ab oder über den lebendigeren Austausch von Schwerthieben. Der Unterlegene muß in der Regel seinen Namen preisgeben und verliert ihn damit, der Gewinner aber macht sich dadurch erst mal einen. Man kann abschätzen, wann diese Sprachlosigkeit samt ihrem Ethos kollabieren muß. Nun aber kommt das eigentlich Faszinierende, denn was geschieht eigentlich, wenn diese sprachlichen Kampfrituale auf eine idealisierte und menschliche Symbolsprache treffen? Dann muß man folgerichtig aneinander vorbeireden. Dies geschieht bei Herzeloydes symbolischer Gottbeschreibung, die von Parzi-val in Ritterschemata gepreßt und daher mißgedeutet wird. Dies geschieht bei seinem ersten Treffen mit Sigune, als sie Parzival nur mithilfe von Herzeloydes Kosenamen identifiziert, sein schematisches Mitleid jedoch nicht als die Begierde erkennt, ihren Schmerz lediglich durch den ebenso schematischen Ritterkampf zu lindern. Die gleiche Form von Mitleid zeigt Parzival beim zweiten Treffen, und wieder kann Sigune nur das hören, was in ihren Sprachhorizont paßt, also dankt sie ihm für das Mitgefühl, aber mit ritterlichem Dienst und Tatendrang hat sie so wenig zu tun, daß sie dieses Angebot nicht ausschlägt, sondern schlicht nicht hört. Wenn sie Parzival schließlich an der stimme erkennt, so meint das natürlich nicht ihren spezifischen Klang, denn den hätte man natürlich schon bei den ersten Worten entdeckt, sondern an seiner Ausdrucksweise, an seinem sprachlichen Schematismus, der nicht in der Lage ist, das Erlebte vom Vortag in der Gralsburg überhaupt zu fassen oder zu begreifen. Sigune jedoch ist so sehr im anderen, im symbolischen Begreifen gefangen, daß sie aus den Bruchstücken Parzivals zunächst nur den positiven Zusammenhang herausdestilliert, und so reden beide eine gute Weile aneinander vorbei, bis Sigune durch eine unzweideutige Antwort Parzivals klar wird, daß er die Mitleidsfrage überhaupt nicht gestellt hat. Nun wird klarer, was auf der Gralsburg geschehen ist. Parzival hat die Symbolsprache der Vorführungen schlicht nicht begriffen, und wir hätten es nebenbei gesagt ebenfalls nicht verstanden, wenn WOLFRAM uns nicht explizit aufgeklärt hätte, daß

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man hier angesichts des unmißverständlich dargestellten Leids auf die Bekundung des Mitleids hoffte. Doch da tut sich eine sprachliche Distanz enormen Ausmaßes zwischen Symbolsprache und Erwerbssprache auf. Alles, was Parzival zu verstehen glaubt, ist eine Aufforderung zum Kampf für den Burgherrn, für ihn noch verdeutlicht durch das Schenken des wertvollen Schwertes. LEID aber als eine Erfahrung, die man weder für sich noch für andere bekämpfen kann, sondern allenfalls durch den ritterlichen Kampf anrichten kann, hat Parzival weder sprachlich erfahren, noch selbst gemacht, dazu verdonnert ihn erst die KRISE, in die er soeben hineingeraten ist. Verehrter Leser, lesen Sie dies in aller Ruhe lieber noch einmal durch, denn da wir hier einen Roman WOLFRAMs vor uns haben, ist der Erkenntnisweg noch um eine weitere Stufe länger! Es wird sicher den Großteil unter Ihnen gewundert haben, daß jene, die dem Titel nach der intellektuellen Elite unseres Landes zugeordnet werden müssen, bei den Übersetzungen der Bilder WOLFRAMs so unglaublich gestümmelt und gestammelt haben. Ich bin mir auch sicher, daß etliche unter Ihnen lieber einem Professor glauben wollen als meiner Wenigkeit. Ich habe nun aber den kleinen Vorteil, meine Übersetzungen nicht nur durch das inhaltliche Verstehen des Parzival belegen zu können. Etwas weitaus Komplexeres als der Romaninhalt ist nämlich zusätzlicher Beleg für die Richtigkeit meiner Übersetzung: Sie erinnern sich sicher an das Lob, welches GOTTFRIED VON STRASS-BURG dem Autor von Erec, Iwein und Gregorius zollte. Kristallklar war seine Sprache, ineins zusetzen mit Struktur und Inhalt, verständlich und sinngebend. Wie anders klingt da die Schelte auf WOLFRAM. Wie Sie auch wissen, halte ich sie für völlig verfehlt, doch gibt sie uns immerhin Einblick in das beinahe notwendige Versagen der Filologen. Was WOLFRAM schuf, war nämlich prinzipiell nichts anderes als das, was HARTMANN selbst tat, er konstruierte eine vollkommene Einheit zwischen der Sprache und dem Thema des Werkes. Das klingt zunächst profan, bedeutet aber nicht weniger, als daß WOLFRAM schlicht den sprachlichen Verstehens- und Erwartungshorizont des Publikums in dem Maße zerstört, als die Erfolgsgarantie der ritterlichen âventiure aufgehoben wird, denn das Thema des Parzival ist das Versagen des Ritterethos. Dabei wird der Handlungsschematismus des Ritters ebenso wie der Verstehensschematismus des Publikums sprachlich durch ständiges Mißverstehen bis zur Katastrophe entblößt. Die Sprache ist scheinbar die alte geblieben, aber die Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem ist so groß wie zwischen der ehemaligen ritterlichen Erfolgsgarantie im Erwerbsschema und dem nun erwiesenen Versagen der Tat gegenüber der Sprache des Symbolschemas, die nun nicht mehr den Erfolg erzählt, sondern das Versagen meint. Was WOLFRAM uns bis zu diesem Moment erzählte, war eben nicht der âventiure meine sondern der âventiure neine!

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Diesen Sachverhalt überhaupt zu entdecken, ist unglaublich schwierig, lieber Leser, und das liegt an der Lesegewohnheit und an der Aufbereitung dieses Textes. Wer den Parzival privat liest, nimmt eine Übersetzung, die dieses Sprachspiel nicht zuletzt deshalb schon zerstört hat, weil es bisher gar nicht erkannt war. Wer sich aber professionell mit dem Parzival zu beschäftigen hat, der kennt ihn in der Regel durch etliche Deutungen und Analysen, die samt und sonders falsch sind, die ihm aber das entdeckende Lesen unmöglich machen. Abgesehen davon (Wir dürfen ja nie vergessen, daß nicht einmal die Vorgänger des Parzival verstanden worden sind), ist dieser Roman ohne seine literarische Tradition nun schon gar nicht zu verstehen. Zudem muß man in der Seminarbibliothek zu Göttingen an wenigstens fünf Regalmetern Sekundärliteratur vorbei, bis man den Text selbst findet, an fünf Metern Zeit- und Geistverschwendung. Ich kann Ihnen den Inhalt dieser fünf Festmeter Buch ganz kurz wiedergeben: Allein die Menge macht deutlich, daß purer Unsinn, unsagbarer Quatsch und jammervollster Irrsinn sich hier gegenseitig vor dem Umfallen bewahren. Dabei ist das Anliegen und die Methode WOLFRAMS wirklich deutlich genug ausgesprochen, wir müssen uns einfach nur genauso dumm stellen, wie dies Parzival selbst ist, um zu erkennen, daß die literarischen Vorbilder des Rittertums wie im Gregorius keine indiskutable Garantie der guten Tat mehr vermitteln. Nur ist dieser Sachverhalt bei HARTMANN eben einmalig an den Pranger gestellt, WOLFRAM hingegen macht ihn zu Thema und Struktur seines Erzählens. Wer sich aber nicht dumm stellen mag, wer nicht durch Parzivals Brille sehen will, weil er bereits dumm ist und aus diesem Dilemma nicht heraus kann, der ist in der Regel Professor der Mediävistik, der weiß so viel über das Mittelalter, daß er nicht, wie wir, etwas darüber lernen kann. Wir kennen bis zu diesem Moment die Befreiung der 80 Damen im Erec, ich erwähnte Iweins Hilfe bei Verwandten Gaweins, als er eine Burg samt Bewohner von zwei furchtbaren Riesen befreite, wir werden im Parzival selbst die Befreiung des Schastel marveile durch Gawein erleben, wir können dergleichen in Diu Crône lesen, und immer werden wir das gleiche Muster entdecken, das Muster des IAS, das den Erfolg garantiert. Ich hatte Ihnen gesagt, daß Parzival zur Krisenvermeidung freiwillig Kondwiramurs verläßt, daß hier sein Weg mit IAS-Taten beginnt, doch gleich an erster Stelle, an einem bedeutungsträchtigen Orte also gerät er auf die Gralsburg. Und soll ich Ihnen mal ein Geheimnis verraten? Jeder, der den Parzival noch nie gelesen oder gehört hat, der nur den Erec und den Iwein kennt, würde in dem Moment, als die blutige Lanze hereingetragen wird, voller Spannung unruhig auf seinem Stuhl herumrutschen und bang fragen, wo denn die Riesen, die Drachen, die Löwen, die bösen Ritter und dergleichen mehr denn nun eigentlich bleiben! Diese, diese einzige Frage liegt Parzival auf der Zunge, der, abgelenkt durch die symbolische

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Leiddarstellung, entzückenderweise diesen Fauxpas unterläßt, denn wie deutlich muß WOLFRAM für uns noch werden?! Verweilen wir noch kurz an dieser Stelle, doch nicht, weil es so schön ist, denn blicken wir einmal zurück im Zorn auf unsere Filologen. Die Kerls sind momentan nicht weiter als bei der Erkenntnis, die KRISE Parzivals sei durch die unterlassene Frage heraufbeschworen. Und schon sind sie in einem scheußlichen Dilemma, denn schließlich läßt WOLFRAM in seinem Roman ja den freundlichen alten Herrn Gurnemanz auftreten, dessen Rat unbedingt für gut und richtig gehalten werden muß, weil ja schon Mutter Herzeloyde ihrem Filius riet, den Rat alter Herren ja zu beachten und zu beherzigen. Ja, dann hätte Parzival am Ende überhaupt keine Schuld! Alles Quatsch, aber der Witz ist, daß WOLFRAM dies alles bewußt so gestalten mußte. Selbstverständlich durfte man in den Romanen Fragen stellen, das beweisen Iwein, Garel und nicht zuletzt Parzival selbst, wann immer er Sigune begegnet, und deshalb hat WOLFRAM den Gurnemanz einfach etwas lügen lassen, damit wir wenigstens eine einigermaßen plausible Erklärung dafür haben, daß Parzival auf der Gralsburg so stumm ist wie ein Fisch. Die wahre Erklärung für diese Sprachlosigkeit ist nämlich wieder in der Strukturebene angelegt, denn hätte unser Held hier tatsächlich das gefragt, was ihm auf der Zunge lag: "Wen soll ich dafür (Schwert) umbringen?", dann hätte Anfortas ihm wie uns die Lösung des gesamten Romans verraten müssen, denn die Antwort darauf lautet: "GOTT". Lieber Leser, dies ist also eine âventiure, die niemand bestehen könnte, sei er noch so stark und unbesiegbar, sei er Artus- oder Minnewürdig. Parzival versteht aber diese Symbolsprache nicht, die so gar nichts mit der ritterlichen Erwerbssprache zu tun hat, und später wird er deshalb die Welt nicht mehr verstehen, und das ist auch gut so! Und so, wie die Kommunikation zwischen Parzival und den übrigen nicht funktionieren kann, so versagt sie zwischen WOLFRAM und dem Publikum, wenn man nicht bereit ist, sich auf seine Sprache einzulassen, wenn man sie statt dessen liest wie das eigene Spiegelbild, wenn man mit eigenen alten Sprachnormen an sie herangeht, die er doch schon längst zerstört hat. Parzival aber ist der Mittler WOLFRAMs für diese neue Sprache, denn indem er die Aussagelosigkeit der ritterlichen Erwerbssprache in ihrer Unfähigkeit zeigt, neue Inhalte und Ziele zu fassen, indem er sich stattdessen immer weiter der menschlicheren Symbolsprache nähert, geht er uns zu dem Ziel voraus, das ritterliche Kampfethos als Sprachlosigkeit zu erkennen und den Kampf selbst als Verständigungsbarriere zu vermeiden. Die momentane Unfähigkeit Parzivals aber, dies zu verstehen, ist selbst auch nur Zeichen, Symbol für eine schwere Schuld, die er trägt, ohne es zu wissen, die er sehr, sehr spät erfährt, die er auch dann noch selbst erfahren muß, um sie endgültig zu begreifen. Doch davon mehr, wenn es soweit sein wird.

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Wieso wohl, meinen Sie, haben WOLFRAM und ich nicht die geringste Angst vor noch so gelehrten Kritikern. Ihre mühsame Gelehrsamkeit ist ihr Mühlstein im reißenden Strom der Sprachkreativität. Diese Leute sind so dumm, daß sie keiner Mitleidsfrage würdig sind! Peinlich aber wird es, wie jüngste Ereignisse zeigen, wenn nach wie vor, und sei es durch frömmelnd sabbernde Mullahs und Muftis, der Versuch unternommen wird, Sprache den Kampf anzusagen. Sprache hat uns, wenn überhaupt Gott, dann deshalb gegeben, daß wir unserem Glauben Ausdruck verleihen können, anderen unseren Glauben sagen können. Wer den Glauben aber mit dem Schwert zu sprechen versucht, kann keinen Glauben verbreiten, er spräche denn gleich lieber zu Toten. Die Waffen sprechen zu lassen, ist dann auch die nachgerade übelste Kriegserklärung an den menschlichen Verstand. Dann, so sagt Erich KÄSTNER: Dann läge die Vernunft in Ketten. Und stünde stündlich vor Gericht. Und Kriege gab's wie Operetten. Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – zum Glück gewannen wir ihn nicht! [KÄSTNER, Die andre Möglichkeit.] Ich wehre mich ja nun mit Händen und Füßen gegen jeden Versuch, mittelalterlichen Vorstellungen durch schlichte Identifizierung mit neuzeitlichen Entsprechungen ein anachronistisches Verstehen unterzujubeln, sie gar für modern zu erklären. Das ist eine gefährliche Verdrehung der Tatsachen, denn solange der Krieg in unserem Bewußtsein nicht zum Urururgroßvater aller Dinge vergreist ist, solange sollten wir besser nichts für modern halten. Lieber Leser, sorgen Sie sich nicht, das Rittertum ist nicht tot, WOLFRAM ist wenigstens ein so netter und einsichtiger Kerl wie KANT, von dem HEINE dies zu berichten weiß: Ihr meint, wir können jetzt nach Hause gehn ? Bei Leibe! es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen traciert, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen - das röchelt, das stöhnt - und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, son-

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dern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: "der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein - der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein - das sagt die praktische Vernunft - meinetwegen - so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen." [HEINE, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland] Ersetzen wir ganz schnell Gott durch den Artushof, denn wir würden WOLFRAM und KANT Unrecht tun, würde nicht der erste den erstehen lassen, den der zweite erst einige hundert Jahre später zermalmt. Aber wie gesagt, WOLFRAM hat ein Einsehen mit dem abenteuerhungrigen Publikum, und so läßt er Cundrie nach ihrer alleszermalmenden Kritik an Artus und Hof plötzlich und unvermittelt einen anderen Ton anschlagen, aber lesen sie selbst: si sprach "ist hie kein ritter wert, des ellen prîses hat gegert, und dar zuo hôher minne? ich weiz vier küneginne unt vier hundert juncvrouwen, die man gerne möhte schouwen, ze Schastel marveile die sint: al âventiure ist ein wint, wan man dâ bezalen mac, hôher minne wert bejac. al hab ich der reise pîn, ich wil doch hînte drûffe sîn." [PARZIVAL, 318,13 ff. Sie erklärte: "Ist hier unter Euch kein Musterritter, dessen Tapferkeit schon immer nach einzigartigem Ruhm und höchster Minne strebte? Ich weiß von vier Königinnen und vierhundert Jungfrauen, die über alle Maßen schön sind. Die befinden sich im Schastel marveile: alle Vorstellungen von âventiure sind dagegen ein Furz, denn da winkt dem, der es erwerben kann, als Beute höchste Minne. Ich habe die beschwerliche Reise vor mir, denn ich will noch diese Nacht dort sein."] Na, das klingt doch echt vielversprechend; haben wir denn so einen Musterritter in der Tafelrunde? Nein, Parzival fällt flach, der hat genug mit seinen eigenen Problemen zu tun, der verdaut gerade seine Krise und die Nachricht, daß er einen Bruder hat, schwarz und weiß gefleckt und also Feirefiz mit Namen.

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Sorgen wir uns aber nicht um ihn, denn WOLFRAM tröstet uns: waz half in küenes herzen rât unt wâriu zuht bî manheit? und dennoch mêr im was bereit scham ob allen sînen siten. den rehten valsch het er vermiten: wan scham gît prîs ze lône und ist doch der sêle crône. [PARZIVAL, 319, 4 ff. Was hatte es ihm eingebracht, der Stimme seines tapferen Herzens zu folgen, und was die exzellente Schulung seiner Tapferkeit? Und doch herrschte über alle ritterlichen Verhaltenskodizes seine Fähigkeit, sich beschämt zu zeigen. Denn die absolute Schlechtigkeit war ihm nun doch fremd. Und so erringt die Fähigkeit, sich beschämt zu zeigen, die allerhöchste Anerkennung, sie ist sie eigentliche Zierde der Seele.] Gottlob aber haben wir einen geeigneten Kandidaten inmitten der Artusrunde, einen Ritter, der, selbst das Symbol der Artusinstanz, wie kein anderer befugt ist, das nun neu zu gestaltende Romanparadigma auszufüllen und zu beleben. Zugleich wird er uns auf völlig neue Weise das zurückgeben, was Parzival so unzweideutig in seiner alten Form zerstört hatte, die âventiure. Parzival selbst wird der Träger dieser neuen Struktur nicht sein, denn sie belebt das ritterliche Erwerbsschema wieder, sein Weg wird hingegen der völlige Abriß des alten Schemas sein, nicht besonders erquicklich zu erzählen, hier reichen wenige Episoden aus. Wir können ihn aber auch nicht für einige Jahre auf einen kargen Felsen setzen, dann würde er einrosten. Die Zeit, bis wir ihn wieder antreffen, füllt uns Gawein aus, der vollkommene Ritter, der bedeutsamerweise nie in eine KRISE geraten kann, der nie figuraler Werte wie Ehre und Anerkennung verlustig gehen kann, weil er sie nämlich verkörpert. Dies, lieber Leser, ist nunmehr unabdingbare Voraussetzung des neuen Modells. Die KRISE als Verlust von Werten, die die Artusinstanz gewährt oder entzieht, es gibt sie nicht mehr, sie ist mit dem Beweis der Unfähigkeit dieser Instanz als ritterliche Besserungsverpflichtung ihres Sinnes beraubt und nur noch der allerhöchsten Instanz überlassen. KRISE bedeutet von nun an den Verlust der Gnade Gottes, wie es der Gregorius bereits andeutete. Damit ist zwar die KRISE im Ritterroman geblieben, aber Wiederholungen von Bekanntem waren im Mittelalter verpönt, was schlicht bedeutet, dies ist die letzte religiöse KRISE, die anhand der uns bekannten Erwerbsschemata ausgestaltbar war. Der Artusroman als die Tradition dieser Erzählform wird von jetzt an in der Form des krisenlosen Romans auftauchen, wir werden dies sehen im Wigalois, im Daniel von dem blühenden Tal und auch im Garel von dem blühenden Tal. Diu Crône

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kann ich Ihnen leider so wenig anbieten wie den Cligés, den Prosalanzelot, den Lanzelet und einige weniger berühmte Artusromane, ich bin aber gerade dabei, sie zu lesen. Für meine Romangeschichte und Romantheorie aber reichen die übrigen völlig aus. Alles was wir aber jetzt noch benötigen, ist ein Anlaß, der unseren Musterritter aus seinem verdienten Lorbeerbett herausholt, der ihm Anreiz genug ist, der âventiure eine neue meine zu geben. Und als ob ich's geahnt hätte, da kommt doch plötzlich ein grimmiger Ritter in die Runde geritten und brummt durch das geschlossene Visier: "wa ist Artûs unt Gâwân?" Dieser Ritter wirft Gawein vor, er habe seinen Herrn ohne Ankündigung, mitten im freundlichen Gruß hinterrücks erschlagen. Sollte Gawein diese Tat bestreiten, möge er sich binnen vierzig Tagen vor Schanpfanzun einfinden und seine Unschuld im Zweikampf beweisen. Nein, dies läutet keine KRISE ein, abgesehen davon, daß ich vorhin sagte, daß so etwas unseren Gawein nicht treffen kann; sehen Sie nicht, worauf diese Ehrenrettung hinausläuft. Es ist ein Kampfordal angesagt, das seine eigene Ehre wiederherstellt, nicht die einer anderen Person. So etwas lag im Iwein bei dem Gerichtskampf für Lunete als IAS vor, wohingehend Erec seine persönliche Ehre im Kampf gegen Iders im AS wiederherstellte. Und genauso soll Gawein seine persönliche Ehre wiedergewinnen, mit dem AS, weshalb er auch alle Angebote anderer ablehnt, für ihn zu kämpfen, also aus einem AS ein IAS zu machen, denn dies hat er nicht nötig. Der Herausforderer gibt sich als ebenbürtig zu erkennen, es ist Kingrimursel, Landgraf von Schanfanzun und Fürst von Ascalun. Es macht sich nun allgemeine Aufbruchstimmung breit, und man verabschiedet sich gegenseitig mit guten Ratschlägen oder Selbstvorwürfen. Parzival grübelt ein wenig vor sich hin und meint: Sol ich durch mîner zuht gebot hoeren nu der werlte spot, sô mac sîn râten niht sîn ganz: mir riet der werde Gurnemanz daz ich vrävellîche vrâge mite unt immer gein unvuoge strite. [PARZIVAL, 330,1 ff. Wenn ich durch feste Einhaltung der Vereinssatzung nun den Ärger der ganzen Welt auf mich gezogen habe, so können diese Satzungen ja wohl nicht ganz in Ordnung sein: mir empfahl der wirklich ehrenhafte Gurnemanz, ich solle übermütiges Fragen vermeiden und alle Unschicklichkeit bekämpfen.]

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Sehen Sie, Parzival hat bereits die Relativität der Ritterlehren begriffen, jetzt fehlt nur noch die Erkenntnis, mit welchen Fragen man wahre Hilfe bietet. Davon hat Gawein natürlich nicht die geringste Ahnung, und so rät er: "ich weiz wol, vriunt, daz dîn vart gein strîtes reise ist ungespart. dâ geb dir got gelücke zuo, und helfe auch mir daz ich getuo dir noch den dienst als ich kan gern. des müeze mich sîn craft gewern." [PARZIVAL, 331,25 ff. "Ich weiß genau, lieber Freund, daß deine Fahrt nicht ohne Kämpfe von statten geht. Gebe Gott dir das nötige Glück, und stehe er auch mir bei, daß ich dir so bald wie möglich helfen kann. Das müßte seine Allmacht doch gestatten."] Dieses Ansinnen weist der frustrierte Parzival weit von sich, er ist mit der glänzenden Standarte GOTT MIT UNS in den Kampf gezogen und GOTTVERLASSEN zurückgekommen. Ach, wenn man sich doch auch beim großen Volksthing daran gewöhnen könnte, bei der Eidesformel, wenn schon nicht Gott, so doch wenigstens das wahr wegzulassen, es ist nämlich höchst un-wahr-scheinlich, daß er dabei hilft. Aber lassen wir Parzival zu Wort kommen: Der Wâleis sprach "wê waz ist got? waer der gewaldec, sölhen spät het er uns bêden niht gegeben, kunde got mit creften leben. ich was im dienstes undertân, sît ich genâden mich versan. nu wil ich im dienst widersagen: hât er haz, den wil ich tragen. vriunt, an dînes kampfes zît dâ neme ein wîp vür dich den strît: diu müeze ziehen dîne hant; an der du kiusche hâst bekant unt wîplîche güete: ir minne dich dâ behüete. [PARZIVAL, 332,1 ff. Parzival aber klagte: "Verdammt, was ist Gott? Wäre der so allmächtig, hätte er uns diesen Ärger erspart, wenn es überhaupt einen allgewaltigen Gott gibt. Ich stehe in seinen Diensten, seit mir Barmherzigkeit zu Bewußtsein gekommen ist.

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Jetzt kündige ich ihm den Dienst auf. Seinen Haß ertrage ich doch da schon lieber. Freund, wenn du in Kämpfe gerätst, dann streite im Namen einer Dame, laß sie deine Hand führen, wenn du ihre Reinheit und ihre weibliche Bereitwilligkeit erkannt hast: ihre Minne beschützt dich immerfort.] Na, das heißt Eulen nach Athen tragen, denn Gawein trägt Schürzen im Banner und Frauen im Herzen, für ihn ist Gott nicht relevant, und da er nicht in seinem Namen Schürzen jagt, ist er auch von ihm immer verschont worden. Parzival hingegen, der meinte, Gott in seinen Kämpfen zu dienen, hat noch immer nicht begriffen, daß dies nicht möglich ist, er wird sich auf die Suche nach der Gralsburg machen, die nur dem Erwählten offen steht, dem Erwählten des Gottes zudem, dem er einen Dienst aufgekündigt hat, den der sicher nicht erwiesen haben wollte. Die Ferne zu Gott, in der Parzival schon lange unwissentlich lebte, die sich im Versagen auf der Gralsburg symbolisch zeigte und die durch Cundries Anklage um ein weiteres verdeutlicht wurde, diese Ferne erklärt Parzival jetzt von sich aus, ohne allerdings seine bisherige Ungnade vor Gott zu erkennen, denn noch immer kennt niemand außer WOLFRAM den wahren Grund für Parzivals KRISE. Diesen eigentlichen Grund gibt er so schnell auch nicht preis, denn er will Parzival in aller Ruhe probieren und zeigen lassen, daß der Weg, der beispielsweise Iwein zu erneutem Minneglück und Ansehen kommen ließ, nichts, rein gar nichts taugt, um auch nur die symbolische Gralsburg wiederzufinden. Wie wenig er noch immer begriffen hat, was der Gral bedeutet, zeigen seine ohnmächtigen Versuche, jedem Besiegten aufzutragen, für ihn den Gral zu erwerben. Nur ist der durch kein ritterliches Mittel erwerbbar, schon gar nicht für jeden, und erst recht nicht für einen, der seinen symbolischen Sinn nicht verstanden hat. Am Ende aber werden wir es erleben, wie Parzival lernt, und es ist das Verdienst WOLFRAMs, gezeigt zu haben, wie die ritterliche Tat aussehen muß, wie das IAS verändert werden kann, um Gott doch zu gefallen. An diesem Tag wird Parzival Gralskönig werden. Treuer Leser, der Sie bis hierher mit mir und WOLFRAM auf Parzivals Spuren ritten, der Sie mitgenommen sind wie Jeschute, zerzaust und frustriert vom Parforceritt unseres Helden von einem vergeblichen Abenteuer zum anderen, der Sie mitgenommen sind von Wind und Wetter, von Kämpfen, Sprache und Anschuldigungen, seien Sie getröstet, denn wenn wir uns nun an die Fersen Gaweins hängen, dieses mittelalterlichen Sonnyboys, dann wird uns mit einem Male die Sonne und das Herz lachen. WOLFRAM entschädigt uns hiermit für alle Drangsalen, die wir mit Parzival erleben mußten, jetzt finden Kämpfe nur noch unter strahlendem Himmel und auf saftiggrünem Rasen statt, bierernste Auseinandersetzungen unterbleiben, obwohl Gawein kurz nach seinem Aufbruch einem mächtigen Heereszug begegnet. Ein Knappe erläutert Gawein den Grund dieses Kriegszuges in allen Details, doch wollen wir dies in der gebotenen Kürze referieren.

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Meljanz, der nach dem Tode seines Vaters von dessen treuesten Vasallen Lippaut erzogen wurde, verliebte sich in dessen Tochter Obie, die ihn jedoch hochmütig abwies. Sie erklärte, selbst wenn er fünf Jahre aus allen Kämpfen siegreich hervorginge, so gewährte sie ihm noch zu früh ihre Liebe, die sie aber zweifelsohne für ihn empfinde. In unseren Augen spinnt sie sogar etwas, ja, wir können vermuten, daß sie die falschen Geschichten gelesen hat, denn was sie als Beispiel vorträgt, hat so ganz die Kennzeichen einer höfischen Novelle: ir sît mir liep (wer lougent des?) als Annôren Gâlôes, diu sît den tôt durch in erkôs, dô si in von einer tjost verlôs. [PARZIVAL, 346,15 ff. Ich liebe Euch (wer könnte dies leugnen) wie Annore den Galoes, die seinetwillen damals in den Tod ging, weil sie ihn in einem Zweikampf verlor.] Wir kennen diese Chiffre bereits, denn noch immer sitzt irgendwo im Wald Sigune mit dem toten Schionatulander im Schoß. Sie aber wußte nicht das rechte Maß, das bestimmt, wann die Zeit der ritterlichen Bewährung vorbei ist, wann ihr âmie in den Genuß ihrer Liebe kommen darf. Zufällig kommt ihr der Tod zuvor. Obie hingegen findet dieses literarische Muster so faszinierend, daß sie, die Aussage dieser Geschichte völlig fehldeutend, den gemeinsamen Tod als schickste Form des Liebesbeweises vorzieht. Inzwischen haben wir dieses Problem schon häufiger angetroffen: es ging immer wieder um die Frage, wann man eigentlich weiß, daß irgendeine Kette von Liebesbeweisen, Besitzbeweisen und dergleichen eigentlich sein logisches Ende findet. Bei Sigune ist es der Tod, in diesem literarischen Beispiel von Galoes und Annore desgleichen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, wie sie der Erec aufzeigt. Der Held, der in so einem circulus vitiosus zur ständigen Perpetuierung des Beweises gezwungen ist, kann nur durch das Verlieren eines Kampfes zur Ruhe gebracht werden, vorausgesetzt natürlich, daß er dabei weder seine Dame noch sein Leben verliert. Dieser letzte Kampf muß aus der Sicht des Siegers ein IAS sein, er darf also nichts attribuieren. Aus der Sicht des Unterlegenen aber ist es somit eine Befreiung. Natürlich kennt Meljanz dieses Rezept nicht, so etwas muß sich auch zufällig ergeben, nur bedarf es dazu natürlich zuerst eines Schrittes des Meljanz, und dieser Schritt ist das AS. Er startet sofort den Versuch, Obie aktantiell zu erwerben. Hier genau betritt unser Musterritter die Szene, und die Schlauen unter Ihnen ahnen bereits, daß der eine nur genau so handeln kann und muß, daß es dem anderen automatisch nützt. Das wäre alles auch recht unkompliziert, hätte unser Held nicht

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eine allseits bekannte Schwäche (Die kennt hier aber niemand, so wenig wie seinen Namen, denn Gawein ist natürlich anonym unterwegs) : FRAULEINS. waz welt ir daz Gâwân nu tuo, ern besehe waz disiu maere sîn? [PARZIVAL, 349,28 f. Na, was soll Gawein eurer Meinung nach tun, sollte er nicht mal diese seltsame Geschichte genauer unter die Lupe nehmen?] Wer seine Geschichten so spannend einleitet wie WOLFRAM, kann sich ungeteilter Zustimmung gewiß sein, nur Gawein selbst zögert noch, schließlich hat er einen festen Termin, und da man nicht weiß, wie lang so eine Auseinandersetzung dauert, verfrühtes Abseilen hingegen ehrlos wäre, egal welche guten Gründe er hat; und so überlegt er hin und her, und schließlich reitet er auf gut Glück nach Bearosche, dorthin, wo die Schlacht stattfinden wird. Dort beschließt er, unbeteiligter Zuschauer zu sein, und wählt sich den besten Aussichtsplatz direkt unterhalb der Burg. Dort wird er von den Burgfräuleins erspäht, und es kommt zu einer heftigen Diskussion zwischen besagter Obie, die Gawein samt Troß in ihrem üblichen Spott für einen Kaufmann hält, und ihrer vielleicht achtjährigen Schwester Obilot, die ihn natürlich für den Musterritter ihrer Träume hält. Gawein hört dies alles, trägts gelassen und läßt sich im Schatten eines Baumes selbstsicher und bequem nieder. Wir müssen nun einige Überlegungen zur Situation anstellen, die Gaweins Neigungen und den Fortlauf der Geschichte betreffen. Dies eine aber ist allemal indiskutabel, Gawein würde sich nie auf die Seite der Angreifer stellen, viel lieber kämpft er für Damen, nie jedoch gegen sie. Für Obie kann er aus einem strukturalen Grund nicht kämpfen, der jedoch von einem inhaltlichen verdeckt wird. Würde nämlich Obie Gawein zu ihrem Ritter machen, ginge dies nur um Lohn, Minnelohn, um genau zu sein, dann aber ginge Meljanz ohne Schuld leer aus, Obie hätte nichts dazugelernt, und Gawein käme zu spät zum Gerichtskampf. Dann läge hier ein AS vor, wo ein IAS hingehört, und dies ist nicht Sache eines Mannes, den ich Ihnen als Symbol des IAS verkauft hatte. Inhaltlich aber wird diese Konstellation durch Obies Spöttereien unmöglich gemacht, und WOLFRAM wäre nicht der vortrefflichste Erzähler des Mittelalters, hätte er sich für dieses Dilemma nicht den liebenswertesten und entzückensten Ausweg einfallen lassen, der für manchen bierernsten Blutdurst so vieler Ritter vollauf entschädigt, der jedem, der dies nachliest, das Herz aufgehen läßt. Nach einigen Mißverständnissen wird Gawein schließlich von Lippaut gebeten, an seiner Seite zu kämpfen, was er aber ablehnt, indem er seine Verpflichtungen vorschiebt. Immerhin bittet er sich Bedenkzeit aus. Da aber naht schon eine wunderschöne Dame, Gawein um seinen Dienst zu bitten. Ihrem Vater erklärt sie:

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"vater, ich var dâ nider her. ich getrûwe im wol daz er michs wer: ich wil den vremden ritter biten dienstes nâch lônes siten." [PARZIVAL, 368,15 ff. "Vater, ich bin heruntergekommen, denn ich bin sicher, daß er um meinetwillen kämpft. Ich biete dem fremden Ritter einen Dienst, der als Lohn die üblichen Konditionen vorsieht, (nämlich Minne)."] Gawein willigt ohne zu zögern ein und spricht, wie Parzival es damals ausdrückte, so: "in iuwerre hende sî mîn swert. ob iemen tjoste gein mir gert, den poynder müezt ir rîten, ir sult dâ vür mich strîten. man mac mich dâ in strîte sehen: der muoz mînhalb von iu geschehen." [PARZIVAL, 370,25 ff. "Eure Hand soll mein Schwert führen. Wer immer gegen mich anreitet, Ihr seid an meiner Statt, Ihr kämpft für mich. Natürlich wird man mich im Kampf sehen, der aber geschieht von mir durch Euch."] Jetzt fehlt nur noch das Liebespfand, und im Weggehen entspannt sich eine heftige Diskussion zwischen der Dame und ihrer Anstandsbegleiterin, woraus dies bestehen könnte: diu sprach "nu sagt mir, vruowe mîn, wes habt ir im ze gebene wân ? sît daz wir nilit wan tocken hân, sîn die mîne iht schoener baz, die gebt im âne mînen haz: dâ wirt vil wênec nach gestrîten." [PARZIVAL, 372,16 ff. Sie (die Begleiterin) sprach: "Nun erklärt mir, liebste Herrin, woraus soll Eurer Meinung nach dieses Pfand bestehen? Schließlich besitzen wir doch nur unsere Puppen, doch sollten meine irgend schöner sein, gebt sie ihm mit meinem Einverständnis, darum soll es keinen Streit geben."] Na, Herrschaften, nun ist es raus; wer da Dienst um Minnelohn vergibt, ist Obilot. Wer aber, sei er Filologe oder anderweitig ungesegnet, meint, solche Begebnisse mit dem bürgerlichen Gesetzbuch, mit Gesetzen zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit deuten zu müssen, wer vielleicht entschuldigend Sitten ins Feld führen will,

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demzufolge Kinderheiraten üblich waren, dem gratulieren wir zu seinem enormen Wissen, verlassen ihn mit dem gutgemeinten Rat, ja keiner vrouwe seine Minne anzudrehen, gehen kurz die Wände hoch und vergessen es schnell wieder. Es ist nun nicht etwa so, daß Gawein die maze vergäße, im Gegenteil, und damit dieser Eindruck nicht entstehen kann, spielen alle anderen auch mit, denn diese beiden Mädchen sind von einem völlig entwaffnenden Charme, kein noch so grimmiger Ritter könnte sich dem entziehen, denn als Obilot von ihrem Vater kurz darauf aufs Pferd gehoben wird, um heimzureiten, geschieht dies: si sprach "war koem dan mîn gespil?" dô hielt der ritter bî im vil: die striten wer si solde nemen. des mohte ieslîchen wol gezemen: iedoch bôt man si einem dar: Clauditte was ouch wolgevar. [PARZIVAL, 373,9 ff. Obie rief: "Und mit wem reitet meine Spielgefährtin?" Da drängten sich haufenweise Ritter um Lippaut; die stritten heftig, wer sie nehmen dürfte; denn das hätte jedem großes Vergnügen bereitet, doch konnte sie nur einer bekommen. Clauditte war nämlich auch ein ganz reizendes Mädchen.] Sehen Sie, wie uns nach dem finsteren Weg Parzivals nunmehr die Sonnenseite des Rittertums lacht, eines Rittertums, das es versteht, sich nicht immer so fürchterlich ernst zu nehmen. Was ich aber sicher weiß, ist die Tatsache, daß im Mittelalter die Kinder um etliches ernster genommen wurden als heute, wo sie entmündigte Mündel sind, wehrlos einer Flut von Medien, Kriegsspielzeug und Schulwissen ausgesetzt, das man so gern mit dem Ernst des Lebens verwechselt. Ach, lieber gleich zurück ins finstere Mittelalter. In der großen Massenschlacht, die am nächsten Tage anhebt, hat man das Gefühl, einem ritterlichen Turnier beizuwohnen. Nirgends scheint Blut zu fließen, Unterlegene werden lediglich in akrobatischer Weise vom Pferd geholt. So besiegt auch Gawein schließlich Meljanz, womit der Kampf beendet ist. Auf der anderen Seite hatte sich ein Ritter besonders hervorgetan, den man den Roten Ritter nennt, und der alle Besiegten auffordert, den Gral zu suchen, was schlicht der Quadratur des Kreises gleichkommt. Gawein aber übergibt Meljanz in Obilots Gefangenschaft. Er bekommt einen dicken Kuß, der ihn für alles entschädigt. Meljanz hingegen wird von Obilot sofort weitergeschenkt und zwar an Obie, die das nicht ablehnen kann. Der als Subjektaktant in den Kampf zog, wird durch Gaweins Hilfe kurzfristig zum Objektaktanten, womit die Lage ausgeglichen ist, derart verpackt nimmt Obie das Geschenk gern entgegen, Gawein erhält selbstverständlich nicht den üblichen Minnelohn, er beging

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ein astreines IAS und zieht weiter zu dem Gerichtskampf, der ja, wie Sie wissen, in Form einer aktantiellen Rückerwerbung der persönlichen Ehre bestehen soll. Rechtzeitig also erscheint Gawein vor Schanpfanzun, wo er König Vergulaht bei der Jagd antrifft. Da der nicht weiß, daß er Gawein vor sich hat, empfängt er den Ritter mit ausgesuchter Höflichkeit, und rät ihm, in die Stadt vorauszureiten und sich von seiner Schwester Antikonie bewirten zu lassen. Das läßt sich Gawein nicht zweimal sagen, gibt es doch einen Nahkampf, den er jedem anderen vorzieht. Antikonie ist ebensowenig abgeneigt, kaum sind beide allein, geschieht folgerichtig dies: er greif ir undern mantel dar: Ich waene, er ruorte irz hüffelîn. des wart gemêret sîn pîn. von der liebe alsölhe nôt gewan beidiu maget und ouch der man, daz dâ nâch was ein dinc geschehen, hetenz übel ougen niht ersehen, des willen si bêde wârn bereit: [PARZIVAL, 407,2 ff. Er legte die Hand unter ihren Mantel; ich glaube, er streichelte ihre Hüfte. Das aber erregte ihn nur mehr. Die Lust steigerte sich bei beiden bis zur Ekstase, und beide waren schon völlig bereit, den letzten Schritt zu tun, hätten sie nicht böswillige Augen erspäht.] Da hat sich Gawein in eine böse Lage gebracht, denn selbstverständlich hatte er für dieses Kampfspiel seine Metallwaffen weggelassen. Ein Ritter aber erkennt ihn, ruft Hilfe herbei, und es beginnt eine Kemenatenschlacht, in der sich Gawein und Antikonie mit allen erdenklichen Gegenständen zur Wehr setzen. Sogar König Vergulaht greift in diesen unhöfischen Kampf ein, bis dieser von Kingrimursel bemerkt wird, der ihn sofort unterbindet, weil er ja bei seiner Ehre Gawein freies Geleit zugesichert hatte. Man zieht sich zu Beratungen zurück, und da WOLFRAM noch einmal explizit sagt, Gawein sei sicher nicht des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig, ahnen wir bereits, daß es zu diesem Kampf auf Leben und Tod nicht kommen wird. Daran liegt WOLFRAM in diesem Roman nun aber auch rein gar nichts mehr, im Gegenteil, und wir werden später hören, kann dieses Ordal entfallen. Parallel zu Gawein reitet ein anderer Ritter durch die Gegend, der die halbe Ritterschaft lahmlegt, indem er jedem Besiegten aufträgt, für ihn den Gral zu suchen. Dieses Schicksal ereilte aber auch vor kurzem erst Vergulaht selbst. Um diese so hehre Verpflichtung loszuwerden, überträgt er sie auf Gawein und verpflichtet ihn, in einem Jahr wieder zu erscheinen. Dann aber wird man verwandtschaftliche Beziehungen entdeckt haben, so

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daß der Kampf entfällt. So also verdüstert kein aktantieller Erwerb diese Geschichte, bei dem Buhurt in der Kemenate kam auch niemand zu Schaden, die meisten Ritter sind plötzlich mit unlösbaren Problemen beschäftigt und können weniger Unsinn anstellen, wie oben geschildert. Gawein aber zieht ungeahnten Abenteuern entgegen, vielleicht reitet er in den Sonnenuntergang, vielleicht singt er I'm a poor lonesome cowboy and a long way from home... Da klopft es an WOLFRAMs Tür, es ist vrou âventiure und sie bringt uns Neuigkeiten von unserem eigentlichen Helden Parzival. Mehr als vier Jahre sind ins Land gegangen, da trifft unser Held eines Tages unversehens auf eine Klause. Er reitet ans Fenster und ruft: "Ist jemand drinnen?", und "Ja" schallt eine weibliche Stimme heraus, worauf Parzival mit seinem Pferd einen gewaltigen Satz zurück macht und sich darauf vorsichtig zu Fuß nähert, freundlich grüßt und draußen auf der Bank Platz nimmt. Er hört sich das Schicksal der Jungfrau an, und nun geschieht das überaus Seltsame, denn zum ersten Mal erkennt er zuerst Sigune an ihrer Geschichte und ihrem Leid, zum ersten Mal auch bietet er keine Rache an, und zum ersten Mal erkennt ihn Sigune nicht an seinen hohlen Phrasen, sondern an seinem Gesicht. Es hat also ganz den Anschein, als wär Parzival auf dem besten Weg, das Rittertum abzustreifen und Mensch zu werden, aber warten wir ab. Eine kleine Besonderheit fiel mir bei der Lektüre ins Auge. Sigune hat in ihrer Klause etwas zu lesen, und da sie als Kennerin von Schuld und Sünde gilt, muß es uns natürlich im Hinblick auf den Gregorius interessieren, was der Kenner denn so liest: Ist es von Peter ABAELARD De unitate et trinitate divina oder vielleicht ALANUS AB INSULIS Distinctiones dictionum theologicarum, am Ende gar HIERONYMUS Epistola adversus jovinianum ? Falsch, alles ganz falsch, das waren schon damals echte Ladenhüter, aber die Kostbarkeit, die Sigune besitzt, die der Legende nach Franz von Assisi keinem seiner Schüler als individuellen Besitz gestattete, ist dies: Sie truoc ein salter in der hant: [PARZIVAL, 438,1. In der Hand hielt sie einen Psalter.] Es ist nicht überliefert, welchen Psalm sie gerade las, aber eines ist sicher, sie können LUTHER und mir glauben, daß kein mittelalterlicher Roman mehr voraussetzt als die Kenntnis eben dieser Schrift! Mit den besten Wünschen Sigunes macht sich Parzival wieder auf die Suche nach der Gralsburg, da hemmt ein Ritter seinen Weg... Liebe Leser, ich gestehe, ich habe verflucht lang gebraucht, bis ich diesen Kampf richtig deuten konnte, und ich schäme mich direkt, weil es so einfach ist. Aus diesem Grund aber lasse ich Sie selbst darauf kommen, bestimmt erkennen Sie den Ritter

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und seine Funktion wieder. Also, dieser Ritter fährt Parzival barsch an, wer ihm denn erlaubt habe, diesen Grund und Boden zu betreten. Da er sich das Recht genommen habe, müsse er dies mit dem Leben bezahlen. Flugs reitet man aufeinander zu, und in hohem Bogen fliegt der böse Ritter vom Pferd. Er fällt in eine Schlucht, und da Parzivals Pferd auch hinunterfällt, weil es den Schwung nicht stoppen konnte, behält Parzival einfach das Pferd des Gegners, der selbst unverletzt zu Fuß nach Hause krabbeln muß. Na, erkennen Sie den wieder, erinnern sie sich an seine Funktion, die das Ende eines bestimmten Erwerbsweges symbolisierte? Richtig, das sah alles detailliert nach Keie aus, nur daß es diesmal nicht der ungehobelte Vertreter des Artushofes war, sondern ein Gesinnungsgenosse von der Gralsburg. So wie ein Sieg über Keie immer das Ende eines bestimmten Erwerbsmodus (AS) symbolisierte, so symbolisiert dieser Sieg das nahende Ende desjenigen Modus, den Parzival bislang anwendete, um das zu erstreiten, was er verloren hatte. Schön, daß WOLFRAM uns immer so trefflich auf das Folgende vorbereitet, aber man muß natürlich die Tricks der Dichter kennen, sonst machen unsere blinden Filologen daraus immer das ach so hilfreiche blinde Motiv, ja, alle Romane, die dem Parzival folgen, bestehen aus einer bloßen Aneinanderreihung blinder Motive, am Ende beschleicht den wißbegierigen Studenten das Gefühl, die Romane seien gar in Blindenschrift verfaßt! Ôwê, über diese Spartaner des Geistes, diese trippâniersen des Unverstandes und ulmigen stöcke mit den zu beiden Seiten hin offenen Ohren des Midas. Mehrere Wochen später begegnet Parzival einem alten Ritter, der mit seiner Familie barfuß und im härenen Gewand durch den Schnee pilgert. Von ihm erfährt Parzival, der ohne Kalender durch die Welt zog, daß man Karfreitag schreibt, den Tag in Buße verbringt, da Gottes Sohn für die Menschen am Kreuz starb. Es ist die Woche, in der man später in der Sixtinischen Kapelle ALLEGRIs Motette über den 50. Psalm, das Miserere singen wird, die so schön und leider auch exklusiv war, daß es erst durch MOZART gelang, an die Partitur zu kommen, da er sie nach dem Hören aus dem Gedächtnis niederschrieb, was aber den meisten bekannt sein dürfte. Wieder spricht Parzival seine Verbitterung aus über Gottes Ungnade, deren Zeichenhaftigkeit er noch immer nicht erkennt: swie die tage sint genant, daz ist mir allez unbekant. ich diende eim der heizet got, ê daz so lasterlîchen spot sîn gunst über mich erhancte: mîn sin im nie gewancte, von dem mir helfe was gesagt:

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nu ist sîn helfe an mir verzagt. [PARZIVAL, 447, 23 ff. Welche Bedeutung die einzelnen Tage haben, ist mir nicht geläufig, Einst diente ich einem, der den Namen Gott trägt, bis er es gestattete, daß ich schändlichen Hohn erhielt. Ich war so wechselhaft nicht gegen ihn, von dessen Hilfe man mir berichtete; nun hat er es aufgegeben, mir zu helfen.] Auch hier scheinen deutliche Bezüge zum Psalter vorzuliegen: DJE THOREN SPREchen in jrem hertzen / Es ist kein Gott /Sie tügen nichts vnd sind ein Grewel worden in jrem bösen wesen / da ist keiner der guts thut. 3 GOtt schawet von Himel auff der Menschen kinder / Das er sehe / ob jemand klug sey der nach Gott f rage. [LUTHER, Psalm LIII oder XIIII] Dem mittelalterlichen Publikum wird eher als uns klar sein, daß Parzival noch völlig falsche Vorstellungen mit sich herumträgt. Erstens ist nämlich sein Bild von Gott noch genauso falsch wie in der Einöde von Soltane, zweitens ist seine Vorstellung von der Gnade Gottes absurd, und drittens macht er sich immer noch keinen rechten Begriff vom richtigen Dienst an Gott, geschweige, daß er von seiner Schuld wüßte. Die aber soll er bald erfahren, der Rest ergibt sich dann mit der Zeit auch noch, wie er und wir erleben werden. Der Ritter aber weist ihm den Weg zu Trevrizent, bei dem er vor viereinhalb Jahren den Eid vor Orilus ablegte, und dieser Einsiedler wird ihn auf den Weg zurücklenken, der zu Gott führt. Dazu wird von Parzival selbst nur die reine Einsicht in seine Sündhaftigkeit gefordert, und so bekennt er zunächst allgemein, was Trevrizent ihm vollends klar machen wird: dô sprach er „hêr, nu gebt mir rât: ich bin ein man der sünde hât." [PARZIVAL, 456,29 f. Da sagte er: "Herr, helft mir, ich bin beladen mit Sünde."] Leicht ist auch hier ein Bezug zum 50. Psalm herzustellen, der Wortlaut erinnert mich aber stärker an den 41. Psalm:

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JCh sprach / HERR sey mir gnedig / heile meine Seele / Denn ich habe an dir gesündiget. [LUTHER, Psalm XLI ] Mit Trevrizent, dem Bruder seiner Mutter Herzeloyde und Bruder des Anfortas, entdeckt er seine Schuld, die er mit seiner ritterlichen Tat auf sich lud, als er Ither erschlug, um dessen Rüstung zu fleddern. Trevrizent deutet dies im Zusammenhang mit dem Verlust der Unschuld der Mutter Erde, als Kain Abels Blut um eines geringen Vorteils wegen vergoß, denn Ither war Parzivals Cousin. Betrachten wir diese Erkenntnis im Zusammenhang mit der Schuld, die der Rittererwerb im Gregorius nach sich zog. Wie Sie sich erinnern werden, stellte der Erwerb eines verwandten Objektaktanten das Problem des WAS im Aktantenschema zur Diskussion. Hier nun wird im gleichen Feld das Problem des VON WEM in den Mittelpunkt gestellt. Das Erwerbsschema, das im Erec und Iwein unter dem Aspekt des WIE eine Besserung einleiten konnte, da Objektaktant und gegnerischer Subjektaktant einen Erfolg des Helden immer garantierten, indem sie in keiner anderen als in dieser Erwerbsbeziehung zu ihm standen, ist aus dieser Erfolgsgarantie herausgelöst, denn die wesentlichste Beziehung, im Gregorius wie im Parzival, ist die VERWANDTSCHAFT . Diese Beziehung wurde unter Erwerbsaspekten und unter Rüstungen jedoch derart entstellt, daß demzufolge der ganze ritterliche Erwerb als entsetzlich entstellte Beziehungsform erscheint. Das Erkennen der verwandtschaftlichen Beziehung ist es aber, die unserem Musterritter Gawein einen Kampf auf Leben und Tod gegen Kingrimursel erspart, und wer den Parzival dereinst selbst zur Hand nimmt, wird erkennen, daß alle Protagonisten Mitglieder einer Familie sind. Nun kann Trevrizent seinem Neffen zwar die Last der Schuld von den Schultern nehmen, seinen Weg zurück zu Gott muß Parzival allein finden, und finden muß er die Gralsburg, die, wie er hört, überhaupt nicht mit dem Schwert zu erkämpfen ist, geschweige, daß Gott diese Form des Dienstes von Parzival wünscht: "Mac ritterschaft des lîbes prîs unt doch der sêle paradîs bejagen mit schilt und auch mit sper, sô was ie ritterschaft mîn ger. ich streit ie swâ ich strîten vant, sô daz mîn wêrlichiu hant sich naehert dem prîse ist got an strîte wîse,

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der sol mich dar benennen, daz si mich dâ bekennen: mîn hant dâ strîtes niht verbirt." [PARZIVAL, 472,1 ff. "Wenn man mithilfe des Ritterdaseins dem Leben Ansehen und dennoch der Seele das Paradies mit Schild und Speer sichern kann, dann habe ich diesen Weg zurecht gewählt. Wo immer es die Gelegenheit zum Kampf gab, kämpfte ich tapfer, um mehr Ansehen zu erlangen. Versteht Gott etwas vom Kämpfen (oder spricht er die ERWERBSSPRACHE), müßte er mich (zum Gral) berufen, damit sie mich da richtig kennenlernen. Da werde ich beweisen, wie ich kämpfen kann."] Dieser Weg ist natürlich absolut nutzlos, ja eigentlich bewirkt er das Gegenteil. Gott ist auch kein Ringrichter, der den Sieger über andere erwählt, und Parzival wird durch seine eigene Sprache erfahren, wie man Gott gefällt. Denn noch immer spricht und denkt Parzival in diesen Kategorien, wenngleich wir zugestehen müssen, daß er gelernt hat, selbst zu sprechen und zu denken, hier darüber zu reflektieren, ob und wie weit Taten für einen sprechen können, denn so etwas beeindruckt Trevrizent nicht im mindesten. Dieser klärt ihn auch über die Bedeutung der Mitleidsfrage gegenüber Anfortas auf und kann es nicht fassen, als Parzival ihm gesteht, daß er der Tor war, der sie versäumte. Dies ist umso mehr Zeichen für Parzivals Ferne von Gott: WOL DEM / DER SICH des Dürfftigen annimpt / Den wird der HERR erretten zur bösen Zeit. [LUTHER, Psalm XLI ] Nun gibt es bei der Erlösung des Anfortas nur dies eine Problem, daß nämlich derjenige, der zu dieser Frage, und damit auch zur Nachfolge des Gralskönigs berufen ist, über die Bedeutung und Folge dieser Frage keine Kenntnis haben darf, daß dem Versager aber auch keine zweite Möglichkeit eingeräumt wird. Nun weiß aber beinahe jeder, daß Parzival diese zweite Chance erhält und diesmal die Frage stellen wird. Damit widerspricht sich WOLFRAM aber keineswegs, denn Parzival hat von alledem nur das Rudimentärste verstanden, ganz so wie wir beim ersten Lesen. Während aber beim ersten Mal ein Ritter stumm blieb, wird der, der beim zweiten Mal fragt, ein Mensch sein, der mehr gelernt hat als einen Zauberspruch.

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Lassen Sie mich nun eine Nebensächlichkeit erwähnen, die Trevrizent beiläufig anspricht und die eine Lawine von ungestümem Forscherdrang auslöste, den Namen des GRAL: er heizet lapsit exillîs. [PARZIVAL, 469,7] Lesen wir jetzt in J. BUMKE, Wolfram von Eschenbach, S. 83 f., welches Genie die Spitzhacke führte, um diesen Stein der Weisen herauszulösen. Grundsätzlich geht man davon aus, es müsse sich um einen Stein handeln, und so beschritten die frommen Filologen den steinigen Weg in die Welt der Mineralogie, ja der Astronomie, aber alles, was herauskam, erinnert den Belesenen eher an Namen von Legionären in Asterixheftchen: Aus LAPSIT EXILIS wird: lapis erilis lapis ex celis lapis electrix lapis textilis lapis elixir lapis exilis lapis exsulis lapis exilii lapis exiliens lapis ex silice

Stein des Herrn Stein aus dem Himmel Bernstein Asbeststein Stein der Weisen kleiner, unscheinb. Stein Stein der Verbannten Stein des Exils auffahrender Stein Stein aus Kiesel

San-Marte Singer Zacher Blöte Palgen Ehrismann Waite Kolb Adolf Tax

Von MERGELL stammt: lap(is) (lap)s(us) i(n) t(erram) ex illis (stellis) der aus jenen Sternen auf die Erde gefallene Stein. Liebe Leser, egal in welchem Haus ich sitze, egal ob ich sündig bin oder nicht, ich werfe jetzt den ersten Stein. Die Tatsache, daß es keine Kontrolle darüber zu geben scheint, mit was für irrwitzigen Spekulationen Steuergelder durch Glasfenster geworfen werden, wäre noch das letzte, was uns zu denken geben sollte. Würde sich ein Mensch auf die Straße begeben und so etwas erzählen, er käme aus der Zelle nicht wieder heraus. Andere können sich mit so etwas habilitieren. Mir fehlen jedenfalls die Worte, diese filologischen Schätze deutlich als das zu bezeichnen, was sie sind.

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Damit Sie aber nicht denken, WOLFRAM hätte den Verstand verloren, zeige ich Ihnen kurz, was dieses ANAGRAMM bedeuten könnte: LAPSIT PSALTI

EXILIS EXILIS

So einfach und unscheinbar (EXILIS) kann der GRAL verstanden werden, diese Quelle göttlicher Freuden, für die ich noch einmal LUTHER bemühen möchte: SVmma /Wiltu die heiligen Christlichen Kirchen gemalet sehen mit lebendiger Farbe vnd gestalt / in einem kleinen Bilde gefasset / So nim den Psalter fur dich / so hastu einen feinen / hellen / reinen / Spiegel / der dir zeigen wird / was die Christenheit sey. Ja du wirst auch dich selbs drinnen / vnd das rechte Gnotiseauton finden / Da zu Gott selbs vnd alle Creaturn. [LUTHER, Vorrede auf den Psalter] (Gnotiseauton: Erkenne dich selbst) Nun werden Sie natürlich mit Fug und Recht behaupten, ich sei voll auf den Psalter abgefahren, aber ich bin als Literaturtheoretiker nur immer bemüht, die Literatur selbst sprechen zu lassen, nicht einen Namen oder Titel, der jeden Blödsinn verbürgt. Daher will ich mit Verweisen auf heilige Schriften keineswegs an Glauben und blindes Vertrauen appellieren, wie es der Inhalt des Psalters explizit tut, ich will Ihnen lediglich die Motivähnlichkeit zweier schöner Gedichte aufzeigen, deren gemeinsames Thema der Glaube ist. Eines aber gestehe ich gern, daß ich die Bibel sehr gern lese, daß ich mit höchstem Genuß ihre Vertonungen in Motetten, Madrigalen, Messen, Passionen und Oratorien höre, daß ich aber überhaupt nichts von dem halten kann, was WAGNER zum Beispiel aus dem Parzival macht. Der bläst in meinen Augen die letzte Posaune der musikalischen Apokalypse! Wenden wir uns wieder Gawein zu, dem seine Verwandtschaft ein Übel wie Parzival erspart, es kommt, wie gesagt, nicht zum Kampf, und es bleibt bei dem, was ich zu seiner Person betonte, er wird im Verlauf seines Weges überhaupt keinen Kampf absolvieren, der auch nur irgend einem Aktantenschema gleich käme, selbst wenn man dies von ihm fordert, denn er bleibt das Symbol des Indirekten Aktantenschemas. Zunächst jedoch benötigen wir für Gawein ein Ziel, das er mit allen Mitteln zu erreichen suchen wird. Es ist, wie könnte es anders sein, eine Dame, Orgeluse, die zweitschönste Frau nach Kondwiramurs. Er verliert sofort sein Herz, sie aber weist ihn ab. Bezüge zum Spott Obies sind unverkennbar, und um ihr zu gefallen, wird er nun das Schastel marveile befreien, samt den vier Königinnen und vierhundert Jungfrauen. Zuvor siegt er über einen Nebenbuhler um die Gunst Orgeluses, Lischoys,

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der sich nicht geschlagen geben will und den Tod verlangt. Da wird nichts draus, Gawein lehnt dies ab. Da aber der Fährmann seinen Zoll verlangt, Lischoys unbedingt Objekt-aktant spielen möchte, gibt er einfach den unterlegenen Ritter weg und kann zum Schastel marveile übersetzen. Gawein besteht dieses größte aller ritterlichen Abenteuer, er befreit das Schloß mit den vielen Damen, unter denen auch seine Schwester Itonie ist. Nachdem er schließlich auch im Kampf gegen Orgeluses neuen Begleiter, den Turkoyten, siegt, erlaubt sie ihm schließlich, ihr zu dienen. Er soll ihr ein Zweiglein von einem Baum brechen. Der steht jenseits einer tiefen Klamm, und beinahe wäre der geschwächte Gawein ertrunken, damit aber nicht genug, der Baum hat König Gramoflanz zum Bewacher, der nur gegen zwei Gegner auf einmal kämpfen mag. Die einzige Ausnahme stellt ein gewisser Gawein dar, dessen Vater seinen hinterrücks erschlagen haben soll. Höflich und bescheiden, wie ein Ritter sein muß, nennt Gawein seinen Namen ausnahmsweise doch, denn Schmach darf man nicht auf sich sitzen lassen. Er erfährt aber, daß Gramoflanz seine Schwester Itonie liebt, wohingegen er Orgeluse schwer getroffen hat, als er ihren Geliebten erschlug. Kurz, man vereinbart über vierzehn Tage einen Kampf auf Leben und Tod. Als Orgeluse erfährt, daß Gawein diesen Kampf wagen will, ist sie so glücklich, daß sie ihm ihren Lohn im voraus gibt. Das muß sie auch in dieser Form bekennen, denn es widerspräche WOLF-RAMs Anliegen, sollte Gawein seine Ehre oder seine Gattin im Rahmen eines Aktantenschemas erwerben. Irgendwie muß diese Geschichte aber abgerundet werden, Gawein kann schließlich auch keine leeren Versprechungen machen, und da taucht unversehens der auf, dem diese ganze Geschichte gilt. Orgeluse erzählt Gawein, wie sie schon einmal Hoffnung hatte, an Gramoflanz Rache zu üben. Einst sei ein roter Ritter vorbeigekommen, der habe ihre Bediensteten umhergetrieben wie Schafe und sie dem Fährmann geschenkt. Sie habe ihm angeboten, ihr zu dienen, doch der habe unwirsch gemeint, er habe eine Frau und: sô heize ich selbe Parzivâl. ichn wil iuwer minne niht: der grâl mir anders kumbers giht. [PARZIVÄL, 619,10 ff. Mein Name ist Parzival. Ich kann mit Eurer Minne nichts anfangen, ich habe so schon Kummer genug mit dem Gral.] Sehen sie, Parziväl hat sich etwas gebessert, wollte er früher ständig Sigune seinen Ritterdienst aufdrängen, so lehnt er nun schon dergleichen ab, wenn man es ihm aufdrängt. Nun gibt es noch das kleine Problem mit der Liebe zwischen Gramoflanz und Itonie, die ihren Bruder noch nicht erkannt hat. Gawein horcht sie aus und erfährt, daß es auch ihr ernst ist. Daher schickt Gawein heimlich eine Botschaft an Artus, er möge zur Zeit des Kampfes am Ort sein mit seinem Hof. Dies ist unmiß-

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verständliches Zeichen dafür, daß dieser Streit ein friedliches Ende nehmen wird. Die nun folgenden Auseinandersetzungen stehen aber nolens volens auch unter der Federführung eines anderen, sie sind Kämpfe, die ihm zur Lehre dienen sollen und schon deshalb nie und nimmer blutig enden dürfen. Gawein trifft beim Umherreiten einen fremden Ritter. Im nächsten Moment kämpft Blechbüchse gegen Bierdose, denn Gawein denkt, er habe Gramoflanz gegen sich. Sein Gegner hingegen denkt wahrscheinlich mal wieder gar nicht. So kämpfen hier Freund gegen Freund, nur daß diesmal nicht, wie im Iwein, das gegenseitige Nichterkennen auf komplizierte Weise motiviert werden muß, denn die Zerstörungswut gegenüber fremden Rüstungen ist inzwischen ja als negative Kampfschablone ohne Sinn hinreichend entlarvt und soll eben nicht mehr irgendeine Entschuldigung finden. Nur zufällig vorbeikommende Knappen retten Gawein das Leben, indem sie seinen Namen rufen. Sofort hält Parzival ein und beklagt sein Unglück. In diesem Kampf gibt es also aus Parzivals Sicht gottlob keine Attribution. Und dennoch liegt auch kein IAS vor, denn hier ist es eine noch weiter verkürzte Form, eine, wo sinnvollerweise auch die Domination unterbleibt. Das gibt hinsichtlich des Sinns jeglicher Konfrontation doch wohl zu denken. Da Gawein geschwächt ist, wird der Kampf mit Gramoflanz verschoben. Doch auch zu diesem Kampf zwischen zwei beinahe verschwägerten Rittern wird es nicht kommen, denn Parzival erscheint an seines Freundes Statt und verprügelt nun Gramoflanz, der meint, Gawein vor sich zu haben, was wir ihm nachsehen wollen, da es ja üblich ist, ständig gegen Blechgehäuse zu kämpfen. Erst das Erscheinen Gaweins auf dem Kampfplatz beendet auch diese Auseinandersetzung, ohne daß es zur Domination Parzivals kommt. Immerhin ist aus Sicht von Gawein und Gramoflanz zu konstatieren, daß beide Streithähne ihre kalte Dusche bekommen haben und endlich ans Heiraten denken können, was nach kurzen Schlichtungsverhandlungen auch feierlich in die Tat umgesetzt wird. Nur Parzival schleicht noch umher. Da begegnet er wiederum einem fremden Ritter, wiederum entwickelt sich ein harter Kampf, und wieder hätte ein Verwandter den anderen erschlagen, wäre nicht endlich Parzivals Schwert zerbrochen. Da lenkt der Gegner ein, nennt sogar zuerst seinen Namen, Feirefiz von Anjou, und im Namen seines Bruders ist Parzival erstmals fähig, sich selbst zu erkennen, zu sehen und überhaupt einmal zu sprechen. Mit diesem Kampf, den Parzival symbolisch gegen sich selbst ausgefochten hat, ist der Sinn der Konfrontation als der erste Schritt dieses unseligen Dreischritts des Aktantenschemas, den einige Filologen immer noch märchenhaft nennen, ein für allemal als atavistische Aggression entlarvt und der Zweck der folgenden Schritte, der Domination und Attribution, völlig entheiligt. Und so, jedenfalls ungefähr so, darf der Sinn der letzten drei Kämpfe verstanden werden, so sehen schon eher Kämpfe aus, die Gott gefallen, nämlich wenn sie sich selbst als überflüssig erweisen.

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Da dies der letzte Kampf Parzivals war, der letzte verstümmelte Äußerungsversuch der Erwerbsschematik, findet er zurück zur Sprache und zum Menschsein, kann er von Cundrie zum Gral geführt werden und zu seiner Bedeutung finden, die ihm zuvor so verborgen war, wie sie es jetzt für seinen Bruder Feirefiz als Heiden ist, der den Gral nicht einmal optisch wahrnehmen kann. Im Bewußtsein der Bedeutung von Leid und Mitleid kann Parzival aber die Mitleidsfrage nunmehr hilfreich stellen: als sprachliches Zeichen des Erbarmens und der Demut, nicht aber als ritterliches Angebot, die Ursache des Leids bekämpfen zu wollen, denn die Ursache auch des Leids ist Gott. Jetzt erst mag Parzival das klar geworden sein, was Gregorius so bestimmt wußte, daß Gott nicht zu erkämpfen ist, daß es keine Form des Kampfes gibt, die Gott als Besserung ansieht, es sei denn der Kampf mit sich selbst, damit man sich und seine Sünde erkenne. Die Irrungen und Wirrungen unseres Protagonisten Parzival sind zuende, und die âventiure, die sich vormals als rittergerechter Umweg erwiesen hatte, ideelle Ziele wie Ehre und Liebe zu erwerben, entpuppt sich als Holzweg, der von Gott wegführt. Wir sind damit am Ende und am Höhepunkt einer Romanentwicklung angelangt, die als Diskussion der ritterlichen Erwerbsproblematik notwendig in der religiösen Thematik ihr Ende und ihre Antwort finden mußte und so den größten und großartigsten Roman des Mittelalters schuf. Natürlich kann keine Darstellung diesem Werk gerecht werden, ja, leider erweisen sich auch vollständige Übersetzungen als nicht adäquate Sinnvermittler. Vieles ist offen geblieben, aber es sind Dinge, die sich dem interessierten Leser nach dem Einblick in die Sinnstruktur, nicht nur des Parzival, von selbst erschließen dürften, denn wer nun diesen Roman zur Hand nimmt, hat dann einen hoffentlich geeigneten Wegweiser durch die Ebenen von Erwerbs- und Symbolstruktur und kapituliert nicht gleich vor dem ersten Abenteuer WOLFRAMS, dem Abenteuer der Sprache. Wie ich aber schon angedeutet hatte, entwirft WOLFRAM neben der Zerstörung der alten Erwerbsstruktur, bestehend aus AS, IAS, KRISE und FS, eine neue Form des ritterlichen Weges, der die nutzlos gewordene Diskussion um Erwerbsfragen umgeht, indem er der KRISE, die ihren höchsten Sinn in der religiösen KRISE fand, einfach vermeidet. Eine Reprofanisierung der KRISE ist aber nun nicht mehr denkbar, nachdem sie einmal diesen Abschluß fand. Uns sollte daneben auch aufgefallen sein, daß mit den letzten vier Romanen alle Krisentypen durchgespielt und alle Instanzen bis zur höchsten durchlaufen sind. Eine sehr geschickte Wiederbelebung der KRISE werden wir erst im Willehalm von Orlens und im Partonopier und Meliur kennenlernen. Bis dahin wird das Modell des krisenlosen Romanes durchgespielt werden, das WOLFRAM, wie gesagt, in der Gawein-Handlung andeutete. Natürlich konnte es sich nur um eine Andeutung handeln, denn erstens sollte und konnte kein konkurrie-

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render Separatroman zum Parzival entstehen, und zweitens war die GaweinHandlung insbesondere mit ihrem sinnvermittelnden Ende der Symbolstruktur des Parzival unterworfen, in sie eingeflochten und damit einer selbständigen Finalität beraubt. Natürlich ist die Gawein-Handlung weder Lückenbüßer noch Kontrastprogramm; ich habe eher den Eindruck gewonnen, daß sie die Einsicht in die notwendige Rettung der âventiure darstellt, also eine Rettung des Erzählens selbst ist. Die âventiuren Parzivals nämlich entäußerten sich so sehr ihres ehemaligen Sinnes, daß sie nicht mehr äußerbar, sprich, erzählbar waren. In dem Maße also, in dem der Held zur Sprache findet, in dem selben Maße verliert die âventiure ihren Bezug zur Sprache, ist somit nicht mehr erzählbar. Es ist nun ein interessantes Gedankenspiel, sich vorzustellen, wie Parzivals letzten drei Kämpfe, die allesamt nur noch aus KONFRONTATION bestanden, die gegenüber dem IAS, dem nur die ATTRIBUTION fehlte, sogar die DOMINATION vermissen ließen, gewirkt hätten, wenn sie nicht mit Gaweins Erwerbsversuch der Orgeluse verknüpft gewesen wären. Dann wäre die âventiure pure KONFRONTATION gewesen, die mit der Einsicht, daß sie sich in ihrer Isolierung selbst den Sinn entzieht, zu Grabe getragen worden wäre. Dann hätten sich die Dichter aber verdammt viel einfallen lassen müssen, und wären sie bei der Symbolstruktur geblieben, hätte WIELANDs Agathon 500 Jahre früher verfaßt werden können. Mein Buch aber heißt nicht umsonst der âventiure meine, und nach WOLF-RAMs âventiure neine und seiner Modellvorgabe entsteht hiernach der krisenlose Roman, der nun alle Krisenklippen umschiffen muß, an denen so viele Ritter strandeten, der deshalb aber leider keine Taten mehr in den Sinnhorizont einer transzendenten Instanz betten kann, denn Gott steht als Beurteiler nicht mehr zur Verfügung, die Fee hat mit Laudine ihren Status manifestiert, ja, und der Artushof hat sich nicht mehr von Cundries Schelte erholt. Sie sehen also, die nachfolgenden Romane haben es sehr schwer, und da die mittelalterlichen Autoren, ich muß es nochmals betonen, Wiederholungen haßten, kamen für sie Variationen über die Vorgänger, Kompilationen und Zusammenstückelungen und was die Filologen ihnen noch alles unterstellten, eben nicht in Frage. Statt dessen also wagten sie den konsequenten Schritt der Ablösung von der literarischen Vorgabe, konstituerten eine neue Sinnstruktur, die das Modell der Gawein-Handlung aufgreift und als Einzelroman etabliert, und wie dies geschieht, zeigen zunächst zwei Vertreter dieser Gattung im folgenden Kapitel.

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WIGALOIS oder Ein Ideal betritt ritterliches Neuland Wer hât mich guoter ûf getân? sî ez iemenen der mich kan beidiu lesen und verstên, der sol genâde an mir begên, ob iht wandels an mir sî, daz er mich doch lâze vrî valscher rede: daz êret in. ich weiz wol daz ich niene bin geliutert und gerihtet noch sô wol getihtet michn velsche lîhte ein valscher man, wan sich niemen vor in kann behüeten wol, swie rehte er tuot. dehein rede ist sô guot sine velschen si, daz weiz ich wol. swaz ich valsches von in dol, ôwe, wem so/ ich daz klagen ? [WIGALOIS, l ff. Welch wohlgesinnter Mensch hat mich aufgeschlagen? Sollte es jemand sein, der mich sowohl lesen als auch verstehen kann, dann möge er gnädig über eventuelle Schwächen bei mir hinwegsehen, damit er mich insgesamt nicht falsch beurteile. Das ehrt denjenigen. Ich bin mir durchaus bewußt, daß ich nicht so geschliffen und wohlproportioniert bin, geschweige so gut in Verse gebracht, daß mich nicht leichtlich ein unredlicher Mensch falsch auslegte, denn vor denen ist keiner sicher, egal wie große Mühe er sich gibt. Kein Werk kann so vollkommen sein, sie würdigen es herab, das weiß ich zu genau. Doch was ich auch an Fehldeutungen erdulden muß, Jammer über Jammer, wem soll ich es klagen?] Lieber Leser, dies waren die Eingangsverse zum nun folgenden Roman Wigalois, eigentlich Gwigalois, der Ritter mit dem Rade, von WIRNT VON GRAVENBERG. Wer da gerade stöhnend zu uns sprach, die wir mit diesem Kapitel auch diesen Roman aufschlugen, war die Geschichte selbst. Wir könnten natürlich beruhigend das Buch streicheln und sagen, daß ihm niemand Schlimmes zufügen wolle, und ich bin sicher, niemand, der bis hier hin mitgelesen und mitgedacht hat, wäre zu dergleichen fähig, und wir könnten zur Tagesordnung übergehen, wenn, ja wenn da nicht die schlimmen Erfahrungen wären, die dieses Buch gemacht hat, wenn da nicht schon

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wieder die Bitte eines Buches, das vor über 700 Jahren verfaßt wurde, traurigste Aktualität und bitterste Notwendigkeit bewiese. Und wenn jedes Buch in der Lage wäre, erlittenes Unrecht herauszuschreien, im Seminar zu Göttingen hübe ein Jammern und Klagen an wie in DANTEs Inferno, aber glauben Sie mir, das Johlen der Filologen macht das Arbeiten dort nicht angenehmer. Wenn wir uns fragen, was denn überhaupt geschehen ist und wie es dazu kommen konnte, liebe Geschworene, ich kann nur wieder mit dem Finger auf die überfüllte Anklagebank weisen und fragen: Sehen Sie die, auf die solches zuträfe, hier im Gerichtssaal. Es darf niemand von mir verlangen, die Summe einer Forschung zu referieren, die so inhaltslos ist, daß ich meine Phantasie überlasten müßte, mir dazu etwas einfallen zu lassen, was immerhin so viel Sinn vermittelt, daß wir damit etwas anzufangen wüßten. Das Versagen der Forschung abzuschildern fällt mir schwerer, als es WOLFRAM erscheinen mußte, das Versagen der âventiure zu erzählen. So viel aber wollen wir uns rückblickend vergegenwärtigen. Bislang wiesen alle besprochenen Romane einen signifikanten Punkt auf, an dem der Held etwas, das er erworben hatte oder von dem er glaubte, es erworben zu haben, wieder oder überhaupt verlor. Im Lanval, im Herzog Ernst, im Erec, im Iwein, im Gregorius und im Parzival war dieser Punkt klar als KRISE erkennbar. Was wir inzwischen darüber aber wissen, davon hat nur leider die Forschung keinen blassen Schimmer, wir müssen, um das Folgende einigermaßen nachvollziehen zu können, uns mal wieder ganz dumm stellen. Was die oben genannten Romane so beliebt machte, war ihre deutliche Zweiteilung: Es gab also ein Vorher und Nachher, ein Falsch und Richtig, ein sic et non und ein Entweder Oder. Es gab selbstverständlich keine Zweifel an der Reihenfolge, somit auch kaum Probleme mit der Wertung an sich, wir können gratulieren. Über diese Zweiteilung hinaus ging der sichere Boden aber auch schon merklich in Glatteis über, was man daraus an Deutungen gewann, ist für den normalen Gebildeten härteste Prüfung des Verstandes, Zerreißprobe des besten Willens. Da man die Rittertaten nicht differenzieren konnte, sahen die Kämpfe vorher und nachher, kurz in jedem Roman vor und nach der KRISE alle gleich aus. Da man sich aber auf die angenehme Digitalisierung verständigt hatte, mußte es rinks und lechts von der KRISE Unterschiede geben, und die konnten in den Augen unserer braven Filologen nun auch einfach alles sein. Jeder denkbare Charakterzug war deutbares Kriterium für eine KRISE, gefördert noch durch die Pseudomotivierungen der Autoren. Das Rätselraten hatte begonnen, Digitalität legitimierte jeden noch so subtilen Unterschied als Gesamtinterpretation. Diese lustige Lawine polterte also verheerend ins Tal und... aus! Da war der andere Berghang, bestehend aus krisenlosen Romanen, und Ironie der Geschichte oder nicht, das Fehlen der KRISE im Roman löste eine solche bei den Filologen aus.

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Die hätten's nimmer zugegeben, und kost' es sie das eigne Leben. So blieb man bald ein gutes Stück hinter'm Wissenszugzurück. Der wäre zwar auch so ohne sie abgefahren, aber die Literaturwissenschaft, um Notopfer nicht verlegen, belegte diese Romane mit dem klarsichtigen Etikett epigonal, befestigte es mit einem Draht am rechten Zeh und hoffte auf die forensische Wissenschaft. Lieber Leser, wir müssen uns das einmal ganz deutlich vor Augen führen. Abgesehen davon, daß ein Blinder mit dem Krückstock dazu in der Lage ist, die Werke von HARTMANN und WOLFRAM als klassisch zu bezeichnen, reicht die Kompetenz der Filologen nur so weit, alles andere als nachklassisch zu bezeichnen. Und wieder wundert sich niemand, daß die Methode, die früher wenigstens so etwas wie formulierbare Ergebnisse zeitigte, hier völlig versagt. Welch fadenscheinige Neurosen hinter einer derart stümperhaften Literaturbetrachtung stecken müssen, kann jeder selbst erraten. Jede andere Wissenschaft hätte ihre Methode untersucht und verworfen, die Filologie hatte aber keine, also wurde das Forschungsobjekt kaltgestellt. Während sich nun die Literaturwissenschaft ihr eigenes Grab schaufelte, das gleichwohl für ihr Objekt gedacht war, stieß man unversehens auf unnachgiebigen Fels, das Anstehende machte weiteres Graben unmöglich. Umgedeutet in die Realität, war eben das geschehen, was voraussehbar war, es war alles in allen denkbaren Kombinationen gesagt. Alle Erkenntnisse schienen gesammelt, das letzte Wort war erfaßt und mehrfach umgedreht. Wir verdanken dieser Tätigkeit solche Schätze wie: ARENDT,

Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik

BAMBERG,

Die Sentenz in der erzählenden Dichtung Hartmanns von Aue

BANGERT,

Die Tiere im altfranzösischen Epos

BODE,

Die Kampfschilderungen in den mittelhochdeutschen Epen

BODENSOHN, Die Festschilderungen in der mittelhochdeutschen Dichtung BOESCH,

Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung

BOLLINGER,

Das Tragische im höfischen Epos

BRACHES,

Jenseitsmotive und ihre Verritterlichung in der deutschen usw.

BRINKMANN, Zu Wesen und Form der mittelalterlichen Dichtung BRÜCKL,

Betrachtungen über das Bild des Weges in der höfischen usw.

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Das sind nur einige bis B aus der Bibliographie einer Dissertation, und unsere Phantasie sollte ausreichen, uns vorzustellen, daß nach dem Abbau gewisser Hemmschwellen allenfalls noch Arbeiten über den Furz bei RABELAIS, FISCHART, GRIMMELSHAUSEN und BEER erscheinen werden. Mit solchen Studien kann man Doktor werden, aber wie, verdammt, kann man sich habilitieren? Und bevor sich unsere Professoren in spe einfach über die Kochkunst ihrer Gattinnen habilitierten, erinnerte man sich der nachhöfischen Romane, taute sie auf, wurde notgedrungen warm mit ihnen, und bald galt es als richtig schick, schon mal was von BERTOLD VON HOLLE gelesen zu haben, das waren echte Geheimtips für die, die sich an das Numinose wagten, aber ach, das war nichts als ein Etikettenschwindel, nicht klassisch und epigonal wurde jetzt lediglich ersetzt durch nachhöfisch. Mit irgendetwas mußten auch hier die Seiten zwischen den Buchdeckeln gefüllt werden, und daher gebe ich Ihnen zum Warmwerden die Habilschrift von CORMEAU. Seine These, wie das Fehlen jeglicher Sinnachse in Form einer Krise dennoch Sinn vermitteln kann, lautet, daß das Publikum, Krisenromane nunmehr gewöhnt, diese Erfahrungen einfach dazudenkt, daß man nun sozusagen einen Kurzroman schreibt, in dem das Neue nur die Differenz zum Alten ist, das bereits im Erwartungshorizont des Publikums verankert ist, oder wie er das ausdrückt: Das Ergebnis des typischen Aventiurewegs ist in der Erwartung so präsent, daß die Perspektive der typgemäßen Ruhelage im Ziel beständig schon in den erzählten Prozeß hineinzuwirken beginnt. Dadurch ist also alles früher Erzählte eine beständige Folie, vor der sich das Neue nicht nur abspielt, vielmehr kann man ohne detaillierte Kenntnis aller Vorgänger überhaupt keinen Sinn konstruieren, denn der krisenlose Roman besteht eigentlich nur aus lauter Leerstellen, in die etwas Passendes aus den Vorgängern eingefügt werden muß, damit man weiß, was Sache ist. Es leuchtet ein, daß ein vermeintliches Textverstehen, das nur nach der Methode akribischer Stellenverweisversatzstückbastelei funktionieren soll, so recht in den Kram der Filologen passen muß, die einen Text, der ihnen genuin unverständlich bleiben muß, zu einem Notkonstrukt degradieren, das erst nach mehrjähriger Forschungstätigkeit einen, dann auch noch, unglaublich debilen Sinn offenbaren muß. Sie, verehrter Leser, können nun unschwer nachvollziehen, weshalb Sie solche Romane nie lesen konnten; sie sind nämlich eigens für Filologen verfaßt worden, denen es allein obliegt, nach langjähriger Schulung in mehrjähriger Forschungsarbeit zu entdecken, daß sie so kompliziert sind, daß nur sie selbst einen Sinn darin zu entdecken in der Lage sind, wodurch es wie eine glückliche Fügung erscheinen muß, daß wir heute die Filologen haben, die man vor 700 Jahren geplant hat. Dann ist der

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Filologe ganz klar im Sinne DARWINs eine notwendige Mutation aufgrund verschlechterter Textbedingungen. Was CORMEAU da schreibt, ist unglaublich gelehrt, kein Gewährsmann, den er vergäße, eine wahre filologische Materialschlacht, enorm wissenschaftlich und fundiert, was stört es da, daß seine Hypothese wie sein Ergebnis plattester Unfug sind. Ein Beispiel mag ihnen das Absurde deutlicher machen: Stellen Sie sich vor, der FC Nürnberg hätte noch nie auswärts gegen B. München gewinnen können. Dann darf man CORMEAUs These nach das Spiel ohne die Nürnberger anpfeifen, die einfach zu Hause bleiben, weil sie eh verlieren. Die 50.000 Zuschauer auf den Rängen stört es aber nicht, daß nur Bayern auf dem Feld sind und Tore schießen, man denkt sich die Nürnberger ganz einfach dazu. Vielleicht, um die Sache spannender zu machen, schießt dieser oder jener Bayer sogar ein so grandioses Eigentor wie CORMEAU, unser Beifall sei ihm gegönnt. Mehr aber sage ich zu dieser Hirndrainage nicht. Die traurige Bilanz der Forschungsentwicklung ist die Neubewertung der Unfähigkeit. Galt zuvor der mittelalterliche Dichter für unfähig, so gelingt es dem Filologen jetzt, aus seiner eigenen Unfähigkeit heraus eine Interpretation zu begründen. Ich bin unentschieden, welchem Streich ich den Distelkranz zusprechen soll. Daß, nebenbei gesagt, CORMEAU das gesamte Phänomen des höfischen Romans nicht verstanden hat, nichts von alledem weiß, was Sie bislang gelesen haben, macht die Angelegenheit nur noch erschreckender. Derselbe CORMEAU aber nun, der diese nachgerade unverschämt unsinnige Deutung des krisenlosen Romans vorgenommen hat und das Wagnis eingegangen ist, derlei in einer Habilschrift vorzustellen, konnte sich naturgemäß mit meiner Theorie nicht mehr so recht anfreunden, wie es seine Rezension im Anhang belegt. Das darf uns eigentlich auch nicht weiter verwundern, und überhaupt lohnt es kaum, Gründe dafür im wissenschaftlichen Horizont dieses Herren zu suchen, begnügen wir uns mit der Einsicht, daß jemand, der seine gesamte Energie darauf verwandte, zu beweisen, die Mondkrater seien auf die bislang unberücksichtigt gelassene Mondakne aus der Pubertärzeit unseres Sonnensystems zurückzuführen, sich schlechterdings toub unde blint stellen muß, wenn er von Meteoriten hört. Nun könnten wir uns mit der Hoffnung trösten, nicht in jedem Falle mache der Unrat den Professor, derlei seien individuelle Entgleisungen, bedauerliche Einzelfälle - leider sind sie es nicht! Wer zudem meint, solcher Unfug falle von selbst nach kurzer Frist dem gnädigen Vergessen anheim, der irrt, wer glaubt, so geartete krasse, wissenschaftliche Fehlleistungen würden binnen kurzem ausgemerzt, richtig gestellt oder einfach endlich verworfen, der kennt wohl die nun dokumentierte Klüngelei im Unibetrieb nicht. Ich hatte das unverschämte Glück, in der Ausgabe von CORMEAUs Habil-schrift, die ich antiquarisch erwarb, ein bedeutsames Briefchen zu finden, und sollte ich

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eteswenne an mir zweifeln und glauben, an der so überaus kompetent klingenden Verurteilung meiner Theorie seitens dieses Herren könne ein Quentchen Wahrheit sein, ich krame flugs dieses Dokument hervor, lese und schmunzle. Das Fazit muß zunächst lauten, daß es erstens gewissermaßen unhöflich und zweitens hochgradig naiv ist, einem Professor, der ja nun ungemein stolz auf seine Habilschrift ist, eine popelige Examensarbeit zur objektiven Beurteilung vorzulegen, in der seine Theorie aus Platzgründen zwar nicht ausgeführt, dafür aber kurz und schlüssig widerlegt wird. Was darf man da mehr erwarten als den tränenerstickten Satz: Einfache Umkehrung des Krisenromans - was macht das für einen Sinn? Man wird dereinst ein Bombengeschäft machen können, wenn man amtlich gestaltete und mit wichtigen Stempeln versehene Vordrucke für Armutszeugnisse zum Verkauf anbietet, ich glaube, wir hätten uns noch viel zu sagen. Was es hinsichtlich des folgenden Dokumentes aber nachzuweisen gilt, ist die Tatsache, daß es geradezu irrwitzig ist, bei der Beurteilung seiner Forschungsergebnisse seitens anderer an eine wie immer geartete wissenschaftliche Kompetenz bei Filologen zu appellieren. Dies ist nicht allein deshalb der unsicherste Weg, als die allenfalls ontologisch nachzuweisen wäre, nein, vielversprechenster Weg ist da, schlicht an die Eitelkeit solcher Leute zu appellieren. Wie fatal sich nämlich aus den Komplementen Inkompetenz und Eitelkeit diese wissenschaftliche Unredlichkeit bildet, zeigt der Dankesbrief CORMEAUs, der nichts anderes ist als ein Blankoversprechen, völlig unbekannte Forschungsergebnisse wohlwollend zu rezensieren, weil die Adressatin durch ihre Rezension entsprechende Vorausleistungen erbracht hat.

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INSTITUT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE UNIVERSITÄT MÜNCHEN

8000 MÜNCHEN

7.10.1980

SCHELLINGSTRASSE 3

Prof. Dr. Christoph Cormeau



┐ Frau Beate Schmolke Seminar für Romanische Philologie der Universität Göttingen Nikolausberger Weg 23 3400 Göttingen





Liebe Frau Schmolke, über Ihre Rezension habe ich mich sehr gefreut. Sie haben mein Erkenntnisinteresse aufgegriffen, was ich nicht von allen Rezensenten sagen kann. Ich habe mich auch sehr ge freut zu hören, daß Ihre Arbeit jetzt erschienen ist, auf die ich natürlich sehr gespannt bin. Ich finde, sie muß unbedingt auch von den Germanisten rezipiert werden und werde mich gleich bei einer unserer renommierten Zeitschrift um eine Rezension bewerben.

Mit herzlichen Grüßen Ihr

Anlagen: Sonderdruck

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Es wäre ein fataler Fehler, direkt dazu zu sagen, eine Krähe hacke der anderen schließlich kein Auge aus, denn dies könnte als Beleidigung ausgelegt werden, aber wenn man sich die Krähen als blind vorstellt, wie sollen sie erstens treffen, und auf was sollen sie zweitens zielen. Machen wir uns lieber noch einmal klar, weshalb die Krise wegfällt, und ich erkläre Ihnen, wie so ein Roman dennoch mit unseren probaten Mitteln erklärt werden kann. Wir haben miterleben können, wie in den letzten Romanen der ritterliche Erwerb kritisch diskutiert worden ist bis zu dem Punkt, wo es keine Besserung mehr geben konnte. Damit ist der relativen Betrachtungsweise und der daraus folgenden Erzählweise endgültig der Boden entzogen. Dennoch macht ja das Lesen von ritterlicher âventiure Spaß, womit der konsequente Schritt von der relativen zur absoluten Betrachtungsweise gehen mußte. Der Held ist von jetzt an absolut, er macht keine Fehler, er ist ideal, ja so ideal, daß ihn keine der alten Instanzen mehr bewerten kann, Instanzen, die, wie der Artushof, längst ihre Position verloren haben. Hier aber, lieber Leser, liegt das einzige Manko dieser Romanform: es gibt nun nicht mehr das, was wir als höheres Ziel betrachten könnten, es fehlt die doppelte Sinnkonstituierung für das IAS, das zuvor einerseits Bedrängten Hilfe brachte, andererseits aber indirekt für unseren Helden ein gutes Wort bei der Instanz einlegte. Von nun an hat es wenigstens im Wigalois den Anschein, als sei alles Kämpfen seitens des Helden einzig und allein auf ein profanes Erwerbsziel gerichtet. Wenn dieses einzige Ziel erreicht ist, ist der Roman auch schon zuende, aber wir werden sehen, wie WIRNT sich jede Mühe gibt, dennoch mehr hineinzulegen, das Ziel mithilfe des Weges des Helden zu legitimieren, ja, schließlich sogar das Ziel selbst ziemlich überraschend neu zu definieren. Da hier erstmals mit dem neuen Modell experimentiert wird, weil hier besondere Sorgfalt seitens des Dichters vorliegt, möglichst unmißverständlich zu sein, sind die TECHNIKEN um so deutlicher zu erkennen, ist unser Vergnügen, diese aufzuspüren, die Dirigierung durch den Dichter aufzudecken, nur noch reizvoller. Das fängt gleich mit der größten Schwierigkeit an, mit der eigentlich unscheinbaren Frage, woher so ein idealer Ritter kommen kann, wessen Kind, wes Geistes Kind er somit ist. Auf die Frage, wer wohl der beste und tugendhafteste Ritter der Tafekunde sei, wird die Antwort einhellig Gawein lauten. Das ist richtig, aber die Sache hat einen Haken, Gawein können wir für diesen Roman nicht gebrauchen, denn er ist zu sehr Symbolfigur, er hat keine eigentliche Vita, nur eben Symbolwert, der ihn in vielen Romanen einsetzbar machte. Es wäre ein noch nicht vollziehbarer Traditionsbruch, würde man ihn zum Protagonisten machen, denn wo läge die Spannung, wenn das Symbol der Ritteridealität nicht Parameter und Meßlatte ür andere Ritter wäre, sondern sich und seine Idealität auf die Probe stellen müßte, dann nämlich verlöre der

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Symbolwert der Idealität selbst seine Aussagekraft, könnte also nicht mehr der Ausgangspunkt eines Romans sein, der Idealität voraussetzen muß, weil der Artushof seine Rolle als Instanz ausgespielt hat. Zudem ist Gawein als der Vertreter der Artusidealität, als Meßlatte der Tugend, dann doch zu konstant. Das bedeutet auch, daß er, genau wie die Instanzenrolle des Hofes, nicht weiterentwickelbar ist. Galt er zuvor als Zielpunkt einer Entwicklung, so ist er von nun an der Ausgangspunkt, seine Funktion als Parameter bleibt also erhalten, nur steht sie nicht am Ende, sondern am Anfang des Romans. Wir können also sagen, das alte Artusideal ist tot, lang lebe das neue. Dies also nur die Überlegungen, weshalb Gawein nicht unser Protagonist sein kann. Wir wissen aber, daß es sein Sohn namens Wigalois sein wird, weil dadurch sinnvollerweise an die Idealität Gaweins angeknüpft werden kann. Daher lautet unser, beziehungsweise WIRNTs Problem, woher man einen Sohn nehmen könnte. Dieses Problem ist aber noch größer als das erste. Lachen Sie nicht, auch wenn Sie Gawein inzwischen als erfolgreichen Schürzenjäger kennen, laufen noch lange nicht etliche Bastarde am Artushof herum. Bis überhaupt Bastarde eines Schürzenjägers in eine Handlung eingreifen dürfen, wird es bis zum Huge Scheppel der ELISABETH VON NASSAU-SAARBRÜCKEN bis zum Jahre 1440 dauern. Ich ahne, daß einige unter Ihnen vorschlagen, er könne doch das Kind aus der Ehe mit Orgeluse sein. Geht nicht. Erstens hatte die Gawein-Handlung im Parzival eher kontrastive und ergänzende Funktion, Orgeluse wird nie wieder auftauchen, auch sie war Gattin eines Symbols. Viel schwerwiegender aber ist dieser Grund. Die Ehe und die Hochzeit, kurz der vollendete Erwerb einer Frau mit allen Folgen, ist das Thema eines ganzen Romans, eines in sich abgeschlossenen Zyklus'. Dann aber wäre die Geschichte, wie Gawein einen Sohn bekommt, ein abgeschlossener Roman für sich. Erst der nachfolgende Roman könnte sich mit Wigalois beschäftigen. Zwei Romane in einen zu pressen, also den Zyklus zweier Helden nacheinander zu behandeln, war nicht denkbar. Ebenso wenig denkbar wäre es gewesen, sich über die reine Tradition der Vorgänger bei denen noch nicht nachgewiesene Nachkommen auszuborgen. Geschichten hinzufabulieren geht aber nur beim EPOS. Zum Willehalm wurden die Vorgeschichte Arabel, und die Nachgeschichte Rennewart geschrieben. Ein Roman aber ist eine abgeschlossene Handlung, die keine Ergänzung zuläßt. Erinnern Sie sich jetzt bitte einmal an die Gahmuret-Geschichte im Parzival. Man benötigte zwei Söhne von Gahmuret, folglich mußte dieser zwei Frauen erwerben. Da WOLFRAM über ihn aber keine abgeschlossene und abgerundete Geschichte schreiben durfte, mußte Gahmuret, Sie werden mit Bedauern daran zurückdenken, ganz einfach sterben. Auch dieser Weg kann hier nicht beschrit-ten werden, so tot die Artusidealität auch ist, sterben kann sie nicht. Symbole sterben im Zuge der Literaturentwicklung, nicht in der Literatur. Also kann Gawein nicht einfach kurz eine Frau erwerben, diese schwängern, dann sterben, weil man seine Geschichte nicht abrunden will, die

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ja dann automatisch ein eigener Roman sein müßte. Eine Schwängerung zwischen Tür und Angel wie bei Antikonie wäre aber auch kein gelungener Start für einen Helden, dessen Idealität die des Vaters übertreffen soll. All diese Probleme mögen WIRNT durch den Kopf gegangen sein, und da er kein epigonaler Stümper ist, wie unsere Dummerle vom akademischen Dienst glauben, ist ihm auch eine geniale Lösung eingefallen. Wenn Sie aber glauben, ich würde Ihnen irgendeinen Schwachsinn referieren, der aus den Federn der gerupften Forschung geflossen ist, dann irren Sie, was aber ganz verzeihlich ist. Ich hätte dies wirklich gern unternommen, aber es ist deshalb unmöglich, weil niemand in seiner Habilitation Fragen aufwirft, die er ohnehin nicht beantworten kann. Hier gibt es leider kein blindes Motiv, nur eben ..., na, Sie wissen schon. Nach dieser gewißlich etwas anstrengenden Einführung werden Sie vielleicht auch König Artus besser verstehen, von dem es heißt: Nu het der künic einen sit da was sin hof getiuret mit daz erze tische nie gesaz des morgens, e er eteswaz von äventiure het vemomen. eins tages was ez also körnen, daz doch selten da geschach daz man niht äventiure sach unze wol nach mittein tage; daz was des Ingesindes klage; [WIGALOIS, 247 ff. Nun hatte der König folgende Angewohnheit, die auch seinen Hof auszeichnete, daß er sich morgens nicht zu Tisch begab, ehe er nicht irgendetwas zum Thema äventiure vernommen hätte. Es begab sich nun eines Tages, was gottlob selten der Fall ist, daß auch bis zum Nachmittag einfach keine äventiure in Sicht war. Das war allen Grund zu schlechter Laune.] Wir brauchen uns dem Hungerstreik von Artus nicht anzuschließen, und wer immer bereits fragte: Ja, wo bleibt sie denn, die äventiure, der sei getröstet, drei Zeilen weiter beginnt sie schon. Ein Ritter erscheint am Hof, der Königin Ginover einen Gürtel schenken möchte, der einer Dame wie ihr gut stünde. Sie soll ihn wenigstens bis morgen behalten, lehne sie ihn dann ab, so wolle er ihn zurückerkämpfen. Die Frage, wonach größerer Bedarf besteht, nach Gürteln oder nach Kämpfen, ist für uns mittlerweile leicht zu beantworten. Man, besser Gawein, findet einen Grund, das Geschenk abzulehnen, und kann wieder getrost essen.

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sôn geschach hie âventiure nie. [WIGALOIS, 440. Auf diese Weise war âventiure hier noch nie abgelaufen.] die von der tavelrunde sprâchen mit einem munde "wâ nu schilt unde sper! harnasch und ors her!" [WIGALOIS, 445 ff. Die Ritter der Tafelrunde riefen unisono: "Wo sind denn nur wieder Schild und Speer! Her mit Pferd und Rüstung!"] Ich erinnere mich in diesen Situationen immer an den Spielfilm mit Jerry LEWIS, er hatte den deutschen Titel Das Mondkalb. Die Verbindung zwischen der Bodenstation der NASA und dem Astronauten auf der Mondbasis war ständig gestört, und ständig sah man kurz die immer gleiche Szene: Indianer umkreisen kreischend eine Wagenburg. Da fixiert die Kamera einen, der wird getroffen, schreit lauter und fällt vom Pferd direkt vor die Kamera. Nach der zweiten oder dritten Störung dieser Art hieß die lapidare Bemerkung seitens der NASA nur noch: "Gleich fällt wieder dieser verdammte Indianer vom Pferd!" Nach dieser Einführung dürfte allen klar sein: Keie reitet wieder. Aber nicht lange, schnell hilft ihm die Schwerkraft auf den Boden der Tatsachen zurück. Damit sollte uns inzwischen klar sein, daß der Sieger etwas anderes im Sinn hat als aktantiellen Erwerb. In kurzer Zeit gehen alle Ritter der Tafelrunde denselben Weg, bleibt nur noch einer übrig, Gawein selbst. Aber man höre und staune, auch der wird nach längerem Kampf besiegt und muß sich ergeben. WIRNT tut das sichtlich leid, aber wie wir sehen werden, ließ es sich nicht vermeiden, zudem verleiht jener Gürtel übermenschliche Kräfte, womit Gawein denn auch dispensiert ist. Sofort zieht er Gawein in sein Zelt und reitet mit ihm davon, ohne den Hof über irgendetwas aufzuklären, der nun meint, Gawein sei erschlagen worden. Der Ritter erweist sich aber als überaus höflich, er klärt Gawein über die Kräfte des Gürtels auf und schenkt ihm diesen. Nur mithilfe dieses Gürtels kann man nun aber auch in das Feenland gelangen, in dem der Ritter herrscht. Dort hat er eine zauberhafte Schwester, die heiratet Gawein gern, der Rest ist für ihn Routine. Er zeugt einen Sohn und verläßt eines Tages, um mal nach seinen Kumpels zu sehen, seine Frau. Dabei vergißt er den Gürtel und kann nie wieder zurückkehren. Alle Versuche scheitern:

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sus reit er umbe ein ganzez jâr unz er diu laut älliu gar vor den bergen durch reit. daz was ein verlorniu arbeit: als ichz ofte hân vemomen, in daz lant moht niemen komen ern hêt den gürtel den er lie sînem wîbe, dô er die aller jungest mit jâmer sach. [WIGALOIS, 1190 ff. Dergestalt ritt er wohl ein ganzes Jahr umher, bis er alle Länder vor dem Gebirge durchstreift hatte. Aber das war verlorne Liebesmüh: Wie ich immer wieder hörte, konnte niemand dieses Feenland betreten, wenn er nicht den Gürtel trägt, den er aber bei seinem Weibe vergaß, das er kürzlich traurig zurückgelassen hatte.] So geschickt also bekommt man einen Filius von Gawein. Nicht er erwirbt eine Frau, er wird selbst erworben, was aber freilich selbst eher an ein IAS erinnert, da ihm nichts genommen, sondern gegeben wird. Dadurch aber sind alle Hürden überwunden, die wir zuvor ermittelt haben. Damit Gawein aber nicht auf der faulen Haut herumliegt oder gar als Symbol für immer im Feenlande verschwunden wäre wie unser Lanval, macht er einen Kurzurlaub, von dem er nie wieder zurückkehren kann. Auf diese Weise ist auch gleich die nötige Trennung zwischen Vater und Sohn motiviert, ohne daß Gawein sein Leben lassen muß. Wigalois soll aufwachsen, ohne von seinem Vater zu wissen, ganz ähnlich wie Parzival. Und da er über seinen Vater hinauswachsen soll, ist es nur einsehbar, daß er nicht von ihm erzogen wird, denn nie hörte ich von einem Ritter sagen, der unter Vatis Aufsicht große Taten vollbracht hätte. hie lâze wir den rîter wesen und sagen wiez dem kinde ergie. [WIGALOIS, 1220 f. Nun lassen wir den Ritter (Gawein) beiseite und sagen, wie sich sein Sohn entwickelte.] Der entwickelt sich prächtig, wächst doppelt so schnell heran wie andere, wird in allen Bereichen vorzüglich unterrichtet, ist sittlich und körperlich gefestigt und macht grundsätzlich alles richtig. Auch mit dem Ritterhandwerk wird er vertraut gemacht, und so können wir unschwer merken, hier gedeiht kein zweiter Parzival. Da er immer viel von seinem Vater gehört hatte, möchte er ihn suchen und:

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ich wil benamen hinnen varn, in mîner jugent erwerben daz daz man mich von rehte baz erkenne danne ein andern man, als mîn vater hât getân. [WIGALOIS, 1294 ff. Ich will unbedingt hinausfahren, in meiner Jugend dafür Sorge tragen, daß ich mir einen Namen mache (wörtl.: daß man mich wegen meiner Taten besser kennt als andere), wie es mein Vater immer tat.] Die Mutter gibt ihm den Gürtel mit auf die Reise, den Gawein vergessen hatte, Wigalois zieht hinaus und kommt schließlich an den Artushof. Dort läßt er sich auf einem schönen Stein nieder, mit dem es folgende Bewandtnis hat: sô grôziu tugent an im was, daz deheiner slahte man der ie deheinen valsch gewan die hant niht mohte gelâzen dran. [WIGALOIS, 1485 ff. Der war so Inbegriff der Tugend, daß niemand, der je auch nur den kleinsten Fehler begangen hat, die Hand darauf legen konnte.] Da also setzt sich Wigalois drauf, wo sein Vater so gerade mit der Hand hinlangen kann, von anderen ganz zu schweigen. Dieser Stein ist also ein etwas deutlicherer Indikator als das Lachen der Cunneware. Deutlich ist dadurch, daß wir es mit einem Überritter zu tun haben, der nie einen Fehler gemacht hat, der überdies auch keinen machen wird, und viele von Ihnen werden nun beklagen, daß wir mit so einem Yuppie nicht recht warm werden können. Nun, ich meine, das sollen wir auch nicht. Ich finde dies ungefähr genauso langweilig wie Sie, aber uns soll hier immer eher das Verfahren des Konstruierens interessieren, erst in zweiter Linie die Handlung. Bedenken Sie aber bitte, dass WIRNT eigentlich gar keine andere Wahl blieb. Der Krisenroman hatte abgedankt, diese Romankonstruktion bot einfach auch keine Variationsmöglichkeit mehr, andererseits waren Artusromane ungemein populär, wer dort neue Geschichten schrieb, hatte seine Tantiemen sicher. Überdies haben wir es hier mit einem Prototyp zu tun, wir werden sehen, daß seine Nachfolger sich bereits mehr einfallen ließen. Alles, was uns im folgenden erstaunen muß, ist die Tatsache, daß Gawein und Wigalois sich nicht erkennen, daß wohl auch niemand Gawein bei seinem Namen zu rufen scheint. Das mag uns wundern, sollte uns aber nicht zu viel zu denken geben! Auf keinen Fall darf man daraus Schlüsse über die Umgangsformen bei Hofe ziehen, denn hier, wie im Galmy, spielen andere, TECHNISCHE Gesichtspunkte eine tragende Rolle. Auch wenn Gawein nun die Erziehung des Wigalois bis zur Schwertlei-

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te übernimmt, man sich womöglich mit Namen nennt, selbst wenn Wigalois alles das, was auch wir wissen, über seinen Vater erfahren hat und sich an drei Fingern abzählen können müßte, daß der beste Ritter des Artushofes mit seinem Vater identisch sein muß, es darf einfach nicht sein. Erinnern Sie sich einfach an das Ziel, das Wigalois mit seiner Vatersuche verbunden hatte. Genau, einen Namen wollte er sich machen. Es wäre aber für die Geschichte einerseits ein wenig ungeschickt, wenn diese beiden Ziele gesplittet würden, wenn sozusagen jedes Einzelziel seinen Weg bekäme, andererseits wäre es problematisch, in einem Roman, wo es schon schwer genug ist, Spannung zu erzeugen, eine schnell abzubauen, ohne daß Wigalois womöglich irgendetwas dafür getan hätte. Ein letzter Grund könnte mithin auch sein, daß Wigalois sich so wortwörtlich seinen Namen machen muß, daß jeder Eindruck vermieden werden muß, er könnte durch allzu rasches Erkennen seiner Herkunft seinen Impetus verlieren. Hier, wie so häufig schon, wird also wieder einmal deutlich, daß der Sohn den Vater und der Vater den Sohn nicht etwa deshalb nicht erkennt, weil sie sich nicht mit Namen nennen, sondern sie nennen sich nicht mit Namen, weil der eine noch keinen hat, der andere aber niemals von den Taten berichten könnte, die seinen Namen begründen, denn Gawein hat nur Erfolgserlebnisse, und bekanntlich redet man davon nicht. Ich hoffe, Sie glauben mir das, aber so kompliziert hat man im Mittelalter gedacht. Das ist das, was man gemeinhin ALTERITÄT nennt, und man kann den Bogen so weit spannen, daß man eine Beziehung erkennen kann, denn wenn sich das Unerkannte allzu schnell einen Namen macht, ohne daß etwas dafür getan wurde, steckt hier wie da einfach nichts dahinter! Geben wir Wigalois die Chance, sich einen Namen zu machen, für uns braucht das Andersartige keinen Namen, denn erstens können wir es erklären, und zweitens verbergen sich so viele Dinge dahinter, daß ein Name gar nicht ausreichte. Die Filologen aber haben nur noch einen Ruf, und den nicht einmal mehr zu verlieren, kurz, sie haben verschissen. Da kommt auch schon die Chance für Wigalois herangeritten, wunderschön ist sie, mit allen Attributen, die eine tolle Frau benötigt. Sie hebt an zu sprechen: "herre her künic, mich hât gesant mîn vrouwe her in iuwer laut; ir dienst hât si iu enboten. bi deheinem ändern boten wolde si iuz enbieten. ir vriunde ir daz rieten daz si helfe suochte hie: von disem hove sagt man ie wie vrume rîter hie waeren, und daz si niht verbaeren

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deheiner slahte manheit. nu sî iu offenlîch geseit ein groziu âventiure; diu ist vil ungehiure und bitter, gelîch dem tôde gar. wer vehten welle, der hebe sich dar! des vindet er dâ vil guot stat. er wirt sîn am zwîvel sät, wan dâ ist manger tôt gelegen." [WIGALOIS, 1755 ff. "Großer Herr und starker König, meine Herrin hat mich in Euer Reich geschickt; sie bietet Euch an, für sie einen Dienst zu leisten. Durch keinen anderen Boten wollte sie es Euch ausrichten. Ihre Berater überzeugten sie, hier um Hilfe nachzusuchen. Von diesem Hofe ist bekannt, was hier für begnadete Ritter seien, denen es an keiner männlichen Eigenschaft mangelt. Nun will ich Euch frank und frei von einer âventiure berichten; die ist so unglaublich und schrecklich, nur mit dem Tod zu vergleichen. Wer den Kampf nicht scheut, der eile hin! Davon findet er dort genügend auf der Stelle. Zweifelsohne kann er da den Bauch voll genug bekommen, denn da sind schon etliche auf der Strecke geblieben."] Wer sich zuerst meldet, darf mit der Erlaubnis von Artus gehen. Wigalois hatte den Finger zuerst oben, er darf ziehen. Das gefällt der Dame ob der Jugend des Wigalois überhaupt nicht, und händeringend zieht sie von dannen, denn im Gegensatz zu uns will sie niemanden, für den so aber auch gar nichts spricht. Sie sehen, hier muß bald jemand Taten folgen und sprechen lassen, wir bewegen uns wieder auf vertrautem Terrain. Wigalois aber wird rasch gewappnet und eilt hinterher. Nach einigem Hin und Her akzeptiert sie seine Begleitung und fragt ihn, wo man über Nacht unterkommen könne. Wigalois hat von einem Ritter in der Nähe gehört, wo man dies erlangen könnte, der hat nur die Unsitte, jeden, der da unterkommen will, erst zum Zweikampf zu bitten und nur dem Sieger das Bett zu machen. Na, da kann Wigalois ja mal beweisen, was er für ein Kämpfer ist. Steigen wir gleich voll ins Kampfgeschehen ein: si künden sich beide wol bewarn; iedoch sô stach der junge gast sîn sper daz ez durch in brast ander halbe eins klâfter lanc. ez geschach ein teil ân sînen danc daz er in alsô hêt erslagen; daz wil ich iu vür wâr sagen, wand er begundez von herzen klagen.

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[WIGALOIS, 1995 ff. Beide verstanden sich aufs Kämpfen; leider stach nun der junge Gast (Wigalois) seine Lanze derart, daß er durch seinen Gegner hindurchbarst, so die zweite Hälfte (anderthalb = 1,5) eines Klafters lang. Das hatte er natürlich so nicht vorgehabt, daß er ihn gleich erschlägt. Glaubt mir, denn er bereute es von Herzen.] Das stört die Burgbewohner herzlich wenig, die wollen Rache üben, Wigalois und die Dame müssen fliehen, iss nix mit Nachtlager! Na, haben Sie eine Ahnung, weshalb unserem Musterritter dieses Mißgeschick zustößt? Man könnte ja einwerfen, er hätte seine Trefflichkeit todsicher unter Beweis gestellt, eigentlich müßte auch die Dame, die er begleitet, ganz zufrieden sein, statt dessen flucht sie ganz undamenhaft und redet gar von Totschlag. So weit reicht jedenfalls der C4-Intellekt. Dabei muß es einen doch wundern, weshalb es WIRNT nicht vermeidet, den Wirt tödlich getroffen fällen zu lassen, ein grandioser Sieg hätte die Stärke Wigalois' auch bewiesen. Wäre es aber als Beweis seiner Kraft und seiner Eignung gemeint gewesen, weshalb flieht er dann, weshalb erschlägt er nicht alle anderen auch?! Ich sage dies jetzt nur einmal: Wigalois ist ein absoluter Musterritter, der Idealtyp überhaupt. Wer jetzt mit jugendlichem Heißssporn kommt, Totschlag aus Beweisnotlage, der hat WIRNT nicht verstanden. Etwas Negatives kann Wigalois nicht tun und nie tun! Wir benutzen jetzt unseren Verstand und fragen uns, weshalb es ihm nicht gelingen soll, ein Nachtlager zu bekommen, denn darum ging es eigentlich einmal. Fürchterlich einfach. WIRNT will unmißverständlich klarmachen, um welche Art von Tat es sich auf Wigalois' Weg handelt. Er vollbringt nämlich im folgenden ein IAS nach dem anderen. Immer wieder wird seine Attributionsverweigerung auf deutlichste Weise hervorgekehrt. So auch hier. Er kann zwar den Kampf gewinnen, das Objekt aber, um das es ging, das Nachtlager also, das darf er dabei nicht erwerben. Verlieren darf er natürlich nicht, aber erwerben ebenso wenig. Daher der zufällige Tod des Wirts und die Notwendigkeit zur Flucht. Daß er nebenbei im indirekten Verweis auf den letzten Kampf seine Tauglichkeit beweist, das versteht sich von selbst. Solches geschieht in ähnlicher Weise bei jedem Kampf, weshalb wir erstmal noch einen deutlichen Beweis herausgreifen werden. Weiterreisend findet man ein niedliches Hündchen, das der Dame so außerordentlich gefällt, daß Wigalois es für sie fängt. Nach einiger Zeit taucht ein Ritter auf, der anscheinend auf der Jagd war. Er macht keinen guten Eindruck und fragt die Dame wütend, woher sie das Hündchen habe, es sei nämlich seines. Der, von dem sie es habe, müsse mit dem Leben bezahlen. Wigalois verbittet sich solche dummen Drohungen, der Ritter wappnet sich eilends, es kommt zum Kampf und wieder sieht

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man Wigalois' Lanze zu einer Hälfte hinter dem Herausforderer hinausragen. Und dennoch, ein AS war das nicht, das Hündchen war kein Objektaktant, sondern lediglich vorgeschobener Grund für einen Streit. Das erinnert dennoch etwas an Jeschute und Schionatulander, kurz an Parzival, und dies ist WIRNTs Absicht, denn: der rîter hafte sîn ors sâ bi dem zoume an einen dorn. daz waer bî disen zîten vlorn, als ich michs versinnen kan: ir ist nu wênic, sin vuortenz dan, man züge im nû den harnasch abe, dar zuo alle sîne habe; daz was ab dô wider dem sit: swer ez tet, der vlôs da mit alsô gar sîn êre daz er nimmer mêre ze rîterschefte mohte komen; im wurde sîn êre gar benomen. [WIGALOIS, 2317 ff. Der Ritter (Wigalois) band dessen Ross mit dem Halfter an einen Busch. Wenn ich recht überlege, wäre es heutzutage vor niemandem sicher. Es gibt nur wenige, die es nicht mit sich genommen hätten, statt dessen risse man ihm auch noch die Rüstung vom Leib und bemächtigte sich all seiner Habe. Das verstieß damals eklatant gegen Sitten und Gebräuche. Wer so etwas täte, der hätte dadurch so vollständig jedes Ansehen verloren, daß er nimmermehr in die Gemeinschaft der Ritter aufgenommen worden wäre. Man hätte ihn ausgestoßen.] Wer sich jetzt, vorbereitet auf die Anspielung auf die Brackenseilepisode, an die Leichenfledderei durch Parzival erinnert, der ist völlig auf dem richtigen Weg. WIRNT will durch den Kontrast zum Parzival deutlich machen, daß Wigalois nichts attribuiert, daß er dies ablehnt, daß er es überhaupt nicht kann, denn vergessen wir nicht, er ist ein idealer Ritter, und als solcher ist er weit entfernt davon, etwas auf eine Art zu erwerben, die in den Romanen zuvor nur Katastrophen ausgelöst hat. Er kann, wie Gawein im Parzival, nur im Rahmen eines LAS handeln. Daraus wird am Ende noch ein echtes Problem für WIRNT, denn irgendwie muß Wigalois ja die Königstochter erwerben! Nehmen wir noch ein Beispiel für das IAS, für deutlichen Attributionsverzicht seitens Wigalois'. Er trifft eine jammernde Dame, und auf die Frage, was ihr widerfahren sei, erzählt sie, ein König habe einen Schönheitswettbewerb veranstaltet. Ausgeschrieben war ein schönes Pferd, darauf ein wertvoller Käfig steht, darinnen ein sprechender Papagei sitzt, was alles zusammen von einem Zwerg gepflegt wird. Weil

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sie die Schönste gewesen sei, habe man ihr einstimmig den Preis zuerkannt. Ein roter Ritter, der für unbesiegbar gilt, habe sich jedoch darüber hinweggesetzt und ihr den Preis für seine Dame entführt. Damit wir als Publikum wissen, daß ihre Klage gerechtfertigt ist, spricht auch ein anderer für sie, wird für damalige Verhältnisse recht glaubhaft versichert, daß sie im Recht ist, denn: der sitich jaemerlîche schrê bescheidenlîche als ein man zehant als er sichs versau daz in der rôte rîter nam. [WIGALOIS, 2589 ff. Als dem Papagei bewußt wurde, daß ihn der rote Ritter an sich nahm, hub er sofort, wie intelligente Menschen, ein jämmerliches Gezeter an.] Man reitet zum Schauplatz und kommt bei der Base der Schönheitskönigin unter, der Tochter des persischen Königs. Der Kampf wird angesagt, Wigalois gewinnt, der rote Ritter muß sich ergeben und wird zu Artus geschickt, wo er ausrichten soll, der Ritter mit dem Rade habe ihn besiegt. Wir sehen also, daß Wigalois sich langsam aber sicher auch seinen Namen macht. Noch immer weiß er nicht, daß jener Gawein vom Artushof sein Vater ist, und so kann nur er selbst für sich sprechen, beziehungsweise seine Taten für sich sprechen lassen, denn weder steht er unverdientermaßen im Rampenlicht seines Vaters, noch steht er andersherum in seinem Schatten und wird ständig an ihm gemessen, denn Gawein ist ringsherum in allen Landen Inbegriff des Musterritters. Nach dem Kampf bittet die persische Königstochter Wigalois, mit ihr zu kommen, doch uns ist klar, daß er mit dem Annehmen dieses verlockenden Angebotes etwas attribuieren würde, seine Helfertat somit kein IAS mehr wäre. WIRNT macht es noch deutlicher, denn auch die Schönheitskönigin selbst macht das gleiche verlockende Angebot: si sprach "rîter, sît gemant iuwer güete und iuwer êren, daz ir gerouchet kêren mit mir heim ze lande (des sît ir âne schände ich bit iuch sîn vil verre daz ez iu unser herre vergelten müez durch sînen tôt!), daz ich verdiene die grôzen nôt die ir durch mich habt erliten." [WIGALOIS, 3198 ff. Sie bat ihn: "Ritter, ich bitte Euch bei Eurem Großmut und Eurer Ehre, daß Ihr Euch entschließt, mit mir in mein Reich heimzukehren (Niemand

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kann es Euch vorwerfen, denn ich bitte Euch inständig im Namen Gottes, der für uns alle gestorben), damit ich Euch für die Mühsal entschädige, die Ihr um meinetwillen auf Euch genommen habt."] Aber auch dieses fromm fundierte Angebot kann und darf Wigalois nicht annehmen, nichts darf hier schon die Verwandlung eines IAS in ein AS legitimieren, schon gar nicht der Objektaktant selbst, und erst recht nicht nur sein Berufen auf Gott. Dabei ist es von besonderer Würze, daß die Dame Gott heranzieht. Dies ist mir nunmehr Anlaß, Sie, lieber Leser, über das neue Bild Gottes aufzuklären, der hier nämlich keine Instanz mehr darstellen kann, da, wie zuvor schon erwähnt, religiös begründete KRISEN so wenig eintreten wie ritterliche. Da aber Gott dennoch eine ganz entscheidende Rolle spielen wird, muß es WIRNT daran gelegen sein, klarzumachen, daß auf dem Weg zur Haupt-âventiure, wo Wigalois ohnehin nur Taten im Rahmen des IAS vollbringen muß, ein Erwerb in Gottes Namen noch nicht legitimiert sein kann, der tritt nämlich erst auf, wenn es am Schluß wirklich ans Eingemachte geht, dann werden wir diesen Zusammenhang besser erkennen können. Es erübrigt sich nun, weitere Taten des Wigalois genauer zu untersuchen, sie alle sind, wie es sich für einen Musterritter gehört, der niemals in eine KRISE geraten kann, als IAS identifizierbar. Im Bewußtsein des mittelalterlichen Publikums war ja das Problematische des aktantiellen Erwerbs fest verankert, wer aber nichts erwirbt, macht nichts verkehrt, ist seiner Definition durch den Tugendstein allemal gerecht. Das aber wirft ein weit gewichtigeres Problem auf, nämlich wie der Held am Ende denn überhaupt etwas erwerben kann. Der einzige Weg, etwas Materielles wie eine Frau oder ein Reich endgültig zu erwerben, führt am Aktantenschema, dem Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution nun mal nicht vorbei! Richtig, aber ein Musterritter darf dieses Schema nicht anwenden. Nun ist es ja auf den ersten Blick so, daß der krisenlose Roman wie die logische Umkehrung des Krisenromans aussieht. Zuvor erwarb ein Ritter eine Sache aktantiell, das mußte aufgewertet werden, folglich wies sein Weg nur noch IAS auf, bis ihm verziehen wurde. Da es hier keine Instanz und kein Verzeihen mehr geben kann, dreht man den Ablauf einfach um und umgeht so struktural die Krise. Wenn also der aktantielle Erwerb erst nach einigen Helfertaten (IAS) eintritt, ist der Held sozusagen vorentschuldigt. Und dennoch, so einfach hat WIRNT es sich nicht gemacht, zu groß war die Hemmung vor dem wie immer gearteten Einsatz des AS. Hinzu kommt, daß es sich mit dem zuvor apostrophierten Idealbild des Helden, auch wenn er noch so viele tolle Taten vollbringt, einfach nicht vereinbart hätte. Sie merken, wir nähern uns unaufhaltsam der kompliziertesten Stelle im Wigalois. Nun eröffnet die Botin dem Wigalois genauer, was ihn erwartet, und um was es geht:

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wirn wellen die juncvrouwen mîn ân daz lant zu Komtîn nieman geben ze wîbe, wan der mit sinem lîbe daz guote lant erwerben mac; [WIGALOIS, 3786 ff. Wir wollen nämlich meine junge Herrin nicht einfach ohne das (von einem Teufelsbündler besetzte) Land von Korntin irgend jemandem zum Weibe geben, der nicht in der Lage ist, dieses prächtige Land zu erwerben.] Eine feine Mitgift ist das, Frau und Land gibt es nur als Paket, beides kann nur aktantiell erworben werden. Werfen wir nun mit Wigalois einen Blick auf den einen Teil des Pakets, auf Larie: vrou Minne vie den rîter sâ und zôch in in ir hamît gewalticlîche âne strît, daz er sich niht mohte erwern; [WIGALOIS, 4139 ff. Die Herrin Minne fing den Ritter kurzerhand ein und schleifte ihn auf ihr Terrain, mit großer Macht, doch ohne Kampf, er hatte keine Chance zur Gegenwehr.] Na, das war Liebe auf den ersten Blick, Laries Augen signalisieren ähnliches, gilt der zweite Blick also Korntin. Um diese âventiure zu bestehen, wendet ein Priester sein ganzes Können auf, um Wigalois zu schützen; so wird an sein Schwert ein Brief geheftet, der alle Zauber bannen soll, er selbst wird gesegnet und geweiht. Von Larie bekommt er noch eine Tasche mit einem Wunderbrot, und los geht's. Ein Hirsch (genauer: ein Hirsch mit Leopardenfell oder ein Leopard mit Geweih) führt ihn nach Korntin, dem Land, wo der Teufelsbündler Roaz herrscht. Schon wechselt die Szenerie, alles verdunkelt sich, wird nur von flackerndem Feuer erhellt, traurige Gestalten, umgeben von Flammen, laufen umher, kurz, wer nicht merkt, wo wir uns plötzlich befinden, hat DANTE nicht gelesen. Der Hirsch verwandelt sich in einen Menschen, der sich als Laries Vater zu erkennen gibt. Er selbst darf täglich vom Fegefeuer pausieren, und nun klärt er Wigalois vollständig auf: er sprach "ez ist hie bî gelegen ein wurm nû wol zehen jâr; der hât ditze lant gar verwüest unz an das wilde mos;

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beidiu man unde ros treit er hin âne wer; von sînem stänke verdürbe ein her der im ûz dem halse gêt; und wizze et daz, wer in bestêt, der hât den tôt an der hant. nu hât dich got her gesant daz du uns erledigen soll; dâ mit erwibestu den solt des du immer vrô maht sîn: Lârîen, die tohter mîn, dar zuo ditz lant ze Korntîn." [WIGALOIS, 4691 ff. Er erklärte: "Seit ungefähr zehn Jahren haust in der Nähe ein Lindwurm (Drache); der hat dieses Land bis zu dem Sumpf hin verwüstet. Ross und Reiter treibt er wehrlos dorthin. Sein Odem, der ihm aus dem Rachen kommt, erschlüge ein ganzes Heer; wisse aber genau, wer den bekämpft, der befindet sich in unmittelbarer Nähe des Todes. Nun hat dich aber GOTT hergesandt, daß du uns erlösen sollst; damit erwirbst du den Lohn, der dir immer Freude bringen wird: meine Tochter Larie und das Land Korntin.] Dieser Drache, Pfetan genannt, vor dem sogar Roaz zittert, ist also auch noch eine Station auf dem Weg zu Laries Erwerb. Der Sieg über Pfetan wäre also ein Aktantenschema von zweien, die zum Erwerb nötig sind. Das widerspräche ja meiner Behauptung, daß Wigalois nur im Rahmen des IAS handeln kann, aber wir werden sehen, daß WIRNT diese Klippe noch einmal locker umschifft. Wigalois wird jetzt mit einer Lanze ausgerüstet, die ein Engel zur Erde gebracht hat und die einzig den Drachen durchbohren kann, dazu einem Wunderzweig, der vor dem Odem schützt. Bevor es weitergeht, ist noch eine Sache überfällig, nämlich die Herkunft des Wigalois. Die erfährt er nun ebenfalls, und dies bedeutet uns, daß die Zeit, da er sich einen Namen machen mußte, endgültig vorbei ist. Hier ist eine enorm wichtige Zäsur, denn erstens wissen wir nun, Wigalois ist selbst wer, zweitens kann jetzt das zweite Ziel ins Auge gefaßt werden, das Erringen von Weib und Land. Wigalois sucht den Drachen, doch bevor er ihn findet, begegnet er einer klagenden Dame, der ihr Gatte, Graf Morals, nebst zwei Rittern vom Drachen entführt wurde. Natürlich kann Wigalois den Grafen noch befreien, er tötet den Drachen, und so wurde klammheimlich aus einem angekündigten AS ein IAS! Alles klar soweit, aber danach geschieht etwas, was sogar mir einige Zeit zu denken gegeben hat. Der Drache fällt im Todeskampf auf Wigalois, zerdrückt seine Rüstung und schleudert ihn an das Ufer eines nahegelegenen Sees, wo er wie tot liegenbleibt. Dort wird er von armen Fischern gefunden, die ihn völlig ausrauben, so daß er nackt zurückbleibt.

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Erwachend wundert er sich, wer er sei (Iwein), und erkennt erst an der Tasche Laries, wer er ist und was sein Ziel ist. Zwar wird er von der dankbaren Dame und dem Grafen Morals gefunden, aufgenommen und neu ausgerüstet, aber sein Zaubergürtel, den schon Gawein damals vergaß, der bleibt verschwunden. Damit ist für uns klar, daß Wigalois niemals ins Reich seiner Mutter zurückkehren kann, hinzu kommt aber, daß er jeglicher Attribute bar ist, die magischen und idealen Charakter haben. Daß Wigalois dazu noch am Seeufer eine Art Identitätskrise durchlebt, nachdem er kurz zuvor seine Herkunft erfahren hatte, ist mehr als augenfällig. Da es aber ebenso offensichtlich ist, daß er sich seiner durch das Ziel, an das ihn Laries Tasche erinnert, wieder bewußt wird, dürfen wir messerscharf schließen, daß für das Folgende die zurückliegenden Dinge nicht mehr relevant sind, daß unser Held ein Neuer und ein Anderer ist. Wie der aber genau definiert werden kann, zeigt sich in Kürze. Da der Graf von den Fischern nur Schwert und Helm zurückerlangen konnte, wird Wigalois ansonsten mit neuer Rüstung versehen. So reitet er dem letzten Kampf mit Roaz entgegen. Doch schon wieder will WIRNT uns etwas bedeuten. Ein Riesenweib mit Namen Ruel packt sich unseren Helden, fesselt ihn mit einer Weidenrute, will ihn gerade mit seinem eigenen Schwert erschlagen, da wiehert Wigalois' Pferd. Das hält das Weib für das Herannahen des Drachen Pfetan, der schon immer scharf auf diesen fetten Happen war, und da sie nichts vom Tode Pfetans weiß, nimmt sie Reißaus. Seltsam, seltsam, das ist alles höchst merkwürdig. Doch wir wollen unser Brot nicht so leicht verdienen wie Filologen, wir wissen inzwischen, daß solche Episoden weder blinde Motive noch Blindgänger sind, die unsere schöne phantasievolle Deutung unterminieren könnten, keine Rohrkrepierer und keine Schüsse in den Ofen. WIRNT konnte es sich nicht leisten, Dinge auf teuerstes Pergament zu bringen, die aus seiner Langeweile entstanden und unsere hervorrufen. Natürlich liegt auch hierin eine symbolische Bedeutung, aber glauben Sie mir, eine mit höchst heiklem Inhalt. Erinnern wir uns, was ich zu den Problemen sagte, die daraus entstehen, daß Wigalois am Ende halt doch etwas aktantiell erwerben muß, obwohl seine Idealität das eigentlich verbietet. Die war der Grund, weshalb uns WIRNT nur ganz langsam an das so geschmähte Aktantenschema heranführt, weshalb er den als AS apostrophierten Drachenkampf nochmals als IAS erscheinen läßt. Dieses IAS ist nun aber das letzte in Wigalois’ Karriere! Woher wissen wir das aber? Eben dies ist aus Sicht des Autors eine sehr wichtige Frage. Allein die Tatsache, daß jetzt das AS folgt, macht gar nichts klar, es muß zuerst angedeutet werden, damit das Publikum die Bedeutung erfassen kann. Erinnern Sie sich jetzt einmal an den Erec. Auch dort standen wir vor der Frage, wann Erec, beziehungsweise, wann wir wissen, daß sein Weg der wiederholten aktantiellen Bestätigung seiner Enite vorbei ist. Und seltsam genug, auch dort tauchte der Scheintot auf, auch dort drohte er zuletzt in einem Kampf gegen Guivreiz das

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Leben zu verlieren. Am Ende verlor er nichts, es folgte kein AS mehr, nur noch das entscheidende und schwierigste IAS. Hier ist die Sachlage analog, nur halt andersherum, hier liegt die Zäsur zwischen IAS und dem nun folgenden AS. Während Guivreiz einen höfischen Charakter hat, vermissen wir denselben schmerzhaft bei Ruel. Gerettet wird Erec durch den Ruf der Frau, um die es sich in dem Roman drehte, Wigalois aber nun nicht etwa durch sein Pferd, nein, da müssen wir bis zu den Heymonskindern warten, sondern durch das Eingreifen Gottes. Das ist das Ziel, auf das WIRNT die ganze Zeit unauffällig, aber im nachhinein deutlich genug hinarbeitete. Gott, nicht als Instanz, sondern als Auftraggeber, ist derjenige, der die Unvereinbarkeit von IAS (was Wigalois einzig als idealer Ritter tun darf) und AS aufhebt. Um dies zu untermauern, verliert Wigalois z.B. seinen Gürtel, der ein Zeichen feenhafter Idealität darstellte, verliert er für einen Moment sogar seine Vergangenheit und ermittelt leicht seine neue Identität an der Zukunft. Seien Sie WIRNT nicht böse, daß er so kompliziert motivierte, denn er konnte die Strukturvorgabe nicht anders einlösen, mußte statt dessen eine völlig neue Sinnstruktur etablieren und mußte sogar Gott bemühen, um überhaupt einen legitimierten Erwerb zu gestalten. Die Zeit, wo es noch um höhere Ziele ging, ist vorbei, nun gilt es wieder, profane Ziele zu erwerben, ohne in KRISEN zu stürzen. Um die neue Rolle Gottes, und damit die neue Rolle Wigalois' offenzulegen, schließt sich an Ruels Reißaus folgende Betrachtung WIRNTS an: Wem kom der tôt sô nâhen ie? âne den tôt gevreischt ich nie angestlîcher iemen liegen; des lebens was im gar vezigen. dô si daz swert gegen im swanc, dôn hêt er des deheinen gedanc daz er iht lenger solde leben, hêt imz got niht gegeben. des genâde ist niht gelîch; daz erzeiget er aller tägelîch. er nidert hôch gemüete und hoehet alle güete; er ermet unde rîchet, den rîchen er gelîchet dem armen, swenne er wil. ditz was sînes gewaltes spil, daz er disem küenen man sînen trôst an gewan, den sîn herze ungerne liez;

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in ganzen zwîvel er in stiez, dâ von er sîne vreude lie. got der was genaedic ie; daz erzeigter an disem rîter hie. Dô er sus an dem tôde lac und daz sîn leben zem tôde wac, dô kom er im ze trôste; sîn barmunge in erlôste daz im dehein schade geschach wan daz er vreise vor im sach. dô daz wîp von im dan gevlôch und der gebunden man in dem hole niemen sach, dô stuont er ûf unde sprach "nu hilf mir, herre, süezer got! lâ dîn genâde und dîn gebot an mir schînen: daz êret dich mit dîner kraft enbinde mich, daz mir mînem jungen lîp iht beneme ein solch wîp diu der helle zaeme. waer si doch sô genaeme daz ich si möhte an gesehen, sô waer mir deste baz geschehen. herre got, erhoere mich!" in dirre bet sô lôste sich diu starke wide dâ er mit gebunden was nâch diebes sit. [WIGALOIS, 6461 ff. Wer war je so sehr dem Tode nahe? Außer im Tod selbst sah ich nie jemanden in schrecklicherer Weise liegen; das Überleben war ihm vollständig versagt. Als sie das Schwert gegen ihn schwang, hatte er jede Hoffnung auf ein Weiterleben aufgegeben, hätte es ihm Gott nicht wieder geschenkt. Seine Gnade zeigt sich nicht immer in gleicher Weise; das macht er jedem täglich aufs neue klar. Er erniedrigt den Stolzen und erhöht, alle dieguten Herzens sind; er kann arm und reich machen, den Reichen zum Bettler, wenn es ihm gefällt. So zeigte er auch hier seine Macht, als er dem tapferen Mann seinen Trost zukommen ließ, den er doch so gern hatte. In größte Verzweiflung stieß er ihn hinab, wo er alle Hoffnung fahren ließ. Gott aber war immer gnadenreich; das bewies er auch an diesem Ritter. Da er im Angesicht des Todes lag und sein Leben bereits zum Tod ausschlug, da kam er zu seiner Rettung. Seine Barmherzigkeit erlöste ihn, damit er keinen anderen Schaden

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nahm, als daß er dem Verderben ins Angesicht geschaut hatte. Nachdem das Riesenweib Reißaus genommen hatte und der gefesselte Mann sich allein in der Höhle sah, erhob er sich und sprach: "Nun hilf mir, Herr, lieber Gott! Laß deine Gnade und deine Macht an mir sichtbar werden, wie es deinem Ansehen zukommt. Befreie mich mit deiner Kraft, auf daß mein junges Leben nicht von einem Weibe vernichtet wird, die der Hölle angehört. Wäre sie wenigstens dergestalt, daß ich sie hätte anschauen mögen, so hätte ich ein besseres Los gehabt. Herr und Gott, erhöre mich!" Während dieses Gebetes, siehe, da lösten sich die starken Weidenruten, mit denen er wie ein gewöhnlicher Dieb gefesselt war.] Na, lieber Leser, wenn das nicht deutlich war. Von nun an kämpft Wigalois im Dienst Gottes, und der Witz ist, er hat auch noch seinen Segen. Hier liegt bestimmt keine heilsgeschichtliche Pointe vor, zynisch formuliert könnte der Beweis schlicht lauten, daß sonst HAUG sich dieser Szene bestimmt angenommen hätte. Natürlich ist diese Betrachtung WIRNTs aus biblischen Versatzstücken gezimmert, aber sie sind, gerade weil sie so explizit auftauchen, nicht der Sinn dieses Romans, sondern lediglich ein Hinweis auf die Erwerbslegitimation Wigalois', der nunmehr im Auftrage Gottes kämpfen kann. Es bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung, daß der Sinn des Gregorius gerade im impliziten Verweis auf die Bibel offenbar werden sollte. Was für ein gewandeltes Gottesbild, wie furchtbar wird nun die alte Kampfmoral wiedererweckt: "ô wol mich, swerte, daz ich dich hân! nûn ist weder wîp noch man der mich binde âne wer; ûf dînem knopfe ich des swer die wîle ich swert tragen wil: ez sî ernest ode ein spil, daz ez mir nimmer mê geschihtt, swâ mîn ouge iht des siht daz mînem lîbe geschahen mac, ichn slahe ie doch den êrsten slac dem daz ungehiure sî." [WIGALOIS, 6514 ff. "Heil mir, Schwert, daß ich dich wieder habe! Nun wird es weder Mann noch Frau je wieder gelingen, mich zu fesseln; auf deinen Knauf schwöre ich, solange ich dich trage: Ob Ernst oder Spiel, nie wieder soll es geschehen, wo immer ich mögliche Gefahr für mein Leben wittere, daß ich nicht sofort den ersten Schlag ausführe, der dem Schlechten gilt."]

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Beachten Sie den letzten Nebensatz, denn er ist zugleich ein Hinweis, weshalb das folgende Aktantenschema legitimiert ist. Wie bereits erwähnt, ist der gegnerische Subjektaktant, Roaz, wirklich so mit dem Teufel im Bunde, wie Wiga-lois mit Gott. Gott und Teufel sind hier keine Ideale mehr, sie sind hochgradig personifiziert, und so läßt sich auch das Dienstverhältnis erklären, das bei Wigalois prächtig funktioniert, bei Parzival hingegen versagen mußte. Wir können das Ende kurz fassen, die Hand Gottes ebnet den Weg Wigalois', läßt ein riesiges Rad, Symbol der launischen Fortuna, stillstehen, und nun erschlägt Wigalois in etlichen Kämpfen alles, was mit dem Teufel zu tun hat, bis hin zu Roaz, dessen Leiche von Teufeln entführt wird. Das Aktantenschema ist glücklich vollbracht, unser Held hat alles gewonnen, er heiratet und gibt ein großes Fest, zu dem auch sein Vater mit einigen Kumpels von der Tafelrunde kommt. Damit ist der Erwerbsweg von Wigalois faktisch beendet, aber wieder dürfen wir fragen, ob das sicher ist, ob er vielleicht nicht doch eine kleine Schuld auf sich geladen hat, für die er noch mal eine gute Tat vollbringen muß. Die Frage ist gut, und die Antwort lautet: nein! Woher ich das weiß?, nun das hat mir WIRNT verraten. Wie?, ganz einfach, denn in die Hochzeitsfeierlichkeiten platzt ein Bote, der die Nachricht bringt, daß ein gewisser Lion einen Amire erschlagen hat, der mit seiner Gattin Liamere zur Hochzeit unterwegs war. Die Dame ist nun in der Gewalt Lions. Wigalois verspricht Rache. Ein Heer zieht gegen Lion, aber nun raten Sie mal, wer Lion tötet und damit die Rache vollzieht. Es ist sein Daddy Gawein, woraus wir unschwer ersehen können, daß Wigalois sich zur Ruhe setzen kann, er hat sich schemagerecht verhalten, nirgends ein Stein des Anstoßes, ich glaube gar, er könnte sich noch immer auf den Tugendstein setzen. Denn dies sollte Ihnen inzwischen klar sein, wäre an dem Erwerb unseres Helden irgendetwas auszusetzen gewesen, hätte also der aktantielle Erwerb am Ende auch nur die Spur des Illegitimen aufzuweisen gehabt, wäre er also, wie früher, der Anlaß zu einer KRISE gewesen, Wigalois selbst hätte dann hier ein IAS vollbringen müssen und etliche mehr in Folge. Doch, wie gesagt, eine KRISE kann es nicht geben, nicht zuletzt deshalb, weil es dafür keine Instanz mehr gibt. Ein weiterer Aspekt verdient in diesem Zusammenhang aber auch Beachtung, denn das, was WIRNT uns als aktantiellen Erwerb verkauft, ist doch stark entschärft worden. Vergessen wir nämlich nicht, daß Roaz zwar der gegnerische Subjektaktant war, nicht aber der Besitzer Laries. Somit erscheinen zumindest der Erwerb des Objektaktanten und die Domination über den gegnerischen Subjektaktanten voneinander getrennt und damit so, als hätten sie nicht direkt miteinander zu tun. Der Erwerb am Ende der Geschichte geht also in Ordnung, denn schließlich hat Wigalois all das, was den Helden vormals aus der KRISE half, das IAS, bereits vorausgeleistet. Wir sehen also, wir haben es mit einer echten Umkehrung zu tun, die Dichter haben aus ihren Vorgängern gelernt, die Ritter aus ihren Vorbildern, nur die Filologen, die haben rein gar nichts gelernt.

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Dies ist das Ende einer Geschichte, eines Romantypus, der gewiß gewöhnungsbedürftig ist. Grundsätzlich dürfte klar geworden sein, daß hier die Verhältnisse und die Schemata umgedreht werden. Hier gab es nur noch zwei der bekannten Schemata, das AS und das IAS. Da es keine Instanzen mehr gibt, oder besser, weil die ihren Status verloren haben, kann es auch keine KRISE (FS-) und keine figurale Gewährung von Werten mehr geben. Dennoch zeigte sich, daß die âventiure auch hier nicht mehr allein für sich sprechen kann. Je häufiger die Symbolik dazutreten muß, desto mehr nähern wir uns der modernen Literatur, dann wäre am Ende ein Wigalois in der Identitätskrise ein Mann ohne Eigenschaften. Da wir gerade von Krisen in der Moderne reden, lieber Leser, lasse ich es mir nicht nehmen, auf eine der traurigsten hinzuweisen, die mir zu Ohren gekommen ist. Den Autor dieses Buches hat ein widriges Schicksal nach Rottenburg an der Wümme, eigentlich Wümmehausen, verschlagen. Weit und breit vergüllter Horizont, Zivilisation, gäbe es sie, sie hat sich sehr enge Grenzen gesetzt, man stolpert eher zufällig über diese kleine Umzäunung mit Grabkreuz. In dieser Grabesruhe, hie und da nur mal durch sechzehn Piloten gestört, die ich inzwischen alle an der Augenfarbe erkennen kann, habe ich zwar die nötige Ruhe und Abgeschiedenheit, ich könnte hingegen meines Verstandes verlustig gehen, gäbe es nicht eine rettende Sendung, die über den Äther kommt, ausgestrahlt von RB II. Ich verfaßte gerade den Mittelteil des Wigalois, da horchte ich eines Tages auf und hörte zu. Der Redakteur am Mikrofon kündigte nämlich ein Interwiev mit E. LÄMMERT an, seines Zeichens Berliner Germanist und zeitweilig Rektor der FU. Kenner kennen die Bauformen des Erzählens, ein peinliches Machwerk, das versucht, dem Sinn von Literatur über oberflächliche Segmentierungen auf den Grund zu gehen. Es ist das allseits bekannte freundliche Gerede über Gliederungen. Befragt aber wurde er gottlob nicht zu seinem Stump, sondern zu der Bonner Konferenz zur Aufgabe der Geisteswissenschaft. Da weder die Schreibung noch die Aussprache definitive Schlüsse darüber zuließ, ob die Geisteswissenschaften nun endlich aufgeben oder ob sie sich ihrer Aufgaben vergewissern wollten, war ich in jeder Hinsicht gespannt. Im Prinzip ging es, mehr ungewollt zwar, um beides. Es wurde gefragt, woher denn die Krise der Geisteswissenschaften komme. L. war um Antwort weniger verlegen als um Einsicht, daher sprach er, das Problem sei nicht genuin in den GW selbst begründet, nein, die Universitäten würden nur noch dort finanziell stärker unterstützt, wo sie Verwertbares wie die Naturwissenschaften zu Tage förderten. Ja, L. beschwor einen kulturellen Verfall herauf, beklagte den Parameter der Verwertbarkeit wie einen Schnellimbiß. Nur die rasche Verwertbarkeit sei schuld, und es sei ja wohl einsehbar, daß ein Student, der die GW studiert, so rechte Früchte erst in 20 Jahren, wenna dann ma Lehrer iss oder so, trägt. Der Redakteur aber wollte etwas Selbstkritik hören, forderte nunmehr eine Stellungnahme von L. zu dem Vorwurf, ob sich die GW nicht am Ende selbst ins Abseits

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gebracht hätte, durch tiefsinnige Untersuchungen über den Mythos bei Joyce, Die Katze bei E. T. A. Hoffmann oder den Unbestimmten Artikel bei Goethe, alles Untersuchungen, die weder dem Mythos, den Katzen, den unbestimmten Artikeln, noch den Autoren, geschweige aber uns auch nur irgendeinen Nutzen gebracht hätten. Flink ausweichend, aber zeigend, daß wenigstens er etwas mit Mythen anzufangen weiß, lautete die gelehrte Replik, daß die GW nun nicht den allzu kurzen Weg vom Elfenbeinturm zur Klagemauer schreiten solle, es gäbe große Aufgaben, gerade im Hinblick auf 1992, der europäischen Verbinnung, würden Männer gebraucht, die mit Sprache umzugehen wüßten, die die Verständigung unter den Menschen vorwärtstreiben können, uswusf.. Jaja, das ist ein trauriges Bild, das da abgegeben wird, natürlich liegt der Fehler woanders, nie und nimmer bei den GW, die sich so redlich bemühen, halt nur etwas zu langsam sind, man denkt in Dekaden und hofft, daß andere in diesen Zeiträumen vergessen. Zwanzig Jahre Amortisation, wirklich?, ist wenigstens dann etwas Verwertbares da? NEIN, wie auch, nichts, was man dringend benötigt, wächst so langsam wie Tropfstein oder die Erkenntnis in der GW. Runde 40.000 Bände allein in der Seminarbibliothek der Germanisten in Göttingen, ist dies ein Indiz für Verwertbarkeit oder ist dies eine Einladung zur Wiederverwertung, gibt es nicht tausende wackelnder Tische, hie und da gar den Trend zum Zweitbuch, den man großzügig mit Spenden unterstützen könnte, so viele öffentliche Toiletten, wo es an Lektüre wie an Klopapier mangelt? Wenn wir bedenken, wie unendlich viel Geld lediglich in Blüten umgedruckt worden ist, welch grenzenloser Schwachsinn öffentlich gefördert worden ist und dann die Frage nach Verwertbarkeit keine geistlosere Eröffnung bekommt, als eine Galgenfrist von 20 Jahren, dann kommt das de facto einer Kapitulation gleich. Machen wir kurzen Prozeß, es gibt nämlich keine Verwertbarkeit, es gab sie nicht, es wird sie in zwanzig Jahren auch nicht geben, wenn wir nicht bereit sind, Antworten auf sinnvolle Fragen zu verlangen. Dies aber sei grundsätzlich gesagt: Es gibt so unendlich viel zu entdecken. Großes, Wichtiges, Großartiges und Gewaltiges. Es gibt Fragen, die noch niemand kennt, die noch niemand stellte. Es gibt Antworten und Erkenntnisse, die mehr füllen können als Buchdeckel, und es gibt Gewißheiten, die mehr befriedigen können als nur ihren Entdecker. Es ist so unendlich unwichtig, über das wir uns ständig streiten, weil wir unterschiedliches Wissen darüber zu haben glauben; wichtiger ist es doch, uns den Fragen zu stellen, über deren Antworten überhaupt kein Wissen existiert. Wie wollen wir uns den großen Fragen zuwenden, wenn wir kleinmütig und großmäulig uns unseren Mund über das zerreißen, was uns weisere Menschen als ihr literarisches Erbe hinterließen, als ihre bescheidene Antwort auf Fragen, die sich heute niemand mehr stellt. Soll ein Krieg der Köpfe denn weiterhin nur Bibliotheksarsenale füllen, Waffenlager

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eines hilflosen Geistes, oder wollen wir endlich Frieden in unseren Gehirnen heimisch machen, ihn zur Keimzelle nutzbringenden Denkens erklären? So sehr die Sprache die Alternative zu verbürgen scheint, tatsächlich existiert sie nicht. Wir können wohl zwischen zwei Wegen wählen, eine Chance bietet nur einer der beiden. Solange Wissen aber mit Gewissen nicht mehr gemein hat als die etymologische Verwandtschaft, solange wird Wissen auch keine Gewißheit bieten, wird es den Fragenden in eine entscheidungslose Schlacht simpler Übervorteilungsversuche einbinden. Wir sagen gemeinhin, wir vermöchten nichts Endgültiges zu wissen. Wie wahr, aber soll denn tatsächlich unser Unvermögen im Unterlassen des notwendigen Versuchs begründet sein? Nichts Endgültiges zu wissen heißt doch nicht, keine richtigen und gewissen Antworten zu finden. Im Gegenteil, der nach oben gerichtete Erkenntnisweg eröffnet neue Perspektiven, neue Fragen und neue Antworten. Dieser Weg aber hat kein Ende. Nichts Endgültiges zu wissen heißt aber auch nicht, keine richtigen Antworten auf bohrende Fragen geben zu wollen, um ja zu keinem Ende, keinem Zweck und keinem Sinn zu kommen. Es gibt nur die relative Nähe, nie eine absolute. Die kleinmütigen Sorgen um richtige Antworten, wie nichtig sind sie, wie nichtig sogar die Antworten. Nichts Endgültiges zu wissen, soll dies paradoxerweise schließlich bedeuten, endgültig nichts zu wissen? Ist Sprache nur mehr fähig, ihren Untergang logisch zu präformieren, sich im Zirkelschluß ihrer Unfähigkeit zum Transfer zu versichern? Ist sie denn nicht vielmehr Entwickler als Abbildner, offenes, reiches und fruchtbares Feld jeglichen Erkenntniswunsches? Ist sie nicht mehr als ein Vehikel plattester Beschreibungen des Sichtbaren wie Offensichtlichen? Was wäre unsere Sprache, wenn nicht Menschen wie WOLFRAM VON ESCHENBACH sie über die pure Handlungschiffre gehoben hätten, sie als Ziel eines Weges manifestiert hätten und nicht als Wegbeschreibung! Neue Ziele erfordern neue Fragen, was neue Antworten fordert und nicht stattdessen viele Antworten auf alte Fragen. Neue Fragen setzen eine neue Sprache voraus, und die Sprache der Antworten wird wiederum eine andere sein. Sie zu sprechen und zu verstehen aber heißt mitdenken, nicht mitreden. Was nützt der Duden, das Wörterbuch, das GRIMMsche Monumentalwerk. Sammlungen von Wörtern können keine andere Bedeutung haben als viele und keine. Kein Wissen, kein Gedanke, kein Buch handelt von einem Wort, die Literaturgeschichte ist keine Wortgeschichte, sie ist eine Entwicklung von Ideen aus der Sprache heraus, mithilfe von Sprache, durch Sprache und für die Sprache. Der Sprache aber ist der Widerspruch genuin fremd. Sprache entstand aus Mitsprache und Fürsprache, eine Widersprache ist nicht sprechbar. Nun aber ist die Sprache zerfallen in viele unterschiedliche, die alle Unterschiedliches sagen und leider auch meinen. Gelingt es nicht, zu einer Sprache zu finden, wird es bald keine Fragen mehr geben, sondern

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lediglich Widerspruch, keine Antworten, sondern Widerreden, kein Erkennen mehr, sondern Verkennen.

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DEMANTIN oder Idealritter versus böser Brautvater Verehrter Leser, bevor wir nun zum Demantin BERTHOLDs VON HOLLE kommen, kann ich nicht umhin, Ihnen erst einmal von einer großen Not zu erzählen, die uns beinahe konstant von nun an bis an das Ende dieses Kapitels begleiten wird. Ich gestehe es ganz offen, ab hier macht das Schreiben nicht mehr so ungemein großen Spaß wie zuvor, die Vehemenz der Kritik stößt nämlich ins Leere, es gibt halt nichts mehr zu kritisieren als das Versagen selbst. Schlicht und einfach das Versagen, kein Mißlingen wie vormals, nichts, was uns die Tränen der Heiterkeit in die Augen jagen könnte, nichts, was uns umso mehr von der Notwendigkeit einer Erneuerung der Geisteswissenschaften und speziell der Literaturwissenschaft überzeugen könnte. Von diesem Moment an fehlt also eine Prise Salz in der Suppe, und ich bin völlig auf mich allein gestellt, Ihnen das Kommende dennoch schmackhaft zu servieren. Ich halte das für höchst unkollegial, und ich würde mich bestimmt höheren Ortes beschweren, wenn es auch nur irgendeinen Sinn hätte. Ich kann begreiflicherweise nicht zwanzig Jahre darauf warten, bis die Forscher zu diesen Romanen genug angehäuft haben, daß man darin eine Einladung zur Wiederverwertung sehen könnte. Waren wir von Anfang an ohnehin auf uns allein gestellt, so sind wir jetzt zu allem (beziehungsweise mangels) Überfluß auch noch allein gelassen. Nirgends weit und breit Meilensteine einer rasanten Fehlentwicklung, keine akademischen Luftschlösser, die in Ozonlöcher fallen, keine zerbrochenen Köpfe lechts und rinks längs des unmarkierten Weges, kurz, hier ist die Linie der verstockten filologischen Frontier. Unentschieden ist auch der unentwegteste Wegbereiter, niemand wagt sich vorwärts, aus Angst, auf der Strecke zu bleiben, niemand, der sich traut, seinen Geist aufzugeben und mit praktikablem Gepäck den Weg zu gehen. Die wenigen Publikationen aber, die sich ein Lepröser an den Fingern abzählen könnte, sind so ungemein infantil, man hat sofort das unbestimmte Gefühl, ein Sextaner hätte sie verfaßt, der Zorn verraucht, Kopfschütteln und Mitleid gewinnen die Oberhand. Ja, und was ist mit den Randglossen meines Professors, werden Sie fragen. Fehlanzeige, schon lange mißlingt der Versuch, versucht komisch zu sein, hier kennt sich der alte Herr nicht mehr aus, seine Attacken sind Gebärden der Hilflosigkeit, eher ängstlich fragend als bestimmt und daneben. Auch er erweckt Mitleid, denn seine Ignoranz versagt ihm nun den verläßlichen Schutz, alt und vertrottelt geht er den Weg zum alten Eisen, und dereinst wird einer der neuen Generation einen Nagel in die Wand schlagen, von dem es heißt ich war eine Blechdose. Dies alles ist umso peinigender, als wir mit dem Demantin einen durchaus gelungenen und abwechslungsreichen krisenlosen Roman vor uns haben, der zudem aus drei Schemata konstruiert ist, die im Vergleich zum Wigalois ohne große symboli-

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sche Hilfestellungen die Sinnkonstitution tragen. Das neu integrierte Schema ist uns aus den Brauterwerbsromanen geläufig, und nun werden sich die ganz Aufmerksamen unter Ihnen bereits vorstellen können, weshalb der endgültige Erwerb des begehrten Objekts am Ende wesentlich konfliktloser vonstatten gehen kann. Auch unser neuer Held Demantin ist ein krisenloser Idealritter, wenngleich nicht als so ideal apostrophiert wie Wigalois. Zum einen hat sich nämlich dieses Ritterbild inzwischen durchgesetzt, zum anderen hat man dazugelernt. Es sind keine komplizierten Genealogien nötig wie beim Prototyp selbst, der Typ hat sich verselbständigt. Hier nun fehlt zudem der Artushof und damit das gesamte überkommene Ambiente nachwirkender Idealität und Instanzrolle. Genauso wenig tritt hier ein Gott als Dienstherr und Legitimator eines aktantiellen Erwerbs auf, denn der Held darf inzwischen auch dies anwenden, wenngleich es dabei nicht zum Äußersten kommt, wie wir seit dem König Rother und der Kudrun wissen. Lehnen Sie sich also zurück, entspannen Sie sich, wir haben es mit etwas leichterer Kost zu tun. Zunächst müssen wir natürlich auch hier das Ziel der Handlung kennenlernen, ein Ziel, das durch widrige Umstände in weite Ferne gerückt wird. Es ist die zwölfjährige Jungfrau Sirgamot, die Demantin einst erblickt: "ô herre got di gûte, wer such î sô schônen lîp! nummer kan mich ander wîp von sorgin mêr gescheiden. got vorbête uns beiden, mich frouwen und or alle man. ich enwil noch enkan nummer werdin sorgin frî, ch enkome or sunder hûte bî." [DEMANTIN, 110 ff. "Guter Gott, sah man je ein so schönes Geschöpf! Von nun an kann mich keine andere Frau mehr erfreuen. Gott möge uns beide be- hüten, mich vor Frauen und sie vor Männern. Ich kann und will meines Lebens nicht mehr froh werden, wenn ich sie nicht ohne ihre Aufpasser treffen kann.] Sie werden gemerkt haben, daß dieser Roman in einem etwas anderen Dialekt geschrieben ist, doch soll Sie das nicht stören, vertauschen Sie notfalls nur die Stammvokale, dann wirkt alles vertrauter. Sofort spricht Demantin beim Vater vor, doch seine Bitte um die Hand Sirga-mots wird abschlägig beschieden: "nein", sprach di wert, "desn mag nicht sîn: mîn tochter is noch ein kint."

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nu sich ein grôze clage begint an des forsten herzin, sint di maget om von dem werte wert vorsaget. [DEMANTIN, 160 ff. "Nein", sprach der Wirt (Haus- oder Burgherr), "das geht nicht, meine Tochter ist noch ein Kind." Als ihm die Jungfrau von dem Vater versagt wurde, machte sich großer Schmerz im Herzen des Fürsten breit.] Dies also ist der erste Teil der Problemstellung, er wird verkörpert durch die alt bekannte Figur des mißgünstigen Vaters, der seine Tochter nicht herausrücken will, zumindest aber nicht an unseren Helden, aber wie sich das alles weiterent wickeln wird, wer gut und böse, wer für einander bestimmt ist, wer sich am Ende bekommt, das sagt uns BERTHOLD nun selbst, denn auch wenn das Ziel bekannt ist, wie es dazu kommt, ist das eigentlich Spannende: nu alrêst wil ich uch sagin beide von frouden und von clagin: di geschach on beiden, dô man sî wolde scheiden, den ritter und das megetîn. sî musten unbescheiden sîn. or beider herze daz was ein, wen daz sî entorsten kein reden dô sî or vater gaf dem alden: dâr irlôste se af got dorch sîne gûte. [DEMANTIN, 171 ff. Hier nun will ich euch schon mal von Glück und Leid beider berichten, das über sie kam, als man sie trennen wollte, den Ritter und die Jungfrau. Sie konnten gar nicht getrennt werden, denn ihre Herzen waren schon längst vereint, und wenn sie auch nicht zu widersprechen wagten, als sie von ihrem Vater an einen Alten gegeben wurde: da half ihr die Barmherzigkeit Gottes heraus.] Nun aber beginnt die eigentliche Handlung, denn nach den Pfingstwochen ist ein riesiges Turnier ausgeschrieben. Die Königin von England hat dazu aufgerufen und einen Sperber ausgesetzt, den die Dame Beamunt beaufsichtigt. Sie soll auch den ersten Ritter, der seinen Gegner vom Pferd sticht, mit einem Kuß und einem Kranz auszeichnen. Natürlich ist dies Demantin, und ebenso selbstverständlich wird er auch im eigentlichen Turnier vor allen ausgezeichnet und gewinnt auch den Sperber. Kranz und Sperber sendet er seiner geliebten Sirgamot zu, die beides immer wieder innig küßt. Nun aber zeigt sich, zu welchem Zweck dieses Turnier überhaupt

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veranstaltet wurde. Es galt, den besten Ritter zu ermitteln, einen idealen Helden, der einen harten Kampf bestehen soll: sî sprach "ir habet irworbin in. herre, dorch eine bete ich bin her zu ûwern gnaden komen. ich habe einen tag genomen kein einem ritter, di ist ein man di sper dorch minne fûren kan. dô mîn vater êrst irstarb, di hôchgelobete nâch mir warb. ichn vorsprach on dorch neinen haz, mir envîl nî kein ritter baz. he wolde mich betwungen hân, he hât mir rittere ûf den plân gestochen nedir bî sînen tagen, di besten di de erde tragen. he hât ein unvorzageten mût; wen daz he an mir obele tût, so enlebete sîn gelîche nergin an dem rîche. nu wolde ich gerne, mochte ez sîn, daz ir dorch daz dînest mîn unt dorch willen aller wîp streten, herre, vor mînen lîp." [DEMANTIN, 940 ff. Sie sprach: "Ihr habt ihn (Sperber) rechtmäßig erworben. Herr, wegen einer Bitte bin ich zu Eurer hilfreichen Hand gekommen. Ich habe einen Entscheidungstag gegen einen Ritter anberaumt, das ist ein Mann, der es versteht, um der Minne willen den Speer zu führen. Als mein Vater kürzlich verstarb, warb dieser Ausgezeichnete um mich. Ich wies ihn durch kein böses Wort zurück, denn kein Ritter sagte mir je mehr zu. Er aber wollte mich überwältigen, hat mir seitdem die besten Ritter, die die Erde trägt, in den Staub geschickt. Er ist überaus ungestüm. Würde er mich nicht beleidigen, so gäbe es im ganzen Reich niemanden, der ihm gleichkäme. Nun wäre ich überglücklich, wenn es möglich wäre , daß Ihr in meinem Dienst und um aller Frauen willen, Herr, für mich strittet und höchsten Ruhm erlangtet."] Selbstverständlich sagt unser Musterritter zu, denn, wie wir lesen konnten, besteht für ihn keine Gefahr einer festen Verbindung mit Beamunt. Wir kennen dieses Prinzip aus der Gawein-Handlung, wo sich auch eine Dame dem aktanti-ellen Erwerbs-

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prinzip widersetzte, das sie zur ritterlichen Beute degradierte. Wer also für sie kämpft, gegen den, der um sie kämpft, der wertet das Bild der Frau automatisch auf, weshalb sie dies auch explizit herausstellt, denn sie sagt: "unt dorch den willen aller wip." Der Herausforderer soll eine Lehre bekommen, die wir bereits kennen. Der aktantielle Erwerbsversuch soll scheitern, doch der Gegner soll erkennen, daß er dadurch nichts verliert, sondern vielmehr etwas geschenkt bekommt. Aus der Sicht unseres Helden ist diese Auseinandersetzung ein IAS, denn er wird dominieren, ohne zu attribuieren, wohingegen sein Gegner etwas attribu-ieren darf, weil er nicht dominierte. Der Autor dieser Publikation meint, daß jede emanzipierte Frau mit diesem Prinzip einverstanden sein dürfte. Es kommt, wie es kommen muß: Demantin besiegt Firganant in einem harten Kampf, so daß sich letzterer ergeben muß. Da erklärt der Onkel Beamunts: "mit strite î sî irworbin hât, in ûwerwalt sî hîr stât, beide or lîb und or gût, lûte und lant: swaz ir tût dâr mete, daz mûz allez sîn." [DEMANTIN, 1360 ff. "Im Kampf habt Ihr sie erworben, sie ist in Eurer Gewalt, ihre Person und ihre Habe, Land und Leute: Was immer Ihr damit macht, das soll geschehen."] Na fein, jetzt ist Demantin am Zuge, und der tut natürlich, was alle von ihm erwarten, die Protagonisten, das Publikum und wir: "herre, ich sagez ûch bî gote, hîr stêt di werde Firganant. si ist an dem vorsten baz bewant denn ich î ritter habe gesên. mîn hant dî mûz om prîses jên vor al den ich î gestreit. ich wil ûch sagin di wârheit, ich wil sî dem vorsten geben: he kan nâ wîbe lône streben." [DEMANTIN, 1374 ff. "Herr, bei Gott hört meine Entscheidung: hier steht der edle Firganant. Sie (Beamunt) ist bei dem bestens aufgehoben, denn ich habe schon viele Ritter gesehen. Ihm aber muß ich meinen Respekt zollen vor allen anderen Rittern, mit denen ich je kämpfte. Also lautet meine Entscheidung, dass ich sie diesem Ritter gebe, der es versteht, den Lohn der Frauen zu erstreben."]

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Unschwer ist dieses Prinzip als verwandt mit der Vereinigung von Obie und Meljanz zu erkennen. Nur wurde dort Meljanz gefangen, Obilot übergeben, die ihn sogleich an Obie weiterschenkte. Gemeinsam ist aber beiden Prinzipien, dass der aktantielle Erwerbsversuch scheitert, weil entweder das Subjekt zum Objekt wird, oder weil das Objekt kurzfristig in einen anderen Besitz übergeht. Natürlich sind alle damit einverstanden, und unser Held hat sein erstes Abenteuer bestanden, das wir als IAS identifizieren können. Alles läuft also ähnlich ab wie im Wigalois, der ideale Held attribuiert nichts, und zugleich unterstreicht er seine Idealität, die später eine Vorauslegitimation für einen notwendigen aktantiellen Enderwerb sein wird. Es bleibt natürlich nicht nur bei einem einzigen dieser Art, weitere, zum Teil ganz witzige folgen, das nächste ist so eines. Ich bitte aber schön, achten Sie genau auf die Namen. Eines Tages, man hat die Hochzeit gefeiert, kommt eine Dame an den Hof, über den nun Firganant und Beamunt herrschen. Sie beklagt, ein unbekannter Ritter habe ihren Gatten Phorian erschlagen und ihre Tochter entführt. Nun bitte sie um einen Ritter, der ihr Leid räche. Sofort springt ein junger Ritter namens Pharion auf, der ein Auge auf die Tochter geworfen zu haben scheint. Er aber versagt, und nach ihm landen noch etliche andere Ritter im Staub. Schon fängt die Dame an, erneut um das Schicksal ihrer Tochter Phorasie zu klagen, da nimmt endlich Demantin die Sache in die Hand. Die Dame fügt auch hier beinahe überflüssigerweise diese Ankündigung hinzu: "solen gerochin mîne leit werden, herre, von ûwir hant, grôz lôn werdet ûch bekant. ir mochtit wol irwerbin dâr Phorasîen, daz ist wâr, di den zuckir von der minne treget. waz schône an orm lîbe leget, des wêre ûch zu sagene vil." [DEMANTIN, 1800 ff. "Wenn mein Leid, Herr, von Eurer Hand gerächt wird, wird Euch großer Lohn zuerkannt. Ihr könnt nämlich wirklich Phorasie erwerben, die den Zucker der Minne an sich hat (Ich hätte natürlich sagen können, die aus dem Zuckerguß der Minne besteht, aber ich finde, jeder, der schon mal verliebt war, kommt gut mit der einfachen Übersetzung zurecht.), was die an körperlichen Vorzügen so alles hat, wäre zu viel, um es zu erzählen."] Ich muß eine gewisse Prüderie der mittelalterlichen Autoren beklagen. Immer wenn es interessant wird, kommen sie einem mit der brevitas und führen das Angekündigte nicht aus. Auch HEINRICH VON DEM TÜRLIN hat sich meinen Zorn verdient, als

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er das entzückende Techtelmechtel zwischen Gasozein und Ginover von Gawein unterbrechen läßt. Abgesehen davon erklärt sich Demantin natürlich nur wegen der Not der Dame zum Kampf bereit, und er gewinnt den Kampf, der Gegner ergibt sich. Und nun kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus, der fremde Ritter ist Phorian selbst. Dieser schrullige Spaßvogel hatte just etwas Langeweile und inszenierte einfach mal ein Spielchen, um seine Zuckertochter zu verheiraten. Da Demantin nicht naschhaft ist, dürfen Sie mal raten, wer Minnekaries bekommt. Richtig, nomen est omen, Pharion, der erste Ritter, der sich gemeldet hatte, bekommt Phorasie, und Phorian ist glücklicher Schwiegerpapa. Wir wollen diese Episode nutzen, uns einmal wieder über das reine Ergebnis hinaus Gedanken über die Aussage solcher Geschehnisse zu machen, denn teilweise stößt man gerade dort auf überraschende Einsichten. Fragen wir uns doch mal ganz dumm, weshalb Pharion den Kampf um Phorasie verliert, weshalb er nicht der einzige bleibt, und warum er sie am Ende doch zugesprochen bekommt. Die einfachste aller Antworten lautet, daß damit unser Held Demantin etwas zu tun bekommt. Die zweite ist schon genauer, denn sie geht davon aus, daß Demantin ein IAS vorlegen muß, woraus ableitbar ist, daß er nicht das Objekt attribuiert, das ein anderer haben möchte. Jetzt sind wir mitten drin, denn nun müßte klar werden, daß eine andere Person als unserer Held in so einem Roman gar nicht irgendetwas endgültig und aktiv, ja aktantiell erwerben kann und darf. Machen wir uns klar, daß so etwas noch in keinem unserer Romane geschehen ist. Niemals hat ein anderer als der Titelheld etwas gewonnen, sich etwas erworben. Das ist beinahe profan, doch steckt ein wichtiger Gedanke dahinter: Jeder Erwerb in einem Roman ist letztlich das Thema des Erzählens, ist der Anlaß für ein Hin und Her und Auf und Ab des Helden, bis der Erwerb durch allerlei Taten legitimiert ist. Diese Legitimation aber erwartet das Publikum instinktiv, weshalb niemals auch nur episodenhaft ein dauerhafter Erwerb eines Nebenhelden erzählt werden kann, den er selbst aktiv vollzieht. Erinnern Sie sich dabei nur an all die Komplikationen, die der Ritter Gawein im Parzival und im Wigalois verursacht hat. Wir erkennen also langsam, weshalb ein Nebenritter in einem Roman unter anderem niemals aktiv etwas erwerben kann, weshalb er verlieren muß, um etwas zu erhalten, und wir begreifen die Doppelfunktion dieses Umstandes, denn dadurch kann unser Held Taten vollbringen, die durch den Attributionsverzicht als IAS kenntlich sind. Jetzt stellen wir uns die dümmste Frage, nämlich weshalb gerade Pharion die Jungfrau bekommt. Ganz einfach, wir müssen die Frage nur anders formulieren, weshalb der Ritter, der sie bekommt, gerade so synonymisch ähnlich heißt. Erinnern wir uns, daß etliche Ritter den Versuch unternahmen, Phorasie zu erkämpfen, ja, und irgendwie muß uns BERTHOLD doch bedeuten, wer für sie vorgesehen ist, wer sich vom Feld der Mitbewerber abhebt, wer den ersten Versuch starten darf.

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Alles in allem erkennen wir darin aber auch den wichtigsten Grund dafür, weshalb alles Erzählen im Roman, das nicht vom Titelhelden handelt, sei es, daß es vom Autor erzählt wird, sei es daß es von einer der mitspielenden Personen erzählt wird, sei es, daß so eine Person von sich erzählt oder von einem anderen, weshalb all dieses Erzählen nur von NIEDERLAGEN handeln kann. Es ist wie so häufig, wenn etwas von großer Wichtigkeit ist, eine Doppelfunktion, denn nach wie vor gilt auch, was ich in meinem Exkurs zu dieser Thematik gesagt habe, denn von Erfolgen redet man nicht selbst, die Erfolge sprechen für den Helden, aber die Erfolge hat eben nur der Titelheld, und von dem erzählt uns der Dichter. So heiter kann es im mittelalterlichen Roman zugehen, Demantin hat also sein zweites IAS vorgelegt und will nun aufbrechen: "ich wil rîten alhin . al dorch prîses gewin dorch âbentûre an vromede lant. swâr sî mir werden bekant, dâr wil ich hin kêren." [DEMANTIN, 2259 ff. "Ich will hinausreiten, um Ruhm zu erwerben, wegen âventiure in unbekannte Länder. Wo immer mir eine âventiure bekannt wird, da wende ich mich hin."] Wieder besteht er ein schweres Abenteuer, und diesesmal tauchen auch phantastischere Elemente auf. Pfandimoi, die Tochter eines Grafen hat ihren Geliebten Arisaim gegen den Mann einer Meerminne verloren. Der ist durch zwei Steine im Helm vor Wasser, Feuer und Gegner gefeiht. Demantin tötet ihn, gestärkt durch den Gedanken an Sirgamot, er verletzt auch die Meerminne, und im Nu ist der Zauber vorbei, 100 Ritter erstehen, unter ihnen auch Arisaim, der nun zu recht glauben muß, er hätte seine Geliebte an den Befreier verloren, doch da können wir ihn genauso, wie Demantin es tut, beruhigen, auch hier liegt ein weiteres IAS vor. Nun aber wird es spannend und verzwickt zugleich. Da Demantin jetzt einem Ritter begegnet, der zwei überaus wichtige Informationen bereithält, eine, die er gesehen hat, und eine, die er erlebt hat, die also selbstverständlich von einem Versagen handeln muß, werden wir seine Information in voller Länge wiedergeben, denn wie wir seit Kalogrenants Erzählung wissen, ist das Erzählen über ein nicht bestandenes Abenteuer dem Helden immer Anlaß, selbst aktiv zu werden, denn die platte Einsicht lautet, daß das Erzählen von bestandenen Abenteuern weder unseren Helden interessieren würde, noch uns, wenn es nicht von ihm selbst handelt. Was aber von ihm handelt, erfahren wir vom Erzähler, nie aber von ihm selbst. Demantin trifft einen Ritter, der so schwere Verletzungen hat, daß selbst er derlei nie zu Gesicht bekommen hat. Auf die Frage unseres Helden, ob die aus einem

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Kampf mit einem Riesen stammten, verneint der Verwundete und erklärt, dies habe ein einziger Ritter getan, dem wohl niemand widerstehen könne. Darauf erzählt er, wie es dazu kam, und nebenbei erfahren wir durch seine Beschreibung eines Turniers, an dem er teilnahm und etliche Ritter in den Sand streckte, daß er ein überaus ernstzunehmender Ritter ist, was natürlich den Umstand seiner Verwundung in einem noch bedeutsameren Licht erscheinen läßt. Und nun folgen die zwei Informationen, die für Demantin so wichtig sind: Man vôrthe dan daz schönste kint, daz dunkit mir vil gar ein wint sô waz ich ez vor î gesach. der coninc sich wol vrouwen mach von Antîoch daz he sî hat. mir moite doch daz ir gelât sô jêmerlîch was getân. or vater mûz es sunde hân daz he sî î gesande sô vremde ûz orme lande von Krîchen hin zu Antîoch. sî weinete dô und senet sich noch. Sirgamôt is sî genant: ich reit mit or an or lant. or herze manchis sufzins phlach, swenn sî den sperwer gesach den sî vôrte ûf der haut. sî jach mir, in hette gesant ein vorste or di on erwarb. "owê daz ich nî gestarb sint ich von om scheiden bin. mîn vater hât sô tummen sin daz he ân mich hât getân aller vroude sunder wân." alsô sprach sî wedir mich. Von dem lande dô kart ich nâch vrâge dorch wonheit. mir was der juncvrouwen leit umme or ungemûte swâr. alsus quam ich mit vrâge dar dâr mir daz ungemach geschach. ich reit an den zêndin tach

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wente ich di âbentûre vant, nâch der ich reit an vromde lant. herre, der mache ich ûch wîs. wolt ir erwerbin hôhen prîs, sô kêret vor ûch ûf den plân. ir sêt ein hûs vor ûch stân, dâr is ein koninginne geweidig obir di minne: Pheradzoye ist sî genant, und is obir alle dûtsche lant geweldig obir di pheien, di an den luften weien, und obir alle di nu leben, di grôz lôn dorch minne geben. swenne ir daz hûs geseit, ein âbentûre ûch dâr gescheit: swenn ir komet zu dem tore, ir vindet dâ ein ritter vore, mit eime spere he is bereit, vorseget ûch di helt gemeit, ir beiten der âbentûr dâr vore sechs wochen vor dem tore, ir stichen denne ein andern nider: er irbeit der âbentûre sider. Junghe ritter unde wîs, erwerbet ir den êrstin prîs. an dem di heldet vor dem tore, her treten denn zwei pheien vore, di emphân ûch êrliche: î worden an dem rîche in keiner stat emphangen baz. ich meine man dâr nicht vorgaz, iz enworde allez mir getân swaz ich wolde von on hân. des morgens mûzet ir von dan: sô helt ein ritter und ein man vor dem tore mit rîcheit. he hât di tûrsten wâfencleit di ich an rittern î gesach.

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vor wâr ich daz sagen mach, her hat der âbentûre dâr an daz sechszênde jâr gebeitet, daz on nî bestunt rittere, om enworde kunt nârûwe, swenn her sach daz he vor om dâr nider lach. vorstritet ir den ritter dâr, ir müzen der âbentûre ein jâr erbeiten und der coningin. swaz êre denn gert iûwer sin, des sît ir alles dâr gewert. swaz froude an der werlde vert, der habit ir mêr wan zu vel, man, vrouwen, mancher hand spel, der der coninc hât gewalt und ander mancher vroweden halt. geseget ûch di ritter an, sô mach ez ûch vil lichte irgân alsô ir schowet ane mich. ûch kan vel gerâten ich, werde man gehûre. mîdet di âbentûre, sô komet ir mit êren wedir. [DEMANTIN, 2953 ff. Wie begleiteten darauf das schönste Kind, verglichen mit der alle, die ich zuvor jemals sah, ein schwacher Hauch waren. Der König von Antioch hat allen Grund, sich darüber zu freuen, daß er sie bekommt. Mich aber beschwerte, daß ihr vollkommenes Äußeres so großen Jammer ausdrückte. Ihr Vater begeht eine große Sünde, daß er sie aus ihrem Reich in Griechenland so fern nach Antioch schickt. Damals weinte sie bitterlich und sehnt sich wohl noch. Sirgamot ist ihr Name, ich begleitete sie aus ihrem Reich. Ihr Herz wurde von schweren Seufzern erschüttert, wann immer sie den Sperber anblickte, den sie auf der Hand mit sich führte. Sie erklärte, den habe ihr ein Fürst gesandt, der ihn einst für sie erkämpft hat. "Weh, daß ich weiterleben muß, seit ich von ihm getrennt bin. Mein Vater muß den Verstand verloren haben, daß er mir so alle Lebensfreude raubte." So also sprach sie zu mir. Aus diesem Land begab ich mich nach alter Gewohnheit wieder auf die Suche. Das Schicksal der Jungfrau schmerzte mich zutiefst. Auf dieser Suche gelangte ich nun dahin, wo mir diese Bitternis widerfuhr. Ich ritt bereits zehn Tage, als ich auf eine âventiure stieß, nach der ich stets fremde Lande durchstreift hatte. Ritter, mit der will

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ich Euch nun vertraut machen. Wenn Ihr hohen Ruhm erlangen wollt, so wendet Euch dieser Ebene zu. Ihr werdet ein Gebäude vorfinden, darin eine Königin über die Minne beheimatet ist: Pheradzoye heißt sie, und ist die Herrscherin über alle Feen in Deutschland, die durch die Lüfte schweben, und über alle, die um der Minne willen großen Lohn vergeben. Wenn Ihr dann das Gebäude erblickt, winkt Euch die erste âventiure. Wenn Ihr nämlich vor das Tor kommt, so trefft Ihr auf einen Ritter, der seine Lanze eingeschlagen hat. Überwindet Euch der treffliche Ritter, so müßt Ihr selbst sechs Wochen der âventiure dienen vor dem Tor, es sei, Ihr stecht einen anderen vom Pferd, der dann seinerseits diese Aufgabe übernehmen muß. Mein junger und aufmerksamer Ritter, besteht Ihr aber den ersten Kampf gegen den, der vor dem Tore wacht, treten alsbald zwei Feen hervor, die Euch in allen Ehren empfangen: Prächtiger wurde man nie irgendwo empfangen. Ich meine, man versäumte einfach nichts, alles wurde mir gewährt, was ich auch nur wollte. Am nächsten Morgen müßt Ihr dann weiter: da wartet ein Ritter in großer Pracht vor dem Tor. Er trägt die kostbarste Rüstung, die je ein Ritter trug. Glaubt mir bitte, er steht seit sechzehn Jahren im Dienst dieser âventiure, ohne daß ihn je ein Ritter besiegen konnte, er hat nicht einmal eine Schramme abbekommen, wenn er seine Gegner zu Boden streckte. Solltet Ihr diesen Ritter bezwingen, müßt Ihr wenigstens ein Jahr der âventiure und der Königin dienen. Was für Ehrenbezeigungen Ihr auch wünscht, das wird Euch alles gewährt. Was es in der weiten Welt an Ergötzungen gibt, davon habt Ihr da mehr als genug, Männer, Damen, alle Arten von Vergnügungen, die der König über das alles unter sich hat, und viele andere Arten der Freude. Besiegt Euch der Ritter hingegen, so kann es Euch leicht so ergehen, wie Ihr es an mir sehen könnt. Ich kann Euch einen guten Rat geben, edler Mann, meidet diese âventiure, so kommt Ihr ehrenvoll davon."] Wieder erkennen wir unschwer, weshalb ein Ritter überhaupt dazu kommt, von einer âventiure zu berichten. Daneben erweckt dieses Stilmittel natürlich beim Publikum eine gewisse Spannung und Erwartung dahingehend, ob und wie sich unser Held dort bewährt. Die ganze Sache hat nur etliche Haken, an denen Demantin nunmehr zappelt. Natürlich hat er so gut wie wir erkannt, um welche Jungfrau es sich in dem ersten Bericht des Ritters handelt. Seine geliebte Sirgamot will er noch einmal sehen, se sî maget odir wîb, sei sie also noch Jungfrau, oder sei sie bereits beschlafen. Andererseits darf er sich nie und nimmer Feigheit vor der âventiure vorwerfen lassen. Nur, wie der aufmerksame Leser vielleicht selbst aus den allgemeinen Beschreibungen des verletzten Ritters geschlossen haben wird, dieses Gebäude mit diensteifrigen Minnefeen ist nichts anderes, als eine Art mittelalterliches Feenbordell mit Ritterluden davor. Eine Ablösung des Zuhälters hat wenigstens knifflige Konsequenzen.

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Denn dies ist als Unterschied zu Laudine im Iwein allemal offenkundig, diese Pheradzoye ist doch eher Puffmutter denn Fee, was sich da als âventiure ausgibt, hat mit IAS nämlich rein gar nichts zu tun, es ist ein glasklares AS, erworben werden kann so ziemlich jede Lustbarkeit, die sich eine laszive Phantasie vorzustellen vermag. Eine leichte Kurskorrektur bezüglich ritterlicher Zielvorstellungen scheint angebracht, aber wir wollen nicht vergessen, daß BERTHOLD mit dieser bewußten Verzerrung des althergebrachten Feenstatus mehr im Auge gehabt hat. Wenn es BERTHOLD darum zu tun gewesen sein sollte, die Idealität unseres Helden zu unterstreichen, hier bietet sich eine mehr ungewollte Gelegenheit. Zudem wird eine enorme Spannung aufgebaut, denn wir alle wissen Sirgamot ja in den Klauen des Königs von Antioch. Es ist dies ein altes Stil- und Spannungsprinzip, das bereits seit der Odyssee bekannt ist, das sich über die Historia Apollonii Regis Tyri bis zum Aramena-Roman und zu WIELANDs Oberon fortsetzt, das Prinzip TREUE trotz mannigfaltiger widriger Umstände. Machen wir es kürzer als BERTHOLD, Demantin versucht, sich davonzuschleichen, um Sirgamot zu sehen, wird jedoch von Pheradzoye entdeckt und verspottet. Widerwillig besteht er alle Kämpfe, tötet sogar jenen Pandulet, der sechzehn Jahre unbesiegt geblieben war, und wie wir Demantin kennen, würde er bis an sein Lebensende unbesiegt bleiben und Sirgamot nie wiedersehen. Aber natürlich läßt Demantin sich nicht becircen, bei dieser Sauerei spielt er nicht mit und bleibt seiner Geliebten ein ganzes Jahr treu, bis er schließlich von einem anderen Ritter abgelöst wird, der kurz vor seiner Niederlage durch Bitten Pheradzoyes mit dem Leben und dem nun folgenden Vergnügen davonkommt. Demantin sputet sich, nach Antioch zu reiten, wo ihn niemand kennt. Auf dem Weg dahin beweist er noch einmal, sozusagen im Vorüberreiten, daß er das IAS bei Pheradzoye nicht verlernt hat, denn bei einem Tjost im Mondschein überrennt er geradezu seinen Gegner, woraufhin er aber dessen Ross in dessen Nähe anbindet. Wir kennen die Aussage dieser Handlung noch gut aus dem Wigalois. Weitereilend erblickt er auf einer Wiese ein prächtiges Zelt. Davor eine wunderschöne Jungfrau, die umringt von ihren Damen einen Sperber füttert und liebkost. Diese Jungfrau sieht ihn nahen und empfängt ihn höflich. Auf die Frage, wo sich ihr Herr befinde, erwidert die Jungfrau, er sei auf der Jagd. Er fragt die Jungfrau nach dem Namen ihres Herren und bekommt nun endlich die Antwort, die ihn so brennend interessiert, die BERTHOLD uns hingegen schon ein paar mal deutlich gemacht hat. Es ist in diesen Romanen, wie Sie sicher schon bemerkt haben, immer so, daß man zuerst das erfährt, was im Mittelpunkt des Interesses steht, dann erst entpuppt sich die Person, die sich damit verbindet. Dieses retardierte Wiedererkennen ist immer nötig, um gewissermaßen einen objektiven und persönlich unbeeinflußten Wahrheitsanspruch bezüglich der Aussage eines der Protagonisten zu legitimieren.

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Solange also Sirgamot (dies ist die Kleine, falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten) einem Fremden gegenüber ihre Jungfräulichkeit erklärt, ist es etwas anderes, als würde sie dies im Nachhinein gegenüber dem erkannten Geliebten tun. Dieses Prinzip ist derart dominant in der Literatur, daß im Barock ganze Romane nur noch von solchen Treueproben, Verkleidungen und Verwandlungen handeln. Dies also erklärt Sirgamot dem Fremden freimütig: di juncfrouwe sprach zuhant "ich bin nâch om maget genant: des mûz nu abir ein ende sîn. owê daz mir di vater mîn her deme coninge hât gesant in Antîoch ûz Krêkin lant! herre, ich sage ûch daz vor wâr, he gab mit willen mir ein jâr tag, daz ich mochte maget sîn. daz kois ich an der kintheit mîn. nu es daz ûf ein ende komen: des es di tag hir genomen; des mûz mîn froude ende hân. wî hât sô an mir getân mîn vater daz he mich vorsande ûf mînen schaden ûz sîme lande. von schuldin ich daz clagen mag. daz is nu der dritte tag daz hîr di hôchzît sal enstân: ôo mûz mîn vroude ein ende hân." [DEMANTIN, 3743 ff. Ohne zu zögern gab die Jungfrau Auskunft: Mit Erlaubnis meines Herren darf man mich noch als unbeschlafen bezeichnen: damit ist es aber bald vorbei. Jammer, daß mich mein Vater aus Griechenland zu dem König von Antioch geschickt hat! Ritter, ich beteuere, er gestattete mir einen Aufschub von einem Jahr, wo ich unangetastet bleiben konnte. Das erreichte ich mit Hinweis auf meine Jugend. Nun nähert sich der Aufschub seinem Ende; nun hat mein Glück ein Ende. Wie konnte mein Vater mir das bloß antun, daß er mich zu meinem Unglück aus seinem Land sandte. Mit Fug und Recht muß ich das beklagen. In drei Tagen soll hier Hochzeit abgehalten werden: dann endet sich meine Lebensfreude."] Nun hat Demantin schon beinahe alle wichtigen Informationen bekommen, jetzt muß er ihr noch entlocken, ob sie ihn, den Ritter Demantin liebt, denn es wäre ja peinlich, wenn sie inzwischen einen anderen erwählt hätte. Auch dieses Frage-Antwort-Ritual

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ist überaus interessant. Zunächst bittet Demantin sie um den Sperber, aber Sirgamot gäbe lieber ein Königreich her als ihn, denn den schenkte ihr, wie sie auf seine nächste Frage hin antwortet, ein Ritter als Zeichen seiner Liebe. Demantin treibt das, wie wir heute fälschlicherweise sagen würden, grausame Spiel weiter und fragt nach dessen Namen. Den will sie nicht nennen, da ihr das Nennen des geliebten Namens das Herzeleid vergrößern würde. Da fragt er, ob der vielleicht Demantin heiße, ein solcher, so gibt er vor, sei nämlich mit ihm in dieses Land geritten, doch da entrüstet sich das Mädchen und erklärt, sollte Demantin noch leben, so sei er in dieser Sekunde zu ihrer Rettung da und kein anderer. "ich bin geheizen Dêmantîn: nâch ûch bin ich her gekomen. wol mich daz ich habe vemomen trûwe unde stêtekeit an dir, werde maget gemeit." [DEMANTIN, 3828 ff. "Ich bin dieser Demantin: Euretwegen bin ich hergekommen. Was bin ich froh, daß ich von deiner Treue und Beständigkeit hören konnte, du vollkommene herrliche Jungfrau."] Nun stellt sich naturgemäß die Frage, wie weiter zu verfahren sei. Da man sich auf feindlichem Territorium befindet, auf dem jederzeit eine Übermacht droht, beschließt man eine Entführung, denn der König, der gegnerische Subjektak-tant, ist nicht zugegen. Hinzu kommt die Zeitnot, die es Demantin verbietet, ein großes Heer auf die Beine zu stellen, um Sirgamot zu erobern, denn dann hätte er keine Jungfrau mehr zu erwerben. ich wil sî mitten dorch sîn laut vôren zu dem lande mîn. [DEMANTIN, 3866 f. Ich werde sie mitten durch sein Land in mein Reich entführen.] Liebe Leser, das kennen wir noch sehr gut aus der Zeit, da wir den König Rother und die Kudrun kennenlernten, es ist das Surreptionsschema (SS), die Inbesitznahme eines begehrten Objektes ohne Gewaltanwendung gegen den gegnerischen Subjektaktanten. Wir wissen damit gleichzeitig, daß der Roman damit nicht zuende sein kann, denn von einem endgültigen Erwerb kann solange nicht die Rede sein, als der Gegner nicht geschlagen ist. Nach einigen Geplänkeln und Kämpfen mit Rittern und Vasallen des Königs von Antioch erreicht Demantin glücklich sein Land und feiert Hochzeit mit Sirgamot. Was sich bereits in den Kämpfen am Rande ankündigte,

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geschieht tatsächlich, die notwendige Folge des SS ist nun ohne Zögern das AS, der Versuch beider Seiten, das begehrte Objekt zu attribuieren. Vielleicht werden jetzt einige fragen, wo denn das umgekehrte SS bleibt, und damit sind wir bei einer durchaus interessanten Frage. Ich hatte Ihnen doch schon im vorangegangenen Kapitel erläutert, daß der krisenlose Roman eine Umkehrung des alten Romantyps darstellt. Diesen Gedanken verknüpfen wir nun mit dem Schema des sogenannten Spielmannsepos, und heraus kommt dann natürlich die durchaus logische Umkehrung auch dieses Prinzips, das sich ja der Abfolge von IAS > IAS > IAS > AS unterordnen muß. Das AS muß bei beiden Romantypen am Ende stehen, doch die Abfolge der beiden SS muß vertauscht sein, denn als einem Idealritter ist Demantin nicht zumutbar, daß er etwas, das er surreptiv erwirbt, auf die gleiche Weise wieder verliert. Daher ereignete sich das negative SS vor dem, das er nun anwendet, kurz, es war die Übergabe Sirgamots an den König von Antioch. Erinnern wir uns nur an die Schwierigkeiten, die man im Wigalois damit hatte, das letzte AS irgendwie so zu legitimieren, daß der Idealritter nichts von seiner Idealität verlor. Dieser Ablauf der Schemata, vom SS zum AS, glättet die Hürden doch wesentlich besser. Die ganz Aufmerksamen unter den Lesern werden jetzt vielleicht stutzig werden, erinnern sie sich doch daran, daß eigentlich der Brautvater immer den finsteren Part spielte, was ja überhaupt der Grund dafür war, Konflikte zu vermeiden. Nun wird es ganz besonders interessant. Uns müßte der Brautvater insgesamt unsympathisch sein, denn er verweigerte nicht nur einem verliebten Paar die Vereinigung, er machte darüber hinaus auch sein Töchterchen, wie sie häufig genug beklagt, unglücklich, indem er sie einem anderen gab. Und siehe da, als die Belagerung von Demantins Land beginnt, ist der Brautvater ebenfalls dabei, stellt sich also weiterhin auf die Seite der Feinde. Damit kämpft Demantin nunmehr gegen zwei gegnerische Subjektaktanten. Indem wir aber diese Konstellation vor uns liegen haben, sollte zumindest nach der Erfahrung, die wir im König Rother gesammelt haben, klar sein, daß bei solchen Auseinandersetzungen, bei denen der Brautvater mitkämpft, die letzte Konsequenz vermieden wird. Auch ist der König von Antioch kein Heide, was den Umstand legitimieren könnte, daß es zu Abschlachtungen kommt. Das einzige Problem ist halt nur, daß zwei gegnerische und unsympathische Subjektaktanten gegen einen stehen, doch zeigt sich, daß BERTHOLD dies beabsichtigt hatte. In einem Kampf nämlich trifft der Brautvater auf Demantin und wird besiegt. Der mag keinen Nutzen daraus ziehen und gebietet ihm, sich bei der eigenen Gattin gefangen zu melden. Im darauffolgenden Gespräch erfahren wir, daß der Brautvater dem König von Antioch den Tod Demantins geschworen hat. Dies ist eine folgenschwere Konstellation, die nicht zwischen Vater und Gatte Sirgamots ausgetragen werden kann, aber natürlich hat BERTHOLD einen Ausweg geplant.

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Denn jetzt kann Demantin ein Freund zu Hilfe kommen, der sich später in der Schlacht des Brautvaters annehmen wird. Es ist Firganant, der noch vor dem Heer aufbricht, das seine Gattin Beamunt führt. Nur muß sich vor der Schlacht Firganant selbst noch auszeichnen, muß einerseits für einen Beistand im Kampf um Sirgamot legitimiert sein, muß zumindest idealer sein als die beiden Gegner Demantins. Altbewährtes Mittel, diesen Status unter Beweis zu stellen, ist das IAS, und so erkennen wir plötzlich den Sinn in dem früheren Aufbrechen Firganants, in der Tatsache, daß er allein vor dem Heer sozusagen seinen eigenen âventiure-Weg zurücklegt. Wir kennen solche Taten (IAS) zu gut und werden sie übergehen. Erwähnenswert ist aber Firganants Einkehr bei dem Zwerg Comandion, in dessen Saal alle guten Ritter wirklichkeitsgetreu dargestellt sind, wohingegen die bösen mit dem Kopf nach unten gemalt sind. Demantin nimmt in dieser Darstellung den ersten Platz vor Firganant ein. Deutlicher braucht es BERTHOLD nicht zu sagen, wir wissen nun genau, daß Firganant ein ausgezeichneter Ritter ist, aber der Dichter scheint dem mittelalterlichen Publikum nicht getraut zu haben. Nachdem wir inzwischen so viele Abenteuer von Firganant vernommen haben, fühlt BERTHOLD sich im Zugzwang zu zeigen, daß Demantin, von dem wir in diesem Zeitraum ja nichts gehört hatten, doch eine Spur besser ist, und da reichen Bilder bei Zwergen halt nicht aus, da muß ein versehentlicher Kampf her, ganz so, wie er zwischen Parzival und Gawein stattfand, nachdem wir so viel von Gawein und so wenig von Parzival gehört hatten. Tatsächlich geraten die beiden Freunde unerkannt aneinander. Nach langem Kampf droht Firganant zu unterliegen und macht sich Mut, indem er den Namen Beamunts ruft. Daraufhin unterbricht Demantin sofort den Streit, man gibt sich zu erkennen, und wir kennen jetzt die exakten Kräfteverhältnisse. Der Rest ist schnell erzählt, es folgen viele Einzelkämpfe in mehreren Schlachten, viele Unbekannte fallen oder müssen sich ergeben. Schließlich muß sich der Brautvater dem Firganant ergeben, Demantin hingegen fängt den König von Antioch. Da nun die beiden Bösewichte festgenagelt sind, haben wir endlich die nötige Muße und Ruhe, uns den Sinn dieses letzten aktantiellen Erwerbs zu besehen, also der Frage nachzugehen, weshalb gerade Firganant den Brautvater, Demantin aber den König von Antioch besiegt. Ich hoffe, Sie durch den Wigalois etwas auf Schwierigkeiten vorbereitet zu haben, denn was jetzt folgt, um einen endgültigen Erwerb seitens eines Musterritters zu legitimieren, sprich, ihn unanfechtbar durch Erzählgesetzmäßigkeiten zu machen, ist, weiß Gott, auch nicht von Pappe. Betrachten wir zunächst einmal ganz genau die exakten Besitzverhältnisse. Zunächst will es uns ja so scheinen, als besäße der König von Antioch die kleine Sirgamot. Weit gefehlt, tut er nicht, und zwar nicht etwa deshalb, weil Demantin sie so keck geklaut hat (SS), sondern weil er sie im Prinzip noch nie besessen oder attribuiert hatte (AS ). Aus diesem Grund nur, nicht, weil er noch nicht mit ihr verheiratet

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war und sie noch nicht beschlafen hatte, sondern nur, weil er sie geschenkt bekommen hatte, ist er nicht ihr legitimer Besitzer (Erec). Statt dessen spielt er, wie Ymelot im König Rother, den Prügelknaben, wenn es gilt, daß Demantin schließlich etwas Erkennbares (AS) geleistet haben muß, wenn er sich als legitimer Besitzer Sirgamots ausweisen will, denn auch hier reicht ein Surreptionsschema nie und nimmer aus. Bliebe die Möglichkeit, dem wahren gegnerischen Subjektaktanten an die Karre zu fahren, dem Vater Sirgamots. Nun, auch dies geht, wie die Erfahrung im König Rother zeigt, auch aus moralischen Gründen schlecht, doch kommen hier noch strukturale Gründe hinzu. Vergessen wir nicht, daß Demantin ein krisenloser Idealritter ist, der im Prinzip gar nicht in der Lage ist, etwas aktantiell zu erwerben. Vergessen wir auch nicht, daß jeder Erwerb eines Objektaktanten seitens des Idealritters zumindest beim Publikum durch die literarische Vorprägung irgendwie das Gefühl geweckt hätte, jetzt müsse der Held in eine KRISE geraten. Um dieses Problem zu umschiffen, erweckt BERTHOLD Firganant zu neuem Leben, läßt ihn das erledigen, wozu sein Freund nicht in der Lage ist. Doch auch auf dieses Prinzip sind wir noch in diesem Roman vorbereitet worden, in der Episode, als Demantin den alten Phorian besiegt, den Pharion nicht besiegen durfte, denn erstens hätte der damit gegen die Erwerbsgesetze in Demantins Geschichte verstoßen, und zweitens scheint es sich immer noch nicht zu gehören, eine Gattin zu erwerben, indem man den Schwiegerpapa niederkämpft. Eigentlich also erwirbt Firganant Sirgamot für Demantin, der zwar selbst schon einmal ihren Vater besiegt hatte, dies aber nicht für seinen Erwerb nutzen durfte (weshalb BERTHOLD diese Episode überhaupt einflicht). Demantin muß Sirgamot also nicht aktantiell erwerben, Firganant dominiert für ihn und schenkt sie ihm, wobei, das dürfen wir nicht vergessen, dies unseren Helden nicht zu einem passiven Kerl verurteilt, der wegen einer Schwäche auf die Hilfe seiner Freunde angewiesen ist (Deswegen auch der versehentliche Vergleichskampf zwischen beiden), sondern halt nur wegen seiner Stärke, seines Unvermögens, etwas mit Hilfe des blutigen und daher ständig kritisierten Aktanten-schemas zu erwerben. Sie sehen, das ist alles ganz schön verwickelt, aber gerade deshalb auch so unglaublich interessant. Die Kämpfe sind also beendet, es wird Frieden gemacht, Demantin hat seine Sirgamot einigermaßen redlich erkämpft, beide treten die Herrschaft an, und wenn sie nicht gestorben sind... So weit der Demantin BERTHOLDs VON HOLLE, niemand kann behaupten, dieser Roman stelle einen vor unlösbare Probleme, noch weniger ist die Aussage berechtigt, er hätte keinen erkennbaren Sinn. Im Gegenteil, es ist eine abwechslungsreiche Geschichte, man erkennt deutlich, wie konsequent der Dichter seinen Plan verfolgt, wo er uns Verstehenshilfen gibt, wo er mit seinen Stoffen zur Erheiterung zu spielen versteht, wie er Spannung aufbaut. Natürlich ist er kein Erzähler vom Range eines HARTMANN oder eines WOLFRAM, natürlich sind die großen The-

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men mit dem Parzival abgeschlossen, natürlich ist die dort verwendete Struktur nicht mehr mit neuen Inhalten zu besetzen. Aber fanden Sie, daß der Kampf zwischen Firganant und Demantin eine blinde Motivübernahme ohne Sinn war? Er war hier genauso notwendig wie im Parzival, um nach den Abenteuern eines Nebenprotagonisten dem Publikum deutlich zu machen, daß unser Held immer noch der Größte ist. Insgesamt löst BERTHOLD die Probleme, die der krisenlose Roman stellt, glänzend, die Geschichte ist wenigstens so interessant wie der König Rother. Nur fehlt der Forschung halt eine Mitte, ein Verlust, eine wie immer geartete Zweiteilung, um ihre digitalen Phantasien unterzubringen; und was da herauskommen kann, haben wir bereits ertragen müssen. Wenn wir uns nun auch noch einmal vergegenwärtigen, zu welchen Schrecknissen die Filologen angesichts einer Zweiteilung von Romanen fähig sind, danken wir Gott, daß er uns Entsprechendes zum Demantin erspart hat. Ich denke, jedes Kind kann diesen Roman verstehen, wenn man ihn richtig erzählt und erklärt. Angesichts einer Wissenschaft, die mit ihrem Unfug lediglich ein akademisches Proletariat schafft, liegt der Gedanke, über Konsequenzen nachzudenken, verflucht nahe. Wenn wir einmal annehmen, daß Zehntausende von Studenten um ihre berechtigten Chancen im Berufsleben gebracht werden, weil der Quatsch, den sie lernen müssen, von keinem intelligenten Menschen beim besten Willen gebraucht werden kann, wenn sich die Urheber dieser Katastrophe in ihrem Elfenbeinturm hinter dem Beamtenrecht verschanzen können, sind da nicht mal die ersten Opfer auf der richtigen Seite fällig? So sei es!

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WILLEHALM VON ORLENS oder der Iwein für Kinder Wir haben im Anschluß an den größten Krisenroman des Mittelalters, den Parzival, behauptet, es könnten nun nie wieder KRISEN das zentrale Thema eines Romanes sein. Tatsächlich zeigte es sich auch, daß in der Nachfolge der krisenlose und verlustfreie Idealheld die Bühne betrat. Diese Ritter konnten nur unter größten erzählerischen Kapriolen gezwungen werden, ein Objekt aktantiell zu erwerben. Dies bedeutet eigentlich, daß sich die Anrüchigkeit des Aktantenschemas durchgesetzt und gefestigt hat. Das ist wenigstens unter dem Blickwinkel erstaunlich, daß es nun ja gar keine INSTANZEN mehr gibt, die den aktantiellen Erwerb als untaugliches Erwerbsmittel diffamieren. Ebensowenig waren jetzt noch jene höheren Werte wie Liebe, Gnade Huld und Ehre das Ziel der Protagonisten, sie waren vielmehr entweder bereits unverrückbar in ihrem Besitz, oder sie standen nicht zur Diskussion. Das alles beweist die feste Einbindung der nachhöfischen Romane in die Tradition der Fiktionalität. Sie ist bei Autoren wie beim Publikum uneingeschränkt vorauszusetzen. Wenn ich Ihnen zur Abwechslung jetzt aber zwei Romane präsentiere, die nicht krisenlos konstruiert sind, werden Sie wenigstens verblüfft sein, im schlimmsten Falle werden Sie alles bisher Gesagte, obwohl die Romane selbst dafür sprachen, nicht mehr glauben. Aber seien Sie unbesorgt, wenn wir es nun mit zwei Krisen zu tun bekommen, dann haben die mit unseren Vorstellungen von den früheren aber auch rein gar nichts mehr zu tun. Und weil dies so ist, haben die Dichter selbst alles unternommen, diese Krisen neu zu motivieren und zu definieren. Da es nun tatsächlich weder INSTANZEN noch höhere Werte gibt, die eine KRISE sozusagen implizit legitimierten, die uns an dem Handeln des Helden deutlich machten, daß er einen Fehler begangen hat, haben wir es jetzt mit einer direkt technischen und expliziten Konstruktion zu tun, die aber gerade deshalb so interessant ist, weil wir hier eben unzweideutig eine Definition der KRISE nachgeliefert bekommen. Was sich früher im Handeln des Helden erst äußerte, wird hier nun von einer Art Richter explizit als Strafe geäußert werden. Machen wir uns also völlig klar, daß die Selbstverständlichkeit der KRISE aufgehoben ist, es gibt keine natürliche Instanz mehr, es geht nicht mehr um Werte, die nicht erwerbbar sind, alle Variationsmöglichkeiten auf diesem Felde sind erschöpft. Und wenn man dann doch etwas Ähnliches darstellen will, dann wird aus der Selbstverständlichkeit die Notwendigkeit der künstlichen Verständlichkeit, aus der natürlichen Instanz wird eine gemachte. Wir können jederzeit bei RUDOLF VON EMS mehr Kenntnisse über die Krisenromane voraussetzen als bei unseren Mediävisten. Aus diesem Grund wäre es doch schön, wenn sich das, was wir zuvor lediglich implizit aus dem âventiure-Weg

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ermittelt haben, hier explizit vor uns auftut und nicht von unseren Vorstellungen abweicht. Ich habe aber auch einen weiteren Grund gehabt, den Willehalm von Orlens (WVO) im Anschluß an den Demantin vorzustellen. Wie wir sehen werden, ist der eine spiegelverkehrt zum anderen aufgebaut, bestehen beide aus den gleichen Elementen und Schemata, nur sind sie eben logischerweise andersherum aufgebaut. Natürlich ist dieser Zusammenhang der Forschung versehentlich entgangen, aber, wie wir inzwischen wissen, haben deren Vertreter so ihre Schwierigkeiten mit Spiegeln. Damit sind wir auch zugleich wieder bei unserem Lieblingsthema, bei der Forschung, die natürlich wegen der Zweiteilung des WVO hier wieder grundsätzlich aktiv wird. Ich hatte Ihnen hierzu einen ulkigen Abderitenstreich HAUGs versprochen, und natürlich halte ich mein Versprechen herzlich gern. Wie erwähnt deutet HAUG den WVO als Tristan-Kontra-faktur. Das ist nun so einfältig wie abstrus, weil beide Romane aber auch überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Alles, was ihnen gemein ist, ist das, was sie mit allen Romanen im Mittelalter gemein haben: Sie wurden nicht auf einer Schreibmaschine geschrieben. Ich kann daher nicht umhin, Ihnen näher auszuführen, was es mit dem Tristan auf sich hat. Es gibt im Mittelalter eine Romangruppe, zu der der Cligés, der Lanzelot, der Tristan, der Tristrant, das Nibelungenlied und der Engelhard gehören. Gemeinsames Kennzeichen dieser Romane ist das, was ich STELLVERTRETERERWERB nennen möchte. Das bedeutet, daß der Titelheld einem Dienstherren oder Freund in Stellvertretung eine Frau erwirbt oder daß ein Freund für den Helden einspringt. Dieser Erwerb läuft immer im Rahmen eines Aktantenschemas ab, und wir können uns inzwischen lebhaft vorstellen, daß hieraus Probleme erwachsen müssen, denn wir haben bisher immer gesehen, daß sich der, der ein Objekt aktantiell erwirbt, sich des Besitzes dieses Objektes sicher sein konnte. Teilweise wurden einem Helden, der im Rahmen des IAS handeln wollte, sogar die Objekte aufgedrängt ( Iwein ). Insgesamt haben wir im Bezug auf diese Erwerbsform also eine Art Besitzgarantie als Erwerbsfolge vorliegen. In allen diesen Romanen aber geschieht der folgenschwere Erwerb für jemand anderen. Tristan erwirbt Isolde für Marke, Cligés befreit Fenice für Alis, Siegfried erwirbt Brunhild für Günther, Lancelot erkämpft Ginover für Artus, und Dieterich erwirbt stellvertretend für Engelhard Engeltrut. Aus dieser Anlage müssen begreiflicherweise Probleme erwachsen, die lediglich im Cligés und im Engelhard nicht zu einem Debakel führen. In allen anderen Romanen werden die Spannungen nicht gelöst, sie enden im Tod und im Verderben. Doch möge diese Konstellation bitte niemand mit der im Demantin verwechseln, wo es beinahe den Anschein hatte, als erwürbe Firganant an der Stelle von Demantin die Königstochter. Deutlich hat der Dichter dort geklärt, daß Demantin diese kleine Unterstützung nicht aus Schwäche nötig hat. Die Verhältnisse der erwähnten Ro-

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mangruppe hier aber im einzelnen zu klären, würde nicht nur zu weit führen, es wäre das Thema eines weiteren Buches. Nur soviel sollte klar geworden sein, daß der Tristan zu einer geschlossenen Romangruppe gehört, die völlig eigene Funktionsprinzipien aufweist, Prinzipien, die durchaus mit den bereits dargestellten verwandt sind, die aber eine eigene Familie bilden. Wie gesagt, wird auch hier eine Diskussion des aktantiellen Erwerbs vorgenommen, doch mit völlig anderen Mitteln, mit gänzlich andersartiger Sinnkonstitution. Sind aber Gattungsvertreter ohnehin genetisch untereinander verwandt, ist jeder Gedanke, der eine sei eine Kontrafaktur des anderen, der eine sei eine Besserung des anderen, völlig haltlos. Pferd und Esel sind miteinander genetisch noch so verwandt, daß sie untereinander kreuzbar sind, wer aber käme auf den Gedanken, das eine Tier für eine Kontrafaktur des anderen zu halten. Machen wir uns zudem klar, daß Kontrafakturen ohnehin nicht zum Normalfall zählen, sie sind vielmehr in der erzählenden Dichtung überaus selten. Damit wäre für normal denkende Menschen das Kapitel abgeschlossen. Nicht so für HAUG, der weiterhin darauf insistiert, und das auch noch auf Kosten des WVO, der schließlich zu einer mißglückten Kontrafaktur wird. Der Unsinn dieser Logik wird offensichtlich, wenn wir einfach nur einen kleinen Schritt weitergehen und annehmen, daß der WVO vielleicht eine unüberbietbar schlechte Tristan-Kontrafaktur ist. Wie hoch darf denn eigentlich die Mißlingensquote einer Kontrafaktur sein, damit sie überhaupt noch eine solche ist und nicht vielmehr ein ganz normaler gutgemeinter und eigenständiger Roman, der von all diesem Unsinn nichts weiß. Was nun folgt, ist ein Beispiel für eine spektakuläre Entgleisung eines Verstandes: Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß das Werk vor dem Hintergrund des > Tristan < verstanden, ja als kritische > Tristan < -Kontrafaktur begriffen werden sollte. Dabei mußte Rudolf, um die Handlung kontrastiv durchzuführen, zahlreiche Unstimmigkeiten und Widerspräche in Kauf nehmen. [HAUG, Literaturtheorie im Mittelalter, S. 327 ] Wissen Sie, dann dürfte man getrost alles, was zu 10% aus Gemeinsamkeiten und zu 90% aus Unterschieden besteht, zur Kontrafaktur erklären, zu einer sehr schlechten noch dazu, und die Frage muß lauten, was wir dadurch gewonnen hätten. Ich kann nur wieder warnen, dergleichen in der Öffentlichkeit zu behaupten, man würde sofort ins Landeskrankenhaus eingewiesen werden. Wir aber sollten uns diese Versauungen von Literatur nicht mehr länger bieten lassen. Niemand darf irgendeinem literarischen Werk des Mittelalters seinen eigenen Schwachsinn unterstellen, um dann zu behaupten, dieser Schwachsinn sei darüber hinaus sehr fehlerhaft ausgeführt. Merken Sie, daß da eine nicht mehr alltägliche Arroganz hintersteckt, merken Sie, daß alle Gipfelstürmereien der Geisteswissenschaft eigentlich nur ihre eigene Erkenntnisun-

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fähigkeit zum Maßstab für so viele Dinge machte. Merken Sie, daß die Krise der Geisteswissenschaften überhaupt kein finanzielles Problem ist. Merken Sie, daß man tatsächlich die Studienzeiten verkürzen kann, wenn man verhindert, daß unausgegorener Schwachsinn gelehrt wird? Alles, was HAUG (sich) leistet, ist die wohlfeile Behauptung, ein Pferd sei die Kontrafaktur eines Esels, nur eine schlechte halt, er jedenfalls hätte das besser gemacht. Nun werden Sie, aufmerksamer Leser, mit größter Wahrscheinlichkeit bei sich denken, daß dies ja nun derart offensichtlicher Mumpitz ist, daß doch wenigstens diese Abstrusität auf Widerspruch, und sei es nur bei einem einzigen mutigen Filologen, hätte stoßen müssen, da nun wirklich jedes Kind dies zu entlarven vermöchte, und recht haben Sie, ganz so trist ist die Lage auf den ersten Blick nicht, da gibt es einen, ja, einen, der dies zu bemerken scheint, doch lesen wir selbst: Gewiß k a n n man den Willehalm von Orlens dergestalt als "Anti-Tristan" lesen, aber das setzt einen Abstraktionsaufwand voraus, den vom Publikum zu verlangen Rudolfs unzweifelhaftem Bemühen um lehrhafte Anschaulichkeit strikt zuwiderliefe. [HEINZLE, J., Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 2/2, S. 45] Tröstlich, ja sogar heilsam mag uns die Kritik HEINZLEs erscheinen, und wenn wir der Bequemlichkeit halber die Quintessenz des Gesagten herausziehen, so bleibt es bei der richtigen Einsicht, daß der Willehalm von Orlens tatsächlich nichts mit dem Tristan zu tun hat. Doch leider sagt HEINZLE das nicht, nein, er deutet es allenfalls an, und was schlimmer ist, er gibt es lediglich zu bedenken, grad so, als sei er sich seiner Kritik nicht vollends sicher, so, als wolle er sich dazu halt nicht definitiv bekennen. Kein klares Wort, keine uneingeschränkt geltende Meinung, statt dessen der sülzige Beginn mit einem Zugeständnis. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer, lieber Leser, man k a n n alles, man k a n n auch alles als etwas anderes lesen (warum also nicht gleich das richtige Buch zur Hand nehmen), man k a n n auch Krieg und Frieden als Max und Moritz-Kontrafaktur lesen, man k a n n demzufolge auch jeden Idioten zum Germanistikprofessor machen, man k a n n es aber auch lassen, und man s o l l t e es vielleicht auch einmal tun! Natürlich aber kann man den Willehalm von Orlens nicht als Tristan-Kontrafaktur lesen, und hier sehe ich noch einen Hasen im Pfeffer liegen, aber wer immer es doch k a n n , der verfügt nur eben nicht mehr über ein, wie HEINZLE sich auszudrücken beliebt, hohes Abstraktionsvermögen, der verfügt allenfalls, ich will es einmal schmeichelhaft ausdrücken, über etwas viel Phantasie. Hinzu kommt dann noch, daß HEINZLE hier völlig übersieht, daß HAUG einen recht eigenwilligen Kontrafakturparameter ersinnt, der, da er nicht passen will, zur Rute umfunktioniert wird, doch wollen wir HEINZLE dafür nicht böse sein, immerhin hat er sich für seine

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Verhältnisse redlich Mühe gegeben, und uns mag sich eröffnen, weshalb seine Literaturgeschichte verramscht wird. Schauen wir nunmehr, was der Willehalm von Orlens für eine eigenständige Geschichte ist, wie sie funktioniert, und wie man sie leicht verstehen kann. Wie so häufig können wir auch hier die Vorgeschichte von Willehalms Eltern übergehen. Willehalms Vater wird bei Streitigkeiten mit Jofrit von Brabant getötet, seine Mutter stirbt kurz darauf. Willehalm wird daraufhin von Jofrit adoptiert und genießt eine ausgezeichnete Erziehung. Ganz ähnlich, wie wir es bei Gre-gorius sahen, ist er allen Gleichaltrigen in seiner Entwicklung weit voraus. Natürlich lernt er lesen und schreiben, was später von einiger Wichtigkeit sein wird. Im Alter von acht Jahren erfährt er seine wahre Herkunft und will wie Gregorius erst einmal fort. Jofrit rät ihm, den englischen König aufzusuchen, und so geht Willehahn, wie es in der Adoleszenz beinahe üblich war, an den englischen Hof, um seine höfische Erziehung zu vervollkommnen. Der englische König hat eine wunderschöne Tochter namens Amelie, in die sich unser Held unsterblich verliebt. Es bedarf vieler Leiden und Krankheiten von seiner Seite, bis sie endlich seine Liebe erhört und erwidert. Doch will sich Amelie erst hingeben, wenn er seinen Ritterschlag empfangen und sich auf vielen Turnieren bewährt hat: "So wil ich das du laitest swert Und dise lichten sumerzit Des körnen úns vil nahe lit, Mit dienste min ritter sist. So du knehtes namen begist Und man dich ritter nemmen sol, So zimet dir erst ze dinen wol Nach werder vrouwen lone. Du soll den sumer schone Min ritter, ich din vrouwe sin, So laiste ich al den willen din Swenne ich bevinde das din muot Minen willen gerne tuot." [WVO, 5152 ff. "Ich verlange, daß du den Ritterschlag empfängst und noch diesen Sommer, der nicht mehr fern ist, Ritter in meinen Diensten bist. Sobald du nicht mehr Knecht, sondern Ritter heißt, so ist es angemessen, um den Lohn edler Damen zu dienen. Du mußt diesen Sommer mein Ritter, ich deine Dame sein, dann erfülle ich dir jeden Willen, wenn ich merke, daß du gern meinen Willen befolgst."]

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Was wir hier lesen konnten, klingt auf den ersten Blick völlig normal, aber vergegenwärtigen wir uns, hier sprechen Jugendliche in einem Alter von höchstens zwölf oder dreizehn Jahren. Das wäre schließlich noch einigermaßen akzeptabel, aber schauen Sie einmal auf die Verszahl, und lassen Sie sich sagen, daß der Roman insgesamt 15.000 Verse umfaßt. Nein, die Vorgeschichte mit den Eltern hat nicht so lange gedauert, die schleppende, ja ätzend langsame Erzählweise hat einen ganz anderen Grund, den ich Ihnen die ganze Zeit erspart habe. Wir haben es hier nämlich mit dem ersten Roman zu tun, der sich ausschließlich an ein jugendliches Publikum wendet. Daher erklärt sich, daß Willehalms Schulzeit so ausführlich behandelt wird, ständig plappert uns RUDOLF ungebeten seine pädagogischen Erkenntnisse dazwischen, so daß es für einen Erwachsenen verdammt schwer ist, diesen Roman zu lesen. Alles wird peinlich genau beschrieben und erklärt, reflektiert und als Lebenslehre verkauft. Man kann annehmen, daß die detaillierte Beschreibung der KRISE als auferlegte Strafe nicht zuletzt für das jugendliche Publikum in dieser Art zubereitet worden ist. Eine Übersetzung dieses Ro-manes wäre für zehnjährige Kinder auf jeden Fall die geeignete Lektüre und sicher bald ein Bestseller. Kurz, Willehalm empfängt daheim in Brabant den Ritterschlag und begibt sich auf Turniere. In dieser Zeit ist Pitipas ständiger Bote zwischen den Verliebten, die sich unendlich langweilige Liebesbriefe schreiben. Während eines Turniers in Poy gelingt es Willehalm, Avenis, den König von Spanien, aus dem Sattel zu werfen. Dieser Avenis wird später sein Konkurrent um Amelie sein. Merken wir uns für das Folgende lediglich, daß Willehalm sich als der Bessere erweist. Insgesamt wird Willehalm in diesem Turnier vor allen mit dem Sperber ausgezeichnet. Dann schickt er sofort eine Depesche zu Amelia, um zu sagen, wie stark er sich ihr verbunden fühle, und auch, wenn er es ihr nicht direkt sagen darf, uns allen ist klar, daß er sich inzwischen auf Turnieren ausgezeichnet hat, daß Amelie dies weiß, und daß damit alle Hindernisse für eine Vereinigung überwunden sind. Jetzt erst, bei Vers 8100, fängt die eigentliche Geschichte an, die bislang so platt war, daß nur ein Professor darin Seltsames erblicken kann. Der König Avenis beschließt plötzlich, die Turniere sausen zu lassen, um Frieden mit dem englischen König zu schließen. Davon aber, so klärt uns RUDOLF auf, hat Willehalm keine Ahnung, er bleibt weiterhin zu Gast in Poy. Dies aber spielt sich währenddessen in England ab:

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Ain suone wart under in zwain Mit dem gedinge braht en ain Das der kúnic von Engellant Sine tohter sa ze hant Dem Spanjol gaebe. das ergie: [WVO, 8129 ff. Ein Vertrag wurde unter ihnen beiden abgeschlossen, an den sich die Bedingung knüpfte, daß der König von England sofort dem Spanier die Tochter zur Frau geben müsse. Das wurde beschlossen.] Kaum erfährt Amelie von diesem Vertrag, schickt sie eilends Pitipas zu Willehalm und klärt ihn über die Situation auf. Jetzt wird es erstmals spannend, doch dauert es nochmals bis zum Vers 8532, bis es heißen kann: Do kom geloffen Pitipas. Es stellt sich heraus, daß der Bote drei Wochen unterwegs war und daß es noch acht Tage bis zur Hochzeit sind. Unter dieser Art von Zeitdruck ist guter Rat teuer, und so berät sich Willehalm mit seinen Freunden. Das Ergebnis des Kriegsrates ist dies: Wir moehten in so kurzen tagen Niemer komen dar mit kraft. so gaehes und auch nu zehant, War nemen wir die ritterschaft so gahes und ouch nu zehant Das wir moehten nu ze Engellant Gewalteclichen riten Und mit dem kúnge striten? Ouch het er mir niht getan Das ich mit fuog in súl bestan. Ratent irs, so wil ich dar Fueren ane cleine schar Und wil im hainliche Komen in das riche. Drú hundert man gewinne ich wol Der mir ieglicher sol Getúiwelichen beraitet sin Dienest, wan si sint min Und mine dienest man genant. Mit den wil ich in das lant komen hainlich nach ir; Mac si danne werden mir, So fuoer ich si benamen dan. Kumet úns danne ieman an,

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So kumen wir mit ringer schar Dannan bas den ob wir dar Brehtin ain vil michel her, Das doch hette claine wer Gen dem lande da." Do duhte al die Herren sä Sin selbes rat der beste. [WVO, 8658 ff. "Wir schaffen es nie, mit einem ganzen Heer in so kurzer Zeit dahinzukommen. Wo bekämen wir überhaupt so schnell ein Heer zusammen, mit dem wir eindrucksvoll hinreiten könnten, um mit dem König zu kämpfen? Zudem hat ja nicht er mir etwas getan, so daß ich ihn mit Recht bekämpfte. Wenn ihr zustimmt, so will ich eine kleine Truppe zusammenstellen und heimlich in sein Reich eindringen. Dreihundert Männer bekomme ich leicht zusammen, die ihre rechte Hand für mich hergeben, weil sie meine Leibeigenen oder Angestellten sind. Mit denen will ich in das Reich heimlich zu ihr kommen; kann ich sie in meine Gewalt bekommen, so entführe ich sie auf der Stelle. Stellt sich uns irgend jemand in den Weg, so entrinnen wir mit einer kleinen Schar leichter als mit einem Heer, das sich ohnehin nicht gegen ein ganzes Land wehren könnte." Allen Herren gefiel Willehalms eigener Rat am besten.] Dies also ist Willehahns Plan, uns ist er besser geläufig unter der Bezeichnung Surreptionsschema. Interessant ist nun aber der Umstand, daß der Plan vor dem Publikum, also vor uns detailliert mit Für und Wider ausgeführt wird. Gerade die Punkte, die dafür sprechen, eine Entführung zu inszenieren, als da sind die Konfrontationsvermeidung überhaupt, die Vermeidung einer Auseinandersetzung mit dem Brautvater und die Terminnot, sind hier erstmals explizit ausgeführt. Wenn wir an den König Rother und die Kudrun zurückdenken, so wurde uns dies aus Gründen der Spannung vorenthalten, wir konnten es nur miterleben. Zwei Gründe aber sprechen dafür, daß dieser Plan preisgegeben werden kann. Zum einen benötigen jugendliche Leser mehr offene Hinweise, um zu verstehen, wie die Handlung abläuft, zum zweiten wird dieser Plan mißlingen, was es notwendig macht, ihn wenigstens in seiner Planungsphase offenzulegen. In England angekommen, erfährt Willehalm, daß Avenis jeden Moment eintreffen muß, was seinen Zugzwang weiter verstärkt. Die heimliche Entführung Amelies gelingt zunächst, doch setzen den Fliehenden nach kurzer Zeit so viele Verfolger nach, daß es an einer Brücke schließlich doch zum Kampf kommt. Im Prinzip ist damit der surreptive Erwerb gescheitert. Jetzt beginnt die aktantielle Auseinandersetzung, in deren Verlauf Willehalm seinen gegnerischen Subjekt-aktanten Avenis so vom Pferd stechen kann, daß er sich ein Bein bricht, doch kann er keine Entschei-

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dung herbeiführen. Schließlich wird er selbst von einem spanischen Grafen mit dem Speer schwer in der Schulter verletzt und muß sich ihm ergeben. Betrachten wir die Geschehnisse genauer, so fällt auf, daß weder ein Surreptionsschema noch ein Aktantenschema zur Vollendung kommt. Selbst wenn Willehalm Avenis besiegt, zeigt dies dem Leser nur wie im Turnier, daß er prinzipiell in der Lage wäre, Amelie im Einzelkampf gegen ihn für sich zu erwerben. Aber zu dieser Entscheidung soll es bewußt nicht kommen, und so hat Willehalm, der sich dem Grafen ergeben mußte, Amelie nicht im Kampf verloren, denn der Graf ist nicht der gegnerische Subjektaktant. Wir stehen somit vor dem einzigartigen Fall, daß die Erwerbsversuche, die auch hier kritisiert werden sollen, erst gar nicht vollendet werden dürfen. Das hat besondere Gründe, der wichtigste ist der, daß es hier keine Instanz mehr gibt, die so mächtig wäre, Willehalm nach seinem vollendeten aktantiellen Erwerb bestimmte Werte zu entziehen. Konnte daher im Iwein der aktantielle Erwerb noch im Nachhinein verdammt werden, so muß es hier vor einer Vollendung geschehen, denn ich kann immer nur wiederholen, es gibt keine Instanz mehr. Damit hängt aber auch zusammen, daß es keine vordergründigen Motivationen mehr für die KRISE geben muß, die eigentlichen Gründe liegen hier auf der Hand, sind mundgerecht für die jugendlichen Leser und Hörer zubereitet. Entsprechend profanisiert ist daher auch die KRISE, denn hier werden erstmals nicht WERTE entzogen, sondern nur Objekte. Damit ist natürlich die ganze Idee des Figuralschemas trivialisiert und der neuen literarischen Situation angepaßt. Hinzu kommt, daß die Situation, in die Willehalm sich begeben muß, eine verordnete KRISE ist, keine genuine, wie sie den Helden früher einfach ergriff, nachdem ihm z.B. die Gunst oder die höfische Anerkennung entzogen wurde. Nach wie vor meine ich, daß diese Verharmlosung der alten Zentralthemen zum einen auf das jugendliche Publikum zurückgeführt werden kann, für das RUDOLF geschrieben hat, zum anderen ist aber eine Instandsetzung der alten Strukturen nicht mehr möglich, da alle Themen bereits abgehandelt waren. Blieb also nur noch diese profanisierte Aufbereitung. Die Pseudoinstanz, die sich Willehalms Schicksal ausdenkt, ist ein alter, weiser Mann aus dem königlichen Rat. Lesen wir sein Urteil und achten wir darauf, was wir alles von dem wiedererkennen, was Iwein alles zufällig oder automatisch zustieß. Do sprach der werde wise man “Nu han ich in geschaiden wol Wie er die vraevel buozen sol. Wan sol in hinnan ledic sin: Das si zeren getan Dem graven Steven der in hat. Dem lande umb sin missetat Sol er verswern nu diu lant

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Die im ze erbenne sint benant. Ouch sol er swern hie das er In dis kúnecriche her Niemer kome, es si das in Der kúnec haize komen drin. Dem kunege er auch rihten sol, Er hate das gedienet wol Das er lip und auch das leben Umbe die schulde solde geben. , Da von sol im diu geschult Vergeben ane komen niht: Ich wil ertailen im das er in sinen wunden das sper Ze allen ziten lasse sin Und disen wol gedienten pin Dem kúnge ze gerichte gebe, Und das man das sper unz das er lebe In siner wunden steken sehe, Ez si das im das hail geschehe Das es von art ain künegin Ziehe us der wunden sin. Mine vrouwen Beatrisen, Die kúsche und die wisen, Und die vrouwen die hie sint, Hat er, auch des kúnges kint Mit disen dingen enteret Das man ins gar verkeret. Er mac lihte sin ain man Der so gefuege rede kau Das er úberredet ain kint Der dinge die nu laster sint, Als er die wandels vrien, Die kúnschen Amalien, Ueberredet ir lasters hat. Die wandelbaeren missetat Sol er der rainen suezen Mit swaerer buoze buezen: Er sol fúr húte disen tac, Die wil er nu geleben mac, Niemer wort gesprechen me.

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Es si das es im also er ge Das im mit flehlichen sitte Vor Amalie sprechen bitte Von munde zu munde. Das hail und ouch die stunde Wirt also wol undersehen Des es niemer kan geschehen." [WVO, 9434 ff. Daraufhin verkündete der edle, weise Mann: "Nun werde ich Euch darlegen, wie er seine Missetat büßen (bessern) soll. Er soll der weltlichen Gerichtsbarkeit entzogen sein. Das geschieht in Achtung des Grafen Steven, der ihn gefangennahm (Der hatte sich geweigert, Willehalm der Justiz auszuhändigen). Da er das ganze Land mit seiner Tat beleidigt hat, soll er allen den Ländereien entsagen, die sein Erbe sind. Auch soll er schwören, daß er nie wieder dieses Königreich betritt, es sei, der König selbst gebietet es ausdrücklich. Auch dem König soll er Wiedergutmachung leisten. Eigentlich hat er ja wegen seiner Tat die Todesstrafe verdient. Von daher soll er diesbezüglich nicht straflos davonkommen: Ich erlege ihm auf, daß er von nun an und immerdar den Speer in der Wunde stecken lassen muß als verdiente Strafe für die Majestätsbeleidigung, damit man den Speer bis an sein Lebensende in der Wunde stecken sieht. Es sei hingegen, daß er das Glück hat, daß eine Dame von königlichem Geschlecht ihn aus seiner Wunde zieht. Meine züchtige und weise Herrin Beatrice und alle Damen, die am Hofe leben, besonders aber die Königstochter hat er mit seinen Taten entehrt. Das muß man ihm direkt abgewöhnen. Er ist nämlich offensichtlich ein Mann, der über so wohlgesetzte Rede verfügt, daß er ein Kind zu Dingen überreden kann, die lasterhaft sind, so wie er auch die sittsame Amelie zu derartigen Lastern überredet hat. Dieses tadelnswerte Vergehen soll er der tugendhaften reinen Amelie mit schwerster Strafe büßen. Solange er lebt, soll er von heute an nie wieder ein Wort sprechen, es sei denn, daß es ihm widerfahren sollte, daß ihn Amelie ausdrücklich und mündlich darum ersucht. Diese Errettung, diesen Moment, halten wir aber für gänzlich undenkbar."] Diese Textstelle ist die wichtigste im ganzen Roman, wir müssen sie analysieren. Machen wir uns klar, daß Willehalm durch das Veto des Grafen Steven der weltlichen Justiz, die sofort die Todesstrafe gefordert hätte, entzogen wurde. Dadurch erhält das Urteil eines edlen Weisen ganz subtil den Charakter eines Instanzspruches. Dieser Eindruck wird gestützt durch die seltsamen Strafen, die Willehalm aufgebürdet werden. Sie sind in hohem Maße bildhaft und komplementär zu seinem Vergehen ausgestaltet. Ganz leicht klingen hier wieder märchenhafte Züge an, mahnen an das, was wir früher als KRISE kennenlernten. Was Willehalm hingegen entzogen wird, sind nur Objekte wie Land, Heilung, Sprache und Amelie. Das Witzige aber ist, daß

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die auferlegte Strafe unseren Helden in einen Zustand versetzt, den wir nur allzu gut aus dem Iwein kennen. Da wäre der Verlust seines Besitzes, der ihn heimatlos macht. Hinzu kommt der Schmerz durch eine Wunde, den nur eine adlige Dame heilen kann. Erinnern wir uns an die Gräfin von Narison mit der Zaubersalbe, der wir damals den Titel KRISENHELFERIN gaben. Ganz witzig wird es mit dem Sprechverbot, denn dies wird, obwohl Willehalm Alphabet ist, eine Anonymität seiner Person motivieren, ja, er wird sogar ein Pseudonym erhalten, das sinnigerweise der stumme Ritter lautet. Seltsamerweise ist, wenngleich als völlig unmöglich dargestellt, sogar schon der Akt der Vergebung vorgezeichnet. Stellen Sie sich doch nur mal die Reaktion jugendlicher Zuhörer vor, wenn RUDOLF diese positiven Aussichten verschwiegen hätte. Gäbe es hier keine Hilfe und kein Ziel, Willehalm könnte sich begraben lassen. Eines aber gibt RUDOLF nicht preis, nämlich den Weg, den Willehalm gehen muß, um geläutert zu werden, aber wir ahnen bereits, um was es sich handeln wird, nur müssen wir damit rechnen, daß auch dieser bekannte Weg seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat und nun mehr und mehr zur bloßen Buße wird. Die Auflösungstendenzen hinsichtlich einer Struktur, die ihre Vollendung bei HARTMANN und WOLFRAM fand, ist offensichtlich, und wir werden sehen, daß die ehemalige Idee der Meisterwerke bis ins 16. Jahrhundert zwar noch weiterwirkt, daß sie aber zu einem profanen Ritual erstarrt, das nurmehr die platte Erwerbslegitimation ebenso profaner Objekte bis heute erzählerisch figuriert. Wenn Sie sich aber genau erinnern, dann war früher mit der KRISE ein Verlust von Dingen beschrieben, die kein anderer, kein gegnerischer Subjektaktant an der Stelle des Helden hätte erwerben können. Hier aber lauert ja immer noch der spanische König Avenis, der jetzt ja einfach Amelie heiraten könnte. Dann aber wäre alles Büßen für Willehalm nur Strafe, kein Erfolgsrezept. Meinen Sie nicht auch, daß Avenis, Vertrag hin Vertrag her, einfach fairerweise auf Amelie verzichten sollte? Diu sueze hate ze aller zit Mit jamer soelchen widerstrit Das si sich kelte unz an den tot, Swenne ir der kúnic ieman bot Ze man an den degen wis. Do das der Spanjol Avenis Bevant und ze allen ziten sach, Er zurnde ouch ser und sprach "Her kúnic, hant uf minen lip, E ich dekain wip Mit minem willen naeme Der ich so widerzaeme

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Waer als ich iuwer tohter bin, E wolt ich von mir geben hin Mit willen guot, ere und lant, Und wolle ain múnic sin genant;" [WVO, 10333 ff. Die liebliche Amelie stellte sich nun jedesmal mit großem Geheule bockig an, daß sie beinahe das Leben verlor, wenn ihr der König jemand anderen als unseren Helden zum Gatten anbot. Als der spanische König dies gewahr wurde und immer wieder erleben mußte, wurde er zornig und sprach: "Bei meinem Leben, edler König, bevor ich eine Frau nehme, der ich so unangenehm bin wie Eurer Tochter, wollte ich lieber auf meinen Besitz, Ansehen und mein Reich verzichten und Mönch werden."] Sehen Sie, so plötzlich können Probleme aus der Welt geschafft werden, damit jedem klar ist, daß Willehalm seine Chance bekommt, Amelie doch noch zu gewinnen. Wenn sich aber die Ursache für die geschehenen Untaten so einfach aus der Welt schaffen läßt, stellt sich die berechtigte Frage, ob Willehahn denn seinerseits die aufoktroyierte Strafe ernst nimmt, ob er nicht vielleicht geneigt ist, nach diesen Regeln gar nicht mitzuspielen. Diese Frage scheint vom pädagogischen Standpunkt aus gesehen zumindest interessant genug gewesen zu sein, daß RUDOLF extra eine Episode einflicht, um zu zeigen, daß Willehalm kein Spielverderber ist. Bedenken wir immer, daß dies ein Jugendbuch ist, bei dem man nicht unbedingt von einem Handlungsautomatismus ausgehen darf, wie dies in den literarischen Vorgängern geschah. Natürlich ist Rudolf selbst mit den Klassikern vertraut, sein jugendliches Publikum hingegen nicht, und deshalb richtet er besonderes Augenmerk darauf, eventuellen Fragen und Unsicherheiten seiner Leser und Hörer zuvorzukommen. Deshalb erfahren wir noch zuvor, gleich nachdem Willehahn vom Hof wegreitet und an die Küste gelangt, wie ernsthaft er sich an die auferlegte Buße hält. Er kehrt bei einem Schiffer ein, der ihn so empfängt: Der enpfie in minnecliche Und fragte in siner swaere, Wie und was im waere. Dem sait er nút. vil stille er swaic, Sinem gruoz er schone naic. Ze huse fuort in der schifmann do Und schuof im sin gemach so, Waere er des Herren aigen, Er mochte niht erzaigen Noch grosser trúwe erzaiget han

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Danne als im wart von im getan, So guot schuof er im sin gemach. Do der schifman ersach In der wunden das isen, Er fragt den wisen Ob er es soelte ziehen dan. Do wert es der getrúwe man Winkende mit siner hant. [WVO, 9960 ff. Der empfing ihn zuvorkommend und fragte ihn nach seinem Kummer, was ihn beschwere und wie es dazu gekommen sei. Dem gab er keine Antwort. Er blieb vollkommen stumm und erwiderte seine Höflichkeit durch vollendete Verbeugungen. Der Schiffer führte ihn in sein Haus und bereitete ihm jegliche Bequemlichkeit; auch wenn er sein Leibeigener gewesen wäre, er hätte keine größere Hilfsbereitschaft zeigen können, als er tat, so vorzüglich kümmerte er sich um ihn. Als der Schiffer die Speerspitze in der Wunde entdeckte, fragte er, ob er sie herausziehen sollte. Da aber verwehrte es der brave Ritter durch heftiges Abwinken mit der Hand.] Dies alles, lieber Leser, ist für den, der im höfischen Roman etwas bewandert ist, höchst seltsam. Fälle, in denen sozusagen regelwidrig Hilfe angeboten wurde, die nur deshalb abgelehnt wurde, weil sie der Regel widersprochen hätte, gab es nicht, weil alles geregelt ablief. Iwein stellt sich natürlich keine Alternative, die Gräfin von Narison, die die Zaubersalbe besitzt, ist auf Anhieb die richtige. Dies zeigt, ich kann es nur wiederholen, die pädagogische Absicht RUDOLFs, zeigt die Mühe, die er sich gab, um einem jugendlichen und unerfahrenen Publikum das Verstehen zu erleichtern. Das alles wäre kaum ein Grund, immer wieder auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, gäbe es da nicht unsere braven Professoren, die nicht einmal die leichte Kost des Willehalm von Orlens verdauen können, die nicht einmal die Lese- und Verstehensanweisungen des Dichters bemerken können, die doch für Kinder gemacht waren, und die doch im Mittelalter jedes Kind verstehen konnte. Wir können diese Verweigerung, zu verstehen, tatsächlich mit dem plattesten Vergleich belegen, den ich kenne, den ich bislang aus mancherlei Gründen nicht verwenden wollte, ließ doch seine Form allzu gute Rückschlüsse auf den Verwender zu, aber hier kann man nur noch das schlechthin Geistlose selbst als Waffe verwenden: Die Herren Ordinarii sind zu blöd, um ein Tablett fallen zu lassen, wenn die Gebrauchsanweisung dabeisteht. Folgen wir nunmehr weiter den Spuren Willehalms, der setzt nämlich über die See und landet in Norwegen. Daselbst erkennt man trotz seines Schweigens, daß er ein höfischer Ritter ist, und nimmt ihn auf. Die Ritter und Damen wollen ihn von der Speerspitze befreien, doch Willehalm wehrt sich so heftig, daß er ohnmächtig wird.

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Kaum erwacht, nähert sich ihm Duzabele, die Tochter des norwegischen Königs, um ihn zur Operation zu bewegen: Diu clare sueze zuoz im gie, Mit bette si in umbevie, Si sprach "suezer man, la mich Von dinen noeten loesen dich!" Die hende er gen brüste vielt, Wart er guoter zßuhte wielt Und naic der werden guoten, Das si des künde muoten Des er genesen solte, Wan si im helfen wolte Von siner not. do graf si her In die wunden an das sper Mit ir lichten henden wis, An den lac hoher Gottes vlis, Und zoh unz an die stunde Das ir das sper begunde Volgen us der wunden dan. [WVO, 10121 ff. Die reine Schöne ging zu ihm und bat ihn inständig: "Edler Mann, gestatte mir, dich von deinen Qualen zu erlösen!" Da führte er die Hände an die Brust, denn er wußte, wie man sich benehmen mußte, und bedeutete der edlen Dame, daß ihr Begehren erfüllt würde, daß sie ihn heilen könne, wenn sie ihn aus seiner Not befreien wolle. Darauf umfaßte sie die Spitze in der Wunde mit ihren wohlgestalteten Händen, die Gott mit Könnerschaft geformt hatte, und zog so lange, bis der Speer sich löste und aus der Wunde kam.] Mit der Wahl des Arztes hatte Willehalm ja bei der geringen Auswahl unverschämtes Glück, Glück auch insofern, daß der weise Rat, der diese Strafe ausgeheckt hatte, auch Möglichkeiten einflocht, die eine Wendung zum Guten erlauben. Daher gilt unsere Aufmerksamkeit von nun an den Möglichkeiten, die sich unserem Helden bieten, Amelie für sich zu gewinnen, denn wie dies gelingen könnte, erklärte uns der weise Mann ja bekanntlich nicht. Der Frühling war ins Land gezogen, da kamen Boten des Königs Wittig von Dänemark an den Hof des Königs Amelot von Norwegen, die eine Depesche folgenden Inhalts überbrachten:

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"Richer Amelot! Mit frúntschaft frúntlichen gruoz Dar nach als es nu wesen muos, Enbútet und den dienest sin lu der kúnic Witechin. Rehte als ir mir hant getan, Dar nach sont ir den gruoz verstan, Es sig úbel alde guot. Ir wissent wol das ir mir tuot Das schadelichste ungemach Das ie kúnge nie geschach. Iu ist vil wol erkant das ir nement mit gewalte mir Zwai diu richsten ainlant, Die nu dienent iuwer hant. Das sont ir wissen wol das ir Die baidiu soltent haben von mir; Nu went irs aigenlichen han. Went ir dez noch ze buoze stan Und, als ir sont, diu baidiu laut Entphahen noch von miner hant, So lasse ich iuch ze hulden komen, Und swas ir mir hant genomen An disen landen die sint min, Das sol iu gar vergeben sin!" [WVO, 10556 ff. "Mächtiger König Amelot! Den allerfreundlichsten Gruß nach den üblichen Floskeln entbietet Euch Euer ergebener Diener König Wittig. Genauso, wie Ihr mich behandelt habt, dürft Ihr die Anrede verstehen, als Beleidigung oder Ehrerbietung. Ihr wißt sicherlich, daß Ihr mir mehr unangenehme Beeinträchtigungen zufügt, als sie je ein König aushallen mußte. Gewiß erinnert Ihr Euch, daß Ihr zwei der ertragreichsten Inseln besetzt habt, die nun Euch steuerpflichtig sind. Nun sollte Euch klar sein, daß Ihr sie nur geliehen habt, doch Ihr wollt sie zu eigen. Wenn Ihr Euch dafür entschuldigen wollt und, wie es sich gehört, beide Gebiete von mir als Lehen erhalten wollt, so wollen wir noch einmal darüber hinwegsehen, und was Ihr mir an Einkünften aus diesen Ländern vorenthalten habt, das soll Euch gnädig verziehen sein!"] Lieber Leser, auch wenn diese Geschichte den Gesetzen der Fiktionalität unterliegt, hier haben wir trotz allem ein ziemlich authentisches Zeugnis für einen mittelalterlichen Geschäftsbrief, der aber auch keine Beleidigung ausläßt, zu der man auf höchs-

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ter Ebene fähig ist. Auch wenn RUDOLF uns gleich darauf einen König schildert, der vor Wut schäumt, wir können uns dies selbst gut vorstellen, denn das Angebot der Vasallität unter Gleichgestellten war eine Kriegserklärung, und genau das ist dieser Brief auch! Auf beiden Seiten folgen nun die üblichen Aufrüstungen, Amelot zieht sich mit allen Edlen in die Hauptstadt Galverne zurück, die so gut wie uneinnehmbar ist. Etwas entfernt davon liegt die unangreifbare Feste Johannis, wo die Damen und Willehalm untergebracht sind. Dort wird man täglich mit Berichten von der vordersten Front versorgt, und bald merken die Damen, wie es unserem Helden in den Fingern juckt. Jeder normale Mensch, sei er im Mittelalter geboren oder verschlug ihn ein ungnädiges Schicksal ins 20. Jahrhundert, dürfte jetzt erwarten, daß Willehalm in voller Rüstung in die Kämpfe eingreift. Daz ensi, und statt dessen geschieht folgende höchst seltsame Handlung: Si sprachent "sit der degen wert Mit willen ritterschefte gert, So sont wir im helfen dar zuo So wol das ers also getuo Das er nach ritters prise gar Us únser kaemenaten var. Das sont wir niman wissen lan! Es sol so hainliche ergan Das es under dem gesinde Nieman hie bevinde Wan zwen knappen, die da hin Uns helfen wol beraiten in Und mit im dar von hinnan varn; Die sont mit aiden das bewarn Das es niemer menschen lip, De weder man oder wip, Von in verneme und siez iht sagen." [WVO 10963 ff. Sie berieten untereinander: "Wenn der edle Recke so sehr nach ritterlichem Treiben verlangt, so sollten wir ihm dazu behilflich sein, daß er um Ritterehren unsere Kemenaten verläßt. Das wollen wir aber niemandem verraten! Wir wollen es so heimlich anfangen, daß es niemand unter unseren Bediensteten herausfinden kann bis auf zwei Knappen, die wir dazu benötigen, ihn auszurüsten und zu begleiten; die müssen aber einen Eid darauf schwören, daß es niemand, Mann oder Frau, von ihnen erfahre, oder sie es verraten."]

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War umbe allez daz geschieht, sagt unz diu âventiure niht, also weshalb die Damen sich dieses Versteckspiel ausdenken, darüber läßt uns RUDOLF keine Erklärung zukommen, aber ich täusche mich wohl kaum, wenn ich vermute, daß von uns niemand mehr einer solchen bedarf. Wir werden am Ende der Geschichte die Bestätigung erhalten, notieren wir uns hier einmal mehr, daß der Auto-matismus bestimmter Konstellationen aus den früheren Krisenromanen hier aufgehoben ist und daß wir für das Verstehen ähnliche Hilfen bekommen wie Willehalm, um schemagerecht oder besser schemaanalog handeln zu können. Merken wir uns also, daß die Damen um Duzabele alles daran setzen, eine strukturnotwendige Anonymität des Helden bei seinen Taten zu unterstützen. Dies ist natürlich insofern eine erzähltechnische Pointe, als die Damen ohnehin nicht wissen, wer der stumme Ritter ist, aber werfen wir dies RUDOLF nicht vor, er schrieb für Kinder. Willehalm wird in eine rote Rüstung gesteckt und reitet zum Schlachtfeld, wo der König Girrat von Estland, ein Verbündeter Wittigs, auf Gegner wartet. Girrat wird vom Pferd gestoßen, bleibt bewußtlos liegen, Willehalm kehrt zurück, und die Stadtbewohner nehmen den Wehrlosen gefangen. Am nächsten Tag steht Gutschart von Livland vor Galverne und sucht einen Tjost. Dieses Mal taucht Willehalm in ganz weißer Rüstung auf und besiegt Gutschart. Der gerät in helle Aufregung, als er seinen Bezwinger nach dem Namen fragt und keinerlei Auskunft erhält, doch schon kommen die Stadtbewohner und nehmen ihn gefangen, Willehalm aber reitet unerkannt zurück. Nun kann Wittig sich allein nicht mehr halten, er wird besiegt und zum Frieden gezwungen. Kaum aber ist dieser gefangen, so gerät er schon in eine zweite Gefangenschaft. Vrou Minne hat den Recken besiegt, als dieser zum ersten Male Duzabele sieht. Das beruhigt uns, denn damit ahnen wir, daß Wittig das gleiche widerfahren wird wie Firganant, daß also Willehalm sich nicht binden muß, aber davon später mehr, denn auch unser Held muß noch etwas mehr zeigen. Kenner der Materie ahnen, daß Willehalms nächste und letzte große Heldentat in stärkerer Beziehung zu seinem eigentlichen Ziel Amelie stehen muß, und in der Tat, da begibt es sich, daß Alan, der König von Irland, Savine, Äbtissin und Herrin über ein Stift, das auf einer Insel liegt, zinspflichtig machen will. Die ist nun die Schwester des englischen Königs, aber niemand wird es ihr verübeln, daß RUDOLF sie zum norwegischen König schickt, um Hilfe zu holen. Sie kommt nämlich aufgrund eines Gerüchtes, demzufolge Gott dem König geholfen habe,...

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Do er iu her ze lande Sin helfe sande Und drig kúnic und ir her Mit sinen kreften ane wer Betwungen gab in iuwer hant. [WVO, 11891 ff. ...als er Euch in dieses Reich seine Hilfe sandte und drei Könige nebst ihren Heeren mit seiner Kraft wehrlos und besiegt in Eure Hand gab.] Der norwegische König sagt Hilfe zu, und nachdem alle Verhandlungen mit König Alan gescheitert sind, sammelt er ein Heer. Nun muß ja dieses Mal die Anwesenheit Willehalms auf dieser fernen Insel motiviert werden, und so wird der stumme Ritter erstmals gefragt, ob er nicht Lust habe, ein wenig mitzukämpfen, denn noch weiß niemand außer den Eingeweihten von der Rolle unseres Helden im ersten Krieg. In diesem Kampf wird sogleich wieder Willehahns Handschrift sichtbar, denn: Von Schotelant des kúnges kint, Siner swester sun, wart da [Alans Neffe also] Gevangen in dem strite da; Das tet der stolze degen guot, Der edel stumbe hohgemuot, Der hat alda den hoehsten pris Bejaget mit lobe en alle wis. [WVO, 12128 ff. Der Königssohn von Schottland, der Neffen Alans, wurde da sogleich in dem Kampf gefangen genommen; das vollbrachte der tadellose Recke, der edle hochgesinnte Stumme, der dort wieder die höchste Auszeichnung errang.] Diese Form der Kriegsführung kommt allen seltsam bekannt vor, wieder endet damit ein Krieg, und diesmal fällt es allen wie Schuppen von den Augen, daß der stumme Ritter all diese Taten vollbracht hat. Von diesen hat's der König vernommen, er ließ den Stummen zu sich kommen und bot ihm größte Ehren an. Kaum hat Savine ihre Ruhe zurückgewonnen, da eilt sie schon zu ihrem Bruder, dem König von England, und schildert, was ein unbekannter Ritter alles erreicht hat. Zunächst muß sich Savine aber die Geschichte Amelis anhören, sonst wären die beiden Damen nicht in der Lage, einen Zusammenhang zwischen ihren Erlebnissen zu erkennen. Nachdem sich die Tante die Geschichte angehört hat, entwickelt sich folgendes, für heutige Begriffe etwas schwammige Gespräch, aber denken Sie immer daran, für die kleinen Kinder, die mit geröteten und offenen Augen vor dem Erzähler sitzen, muß Spannung erzeugt werden:

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Si sprach "vil liebes niftellin, Wie was der trut geselle din An dem lib gestalt? In welcher masse was er alt?" "Er het noch niht zwainzig jar, Minneclich, schoen und clar Was sin minneclicher lip, […] Starke lide mit mannes kraft Truoc der degen ellenthaft, Val raide was sin har, An sterke, an schoene, an lob fiúr war Was er zen besten usgenomen,..." [WVO, 12577 ff., 12591 ff. Sie fragte: "Liebste Nichte, wie war dein Liebster denn von Gestalt? Welches Alter hatte er?" "Er ist noch keine zwanzig, herrlich, schön und ebenmäßig ist sein wundervoller Leib. (...) Seine Statur war athletisch, blond gelockt sein Haar, an Kraft, Schönheit und an Lobenswertem gehörte er zu den Ausnahmen."] Aufmerksamer Leser, zum erstenmal bin ich unentschlossen, wem ich diese vage Beschreibung, die bis auf das Alter ohne Schwierigkeit auch auf mich zutrifft, anlasten soll. Konnte RUDOLF nicht besser beschreiben, wollte er es gar nicht, um die Spannung zu erhöhen, oder läßt er Amelie bewußt alles durch die rosa Brille der Verliebten sehen? Ich neige zur zweiten Annahme, denn bis zum Wiedersehen muß die Spannung erhalten werden, muß alles unentschieden bleiben, müssen Zweifel an der Identität bleiben: Der zwivel ob ers waere, Vuogete ir vil grosse swaere. [WVO, 12721 f. Die Unsicherheit, ob er es wäre, bereitete ihr große Qual.] Uns natürlich nicht, denn wir ahnen, daß es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis sich das Geheimnis um den stummen Ritter lüftet. Fassen wir aber zusammen, was es mit den Begebenheiten um Willehalm auf sich hat. Wieder war deutlich zu sehen, daß seine Taten sich mit der Definition des indirekten Aktantenschemas (IAS) deckten, es waren Helfertaten fern von der Geliebten, der Held war anonym während seiner Kämpfe, oder er hatte sein Pseudonym stummer Ritter. Diese Anonymität wurde hier aus rezeptionstechnischen Gründen weiter durch die Damen am norwegischen Hofe unterstützt, denn bekanntlich wirken hier die alten Schemata nicht mehr per se. Auch Willehalm entwickelt sich vom Unerkannten zum Verkannten und zum

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Anerkannten, seine Taten sprechen für ihn, der selbst ja nicht sprechen darf. Auch hier sind Kämpfe wieder selbstredend die einzige Möglichkeit, von sich reden zu machen. Und so erfährt man von ihm und kommt auf ihn zu. Savine überredet den englischen König, ihr Amelie mitzugeben, wenn sie den norwegischen Hof besucht. Das wird gestattet, das Liebespaar begegnet sich, und Amelie erteilt Willehalm Dispens, der zum Erstaunen aller anhebt zu sprechen. Nun entwickelt sich noch ein kleiner Streit zwischen Amelie und Duzabele, die unseren Helden für sich beansprucht, was leise Erinnerungen an erzwungene Attributionen nach Befreiungen im Iwein aufkommen läßt. Hier aber wird das Problem ganz einfach gelöst, unser Willehalm hat seinen Namen wieder, und er sagt ihn offen heraus (Wer sich nun über den Namen wundert, laste ihn der Forschung an, die hatte sich nämlich auf Willehalm von Orlens geeinigt, und damit diese Schlafmützen wissen, wovon ich rede, muß ich den Namen beibehalten): "Ich haize Wilhelm", sprach er "Und nemmet man mich von Brabant, Von Orlens Wilhalm genant Was der liebe vatter min,..." [WVO, 13552 f. "Ich heiße Wilhelm", sprach er, "man nennt mich nach Brabant, Willehalm von Orlens wurde mein lieber Vater genannt."] Vergessen wir, daß die Forschung dazu neigt, mehr als eine Generation zu verschlafen, wecken wir sie auch nicht, denken wir uns unseren Teil. Wir aber sehen nun, daß unser Held wieder zu seinem Namen stehen kann, ihm wurde verziehen, und er kann die Attribution Duzabeles leicht ablehnen, denn nach der Nennung seines Namens offenbart sich den Anwesenden eine enge verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Familien, und Duzabele bekommt den ehemaligen Feind Wittig, der ja auch aus seinen Minnequalen erlöst werden muß. Damit ist der Weg des Willehalm von Orlens, alias stummer Ritter, alias Wilhelm von Brabant beendet, er heiratet Amelie, auch der Schwiegervater vergibt ihm, er wird in alle Rechte eingesetzt und erbt große Reiche. Diese zugegebenermaßen etwas platte Geschichte zeigte ziemlich deutliche Parallelen zum Iwein, tatsächlich war er aber auch eine strukturale Umkehrung des Demantin. Offensichtlich aber waren die Hilfskonstruktionen RUDOLFS, um einen Roman plausibel zu machen, der nicht mehr genauso funktionieren konnte wie die Vorbilder. Mit einer Sache aber hat der Willehalm von Orlens sicher nicht zu tun, das ist der Tristan GOTTFRIEDs VON STRASSBURG. Ich aber muß mich über Herrn HAUG doch mächtig wundern, ist ihm denn gar nicht eingefallen, den stigmatisierten Willehalm zum ungläubigen Thomas zu schicken, oder wurde darüber im Kon-

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firmandenunterricht nicht gesprochen? Ist ihm gar nicht aufgefallen, daß eine Äbtissin eine so tragende Rolle spielt, daß dieser Roman bestimmt heilsgeschichtliche Züge aufweisen muß, denn schließlich mißlingt Willehalms Versuch, Amelie mit Gewalt zu erwerben, er wird von einem Speer in der Seite verwundet, er verschwindet von der Bildfläche und muß sich von einer Nonne helfen lassen, seine Frau zu gewinnen. Ich hatte doch geglaubt, daß eine Kutte ausreicht, um einen Roman mißzuverstehen, aber auf der anderen Seite ist es ja eigentlich egal, aufgrund welcher falschen Annahmen HAUG einen Roman fehlinterpretiert. Beenden wir dieses Kapitel, und bereiten wir uns auf den nächsten Roman vor, der etwas spannender, frivoler und abwechslungsreicher ist und eine ganz witzige Lösung des Krisenproblems hat, der nur leider auch nicht gerade für das völlig erwachsene Publikum geschrieben ist, aber dies sind Zeichen der Zeit und des Zerfalls, Vorboten einer Trivialisierung der Ritterkultur und des Ritterethos zu erbaulicher Unterhaltung pubertierender Kinder städtischer Emporkömmlinge.

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PARTONOPIER UND MELIUR oder Ein wirklich psychologisches Problem Unermüdlicher Leser, wir lernen jetzt den zweiten Krisenroman kennen, es handelt sich um Partonopier und Meliur (PM) von KONRAD VON WÜRZBURG. Auch hier habe ich die KRISE kursiv setzen müssen, denn sie hat mit den gleichnamigen Vorfällen aus dem Erec oder Iwein aber auch rein gar nichts mehr zu tun. Dennoch ist sie gewissermaßen plausibler, ist sie problemloser verständlich, denn sie ist eine eigenwillige Kopie dessen, was selbst das Vorbild unserer klassischen KRISEN war, der KRISE aus dem Lanval, es wird folglich keine Pseudomotivation geben, die lediglich eine Erwerbskritik überdeckt. Nur gab es im Lanval bekanntlich keinen ritterlichen Weg aus der KRISE heraus, keine âventiure, kein Erzählen davon, wie man die Huld der Fee zurückgewinnt. Einen Modus, den einzigen Modus, um die Huld einer Fee wiederzu-erringen, zeigte der Iwein, und natürlich bleibt dieser Weg (IAS > FS) einzigartig, niemand langweilt uns mit einer wie immer gearteten Nachahmung. Im Partonopier und Meliur wird das Problem natürlich anders gelöst, wie jedoch, das verrate ich erst, wenn es soweit ist. Leider werden wir zu diesem spannendsten Punkt gar nicht so schnell kommen, wie ich mir das ursprünglich gedacht hatte. Der Fehler liegt eindeutig bei mir, ich nehme die Schuld gern auf mich, aber wissen Sie, ich habe in meinem Rücken rund fünf Regalmeter Forschungsliteratur, die ich für diese Publikation ja nie benutze, es sei, daß sie heiterste Einsichten gewähren. Ich hatte mir geschworen, nicht mehr so akribisch hineinzusehen, aber es juckte mich doch wieder in den Fingern zu schauen, was das Flaggschiff der Mediävistik denn dazu so angestellt hatte. Ach, und schon sah ich die vor etlicher Zeit geschwärzten Ränder wieder, meine Kürzel wie Q für Quatsch, J für Jesses und G für Gnade. Ich kann Ihnen aber versprechen, daß es diesmal etwas anders wird, denn nachdem wir dem Herren Ordinarius so despektierlich das Fell über die Ohren gezogen haben, gibt er uns jetzt auch noch freiwillig sein Seelenleben preis, eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten, hier bekommen wir vielleicht Aufschluß über die Wurzeln so mancher kruder Deutungen, so vieler zärtlicher Buhlschaften mit Widersprüchen, so vieler ungehemmter Verzerrungen und Verfälschungen von Fakten. Viele, die mit der Welt in Uneinklang leben, basteln sich nämlich gerne eine heimeligere. Natürlich sehe auch ich hier die Grenze des guten Geschmacks beinahe überschritten, doch unfreiwillig tue ich das, glauben Sie mir bitte, ich ziele nicht willentlich unter die Gürtellinie, aber was soll ich tun, wenn jemand seinen Kopf so tief hält. Ich finde aber, Leuten, die ein Spiegel narrt, die also der Realität so gründlich mißtrauen, daß sie so wenig zur Selbsterkenntnis fähig sind, daß sie sich womöglich

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selbst nicht zu erkennen vermögen, die im besten Falle ihre Frau mit einem Hut verwechseln, solchen Leuten muß unsere größte Skepsis entgegengebracht werden. Machen wir nunmehr den ersten Schritt in diesen Roman, vor dem zweiten werden wir ja noch über eine Psyche stolpern. Partonopier, so heißt unser jetziger Held, ist der Neffe des Königs Clogiers von Kärlingen, er ist knappe dreizehn Jahre alt und darf seinen Onkel auf der Jagd begleiten. Bei der Hetze verlieren sich beide aus den Augen, die Suche ist vergeblich, dafür findet Partonopier am Stand ein wunderschönes Schiff. Da er völlig erschöpft ist, bettet er sich darin und schläft bald ein. Das Schiff aber setzt sich wie von Geisterhand in Bewegung, ist bald unbemerkt auf hoher See, und nachdem unser Held erwacht ist, bricht er in heftiges Wehklagen aus, weil er meint, nun ertrinken zu müssen. Schließlich aber landet das Schiff an fremden Gestaden. Dort ist, wie er auf seinen Streifzügen entdeckt, alles überaus prachtvoll, reich und kostbar, nur ist nirgends eine Menschenseele zu erblicken, es ist wohl beinahe ganz so, wie unserem alten Bekannten Herzog Ernst das Land Grippia erschienen war. Daselbst ist auch ein herrliches Schloß, wo zu seiner großen Erstaunen allerlei Speisen von unsichtbaren Händen vor ihn getragen werden. Er glaubt auch hier, dies sei Blendwerk des Teufels, dennoch läßt er es sich schmecken. Nach der fürstlichen Bedienung ermüdet Partonopier erneut, und in einer prächtigen Suite bettet er sich zur Ruhe, noch immer unentschieden, was er von all den Wundern halten soll, die um ihn herum geschehen. Liebe Leser, vielleicht haben Sie es selbst gemerkt, hier hat sich etwas sehr Bemerkenswertes verändert. Nehmen wir es ruhig als Zeichen einer völlig geänderten Rezeptionssituation, die es bereits erlaubte, das Wunderbare als nicht mehr selbstverständlich hinzunehmen, stellen wir uns hier einfach ein vergleichsweise aufgeklärtes städtisches Publikum vor, das dem Wunder der Klassiker, das ohnehin unwiederholbar war, inzwischen eher skeptisch gegenübersteht. Für uns war es bislang selbstverständlich, daß ein Ritter sich nicht über die Art der Existenz eines Drachen, Riesen oder anderer wunderlicher Begebnisse Gedanken machte, er erlegte die Kreatur einfach und schaffte das Problem so aus der Welt. Das Wunder war immer selbstverständlich, es war selbstverständlich eine Aufforderung zum Kräftemessen. Diese Selbstverständlichkeit wurde erstmals im Parzival durchbrochen und in einen humanen und theologischen Zusammenhang gestellt. Die städtische Jugend mag für damalige Verhältnisse den Romanen, die vor rund 80 Jahren verfaßt worden waren, ungefähr so gegenübergestanden haben, wie unsere Computerfreaks heute Robert MUSIL oder Heinrich MANN. Auch hier werden wir uns daher nicht über einen gewissen technischen Aspekt in der Konstruktion des Romans wundern dürfen, denn mit bloßen Wundern holte man damals wahrscheinlich keinen Jugendlichen mehr hinter dem Ofen hervor. Insofern haben wir es hier mit einer überraschenden Harmonie zwischen den Möglichkeiten

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der Romanproduktion und den geänderten und angepaßten Rezeptionsgewohnheiten zu tun. Was bleibt, was Partonopier als Erklärung bleibt, was auch dem noch so aufgeklärten Publikum bleibt, ist dieser Erklärungsversuch: dekeiner dinge er sich versach, wan daz der leide vâlant kaem unde fuorte in sâ zehant, mit lîbe und mit der sêle enwec. [PM, 1218 ff. Wenn er sich einer Sache sicher wähnte, dann der Tatsache, dass jeden Moment der Leibhaftige käme, um ihn mit Leib und Seele abzuholen.] Nichtsdestotrotz versucht er ein Nickerchen, doch bald wird er gestört, stellen wir uns das ruhig lebhaft vor, eine Tür knarrt, Schritte nähern sich, Partonopier tritt der Angstschweiß auf die Stirn, er fühlt sich elender als Parzival in der Nacht auf der Gralsburg, er glaubt sein Ende nahe, er preßt sich an die äußerste Seite des Bettes, kriecht geradezu an der Wand hoch und: er lac daz sich enrourte niht an im ein âder. der guote sam ein quâder ersteinet was in vorhten. [PM, 1264 ff. Ohne die leiseste Regung lag er da. Unser Held war vor Furcht zu Stein erstarrt.] Geduldiger Leser, nutzen wir die üble Gewohnheit der konsumverherrlichenden Volksverblöder, Filme dort zu unterbrechen, wo es spannend wird, Sportveranstaltungen wie die Skiflugweltmeisterschaft mitten im Sprung eines Finnen zu unterbrechen und zu fragen, ob man schon mal über eine Unfallversicherung nachgedacht habe, nutzen wir die gleiche Unart, um für dieses eine Mal etwas zu tun, was in der Werbebranche verboten ist, zur Antiwerbung und zum Produktvergleich. Wechseln wir sogleich die Perspektive, schauen wir uns das Folgende aus der Sicht eines..., na, was kam da noch für ein Bild nach dem Spiegel bei WOLFRAM. Doch die dem Märchen verpflichtete und bis zu einem gewissen Grad an das arthurische Schema angeglichene und zugleich psychologisierte Handlung bringt eine Reihe von Problemen mit sich, die Konrad nicht überzeugend zu lösen vermochte. So macht es Schwierigkeiten, zugleich dem Schema zu folgen und das Geschehen psychologisch zu entwickeln. Es bleiben die psychologischen Vorgänge weitgehend punktuell, d.h., Konrad bietet immer wieder momentane und spontane Einzelreaktio-

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nen, die sich aus den jeweiligen Umständen ergeben, sich aber nicht so recht zu charakterlich-individuellen Gesamtbildern fügen wollen. Als Partonopier im dunklen Schlafgemach liegt und plötzlich jemand hereinschleichen hört, bekommt er es mit der Angst zu tun. Seine Furcht wird ausgemalt, doch als er dann merkt, daß eine wohlgeformte junge Dame in seinem Bett liegt, fällt er einigermaßen rücksichtslos über sie her. [HAUG, Literaturtheorie im Mittelalter, S. 338 ] Damit ich nicht vergesse, Ihnen zu erzählen, dieses einigermaßen rücksichtslos ist göttlich, es ist das zarte und keusche, ja beinahe zornig bis schamvoll errötende Bekenntnis einer gewissen Unreife, die sich zum moralischen Literaturmaßstab frömmelt... ...das darf doch einfach nicht wahr sein, das ist ein unfaßbares und hoffentlich unwiederholbares Eingeständnis, nein, es ist eine Bitte, eine Aufforderung, nicht ernst genommen werden zu wollen, es ist eine Bankrotterklärung eines auch noch so ungesunden Menschenverstandes, hier liegen runde 100.000 Jahre beinahe erfolgreicher Selektion mit einem Mal in dem Staub, aus dem wir uns so mühsam erhoben haben! Wer des Deutschen etwas mächtig ist, dem kann die treffliche Verwandtschaft von einigermaßen mit Maß kaum entgehen, mit etwas Maß rücksichtslos also fällt P. über die Dame her, und ich kann nur sagen, einigermaßen rücksichtsvoll ist der Herr Ordinarius mit uns nicht gerade umgegangen, geschweige etwa mit dem Text selbst. Es ist leider gar nicht sinnvoll, auf dieser einmal angesprochenen Ebene weiterzuargumentieren, denn der ganze Ansatz einer psychologisierten Handlungsführung ist für sich genommen schon völliger Quatsch. Wenn für sich genommen aber schon der Ansatz nicht ohne Brüche mit dem Werk verknüpfbar ist, sollte man die Finger davon lassen, wenn aber dann auch noch der sexuelle Horizont eines Asteroidenbewohners diese Brüche untermauert, wünschte ich mir doch sehr die Sprachgewalt Arno SCHMIDTs, um dem Verantwortlichen das scheinbar Überflüssigste in seinem Leben abzusprechen. Ritterlich, wie ich bin (schildes ambet ist mîn art), und in derlei Geplänkeln sicher einem Gawein wenig nachstehend, kann ich hier von keinen Taten sprechen, geschweige Taten für mich sprechen lassen, mein Schweigen zu diesem Thema auf dieser Ebene möge Weiteres erledigen. Wir aber lernen aus solchen Blößen nur dies, daß nämlich ein Literaturwissenschaftler, der eine Romanhandlung psychologisch interpretieren will, unversehens nicht die Psyche der Protagonisten aufdeckt, sondern nur seine eigene, und ich finde die zu widerlich, um mich näher mit ihr beschäftigen zu wollen. Daß aber ein Mann ständig auf Brüchen und Unvereinbarem herumreitet, der bei WOLFRAMs Prolog noch in trivialster Weise flugtaugliche Chimären bastelte, erstaunt dann doch sogar mich.

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Doch sind wir, wieder einmal unversehens und dank HAUG, auf ein nicht unwesentliches Problem der menschlichen Kommunikation überhaupt gestoßen, das sich in ungeahnt effizienter Weise für die Einschätzung literaturwissenschaftlicher Interpretationen allgemein und für eine delektierliche Analyse von Geisteszuständen gewisser Personen gleichermaßen eignet. Es ist das Verdienst des Hamburger Psychologen Friedemann SCHULZ VON THUN, daß er (in Anlehnung an BÜHLER und WATZLAWICK) die vier Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation aufgedeckt und erhellt hat. Demnach besteht jede Nachricht, die ein Sender einem Empfänger zukommen läßt, aus: - dem Beziehungsaspekt, der anderen zeigt, in welcher Beziehung Sender und Empfänger sich zueinander befinden, oder er legt diese Beziehung vom Sender aus fest, in unserem Fall also die Beziehung EXPERTE - LAIE. - dem Sachinhalt, das ist kurz das, um was es hier sachlich geht, also das vermeintliche Unvermögen KONRADs VON WÜRZBURG. - dem Appell, das ist der Wunsch, etwas bei uns auszulösen, im besten Falle also, daß wir ihm den Mumpitz abnehmen mögen. Und nun kommt es faustdick, denn die vierte Seite der Kommunikation ist ein wahrer Leckerbissen für jegliche Filologiekritik, sie nennt sich Selbstoffenbarung, was ganz harmlos bedeutet, daß der Sender eher ungewollt Informationen über sich mitteilt, wie zum Beispiel, daß er der deutschen Sprache mächtig ist oder daß er Literaturwissenschaftler ist. Nun wird ja gemeinhin behauptet, im Zuge der Forschungstätigkeit erführen wir mehr über die Dichter und deren Protagonisten. Weit gefehlt, denn was wir über KONRAD, Partonopier und Meliur erfahren, ist schlicht falsch. Was wir über unser Verhältnis zum Sender erfahren, muß sich schleunigst ändern, und was wir über den Appell wissen, können mit einem mitleidigen Lachen erwidern. Was wir aber über HAUG erfahren, das lohnt genaueres Hinsehen: Zu allererst erfahren wir nämlich, daß er die Szene nicht verstanden hat. Gut, das ist filo-logischer Alltag. Doch wenn wir nach den Gründen dafür fragen, bleiben nur noch zwei Möglichkeiten. Entweder hat HAUG diesen Roman nie anders gelesen als in kurzen Darstellungen, wie sie leider noch immer im VERFASSERLEXIKON kursieren, dann wäre er zwar entschuldigt, sollte sich aber einen anderen Job suchen. Hat er diese Szene jedoch Wort für Wort gelesen, dann muß er sich einen anderen Job suchen, denn dann entdecken wir einen spezifisch HAUGschen Erfahrungshorizont, in welchem zwar die Vergewaltigung fest verankert ist, die Kenntnis subtilster Verführung hingegen gänzlich fehlt, ja, man darf so weit gehen zu behaupten, daß das, was mit

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zu der erklärten Intention der Literatur gehört, die Erweiterung des Erfahrungshorizontes des Lesers, bei HAUG, immerhin einem Literaturwissenschaftler und womöglich gerade deshalb negativ konditioniert, völlig vorbeigegangen ist. Kurz, das einzig wirklich Gesicherte, das wir in diesem weiten Zusammenhang nachweisbar erfahren, ist die Tatsache, daß HAUG nie verführt wurde, daß er nie verführt hat und daß er in erotischen Darstellungen in der Literatur, und seien sie noch so voll an überschwenglicher Zärtlichkeit, grundsätzlich Gewalt konnotiert. Sie sehen also schon einmal, daß psychologische Interpretationen exakt einem Bumerang gleichen: Sie fliegen unkontrolliert in alle erdenklichen Richtungen, aber sie fallen ganz bestimmt immer auf ihren Urheber zurück. Doch wäre es genaugenommen unredlich von uns, fände nicht ein weiterer Aspekt des Psychologischen nebst seiner Implikationen an diesem Ort Erwähnung. Wir haben mit Hilfe der Kommunikationspsychologie das zweifelhafte Vergnügen gehabt, eine Psyche zu analysieren, liegt es da nicht nahe, auch Hilfe anzubieten? Bevor ich nun zu dieser netten Geste schreite, kann ich es nicht lassen, diesem Lehrling noch ein paar Eimer Wasser über den Kopf gießen zu lassen, denn nichts anderes als eine wenig balladeske Postfiguration jenes vorwitzigen Zauberlehrlinges liegt hier in seltener Klarheit vor uns. Sehr Bedenkliches tut sich nun wieder vor uns auf, denn, mag es uns inzwischen geläufig sein, daß diese Herren nicht wissen, wovon sie reden, so überraschen sie uns womöglich schon gar nicht mehr mit der Tatsache, daß sie überdies von Dingen reden, die sie gar nicht wissen. Es ist an der Zeit, einmal klarzustellen, daß Literaturwissenschaftler, die mit Psychologie argumentieren, davon nun gerade so viel Ahnung haben wie eine Kuh vom Eierlegen, ja, sie hinken noch abgeschlagen hinter jenem Zauberlehrling her, der ja eben das richtige Zauberwort zu nennen wußte, um sein Bad zu bekommen, hier jedoch ist das Zauberwort Psychologie zu einer leeren Hülse degradiert, zu einer amorphen Erklärungspampe, die in dem Maße, wie sie für jede Argumentation herhält, keiner eigentlichen standhält. Ebensogut könnten sie jedes Mal, wenn sie ein Auto überholt, sagen: Ja ja, die Relativitätstheorie, wir würden ehrfürchtig staunen und glauben. Damit Sie, werter Leser, aber einen weiteren Einblick erhalten in das, was sich tatsächlich im Bereich wissenschaftlicher Psychologie abspielt, also noch zwei Kostproben, die überdies erklären, weshalb unser Proband schon beinahe verzeihlich falsch sah, wir unternehmen eine kurze Exkursion in die Wahrnehmungspsychologie und hören von Anfangs- und Endeffekten sowie vom Pygmalion-Effekt. Ersteres handelt von der Frage, welchen Eindrücken der Mensch mehr Gewicht verleiht, den ersten oder solchen, die er nach längerer Zeit gewinnt. Untersuchungen, die ich im einzelnen nicht schildern möchte, zeigen überraschenderweise, daß der Mensch höchst konservativ an allererst gewonnenen Eindrücken festhält und diese

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zur Grundlage der Interpretation aller weiteren Informationen macht. Man unterliegt also dem Anfangseffekt, und was das Wichtige ist, es hängt von unserer interpretatorischen Fähigkeit ab, nachfolgende und womöglich widersprüchliche Informationen mit diesem zu harmonisieren. Ersteres ist bei HAUG also eine verzeihliche Schwäche, letzteres ein Totalausfall. Er glaubt KONRAD, daß Partonopier voller Furcht ist, er bildet seinen Anfangseffekt und hat dann Schwierigkeiten, die neuen Informationen über dessen plötzliche Lust auf Sex damit in Einklang zu bringen. Sie sehen, was von dem Satz übrig bleibt, daß die psychologisierte Handlung eine Reihe von Problemen mit sich bringt, die Konrad nicht überzeugend zu lösen vermochte, nichts, rein gar nichts, außer der schmalen Erkenntnis, daß psychologische Interpretationen einige Probleme mit sich bringen, die der Interpret nicht überzeugend zu lösen vermochte. Der Pygmalion-Effekt bezeichnet etwas durchaus Ähnliches, der wesentliche Unterschied ist nur, daß hier die aktive Leistung des Probanden gefährlich hoch ist. Es geht darum, einmal suggerierte Dinge oder Urteile so unreflektiert hinzunehmen, daß selbst dann, wenn absolute Messungen dem Urteil oder Sachverhalt widersprechen wollen, diese so weit ignoriert werden, daß aus Marmor Fleisch wird. Auf unser Beispiel bezogen bedeutet dies, daß HAUG der einmal von KONRAD geäußerten Information, Partonopier sei ängstlich, gleichermaßen blind wie fest vertraut, genau dieses und nur dieses Bild erweckt er zum Leben, an diesem klammert er sich fest, dieser Roman handelt in HAUGs Augen von einem Angsthasen, hier liegt der überaus seltene Fall vor, daß jemand einen Märchenprinzen küßt, und ein Frosch dabei herauskommt. Dieser Frosch, mag er sich abstrampeln, wie er will, und dabei Milch in Butter verwandeln, er hat bei HAUG nicht die geringste Chance, jemals auf einen grünen Zweig zu kommen. Relevant sind derlei Forschungen übrigens für die Schule. Lehrer, die eine Klasse übernehmen und dabei erfahren, X sei ein notorischer Querulant, Y hingegen eine Säule des Wissens, werden dieses Bild selbst dann beibehalten, wenn sich das Gegenteil erwiese, weil nämlich X wie Y keine Chance haben, gegen die Erwartungshaltung des Lehrenden zu handeln, sich sozusagen ins rechte Bild zu setzen. Der Lehrer wird beide solange traktieren, bis sie seinem Bild entsprechen. Sie sehen wieder, wie nützlich die Literatur für die Psychologie ist, wie gefährlich hingegen die Psychologie für die Literatur ist, erst recht in den Händen von Professoren mit trivialen Vorstellungen von ihr. Ich will nun beileibe nicht in die Annalen der Psychologie eingehen, aber ich finde, unser Proband hat nun nicht exakt so reagiert wie der Pygmalion G. B. SHAWs, sondern eher wie der aus der Feder von K. T. GILBERT, der von seiner Galatea recht rüde abgewiesen wird und so gar nicht mit ihr klarkommt, kurz, sie entspricht aber auch nicht im geringsten dem Bild, das er (sich von ihr) gemacht hat. Für die wissenschaftliche Literatur schlage ich hinsichtlich des Probanden HAUG, Walter,

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den Begriff GILBERT-EFFEKT vor, die Krankengeschichte ist säuberlich niedergeschrieben, sie ist im Handel erhältlich und heißt Literaturtheorie im Mittelalter. Nach all diesen sinnreichen und hoffentlich erquicklichen Exkursen in die wissenschaftliche Psychologie könnte nun bei dem einen oder anderen Leser die Frage laut werden, wie es denn bloß dazu kommen mag, daß krude Interpretationen tiefere Einblicke in die Interpreten gewähren als in das Kunstwerk selbst und ob denn derlei Erkenntnisse nicht systematisierbar und für die Psychodia-gnostik nutzbar zu machen seien. Völlig richtig gesehen, und so neu ist diese Betrachtungsweise offen gestanden denn nun auch nicht, weshalb ich Ihnen nunmehr den Vater der Psychodiagno-stik vorstellen werde samt den Implikationen für die Filologie, denn gerne zeige ich den Nutzen der Interdisziplinarität für die einseitige Erhellung der Künste. Wohlan, es gehört bekanntlich zu den leidigen Erfahrungen eines jeden, der sich intensiver mit Literatur beschäftigt, daß sich die Literaturwissenschaft mangels jeglicher Verifikationsmöglichkeit der Ergebnisse einer ungehemmten Ergebnisproduktion hingibt, keine Interpretation ist zu abwegig, sie muß wegen des Fehlens einer Methode akzeptiert werden. Daher sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Interpretationen von Schülern und denen von Professoren übrigens geringer, als man gemeinhin denkt, denn falsch sind sie beide, der wesentliche Unterschied besteht darin, daß der Professor für seine Irrtümer ungleich mehr Wissen ins Feld führt. Damit ist nur leider das sprachliche Kunstwerk zu einem Medium für neurotische Wirklichkeitsfluchten verkommen, es ist offen für jegliche Deutung, es ist amorph und sinnlos, da es jeden Sinn zu verbürgen scheint. Demgegenüber vertrete ich die Auffassung, daß literarische Kunstwerke nur jeweils einen Sinn haben, den es zu entschlüsseln gilt, nicht aber unendlich viele, die es zu assoziieren gilt. Kunstwerke sind nämlich keine Zufallsprodukte mit ebenso zufälligem Sinn, sondern sie sind bewußt gemacht, um einen Sinn zu machen und zu haben. Diesen Sachverhalt kann man durchaus schlüssig beweisen, wenn man genau andersherum verfährt, dies erklärt meine umständliche Einleitung, die jedoch nötig ist, um das Folgende in seiner wahren Bedeutung zu erfassen. Da gibt es nämlich tatsächlich Werke (Kunstwerke sind es übrigens nicht, auch wenn sie so aussehen mögen), die ganz bewußt zufällig entstanden sind und die deshalb auch gerade für jede noch so freie Assoziation und Interpretation offen sind. Sicherlich kennen Sie die netten Faltbilder, die aus wahllosen Tintenkleksen symmetrische Figuren zaubern, die so rein zufällig Formen produzieren, die unwillkürlich an surreale Schmetterlinge und dergleichen erinnern. Die Rede ist von der Rohrschach-Psychodiagnostik, besser bekannt unter dem Namen Rohrschach-Test. Nun ist jedes Bild, wie gesagt, reines Zufallsprodukt, kein namhafter Künstler zeichnet dafür verantwortlich, es gibt niemanden, der die verfremdeten Schmetterlinge auf seine Kappe nimmt, es gibt auch schlicht und ergreifend niemanden, der

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Ihnen mit Gewißheit und Bestimmtheit sagen könnte, was denn hier eigentlich dargestellt ist. Auch der Psychologe weiß hier keinen Rat, und so erübrigt sich in diesem Zusammenhang nach einem Test die Frage: "Na Doktor, nun verraten Sie mir aber mal, was die Bilderchen denn tatsächlich bedeuten!" Und dennoch setzen wir uns brav hin wie in der Schule und liefern dem Psychologen unsere Bildinterpretationen. Aber was macht der damit, wird er Ihnen am Ende eine gute Note im Deuten von Kunst geben? Wer das ernsthaft glaubt, sollte dringend einen dieser Herrn aufsuchen, denn weit gefehlt, der Onkel Doktor macht etwas überraschend anderes mit Ihren Interpretationen, für die Sie in der Schule so eifrig geübt haben, er setzt sie in ein kompliziertes Auswertungsverfahren ein und sagt Ihnen am Schluß, wes Geistes Kind Sie sind. Das heißt auf gut Deutsch, daß der Psychologe gar nicht an einer richtigen Interpretation der Bildchen interessiert ist, sondern lediglich an Interpretationen, und mithilfe dieser Interpretationen ermittelt er zufälligerweise nicht eine endgültige Deutung eines Kunstwerkes, sondern ohne jeden Zufall einen psychologischen Befund. Wir stellen uns jetzt einmal einen gelehrten Literaturwissenschaftler vor, der seine geballte Analysekraft über den Doktor niedergehen läßt und zu irgendeiner beliebigen Figur äußert, dies sei ein analsadistischer Flachmuldenbrüter mit Koronarinsuffizienz, so wird der Psychologe keineswegs beeindruckt sein, das Bild zur Hand nehmen und sagen: "Recht haben Sie, ja, so habe ich es noch gar nicht gesehen, Mensch, das Rätsel ist gelöst!", sondern er wird gelassen eintragen: ZwischenfigurGesamtantwort mit ANAT. für Anatomie, T. für ganze Tierfigur, SEX. für Sexualdeutung, wobei er das alles noch in die Rubrik für Originaldeutung eintragen wird. Nur, während die Bedeutung des Bildchens weiterhin verschlossen bleibt, so liegt die Psyche des Probanden jetzt relativ aufgeschlagen da. Kurz und gut, wo immer Kunstwerke, und somit auch literarische Kunstwerke, zum Anlaß genommen werden, frei und ungebunden zu spekulieren, zu konnotieren und zu assoziieren, da gerät der Interpretationsversuch in bedenkliche Nähe zum Rohrschach-Test, da erfährt man folglich mehr über den Interpreten als über das Kunstwerk. Wer also mit laienhafter Psychologie toten Rädern und Figuren in der Literatur eine Seele einhaucht, der verrät mehr über sich als über Literatur. Schließen wir nunmehr den Exkurs in eine Psyche in bewährter Manier, mit einer Parabel BRECHTs, in der ich lediglich das Wort Philosophie durch das Wort Filologie ersetze. Zu Herrn K. kam ein Filologieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit, Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: "Du sitzt unbequem, du redest unbequem, du denkst unbequem." Der Filologieprofessor wurde zornig und sagte: "Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte." "Es hat keinen Inhalt", sagte Herr K. "Ich sehe dich täppisch gehen, und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel, und es ist keine Helle,

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die du während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht." Wieder sieht man unschwer, man kann halt nicht genug lesen, gelt, und damit dies nun auch nicht zu kurz kommt, wenden wir uns wieder Partonopier und Meliur zu. Tatsächlich also findet in der bewußten Kemenate keine Vergewaltigung statt, sondern, wie ich bereits andeutete, eine entzückende Verführung. Wie dies jedoch abläuft, ist von nun an unser Problem, und dies kann man natürlich auch mit etwas Kenntnis der mittelalterlichen Literatur lösen, zuvor jedoch wollen wir noch einmal unsere Kenntnisse hinsichtlich des Sinns oder Unsinns der psychologischen Motivation auffrischen. Fragen wir uns, ob es für einen Autor überhaupt machbar ist, das Handeln der Protagonisten psychologisch zu motivieren. Ich weiß natürlich, daß das völlig unmöglich ist, aber schließlich schreibe ich nicht für mich, sondern für Sie. Es liegt natürlich im Interesse eines jeden Autor, die Handlungen in seinen Werken so plausibel zu gestalten, daß der Rezipient, der Leser oder Hörer sich ganz von dem Geschehen fesseln läßt. Das geschieht nur, wenn das Geschehen sich vor den Augen des Lesers bruchlos entwickelt, wenn er Fiktion und Realität ineins setzen kann. Ich muß Sie, rechtschaffener Leser, nun einmal fragen: Verstehen Sie Ihre Frau, ihre Geschwister oder Eltern oder unseren Kanzler?, wenn ja, gratuliere ich Ihnen zu Ihren trivialen Fragen an die Betreffenden, dann verstehen Sie Ihre Verwandten so gut wie Ihre Romanhelden. Unsere ganze und nicht einmal unerhebliche Leistung bei der Rezeption einer Geschichte ist nämlich unsere Bereitwilligkeit, alles das für plausibel zu halten, was letztlich zu einem guten Ende führt, und alles das für fatal und leider unumgänglich zu halten, das ein schlechtes Ende herbeiführt. Da es in der Literatur nur diese beiden Alternativen gibt, lernen wir schnell, diese Bezüge als glaubhaft anzusehen. Nun sind es aber gerade die weniger Erleuchteten in unserer Gesellschaft, die der literarischen Fiktion so auf den Leim gehen, daß sie Prof. Brinkmann nicht um Autogramme oder Tips für den Kaffeekonsum bitten, sondern um Rat bei ihren Zipperlein. Wollen wir tatsächlich behaupten, daß diese Rezipienten über einen komplexen analytischen Verstand wie Siegmund FREUD verfügen, dann brauchen wir hier nicht weiterzumachen. Bleibt die durchaus interessante Frage, ob Autoren denn nicht vielleicht die Handlungen in ihren Geschichten psychologisch motivieren. Auch Fehlanzeige, erinnern wir uns aber zunächst der Tatsache, daß sie sich häufig bemühen, die wahre Motivation einer Handlung zu vertuschen, den eigentlichen Handlungs- und Funktionszusammenhang erst von hinten gesehen befriedigend oder deutlich erscheinen zu lassen. Ich differenziere hier bewußt zwischen deutlich und befriedigend, weil nämlich den meisten Lesern ein gutes Ende zur Befriedigung genügt, wenigen hingegen ein Ende etwas deutlich macht. Welcher Autor aber wäre überhaupt in der Lage,

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seiner Geschichte ein detailliertes Psychogramm seiner Protagonisten voranzustellen als Gebrauchsanweisung für den Umgang mit ihr. Selbst wenn das möglich wäre, wen würde das fesseln, wer könnte damit etwas anfangen, was nützte das für das Verstehen der Handlung, es sei, die Entwicklung eines Psychogramms wäre der Inhalt und das Thema des Buches selbst, nur glauben Sie mir, kaum jemand liest leider solche Bücher. Auch wenn also seit WIELANDs Agathon bis hin zu MUSILs Törleß die Protagonisten ständig über ihre Psyche reflektieren und diskutieren, wir erfahren genauso viel über sie, wie sie selbst, und das ist verflucht wenig Gesichertes, weil sie immer auf der Suche, nie jedoch am Ziel sind, weil sie sich verlaufen wie die Memoiren, gefunden in der Badewanne von LEM. Merken wir uns einfach für den Umgang mit Menschen in der Literatur, daß Isaac ASIMOV gehörig Schweiß vergossen hatte, ehe er seine berühmten drei Verhaltensgesetze für Roboter beisammen hatte, und selbst dann handeln seine Geschichten nur von allen möglichen Zuwiderhandlungen. Es scheint mir daher tatsächlich das Hauptproblem hinsichtlich der Schaffung einer künstlichen Intelligenz zu sein, daß niemand in der Lage ist, eine brauchbare Psyche zu definieren und zu konstruieren. Ich sage jetzt schon voraus, daß man dieses Problem weder mit Psychologen noch mit Filologen in den Griff bekommen kann, und man sollte erst mal künstliche Dummheit schaffen. Verlieren Sie aber bitte nicht Ihre Fassung, wenn ich Ihnen nun zeige, daß es doch so etwas wie einen Anflug von psychologischer Motivation in der Literatur gibt. Was hier gemeint ist, ist ein himmelweiter Unterschied zum bisher Dargelegten, es handelt sich nämlich nicht darum, das Handeln eines Helden aus einer komplexen Psyche heraus zu verstehen, es geht vielmehr darum, daß bestimmte Helden in Kenntnis oder in Einschätzung einer sehr hervorspringenden charakterlichen Eigenart ihrer Mitspieler handeln. Das aber verdient weniger den Namen Psychologie als die Bezeichnung Strategie, und alle menschlichen Eigenschaften, auf die hier Bezug genommen wird, sind Einstellungen wie NAIVITÄT, GEIZ, HASS, MISSTRAUEN, DUMMHEIT, MISSGUNST, NEID, IGNORANZ, LIEBE, LÜGE, BETRUG und viele andere mehr. All dies sind überzeichnete Charaktereigenschaften, die aber einen Schädiger, eine Person, die die menschliche Schwäche zu ihrem Vorteil ausnutzen will, in die herrliche Lage versetzen, das Ziel gewaltlos zu erreichen; Sie sehen schon, der Handlungstyp ist ein Derivat unseres altbewährten Surreptionsschemas. Der Handlungstypus läuft natürlich nicht immer in der gleichen Weise ab, wir haben es hier vielmehr mit den variationsreichsten literarischen Formen überhaupt zu tun, dem Maere, dem Fabliau und der Novelle. In den Maeren gibt es nun vornehmlich die Struktur, daß einer den anderen hereinlegt, indem er seine Schwächen gegen ihn ausspielt, in der Regel haben die Geschichten die einfache Form eines Witzes, was bedeutet, daß der Rezipient den Konnex zwischen Schwäche und Resultat herstellen muß, was ihm

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im besten Falle ein Lachen entlockt. Wenn also in so einer Form eine überraschende Wendung eintritt, ist dies ein Signal zur Heiterkeit, nicht zur Diskussion über Kopulationsvorspiele und dergleichen. Für die Erhellung dessen, was Partonopier da so unvermutet mit Meliur treibt, für die Erklärung, daß es sehr wohl einen Sinn macht, wenn unser Held plötzlich von einem Extrem ins andere zu fallen scheint, gebe ich Ihnen nun eine Kostprobe aus einem altfranzösischen Fabliau, das in seiner Drastik kaum zu wünschen übrig läßt. Ich zitiere nach Albert GIER, Fabliaux, Französische Schwankerzählungen des Hochmittelalters (altfranzösisch/deutsch), erschienen im Reclam Verlag. Ich lasse alle Zeilenangaben und Proben wörtlicher Übersetzung weg, der Interessierte kommt um die Anschaffung dieses herrlichen Bändchens ohnehin nicht herum.

ANONYM De la dolente qui fit foutue sur la tombe Die unglückliche Frau, die sich auf dem Grab bumsen ließ Da ich den Wunsch verspüre, Geschichten zu erzählen, und da dieser Wunsch mich beherrscht, will ich statt eines Märchens etwas Wahres berichten. Ein Mann war aus kleinen Verhältnissen zu großem Reichtum gelangt; als seine Zeit gekommen war, holte ihn einst der Tod in Flandern. Seine Frau war ihren Handlungen und ihren Reden nach sehr betrübt über sein Hinscheiden; denn eine Frau ist schnell geneigt, zu weinen und großen Schmerz zu äußern, wenn ihr ein kleines Mißgeschick widerfährt, und andererseits hat sie ernstlichen Kummer schnell vergessen. Als die Dame ihren Gatten tot sah, der sie so sehr geliebt hatte, hat sie sich oft unglücklich geheißen. Sie strengte sich an, großen Kummer zu bezeugen; dabei wandte sie ihre Mühe nicht schlecht an, denn sie fand die rechte Art. Auf diese Weise hat sie ihre Empfindungen für ihren Gemahl in aller Deutlichkeit unter Beweis gestellt, so schien es allen; niemals trauerte eine Frau derart. Und als es zu dem Begräbnis kam, da hättet ihr sie schreien gehört und gesehen, wie sie tiefen Schmerz zum Ausdruck brachte, die Hände rang und sich die Haare raufte. Sie übertönte alle anderen: "Edler Mann! Guter Mann! Wohin wollt Ihr gehen ? Jetzt legt man Euch in diese Grube! Herr, ich bleibe schwanger zurück: Wer wird für das Kind und mich sorgen ? Ich wünschte, wir würden beide sterben!" Als der Leichnam in die Erde gesenkt wurde, stieß sie sehr laute Schreie aus; sie zerriß ihre Kleider, weinte und jammerte und warf sich zu Boden. Ihre Verwandten trösteten sie und wollten sie nach Hause bringen; sie aber

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sagte, sie würde nicht gehen und sich niemals im Leben oder Tod von dem Grab entfernen. Sie widersetzte und wand sich so lange, bis die sie widerwillig zurückließen; niemand blieb bei ihr, sie war allein und ohne Gesellschaft. Stellt euch jetzt einen fremden Ritter vor, der mit seinem Knappen daher kam und seinen Weg zum Friedhof nahm. Dort sieht er die Dame sitzen, die ihren Leib nach Kräften mißhandelt und kasteit hat, wegen ihres Gatten, der tot ist. "Siehst du diese Dame da," spricht der Ritter zu dem Knappen, "wie sie sich zugrunderichtet? Sie ist durchaus nicht frohgestimmt. Wahrhaftig, sie tut mir sehr leid." - "Mit dem Teufel habt Ihr Mitleid, wenn Ihr sie bedauert! Ich will wetten, wenn Ihr wollt vorausgesetzt, daß Ihr Euch von hier entfernt -, daß ich sie nach einem sehr kurzen Vorgeplänkel bumsen werde, wie verzweifelt sie auch tun mag - aber nur, wenn Ihr Euch zu einem Platz zurückzieht, von dem aus Ihr uns nicht sehen könnt." - "Was hast du da gesagt, du Gottloser? Ich glaube, du bist kein Christ, sondern hast den lebendigen Teufel im Leib, da du dir jetzt so ein Märchen ausgedacht hast!" - "Ist das ein Märchen? Ich würde mit Euch wetten, wenn ich mich traute." - "Jetzt wird sich zeigen, was du fertigbringst! Ich will dir nicht zusehen, sondern mich unter der Kiefer da verstecken." Daraufhin steigt der Knappe von seinem Klepper ab und setzt ein trauriges Gesicht auf. Er lenkt seine Schritte zu der Dame und sagt leise, nicht laut: "Freundin, Gott möge Euch erlösen!" - "Erlösen ?" fragt sie, "lieber mag er mir den Tod geben! Denn es ist ein sehr großes Unrecht, daß ich lebe, da mein Gatte tot ist, mein Ehemann, um dessentwillen ich so betrübt bin; er erlöste mich aus der Armut und hatte mich sehr gern, er liebte mich mehr als sich selbst." - "Liebste, ich bin zehnmal unglücklicher!" - "Wie, mehr als ich?" - "Ich will es dir sagen, liebe Freundin: Ich hatte mein ganzes Herz an eine Frau gehängt, die ich hatte, und ich liebte sie viel mehr als mich selbst, denn sie war schön, höfisch und klug. Ich habe sie durch meine Unersättlichkeit umgebracht." - "Du hast sie getötet? Wie denn, du Sünder?" "Durch das Bumsen, wahrhaftig, liebe Herrin; und ich möchte nicht weiterleben!" "Lieber Mann, komm her, befreie diese Welt von mir und töte mich! Jetzt streng dich an und gib dir Mühe und tu mir, wenn du kannst, noch mehr an als deiner Frau: Du sagtest, du hast sie totgefickt?" Dann ließ sie sich fallen, als ob sie ohnmächtig wäre; der Knappe hob ihr das Kleid hoch und stieß ihr seinen Schwanz ins Loch, so daß sein Herr es genau sah, der vor Lachen fast nicht mehr konnte. "Meinst du etwa, du tötest mich durch Lust," fragte die Dame, "wenn du mich so bumst? Eher würdest du dich ganz zerreißen, als daß du mich auf diese Weise umbrächtest!" So tröstete sie sich, obwohl sie kurz vorher sehr klagte. Aus diesem Grund halte ich denjenigen fiir töricht, der sich zu viele Gedanken wegen einer Frau macht. Die Frau ist von Natur aus schwach: Sie lacht und weint wegen einer Nichtigkeit, die Frau empfindet Liebe und Haß in sehr kurzer Zeit; schnell ändert sie ihren Willen. Wer einer Frau glaubt, der ist verrückt.

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Es ist an dieser Stelle überhaupt nicht angebracht, sich über den evident misogynen Charakter des Werkchens zu ereifern. Alle Pointen gründen auf überindividuellen und nicht auf den Einzelfall übertragbaren Charaktertypen, die weniger im Bewußtsein des Publikums verankert waren, denn sonst wäre der Überraschungseffekt wie die Pointe selbst gleich Null, als daß sie immer erst in einer langen Einleitung figuriert werden mußten. Ich kann und will mich hier aber keinesfalls mit einer literaturwissenschaftlichen Quotenregelung beschäftigen, und wer meint, sich an einer männerfeindlichen Geschichte delektieren zu müssen, dem sei aus der gleichen Publikation das bereits erwähnte Fabliau De Berangier au lon Cul anempfohlen. Alles, worum es mir zu tun war, war zu zeigen, wie sich in der raschen Abfolge zweier völlig konträrer Verhaltensweisen der Witz entwickelt. Die Spannung entsteht durch die total unmöglich erscheinende Zielvorgabe des Knappen, der die Schwäche der Dame, die aufgesetzte Trauer erkennt und zu seinem Nutzen ausnützt. Dabei steht der Erzähler auf der Seite des Knappen, während das Publikum durch den zuschauenden und lachenden Ritter repräsentiert wird, was übrigens die Erzählhaltung im Präsens unterlegt. Geschichten dieser Art waren damals groß in Mode, eine ganze Flut solcher Geschichten zur kurzweiligen Unterhaltung entstand von regelrechten Berufsdichtern, wie es der STRICKER oder Hans FOLZ waren, um nur zwei zu nennen. Strickmuster dieser Gattung ist immer das Aufeinandertreffen von Schwächen auf der einen Seite und ihre Taxierung auf der anderen. Eine weitere Möglichkeit besteht im Aufeinandertreffen zweier Schwächen, die entweder beiden Vertretern zum Schaden oder, falls die Schwächen eher sympathisch sind, beiden zur Freude gereichen. Damit dies unmißverständlich klar wird, wie z.B. zwei unsympathische Schwächen sich gegenseitig matt setzen, gebe ich Ihnen ein weiteres Fabliau aus diesem Bändchen zum besten:

JEAN BODEL Des sohaiz que sainz Martins dona anvieus et coveitos Die Wünsche, die der heilige Martin dem Habgierigen und dem Neidischen gewährte Ihr Herrn, nach dem Fabeldichten will ich mich darauf verlegen, Wahres zu berichten; denn wer nur Lügen hervorbringen kann, ist auf keinen Fall ein vernünftiger Erzähler und in der Lage, einem hohen Hofe zu dienen, wenn er neben Lügen nicht

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auch Wahres zu sagen weiß. Sondern wer das Handwerk beherrscht, muß billigerweise zwischen zweien, die noch grün sind, eine dritte reife Geschichte erzählen. Es ist eine sichere Wahrheit, daß einmal - es ist über hundert Jahre her - zwei Gefährten waren, die ein sehr übles Leben führten: Der eine war so voll Neid, daß er wünschte, keiner solle mehr besitzen als er; der andere so voller Habgier, daß keiner es mehr hätte sagen können. Der war genauso schlecht oder schlimmer als der erste. Die Habgier leiht zu Wucherzinsen und veranlaßt einen, die Maße zu fälschen, sie läßt Menschen in Schlachten umkommen und sogar Gott verleugnen. Die Habgier veranlaßt einen Menschen, fremdes Eigentum zu nehmen, und bewirkt so, daß er gehängt wird, und er glaubt, er hätte durch seine Gier ein besseres Leben. Der Neid nun ist so schlimm, daß er die ganze Welt begehrt. Der Neidische und der Habgierige ritten eines Tages beide zusammen aus; da trafen sie, wie mir scheint, in einer Ebene den heiligen Martin. Er war erst kurze Zeit in ihrer Gesellschaft gewesen, als er sie und ihre bösen Wünsche auch schon durchschaut hatte, die in ihren Herzen verwurzelt waren. Schließlich fanden sie zwei belebte Wege, die dort eine Kapelle voneinander trennte. Der heilige Martin rief die beiden Männer, die ein erbärmliches Handwerk ausübten: "Ihr Herren," sprach er, "bei dieser Kirche will ich mich nach rechts wenden; durch mich sollt ihr es fortan viel besser haben. Ich bin der heilige Martin, der wackere Mann. Der eine von euch mag eine Gabe erbitten, er wird sie ganz nach seinem Verlangen erhalten; es gibt nichts, was er sich von mir wünschen könnte, das er nicht bekäme, sobald es ihm gefällt. Und der andere, der schweigt, soll gleich zweimal soviel erhalten." Da dachte sich der Habgierige, daß er den anderen bitten ließe; so würde er zweimal soviel wie dieser bekommen. Er gierte sehr nach doppeltem Gewinn: "Verlange getrost," spricht er, "lieber Genosse, da du haben sollst, was immer du zu erbitten verstehst. Sei großzügig im Wünschen: wenn du dir beim Fordern zu helfen weißt, wirst du dein ganzes Leben lang reich sein." Jener aber, dessen Herz voll Neid ist, würde nichts erbitten, wenn es nach ihm ginge, denn er würde vor Ärger und Schmerz sterben, wenn der andere mehr bekäme als er. So zögerten sie aus Verdruß lange Zeit mit den Wünschen: "Sag schon, damit es dir nicht übel ergeht," droht der, der nach Reichtum verlangte, "dann werde ich die ganze Hälfte mehr haben als du, du zögerst im falschen Augenblick. Wünsch dir was, oder ich will dich so schlagen, daß ein Esel bei der Brücke nicht gründlicher verprügelt wurde." -"Herr," hub der Neidische an, "ich werde meine Bitte äußern, das sollt Ihr wissen, bevor Ihr mir ein Leid antut. Wenn ich Geld oder Besitz verlange, wollt Ihr zweimal soviel davon haben. Aber Ihr werdet nichts bekommen, wenn ich es verhindern kann: Heiliger Martin," sprach er ihn an, "ich bitte dich, daß ich ein Auge verliere, und mein Gefährte soll beide einbüßen: So wird er den doppelten Schaden haben." Das Versprechen wurde zuverlässig gehalten, von vier Augen verloren sie drei: Auf der Stelle war der andere geblendet. Sie gewannen überhaupt nichts dabei, sondern

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der heilige Martin machte einen einäugig und den anderen blind auf ihren Wunsch hin, den sie damit verschwendeten. Die Pest an den Hals desjenigen, dem das leid tut, denn sie waren von schlechter Art. Sehen Sie, ein höchst seltsames und befremdliches Königtum gewinnt der eine über den anderen, der Vorteil scheint mir gering. Aber Sie erinnern sich gewiß an die durchaus gleiche Geschichte, die ich zu Beginn dieses Buches erzählte, um den akademischen Habenichtsen doch etwas zukommen zu lassen. Betrachten wir aber einmal die jeweiligen Einleitungen, so fällt ins Auge, daß sie vergleichsweise ausführlich sind. An erster Stelle steht aber immer die Versicherung, daß etwas tatsächlich Geschehenes erzählt wird. Dies ist, was ich fiktionale Wahrheit nenne, denn natürlich wird eine solche Geschichte nicht geglaubt oder ernstgenommen. Die Faszination des durchaus Denkbaren wird hier angesprochen, handelt es sich doch bei allen diesen Geschichten um Verhaltensweisen und allzu menschliche Schwächen, die gar nicht einer Beglaubigung bedürfen, sondern nur einer Definition. Das hat alles eine überraschende Nähe zum alltäglichen Erzählen, das nur dadurch seinen Reiz gewinnt, daß es zwar völlig abstrus, nichtsdestoweniger aber denkbar ist. In diesem Zusammenhang rätseln noch heute einige Gelehrte in Göttingen am Institut für Volkskunde über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen des alltäglichen Erzählens. Ein gewisser Prof. BREDNICH durfte vor kurzem in der Tele Illustrierte entsprechend illustre moderne Sagen und Legenden verkünden. Es handelte sich um nie geschehene Verwechslungen von Radarfallen mit Sperrmüll und dergleichen mehr. All dies sind Versuche, alltäglichem Geschehen eine Pointe abzugewinnen, und immer wieder regiert diese Überraschung das erzählte Geschehen. Ich selbst hatte in Göttingen einen Freund namens Bernd, der ein wahres Erzähltalent war und zu meiner großen Freude gesellige Runden mit Geschichten ergötzte, in denen ich selbst einen nicht unwesentlichen Part spielte. Die Differenz zwischen dem, was Bernd erzählen mußte, um Heiterkeit hervorzurufen, und dem, was wir tatsächlich zusammen erlebt haben, ist für mich immer wieder das missing link der Literaturtheorie gewesen. Diesem Freund und Knappen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Betrachten wir aber die Heiterkeit selbst etwas genauer, so fällt auf, daß sie im Grunde genommen der Testfall des Verstehens ist, daß sie beweist, daß eine der einfachsten literarischen Formen verstanden wurde. Zu den beiden einfachsten literarischen Formen aber gehören das RÄTSEL und der WITZ. Das Besondere bei beiden Formen ist, daß das Rätsel nur eine Lösung zuläßt und daß der Witz nur eine Pointe hat, daß nur der die Pointe versteht, der in die offerierte Leerstelle das Richtige einsetzt. Natürlich demonstrieren wir das auch gleich.

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Wie heißt das Niveau als Palindrom? Der Begriff, den wir suchen, ist durch zwei Sachverhalte definiert und kann nur ein einziger neuer Sachverhalt sein. Was ein NIVEAU ist, weiß jeder, verraten wir noch, was ein PALINDROM ist. Das längste mir bekannte sieht folgendermaßen aus: einnegermitgazellezagtimregennie, es gibt ein mordnilapsuspalindrom, und alle kennen otto. Damit ist die einzig mögliche Lösung klar, sie kann nur level heißen. Der WITZ hingegen ist häufig einfacher konstruiert, er zwingt geradezu zum Verstehen, und auch hier gibt es nur einen Sachverhalt, nur eine Lösung und eine mögliche Deutung, die die Pointe, das Lachen und damit das Verstehen gewährleistet. Nehmen wir für den Testfall einen Witz, den ich selbst erfunden habe, und dessen Konstruktion und Lösung ich mithin bestens zu kennen meine. Treffen sich zwei Professoren auf dem Campus, deren einer Strafrecht, der andere neutestamentliche Theologie lehrt. Fragt also der Jurist: "Geschätzter Kollege, was wäre eigentlich geschehen, wenn Pilatus seinerzeit Jesus Christus zu lebenslänglicher Festungshaft begnadigt hätte?," worauf der Theologe nicht ganz undiplomatisch antwortet: "Dann, ja dann säße er wohl immer noch!" Lachen Sie nicht, das ist nämlich ein Witz zweiten Grades, so schnell versteht man ihn nun auch wieder nicht. Der Witz funktioniert auf erster Ebene, wenn man weiß, daß Jesus unsterblich ist. Dann wird klar, daß der Theologe zunächst nur den einfachen Rechenschritt vollzieht und gottlob vergißt, daß man wegen guter Führung vorzeitig entlassen werden kann. Das aber erweist sich beim Weiterdenken schnell als Milchmädchenrechnung, denn wo bleibt denn dann unsere berechtigte Hoffnung auf Vergebung und Wiederauferstehung. Hier liegt der Hase im Pfeffer, denn von dieser Warte aus betrachtet, bekommt das Sterben Jesu einen seltsamen Beigeschmack, wenn man sich die Implikationen für unsere Kirche betrachtet. Wie lautet noch der gängige Spruch aus dem Wilden Westen, God's own country: Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer! So aber sieht das Funktionsgesetz eines Witzes aus: Zwei vertraute Vorstellungen werden in einen fremden Zusammenhang gebracht, der erst dadurch plausibel wird, daß man selbständig ein fehlendes Glied einsetzt. Das Resultat ist völlig überraschend, aber nun einmal durch den logischen Kurzschluß nahegelegt und daher plausibel. Dies aber macht den Witz zur gefährlichen Waffe gegen jeden Menschen, der versucht, Einsicht ins Naheliegende zu verschleiern oder zu verhindern. Als Paradigma eigenständiger Einsicht ist der Witz eine Gefahr für Glaube, Dogma und Verdummung, denn gerade sie bringen all ihre Unvernunft automatisch in den fremden Zusammenhang, in den Widerspruch, der sich durch seine pure Verknüpfung von selbst entlarvt. Und deshalb ist die Erkenntnis zum Lachen, die Verdummung zum

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Heulen. Daher ist wahre Erkenntnis etwas, das rasch, überraschend schnell vermittelt werden kann. Überlegen Sie jetzt einmal selbst, weshalb einige Religionen und politische Systeme so unglaublich humorlos sind, überlegen Sie selbst, und lassen Sie sich überraschen. Wirklich überlegen ist nur der Gott, der so viel Humor hat wie der der Juden. Der nämlich spricht zu seinem Schaf, das seit dreißig Jahren regelmäßig in der Synagoge um den Hauptgewinn in der Lotterie bittet, so: "Itzig, sei so lieb, gib mir a Chance, und kauf dir a Los!" Wir sind natürlich nicht vom Thema abgekommen, denn im Prinzip funktioniert ein Maere nicht anders als ein Witz. Kann im Witz aber die Pointe nur sprachlich erschlossen werden, da er sich auf Normen und Regeln der sprachlichen Kommunikation stützt, so ergibt sich der Überraschungseffekt im Maere auf der Handlungsebene. Wie wir an den beiden Beispielen sehen konnten, geschieht da etwas, was niemand erwarten konnte, was aus der Situation auf den ersten Blick nicht zu schließen war. Wenn man aber über das Ergebnis lachen soll, dann ja wohl nur in dem Falle, daß man die Handlung nachvollziehen kann, daß man also eine richtige Einschätzung der Handlungsvoraussetzungen vornimmt. Das Verstehen der Handlung erfordert somit von uns eine Richtigstellung einer Handlungsvoraussetzung, damit die Gesamthandlung ins Gefüge einer konsequenten Handlungsnorm paßt. Wie aber muß es denn um die Dame auf dem Grab eigentlich bestellt sein, wenn sie sich zu solch einer pietätlosen Handlung überreden läßt? Sie muß über ein erhebliches Maß an Naivität verfügen und ihre Trauer muß so aufgesetzt sein, daß sie bedenkenlos ihrer Selbstsuggestion erliegt und damit von sich aus die Voraussetzung schafft, die sie von außen her manipulierbar macht. Diese Manipulierbarkeit hin bis zur absurden Selbstverstümmelung sahen wir auch beim Geizigen und Neidischen, die ebenfalls so reine Inkarnationen ihres Charakterzuges waren, daß ihre Handlung zum bedingten Reflex wird. Um also einen Wesenszug bei einer Figur zu deren Schaden oder Vorteil nutzen zu können, muß dieser Zug nicht nur einfach beherrschend sein, er muß völlig allein alles Handeln dieser Figur bestimmen. Das plötzliche Einschreiten von Vernunft oder Selbstreflexion ist bei solchen TYPEN nur halt ebenso ausgeschlossen wie das Vorhandensein einer differenzierten Psychologie. Trauer, Geiz und Neid, dies alles sind Wesenszüge, die uns vertraut und normal erscheinen, wenn sie in einem Charakterspektrum auftreten. Dadurch aber, daß sie Anlaß für völlig unvernünftige Handlungen sind, erkennt man sie leicht als Manie, als ausschließliche Handlungsoption, die man zu witzigsten Pointen ausnutzen kann. Nun haben wir ja feststellen können, daß einige Gelehrte sich ähnlich manischer Züge erfreuen, wen also mag es da wundern, daß es hie und da immer mal wieder etwas zu lachen gibt. Die Literaturwissenschaftler gleichen da miserablen Köchen, die ihre Kochkunst beweisen, indem sie ihr Essen selbst futtern. Es ist nämlich so, daß der gesamte Reingewinn der bisherigen Forschung zum Maere aus der Erkenntnis besteht, daß sie in gewisser Weise realistisch seien. Ich habe es immer für aus-

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gemachten Unsinn gehalten, in der Kunst die Realität zu suchen, und ich habe auch immer geglaubt, daß diese überzeichneten Karikaturen von Menschen, die nur aus Geiz oder aus Neid oder aus Naivität bestehen, in Wirklichkeit nicht existieren können. Weit gefehlt, die Literaturwissenschaftler beweisen ihre These vom Realismus dieser Gattung an sich selbst, denn sie sind tatsächlich die Inkarnation der NAIVITÄT, ihr Elfenbeinturm überragt LALEBURG, und sie selbst tragen wahrscheinlich wieder Baumstämme den Berg hinan oder fangen Licht mit Säcken. Aber selbstverständlich war man auch um Definitionen bemüht, die den Stand und das Vermögen der Wissenschaft gnadenlos widerspiegeln. Von Hanns FISCHER (1966) stammt dies: eine in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte, selbständige und eigenzweckliche Erzählung mittleren (d.h. durch die Verszahlen 150 und 2000 ungefähr umgrenzten) Umfangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind. Mit wenigen Modifikationen läßt sich daraus eine ebenso nebulöse Definition eines Autos machen. Um Ihnen aber einen Begriff von den unsäglichen Mühen und Wehen zu geben, deren Produkt derlei Definitionen sind, erlaube ich mir mit HORAZ zu sagen:

PARTURIUNT MONTES, NASCETUR RIDICULUS MUS was auf deutsch so viel bedeutet wie: Wie die Berge auch kreißen, geboren wird nur eine lächerliche Maus. A propos ridiculus, da fällt mir doch sogleich ein noch aussageloseres Bekenntnis des Romanisten Joseph BEDIER ein, das A. GIER in dem besagten Bändchen Fabliaux mit folgenden Worten preist: Dort [in Bediers Habilschrift von 1893] findet sich eine Definition, die sich gerade wegen ihrer unprätentiösen Schlichtheit bis heute als die tragfähigste erwiesen hat: "Les fabliaux sont des contes a rire en vers." In ebenso unprätentiöser Schlichtheit darf dies neuhochdeutsch folgendermaßen lauten: Die Fabliaux sind lustige Geschichten in Versen. Ob nun tragfähig oder trächtig, schlicht oder ergreifend, bewundernswert auch hier wieder der Mut, dieser Mut der Verzweiflung und der Mut zur Lücke. Ich gedenke natürlich nicht, Sie mit

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lauter Mäusen allein zu lassen, und so krame ich schon mal eine vorläufige Fassung der Definition hervor, die in besagter zweiter Publikation näher erläutert und erhärtet werden wird. Da lautet die Definition: Das MAERE (oder FABLIAU) ist eine erheiternde Erzählung, deren sinnkonstituierendes Prinzip in der Ambivalenz von Charakter, Situation und Sprache gründet, wobei der Witz entweder darin besteht, daß Protagonisten ihren Vorteil aus der bewußten oder unbewußten Kenntnis solcher Ambivalenzen gewaltlos gewinnen, oder darin, daß die Protagonisten sich in solchen Ambivalenzen verheddern. So unvollkommen diese Definition noch sein mag, so läßt sich dennoch schon hiermit die notwendige Beschneidung der zweiten schweren Geburt der LW, ihres Maerenkataloges, vornehmen, den wir um einige Geschichten dezimieren müssen, weil sie da so wenig hineingehören wie Theseus ins Bett des Prokrustes. Da ist z.B. das berühmt berüchtigte Maere vom Meier Helmbrecht. Der Begriff Maere meint in diesem Zusammenhang nun aber nicht eine Gattungsbezeichnung, sondern schlicht das, was es sagt, nämlich Bericht oder Kunde. Um aber ganz deutlich zu machen, welcher Gattung der Meier Helmbrecht denn eigentlich angehört und was ihn somit zu einem echten Novum in der Literaturgeschichte macht, gebe ich ihm einen etwas deutlicheren Titel:

Die schreckliche / und schaurige Geschichte des Räubers/ und Erzhalunken Helmbrecht / und wie er ein unrühmlich Ende genommen Eine MORITAT Eingedenk dieser Einsichten wollen wir nun nochmals ins finstere Schlafgemach Partonopiers eindringen und das Bettgeflüster belauschen, vielleicht erkennen wir die Manie unseres Helden. Da das Geschehen aber die Form eines Maere hat, also einen Witz darstellt, können Sie sich denken, daß man diese Form besser nicht kürzt. Wer das tut, erst recht dann, wenn er den Witz gar nicht verstanden hat, der wirkt dann eher selbst ungewollt komisch. Ich werde Ihnen also schnell mal die 400 Verse, um die es zunächst geht, übersetzen, lasse aber den Originalwortlaut weg, weil das doch die wenigsten verstehen können. Schauen wir uns also an, was der Ausgangspunkt für den Satz war, der hof-

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fentlich Geschichte machen wird: ...doch als er dann merkt, daß eine wohlgeformte junge Dame in seinem Bett liegt, fällt er einigermaßen rücksichts los über sie her. Und dies also geschieht, nachdem sich ein Wesen genähert und sich sogar zu unserem Helden ins Bett gelegt hat. PARTONOPIER UND MELIUR [1303 ff.] Daher lag er dort in tiefer Niedergeschlagenheit. Er hatte sich platt an die Wand gedrückt und zusammengekauert wie ein Igel. Das Siegel der Angst war ihm auf die Laune gedrückt. Da geschah es, daß die Dame sich etwas räkeln wollte, wodurch die schöne Jungfrau mit den Füßen unseren Helden berührte, ganz so, als ob sie ihn da nicht wüßte (sam si sîn niht dâ weste). Und als die Tugendhafte ihn im Bett spürte, zog sie blitzschnell ihre süßen Füßchen zurück. Sofort rief sie laut: "Heilige Mutter Maria, du Balsam wunder Seelen, wen habe ich zu dieser Stunde bloß so nah bei mir gefunden? Wer ist so dreist, daß er sich in mein Bett legt und es wagt, sich heimlich da zu verstecken? Weshalb soll ich es verheimlichen, es kostet ihn auf der Stelle das Leben. Verrate auf der Stelle, was du bist, das sich hier hingelegt hat? Sage mir, ob du ein Mann, ein Teufel oder Mensch bist. Wenn du mir nicht sofort antwortest, ist das dein Tod. Ich lasse dich von meinen Rittern und Knechten foltern und peinigen. Darauf kannst du dich verlassen." Das versetzte Partonopier einen gehörigen Schrecken. Wie ein Tier war er weiß Gott in heillose Angst versetzt, denn sogleich dachte er, daß er kein gutes Ende nähme und von seiner Qual keine Erlösung fände. Eine Sache aber beruhigte ihn und unterbrach seinen Kummer, als er nämlich die Dame den Namen der Jungfrau Maria sagen hörte. Dadurch verstärkte sich sein Eindruck, daß der wundervolle Körper doch vertraut war, denn nun hielt er es für sonnenklar, daß eine Frau zu ihm gesprochen hatte. Dadurch schöpfte unser wackerer Held neuen Mut, so daß er ihr, der größten Sorgen ledig, dies antwortete: "Herrin, Ihr fragt, wer ich sei?", sprach der Tugendhafte zu ihr, "ich bin ein Knappe, glaubt mir, und ich weder zu Eurer Schande noch Schaden in dieses Gemach gekommen. Mich verschlug das Schicksal hierher." "Nun sage mir sofort", sprach sie, "wer hat dich in diese Räume gebracht, die alle mein Eigentum sind? Ich bin die Königin des Landes und genieße hohes Ansehen. Wer erlaubte dir also, so dreist zu sein, daß du es wagtest, dich so nah direkt an meine Seite zu legen? Kein König würde es wagen, die Schwelle zu meinem Schlafgemach zu überschreiten. Kein Fürst kam je in die Nähe, geschweige irgendeine andere Person. Wieso gingst du hinein und kamst ohne Erlaubnis hierher"?

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"Erbarmen, meine Dame", erwiderte er, "ich bin gerade eben noch voller Furcht durch den dichten Wald der Ardennen geirrt. Angst und vielerlei Schrecken litt ich darin völlig wehrlos, bis ich schließlich an das Meer gelangte. Da entdeckte ich an dem Strand ein Schiff, das mich in diese Burg führte. Ich sah aber keine Menschenseele, die ich um Erlaubnis hätte bitten können. Deshalb ging ich von selbst in den prächtigsten Palast, den es auf dieser Burg gab und begab mich zu Tisch. Dort aß und trank ich Wein und frische Speisen. Danach dauerte es nicht lange, da führten mich zwei Kerzen zu diesem herrlichen Bett. Seht, auf diese Weise gelangte ich hinein. Hätte es hier irgend jemanden gegeben, der auch nur einen Ton gesagt hätte, verehrteste Dame, ich hätte mich nicht in die Nähe gewagt. Gewährt mir bitte die Gnade, daß Ihr mich hier duldet, bis die Nacht zuende ist. Dann entferne ich mich sofort und räume dieses Bett, in das ich mich ohne eigenes Verschulden gelegt habe." "BLEIBEN?", rief die Dame da, "lieber Freund, wie kannst du so etwas sagen. Von BLEIBEN kann hier überhaupt keine Rede sein. Sieh zu, daß du sofort aus meinem Bett kommst und mein Schlafzimmer verläßt. Du mußt ja von allen guten Geistern verlassen sein, daß du wie ein Kind daherredest und dir großen Ärger einhandelst. Du siehst auf der Stelle zu, daß du Land gewinnst." "Bitte nicht, schöne Herrin", bat der Jüngling recht freundlich, "um Eurer Großherzigkeit willen erlaubt mir, daß ich in diesem Bett bleiben kann, bis der Tag diese schreckliche Nacht besiegt. Da ich nicht vorhabe, Euch zu belästigen oder zu schädigen, so laßt mich doch bei Euch bleiben, bis es tagt, denn ich kann und will nicht aus diesem Gemach gehen; ich kenn nicht einmal den Weg zwischen Bett und Tür.“ „ So werde ich Euch ohne Schläge und Stöße dahinführen.“ „Nein, Herrin, ich bin nun schon so lange obdachlos gewesen und bin von Herzen froh, daß nun Schlafenszeit ist, erweist Euch daher gnädig an mir und erlaubt, daß ich in diesem kaiserlichen Bett wenigstens ein wenig schlafe. Bedenkt, vortreffliche Herrin, daß Ihr von Adel seid, und hört auf zu zetern, damit ich meine Ruhe finde.“ „Diese Ausflüchte nützen dir gar nichts“, erwiderte sie daraufhin, „du mußt jetzt endgültig das Bett verlassen. Welche Art von Ruhe dachtest du eigentlich bei mir zu finden, du törichter Kerl? Auf mit dir! Kümmere dich um deinen Kram und laß mich in Ruhe. Deine kindlichen Ausflüchte bergen doch nur unanständige Gelüste, und sie bringen dir gleich fürchterliche Prügel ein. Dein Rücken wird weichgeschlagen, wenn du nicht sofort abhaust. Du glaubst vielleicht, daß ich keine Leute im Haus habe? Weiß Gott, ich habe unzählige Ritter, die dich schändlich an den Haaren aus dem Bett schleifen und dich vor die Türe werfen. Willst du nicht freiwillig hinausgehen, so belehren sie dich zu deinem Schaden darüber, wie man dieses Gemach verläßt.“ „Also gut“, gab der Jüngling zur Antwort, „ich habe so entsetzliche Dinge auf dem Meer und im Wald erlebt, daß ich mir die Qualen in diesem Bett auch noch zutraue.

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Ehe ich aus diesem Gemach gehe, so muß mir zuvor bestimmt von Schlägen solcher Schmerz zugefügt werden, daß das Blut spritzt. Da ich Euch doch nicht berühre, gute Frau, und Eure Jungfräulichkeit nicht antaste, welchen Grund habt Ihr dann noch, mir Euren Großmut zu verweigern und mich bis morgen in diesem Bett zu dulden? Wenn ich also die Nacht hier verbringe, das würde Euch doch kaum stören. Erbarmen, reine Herrin, überlegt, ob wirklich kein Edelmut je in Euch heimisch war, und laßt mich hier bleiben. Wenn ich um jeden Preis gehen soll, dann muß ich erst geschlagen werden.“ „Die Gunst, daß man dich lediglich verprügelt, widerfährt dir nicht“, sprach sie darauf, „denn ich sorge dafür, daß dich ein schlimmes Schicksal erwartet. Ein furchtbarer Tod steht die ohne Zweifel bevor und deinen Sinnen die große Qual einer schrecklichen Zeit.“ Danach lagen sie beieinander auf dem Bett und schwiegen sich an. Die Argumente waren ihnen ausgegangen und ihr Streit erlahmt. Die Streitbereitschaft verließ sie beide so wie die heftigen Worte. Er lag an dem einen Ende, sie an dem anderen. Tadellos erwies sich die hohe Gesinnung beider. Beide hatten beste Kinderstube und waren ein Gedicht von Schönheit und Adel. Sie lagen beide wortlos nebeneinander mit größtmöglicher Distanz, daß ja keiner den anderen berührte, denn der Zweifel hatte beide zur falschen Einsicht geführt, der jeweils andere wünsche sich keine Lösung durch Minne. Die Herrscherin des Landes hätte sich wohl sehr gefreut, wenn er seinem Herzen folgend näher gerückt wäre. Doch war unser guter Jüngling durch ihre Drohungen so eingeschüchtert, daß er die kaiserliche Jungfrau nicht zu berühren wagte. Doch seid versichert, daß sein Herz wie eine Kohle nach ihrer Minne brannte. Er hatte an ihrem Benehmen und ihrer Redeweise gemerkt, daß niemals ein Menschenkind geboren wurde, das so rein und auserkoren war wie diese liebliche Frucht. Das gleiche stellte auch sie an ihm zur Genüge fest. In ihrem Herzen wußte sie, daß es wohl keinen Jüngling geben könnte, in dem Gott so feine Tugend und so großen Anstand vereint hatte. Von daher gab ihnen die Minne die gleiche Gesinnung und einen gemeinsamen Gedanken: Beide entbrannten in heftiger Glut füreinander. Der brave Partonopier stieß nun manch schweren Seufzer aus, der aus tiefster Seele kam. Auch hörte er solches von ihr, und vernahm, daß sie derlei nach ihm ausstieß. Da dachte er bei sich: "Was immer mir auch geschehen mag, ich will probieren und sehen, ob es mir mit meiner Kraft gelingt, diese Frau herumzukriegen.“ Also griff er mit der Hand voller Lust an die Dame und berührte ihre entzückende Brust, die wie feine Äpfel gedrechselt schienen. Durch diese Dinge und Übergriffe war die Schöne kein bißchen sauer. Im Gegenteil freute sie sich über diese Entwicklung, tat aber gleichzeitig so, als ob sie von dieser Sache tief verletzt wäre, daß sie der Jüngling so einfach berührt hatte. „Weh!" rief sie erzürnt, „nimm besser deine Hand zurück! Wer lehrte dich, daß du mich so anfaßt? Jetzt glaube ich erst recht, daß

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du nicht bei Verstand bist." Er aber legte sich näher und umfing ihre herrliche Gestalt. "Gnade, Herrin, wundervolle Frau", sagte unser Held daraufhin, "um Gottes willen sprecht nicht so: erweist mir Eure Gunst. Solange ich auf Erden bin, will ich nur Euch verbunden sein, damit Ihr meine Wunden, die Eure Worte in meine Seele geschlagen haben, auf eine ganz bestimmte Weise heilen möchtet. Dennoch trösten mich auch Eure lieblichen Worte. Wie sehr Ihr auch immer zürnt, so erscheint meinem Herzen Eure Rede dennoch unsagbar süß, weil sie so herrlich klingt: Sie tönt und schallt durch die Ohren direkt in die Seele, viel schöner als alles Harfenspiel, das Orpheus hervorbrachte. Ich merke wohl und spüre auch, ist Eure Rede auch feindselig und hart gegen mich, daß Eure Minne und Euer Körper alles übertreffen, was an Frauen auf Erden je gesehen wurde. Was immer man vom Wert der Frau spricht, das ist alles ein blasser Hauch, ausgenommen die Schwermut, die Ihr mir ins Herz gelegt habt. Mein Auge hat Euch noch nicht erblickt, und vielleicht wird es Euch nie mehr sehen, doch weiß ich genau, daß Ihr alle Vorstellungen übertrefft. Mein Herz sagt mir ohne Bedenken, und dies habt Ihr geschafft, daß Ihr die Krone der besten Frauen seid, die es gibt. Ach Herrin, Kind des Glücks, gönnt mir doch den Genuß und helft mir die Bande lösen, die mein Herz beengen. Ich dulde schreckliche Schmerzen, in die mich Eure Herrlichkeit in diesem Bett gebracht hat." Die Dame antwortete ihm darauf: "Jüngling, diese Not ist aber plötzlich über Euch gekommen. Wer aber auch immer von der Minne zu schnell eingefangen wird, der entfleucht ihr in ebenso kurzer Zeit. Halte dich also nicht auf und schlag dir solchen Unsinn aus dem Kopf, denn ich schenke deinen kunstvollen Worten keinerlei Glauben." "Herrin, Hort meines Glückes", erwiderte unser Held da, "nun hat es sich aber häufig gezeigt, daß man in kürzester Frist von Leid überrascht wird, das nie enden will. Auch der schreckliche Donnerschlag trifft den Menschen doch völlig unerwartet und läßt ihn kaum mit dem Leben davonkommen. Genau damit will ich den Schuß der Minne und ihren Pfeil vergleichen, die manchen in ihren Kerker wirft, in dem er sterben muß. Ich selbst bin in solche Not in dieser kurzen Zeit geraten, daß ich auch nicht mehr heil davonkommen kann, herrliche Frau, entscheidet Euch doch, mir Eure Minne und Euren Körper zu gewähren. Erbarmen, Herrin, laßt mich mein Leben in Eurem Dienst fristen und befreit mich von meinem Klagen, damit ich Euch Leib, Herz und Leben für immer Euch zu eigen machen kann." Die Dame aber erwiderte: "Spar dir dein Gebell, und sieh zu, daß du fortkommst. Du spielst mir gegenüber ein Spiel, ich will gar nicht wissen welches, um das ich keinen Heller gebe. Du schöpfst Wasser mit einem Sieb, deine Argumente sind bloßer Zierrat. Tust du mir irgendetwas zuleide, kostet es dich das Leben. Ich rufe die Diener, die mich nun von dir befreien." "Bitte nicht, Herrin, Ihr seid doch eine Blume der Ehre und Tugend. Denkt daran, junge Unschuld, und laßt mich nicht verderben; und wenn es mich das Leben kostet, ich muß meinen Willen haben. Ich habe

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immer gehört, daß Damen gnädig sind. Laßt mich deshalb, Königin meines Herzens, genießen, und gewährt mir Eure Gnade." Mit diesen Worten zog er die Göttliche an sich. Wegen der Sehnsucht nach Freude wurde der Minnesieche dreist. Ihr meint nun vielleicht, daß er wegen des Zwanges der Minne etwas zu stürmisch war und etwas mehr Gewalt anwandte, als es ihm die gute Erziehung gebot? Nein, die Not der unbefriedigten Minne gab ihm solche Kraft, daß er nach lieblichem Gefecht Sieger blieb. Ob da irgend ein süßes Spiel unterblieb? Aber nein, im Gegenteil, die Minne ließ die beiden natürlich nicht in ihrer entzückenden Zwietracht. Was Liebe, Freude und Glück auch immer zusammenführten, das erfuhr Partonopiers Wonne sogleich. Sein Mund kostete an ihrem süßen Mund ein altbekanntes Spiel so gänzlich aus, daß sie schnell auf das kamen, das ihnen zuvor unbekannt war. Da verloren beide ihre Unschuld.

I * Sehen Sie, guter Leser, das Terrain des Maere ist die Verstellung, das so tun als ob, und daher erklärt es sich, daß der Autor uns hier führen muß, uns also nicht im gleichen falschen Glauben lassen kann wie seinen Helden. Auch am Ende macht KONRAD klar, daß es natürlich keiner Gewalt bedurfte, um Meliurs Hingabe zu erreichen, denn, was alle gemerkt haben, das war ein, nein, das Paradebeispiel für die wundervolle weibliche Verführungskunst. Um das verstehen und genießen zu können, bedarf es meines Erachtens nicht einmal der eigenen Erfahrung, obwohl ich da dank Enite gut reden habe, dennoch, dieser armselige Rohrkrepierer eines zu gut bezahlten Literaturknechtes ist nicht nur einfach ein Dokument für völlige literarische Inkompetenz, er ist schlicht ein Beschiß an der Kunst. Ich muß an dieser Stelle Ihr Verständnis erbitten, schließlich hat der Roman über 20.000 Zeilen, und wir sind mal gerade bei Vers 1.700. Aber es war unumgänglich, meiner zweiten Publikation vorzugreifen, sonst hätte man nur mit Mühe verstehen können, wie ein Maere funktioniert. Überprüfen wir unsere Erkenntnisse nochmals an dieser Szene, dann erkennen wir auf Anhieb, wie Meliur mit größter Geschicklichkeit unseren Helden dahin kriegt, wohin sie ihn haben will. Sie kann es sich erlauben, hoch zu pokern, denn Partonopier hat solche Angst, daß er nie das Bett verlassen würde. Alles, was passiert, ist inszeniert, ist reine Taktik, die enorme Naivität unseres Helden zu dessen Vorteil auszunutzen. Kurz, Partonopier handelt genauso,

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wie man es von ihm wollte, seine Schwäche wurde genauso taxiert wie bei der Dame auf dem Grab oder wie bei dem Neidischen und Habgierigen. Ich würde Ihnen nun natürlich gerne zeigen, zu welch entzückenden Komplikationen gerade die sexuelle Naivität in den Maeren führt, es wäre für Sie ein Beleg dafür, daß gerade der Naive einer besonderen Gängelung bedarf. Wenn einer einen Naiven nicht zu dessen eigenem Glück verführt und leitet, sondern meint, ihn aufklären zu müssen, der vergißt das Beharrungsvermögen der Naivität. Ein aufgeklärter Naiver ist nämlich nur eine noch größere Karikatur, denn er wird ungewollt allergrößte Verwirrung stiften, wird im schlimmsten Falle sogar die Belehrungen als so hohle Chiffren entlarven, wie dies unser Held Parzival tat. Jetzt aber müssen wir unseren Blick wieder auf das Romanganze richten und schauen, weshalb KONRAD gerade dieses Mittel wählte, um Partonopier mit einer Frau zu versehen. Dazu benötigen wir noch ein paar Informationen, die uns Meliur nun selbst gewährt. Nachdem nun also vollendete Tatsachen geschaffen sind, nachdem Partonopier solcherart an der Nase herumgeführt worden war, daß er glaubt, seinen eigenen Willen gegen den Meliurs durchgesetzt zu haben, wird er über die wahren Sach-verhalte aufgeklärt. Sie erzählt ihm, daß sie tatsächlich die Kronerbin eines riesigen Reiches sei und daß man ihr seitens der Berater nahegelegt habe, sich rechtzeitig einen passenden Mann zu suchen. Dabei bewegt sie eine nicht von der Hand zu weisende Einsicht: wan ich gedâhte, daz ein wîp verkaufen niht solt umbe guot ir minne, frîheit unde muot: si solte an rehte wirde spehen. [PM, 1812 ff. Denn ich folgte der Einsicht, daß eine Frau um nichts in der Welt ihre Minne, Freiheit und Überzeugung verkaufen dürfe; sie muß nach wahrer Größe Ausschau halten.] Wenn man also testen will, ob man einzig als Frau bestechen kann, dies sogar, ohne erblickt zu werden, möge man den Plan Meliurs in Erwägung ziehen. Es stellt sich nun heraus, daß alles von Anfang an geplant war, daß Meliur, ohne daß unser Held davon wußte, sich ihn ihn verliebt hatte, als er noch in Kärlingen weilte. Dies aber geht nicht ohne technische Hilfsmittel: "ich schuof mit mîner künste, daz der künec, dîn oehein, kam des jagens überein

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zArdenne in daz gevilde. daz du den eher wilde slüege, daz haet ûf geleit diu manicvalde wîsheit, dar an mir ein wunder ist. ouch schuof daz mîner künste list, daz du bist komen in daz lant." [PM, 1866 ff. "Mit meinen besonderen Kenntnissen brachte ich es zustande, dass dein Onkel plötzlich meinte, in der Gegend der Ardennen auf die Jagt gehen zu müssen. Daß du den wilden Eber erschlugst, das beruhte alles auf dem Wissen, über das ich in großem Maße verfüge. Auch die Tatsache, daß du in mein Reich gekommen bist, ist das Werk meiner Fähigkeiten."] Alles dreht sich darum, daß sie ihn in zweieinhalb Jahren, wenn er voll erwachsen ist und den Ritterschlag empfangen hat, dem Kronrat als den Mann ihrer Wahl vorstellen will. Bis dahin muß er verborgen bleiben, was sie ebenfalls mit ihren Fähigkeiten erreicht. Es gibt aber bei alledem ein Problem, denn er darf sie nicht bei Lichte betrachten: "friunt", sprach si, "daz enmac niht sîn, daz mich dîn ouge sehen müge. du soll daz wizzen âne trüge, sît ich dîn künde alrêrst gewan, daz mich dekeiner slahte man nie beschouwen mohte sît, noch niemer mêr biz an die zît, dar ûf gesprochen ist der tac, daz ich vor mînen fürsten mac offenlîche sehen dich." [PM, 1956 ff. "Freund", sprach sie, "du darfst mich keinesfalls je mit den Augen betrachten. Sei versichert, daß seit ich dich kenne, mich keine Menschenseele sah und auch nicht sehen wird, bis der Termin kommt, daß wir uns vor den Reichsfürsten in der Öffentlichkeit sehen können."] Er darf tagsüber tun und lassen, was er will, hat jede Form von Kurzweil und des Nachts kommt sie immer zu ihm. Nur eben darf er sie nicht sehen, noch darf er gesehen werden, was aber Meliurs Kraft verhindert. Dies aber würde geschehen, wenn er dennoch den Versuch unternähme, sie anzuschauen:

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"wilt du aber mîn nemen war mit dînen ougen eteswie, sô daz du mich gesehen hie mit keinen listen gerne wilt, sô wizzest daz, daz dich bevilt der saelden und der êre mîn, wan ich dâr nach müest iemer sîn in jâmer unde in klagender nôt. auch soll du wizzen, daz du tôt muost benamen dar umbe ligen." [PM, 2006 ff. "Willst du dennoch auf irgendeine Weise meiner ansichtig werden, so daß du mich hier bar jeder Kraft sehen willst, so sei versichert, daß meine Ehre und Güte dir zum Nachteil ausschlagen, denn daraufhin geriete ich in furchtbare Not und Pein. Wisse auch, daß du selbst dadurch sterben müßtest."] Damit nun, aufmerksamer Leser, haben wir alle wichtigen Details beisammen, die beschreiben, wie unser Held in den Besitz einer herrlichen Frau kommt. Unverkennbar sind die Ähnlichkeiten mit der Art und Weise, wie Lanval dereinst von seiner Fee begnadet wurde. Aber Vorsicht, kein mittelalterlicher Dichter erdreistete sich zu linkischen Nachahmungen. Und so bildet das Prinzip der figuralen Gewährung auch nur die Folie, auf der sich moderne Erzählfunktionen verwirklichen. So wird aus dem ehemaligen feenhaften Gewähren das maerenhafte Prinzip, dem Helden lediglich zu suggerieren, er hätte etwas erreicht, während man ihn in Wirklichkeit geschickt dahinlenkte. Aus der ehemaligen Fee wird hier eine Dame, die über Zauberkünste verfügt, die sie erlernt hat. Und genau hier ist das Tabu virulent, denn diese Macht würde sie sofort verlieren, wenn man sie betrachtet, womit man zugleich sie selbst verliert. Wenn sie aber durch einen Tabubruch ihre Macht und ihre Fähigkeiten verliert, ist sie anders als die Fee Lanvals, die eigentlich auch niemand sehen konnte und durfte, keine Fee mehr. Ich bitte, dies genauestens zu bedenken und zu beachten, denn wenn Meliur ihren Status durch den bald eintretenden Tabubruch verliert, wenn also Partonopier sie und ihre Gunst verliert, ist dies ebensowenig eine KRISE, wie sie noch eine Fee! Das bedeutet natürlich zugleich, daß der Weg, sie zurückzugewinnen, nie und nimmer mit dem altbekannten Mittel des IAS gelingen kann! Damit aber ist wieder der Nachweis unserer Behauptung gelungen, daß es nach dem Parzival keine KRISE mehr geben kann, mithin auch kein IAS mehr, das figuralen Rückerwerb ermöglicht. Der gesamte figurale Komplex ist hier völlig technisiert, Meliur ist eine technische Fee (Zauberin), und da Technik das Versagen geradezu heraufbeschwört, dürfen wir hier sicher sein, daß Partonopier einen Bedienungsfehler machen wird.

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Wir können das kurz erzählen, denn um den Tabubruch durch unseren Helden zu motivieren, stützt KONRAD sich wieder auf dessen Naivität. In den zweieinhalb Jahren bekommt er nun zweimal Langeweile und Heimweh. Dort versucht man ihn zu verunsichern, was bei Naiven problemlos klappt. Beim ersten Mal kommt er noch mit einem blauen Auge davon, beim zweiten Mal aber gelingt es seiner Familie, ihn in so große Angst zu versetzen, daß er endlich beschließt, Meliur bei Lichte zu betrachten. Da aber ist der Jammer groß. Bevor wir aber zu diesem Punkt kommen, werden wir uns mit einer Frage zu beschäftigen haben, die den ganz Gewitzten unter Ihnen schon länger unter den Nägeln brennen dürfte: Was ist denn hieran überhaupt ein Ritterroman, ist Partonopier überhaupt ein Ritter, kann er überhaupt kämpfen? Sehen Sie, genau das hat KONRAD vorausgesehen, und deshalb taucht auf seiner Heimreise unversehens ein enormes Heidenheer auf, das unter dem Befehl des Königs Sornagiur steht. Der Krieg soll durch einen Zweikampf entschieden werden, Partonopier kämpft gegen den Heidenkönig, und ob Sie es glauben oder nicht, die Kampfbeschreibung nimmt stolze 1.000 Verse in Anspruch. Und dennoch hat dieser Kampf hinsichtlich eines Erwerbsziel nicht die geringste Bedeutung. Von daher erklärt es sich auch, daß beide Kämpfer durch einen feigen Heiden gestört werden, worauf der edle Heidenkönig sofort Einhalt gebietet und Friedensverhandlungen anstrebt. Alles, was uns dieser Kampf in seiner nicht alltäglichen Länge vor Augen führen soll, ist die Tatsache, daß wir erkennen, daß wir es mit einem Ritterroman zu tun haben und daß unser Held ein vorzüglicher Ritter ist. Würde freilich Partonopier in diesem Kampf dominieren und damit gar etwas attribuieren, wäre wiederum das Romangefüge erheblich gestört. Damit aber auch niemand auf die Idee kommen kann, hier könne am Ende etwas wie ein IAS vorliegen, also ein Kampf ohne Attribution, der dann einen wie immer gearteten späteren aktantiellen Erwerb legitimiert, läßt KONRAD es bewußt nicht zur Domination Partonopiers über seinen Kontrahenten kommen. Daß Partonopier ohnehin, wie jeder Ritter, nur ein Erwerbsziel hat, dürfte sich mittlerweile von selbst verstehen. Soviel zu diesem Thema, wenden wir uns nunmehr der Krise zu, wie wir sie verstehen können und welche Auswirkungen sie im einzelnen hat. Wie gesagt wurde Partonopier auf seinem letzten Heimaturlaub heftig von seiner Mutter und sogar vom Bischof gedrängt, den rätselhaften Begebenheiten auf den Grund zu gehen, sich mit eigenen Augen anzusehen, ob er da mit einem Teufel oder einer Dame das Bett teilt. Dies setzt er brav in die Tat um, er entzündet ein Licht und sieht sich der herrlichsten Frau gegenüber, die man sich nur vorstellen kann. Die Freude über diese Entdeckung ist freilich nicht von großer Dauer. Im Glauben, einen Gewinn gemacht zu haben, hat er leider das Gegenteil heraufbeschworen, er erntet nämlich herben Verlust. Sie ahnen nun vielleicht, weshalb ich Ihnen die Geschichte vom heiligen Martin bekannt gemacht habe. KONRAD folgt hier demselben Prinzip, daß nämlich der

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Held sich selbst schädigt und durch eigene Schuld einen begehrten Besitz verliert. Weshalb ist das so wichtig? Nach wie vor gilt doch, daß der figurale Kontext um FS, KRISE (FS-) und IAS nicht mehr funktionieren kann. Es war aber das Hauptkennzeichen der KRISE, daß der Held aus bestimmten Gründen etwas Wertvolles verliert. Dieser Verlust aber geschah nie im Rahmen eines Aktanten-schemas, niemals also verlor er etwas an einen gegnerischen Subjektaktanten oder, mit anderen Worten, etwas endgültig. Weil aber ein aktantieller Verlust einen Wiedergewinn ausschließt und weil dieser Verlust eben deshalb nur bei Objekten funktioniert, konnte der Held nur Werte verlieren, und die eben nur durch eigenes Verschulden und eigenes Dazutun. Aber etwas zum eigenen Nachteil zu verlieren, ohne daß ein anderer davon profitiert, das geht eben auch im Maere, wie es uns der Habgierige und der Geizige vor Augen geführt haben. Weil unser Held nun auf diese Weise Meliurs Gunst verloren hat, ist er prinzipiell in der Lage, sie zurückzugewinnen. Weil sie aber durch sein Fehlverhalten ihren rein technischen Feenstatus (Zauberkünste) verloren hat, kann dieser Weg sinnvollerweise nicht aus dem IAS bestehen. Es kann von nun an aber auch nicht um Werte wie Gunst und Huld gehen, sondern nur noch schlicht um die Dame Meliur, die von nun an einfacher Objektaktant sein wird. Das aber weiß Partonopier in dem Moment nicht, als er von ihrem Hof verstoßen wird und nur deshalb mit dem Leben davonkommt, weil er so wunderschön ist. Nach über einem Jahr begegnen wir Partonopier in der Wildnis wieder, bis oben hin gefüllt mit Schmerz und Todessehnsucht. Er hat sich in Kopf gesetzt, von den wilden Tieren des Waldes gefressen zu werden, doch wie so häufig gelingen Pläne nicht so einfach, wie man sie sich vorstellt: ez ist ein dinc vil wunderlich: swer nâch dem tôde wirbet, daz der vil kûme stirbet, und der des tôdes niht engert, der wirt vil schiere sîn gewert. [PM, 10472 ff. Es ist doch eine seltsame Fügung, daß der, der geradezu den Tod sucht, ihn selten findet, wohingegen der ihm häufig begegnet, der ihm ausweichen will.] Was uns Partonopiers Verhalten deutlich macht, ist die Tatsache, daß er unvorstellbar tief in der Krise sitzt, sich also gerade so verhält, als hätte er den Iwein gelesen. Dort wäre er wohl auch geblieben und am Ende wohl so ausgemergelt gewesen, daß kein wildes Tier ihn auch nur eines hungrigen Blickes gewürdigt hätte, wenn nicht jemand gekommen wäre, der ihn darüber aufklärt, daß er definitionsgemäß gar nicht in einer Krise sein dürfte. Wollen wir unserem Helden diese Aufklärung zukommen lassen, wollen wir selbst sehen, daß wir mit unseren Vermutungen recht

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haben? Ok! Und was benötigen wir alle dazu? Auch richtig, einen Krisenhelfer! Ist es vielleicht die Gräfin von Narison? Nein, die hatte damals ihre gesamten fünf Scheffel Zaubersalbe an Iwein verloren. Ist es dann der Einsiedel Trevrizent? Knapp daneben, der kommt aus seiner Klause im Wald von Soltane nicht heraus. Dann vielleicht aber Duzabele? Wieder nicht richtig, die ist glücklich mit Wittig verheiratet und hat vielleicht schon sieben Kinder. Es ist Irekel, die Schwester Meliurs, die Partonopier kurz kennenlernte, als er vom Hofe verstoßen wurde. Diese Dame nun setzt unseren Helden so instand, daß er den Versuch starten kann, seine Geliebte wiederzugewinnen. Dazu muß sie ihm Sachverhalte einsuggerieren, die zwar struktural alle völlig richtig sind, die aber inhaltlich im Prinzip gelogen sind. Dadurch aber, aufmerksamer Leser, sind wir an einem ganz entscheidenden Kapitel der Romantheorie. Ich will es nicht verhehlen, aber es muß so im Sommer des Jahres 1984 gewesen sein, ich besuchte gerade mit meiner amîe meine Eltern, und während sie fuhr, las ich wie üblich, und zwar just jene und die folgenden Stellen. Damals fiel es mir wie Schuppen von den Augen, damals begann ein Erkennen, das sich zumindest für mich als enorm befriedigend erwiesen hat. Wie sonst nirgends besteht hier nämlich eine seltsame Kluft zwischen der Sinnstruktur und der Inhaltsebene des Romans. Lassen Sie mich das möglichst ausführlich zeigen. Irekel nämlich erklärt Partonopier, er habe die Gunst Meliurs gar nicht verloren, sie liebe ihn immer noch und wünsche sich, daß er zurückkommen möge. Sie belegt dies sogar mit falschen Briefen und sorgt in jeder Weise dafür, daß er dies glaubt, mit ihr mitkommt und sich rasch erholt. Eines aber ist seltsam. Alles dies geschieht heimlich und unser Held geht nicht, wie es zu erwarten gewesen wäre, zu Meliur, um mit ihr weiterzuleben und zu schlafen. Auch bei der so nötigen Schwertleite, die unser Held ja benötigt, um Meliur zu heiraten, die sie nämlich selbst ausführt, bleibt er gegenüber seiner Geliebten unerkannt, er stellt sich nicht vor und handelt insgesamt, als wüßte er nun plötzlich nicht, daß sie ihn noch immer liebt. Diese Punkte sollten genügen, Ihnen zu zeigen, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, offensichtlich ist doch wohl, daß Partonopier nicht nach Gesetzen des Inhaltes handelt. Es ist zwar nicht direkt gelogen gewesen, was Irekel sagte, aber direkt offiziell war ihre Information nun auch gerade nicht. Natürlich liebt Meliur ihren Freund noch immer, das ist auch nötig, sonst hätte kein wie immer gearteter Erwerbsversuch Erfolg, und eben nur das ist der relevante Faktor dieser Information für unseren Helden wie für uns. Das eigentlich Interessante und Wesentliche aber ist, daß Partonopier nicht in Kenntnis dieser Informationen handelt, sondern in Kenntnis der ERWERBSSTRUKTUR. Davon waren auch die Ausführungen meiner Examensarbeit beeinflußt, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dies meinen dümmelnden Professor, dessen Namen ich aber nie verraten werde, in helle Wut versetzt hat. Sehen Sie, der arme Mann wollte seinen Glauben behalten, da handelten

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Menschen aus Fleisch und Blut, eine etwas naive Vorstellung, die seit GRIMMELSHAUSEN und WIELAND eigentlich nicht mehr haltbar ist. Alles, was hier also geschieht, ist, daß der Held instand gesetzt wird, seine Geliebte zu erwerben, und da zur Kür eines Mannes für Meliur ein großes Turnier angesetzt wird, dessen Gewinner sie zur Frau erhalten soll, ist klar, daß dieser Erwerb sich in Form eines Aktantenschemas vollziehen wird. Vergessen wir nämlich nicht, daß Meliur keine Fee mehr ist, ein IAS somit überhaupt keinen Zweck hätte. Wir finden hier genau das wieder, was in allen vorangegangenen Romanen ebenfalls auftauchte, was wir als Pseudomotivation erkannt hatten, was als verligen oder Versäumen eines Termines oder einer Mitleidsfrage unsere Gelahrten narrte. Unsere Helden aber haben sich nach solchen Dingen nie gerichtet, sie haben ihre Ziele in Kenntnis der relevanten ERWERBSSTRUKTUR erreicht. Für uns ist nunmehr wichtig, daß der Gewinner des Turniers Meliur zur Frau gewinnt, so wie Gahmuret seinerzeit Herzeloyde erlangte. Alles, was uns jetzt noch wundern muß, ist der Umstand, daß unser Held während der gesamten Zeit nicht von Meliur erkannt werden darf. Das führt mithin zu recht seltsamen Begebnissen, denn als er von seiner Heimstatt bei Irekel mittels eines kleinen Schiffchens zum Turnier aufbricht, wird er doch tatsächlich abgetrieben und strandet auf der Insel des Raubritters Herrmann. Der setzt ihn gefangen, raubt ihm die Rüstung und zieht seinerseits zu dem erwähnten Turnier. Da sitzt Partonopier im Kerker und beklagt sein Schicksal. Das hört die Gattin Herrmanns, sie bekommt Mitleid, sie läßt ihn frei und stattet ihn mit einer völlig neuen Rüstung aus. So kommt er noch rechtzeitig zum Turnier und kann nicht einmal mehr von Irekel identifiziert werden. Natürlich gibt er sich selbst auch nicht zu erkennen, und so gibt es lediglich Vermutungen seitens Irekel, dieser glänzende Ritter müsse Partonopier sein. Irekel diu vil reine nam des blanken ritters war. si dûhte in ir gemüete gar, der mit dem wîzen schilte der möhte wol der milte grâve sîn Partonopier. [PM, 14538 ff. Die gute Irekel beobachtete den strahlenden Ritter genau. Sie gelangte zu der Überzeugung, der mit dem glänzenden Schild müßte der Graf Partonopier sein.] Wie man daran unschwer erkennt, tut sich unser Held auf diesem Turnier enorm hervor, er übertrifft alle Konkurrenten in allen ritterlichen Tugenden. Damit ist dann aber der Umstand verbunden, daß für diesen Ritter, der unerkannt ist, nur seine Taten

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sprechen, nichts sonst. Nur an diesen Taten aber wird am Ende gemessen werden, wer der Würdigste ist, Meliurs Hand zu erhalten. Kein Ressentiment, kein Vorurteil darf dieses Urteil trüben, dies ist auch hier der Grund für die Anonymität des Helden. Dennoch liegt hier kein IAS vor, schließlich muß ein Objekt erworben werden. Aber Bezüge sind unverkennbar, ich glaube, man kann sagen, daß das IAS nun so weit trivialisiert worden ist, daß es mit dem aktantiellen Erwerb zu einer Mischform vermengt werden konnte. Fassen wir also zusammen, daß Partonopier sich struktural richtig verhält, daß er Meliur durch ein Turnier zurückgewinnt, und daß er seine Würdigkeit zuvor unabhängig von seinem alten Image duch Anonymität unter Beweis stellen konnte. Natürlich muß auch Irekel und Meliur im Verlaufe des Turniers sonnenklar werden, daß der beste Ritter halt doch mit Partonopier identisch ist. Es wäre erzählerisch sicherlich ungeschickt gewesen, Meliur sozusagen ins Blaue hinein mit dem besten Ritter zu vermählen, von dem man rein gar nichts weiß, denn dann wäre der Eindruck von Treulosigkeit entstanden. So aber kann Meliur auf die Wahl des Besten pochen, denn sie weiß, daß es ihr Geliebter ist. Nach langem Hin und Her fällt auch durch die Kampfrichter genau diese Entscheidung, Partonopier ist der Gesamtsieger des Turniers und gewinnt die Hand Meliurs. Damit ist die Geschichte eigentlich zuende, aber KONRAD hat noch irgend-etwas vorgehabt, von dem ich nichts Genaues wissen kann. Der Hauptkonkurrent Partonopiers nämlich, ein heidnischer Sultan, fühlt sich bei der Wahl des Turniersiegers benachteiligt und sinnt auf Rache. Er überzieht nach der Hochzeit das Reich unseres Helden mit Krieg, doch da KONRAD mitten in den Kämpfen die Feder aus der Hand legte, weiß ich nicht, wie Partonopier am Ende siegen wird, welche exakte Funktion diese Auseinandersetzung hat und ob nicht vielleicht noch mehr folgen könnten. Das alles aber gehört in den Bereich der Spekulation, und das ist bekanntlich nicht mein Bier! Soviel aber kann ich doch verraten. Für den endgültigen Erwerb des begehrten Objektes ist ein Aktantenschema unerläßlich. Wenn wir also einen Subjekt-aktanten und einen Objektaktanten haben, fehlt uns immer noch ein gegnerischer Subjektaktant. Der kann ja nicht einfach aus dem Nichts kommen, und deshalb wurde von KONRAD dieses Turnier anberaumt. In so einem Turnier gibt es mindestens zwei Parteien, zu denen sich alle Beteiligten zusammenschließen. Die kämpfen gegeneinander, und der gewinnt die meisten Punkte, der die meisten Gegner aus dem Sattel holt und fängt. Die Entscheidung aber fällen Punktrichter, und die haben es schwer, wenn auf beiden Seiten jeweils einer besonders hervorsticht, ohne daß es zwischen diesen beiden zu einer endgültigen Entscheidung kommt. Wie wir aber unschwer sehen können, ist der Sultan durch unseren Helden nicht völlig besiegt worden, gar kampfunfähig gemacht worden, und deshalb ist er halt in der Lage, über die höchstrichterliche Entscheidung hinaus eine von Mann zu Mann und Heer zu Heer zu suchen. Vielleicht haben wir dadurch den so wichtigen gegneri-

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schen Subjektaktanten erst ermittelt, mithilfe dessen Partonopier in der Lage ist, Meliur in einer richtigen aktantiellen Auseinandersetzung als Besitz zu bestätigen, denn im Turnier gibt es einfach zu viele Gegner, um ein ganz klares Bild zu bekommen. Zu dieser Entscheidung aber kommt es nicht, und vielleicht hatte KONRAD genauso wenig Lust, ewig diese blödsinnigen Schlachten zu beschreiben wie WOLFRAM und ich.

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DANIEL VON DEM BLÜHENDEN TAL oder Homo Faber, richtig sympathisch Im vorangegangenen Kapitel haben wir sehen können, wie der Funktionstyp des Maare in den Ritterroman eingeflochten wurde. Es zeigte sich aber noch eine deutliche räumliche Trennung von Neuem und Bekanntem, so stand nur der Beginn des Partonopier und Meliur bis zur Krise unter dem Zeichen des neuen Funktionstyps, um danach wieder in relativ vertrauten Erwerbsbahnen weiterzugehen. Nun sind wir, was die Sinnstrukturen mittelalterlicher Romane anlangt, bereits unanfechtbare Experten, und deshalb fällt es uns überhaupt nicht schwer, aus der strukturalen Position des Maerentyps (Wir nennen ihn von jetzt an MS, Maerenschema) seine Bedeutung hinsichtlich des Erwerbs eines begehrten Objektes zu bestimmen. Schon aus der Erkenntnis, daß es sich bei dem MS um ein Derivats unseren alten Surreptionsschemas handelt, müßte bereits der Verdacht aufkeimen, daß hiermit kein endgültiger Erwerb zu legitimieren ist. Und richtig, auch dieses Schema ist leicht umkehrbar; so wie Partonopier seine Freundin bekam, so oder aus den gleichen Grundvoraussetzungen kann er sie auch wieder verlieren. Dann sieht es halt doch auf den ersten Blick so aus, als könne man sinnvollerweise doch nur die einteiligen Geschichten, die einfachen Maaren daraus konstruieren. Leider aber kümmert sich die Romanproduktion selbst nicht um diesen einleuchtenden Gedanken. Schon der Tristan ist beinahe nur aus dem MS konstruiert; nachdem Tristan für Marke die schöne Isolde erworben hat (AS) und sich dabei logischerweise selbst in sie verliebte, kann er seinen Onkel und Dienstherren nicht einfach töten, um sie endgültig für sich zu gewinnen. Statt dessen kann er sie immer nur kurzfristig für das Naheliegende erlangen, beide täuschen den König, machen ihm etwas vor und können so beisammen sein. Aber endgültig können sie das nie, auf Täuschungsmanövern kann kein endgültiger Besitz gegründet sein, und daher finden beide, Tristan und Isolde, erst im Tod zusammen. Die konsequenteste Durchführung des Maerenschemas von Beginn bis zum Ende zeigt der Reineke Fuchs des Elsässers HEINRICH. In diesem noch sehr frühen Roman führt dies aber schließlich zur völligen Demontage aller Hierarchien, sogar zum Mord am König Vrevel, wen will es mithin wundern, daß dieser Roman nur über ein tierisches Personal verfügt. Dabei dürfen wir den Mord nicht allzu wörtlich nehmen, denn alles, was den Gegnern Reinekes geschieht, das fügen sie sich im Endeffekt selbst zu, tappen in Fallen, die ihnen der Romanheld in Kenntnis ihrer Schwächen gestellt hatte. Eine unverrückbare Eigenart nämlich zeichnet den Helden solcher Geschichten und des Mares allgemein aus, sie können für sich selbst niemals etwas im Zuge eines Aktantenschemas erwerben, was mithin die Entscheidung schwierig macht, wie der Erwerb Isoldens im Tristan zu bewerten ist. Auf der einen

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Seite muß der Erwerb aktantiell erfolgt sein, denn sonst könnten auf strukturaler Ebene keine Besitzansprüche legitimiert werden. Andererseits kann ein Protagonist nichts auf diese Weise für sich gewinnen, allenfalls für andere (König Marke), und dann ist es automatisch ein IAS. Dieses Dilemma aber zeichnet gerade den STELLVERTRETERERWERB aus, aus der Sicht König Markes oder König Günthers vollbringen Tristan und Siegfried ein IAS, aus der Sicht Isoldes und Brunhildes aber ein AS. Sehen Sie, und weil EILHARD VON OBERGE und GOTTFRIED VON STRASSBURG vor genau diesem Dilemma standen, haben sie, um wirklich sicher zu zeigen, wer zu wem gehört, einfach einen Liebestrank eingeführt, der Tristan und Isolde bindet. Nur kann Tristan seine Geliebte halt niemals endgültig für sich gewinnen, denn ein aktantieller Erwerb ist ihm wesensmäßig fremd und unmöglich. Wenn wir dies alles bedenken, stellt sich konsequenterweise die Frage, ob ein Ritter, der dem Maerenschema verpflichtet ist, jemals eine Frau und ein Königreich für sich gewinnen kann! Vergessen wir nicht, daß ein endgültiger Erwerb dieser Dinge nur mithilfe des Aktantenschemas klappen kann. Solch ein Ritter aber kann nur im Rahmen des IAS und des MS handeln. Sollte das Prinzip dennoch gelingen, dann ist damit das Problem des aktantiellen Enderwerbs, wie es sich in den krisenlosen Romanen Wigalois und Demantin stellte, ein für allemal vom Tisch. Wir haben das unverschämte Glück, daß tatsächlich ein Roman auf uns gekommen ist, in welchem der Held Frau und Gattin gewinnt, ohne jemals einen aktantiellen Erwerb zu bewerkstelligen. Wir lesen nun den Daniel von dem blühenden Tal (DANIEL) des STRICKER. Mit diesem Roman aber sind wohl die höchsten Anforderungen an uns gestellt, denn dieser Roman ist derart geschickt gefügt und so modern, daß er bis heute 007 beeinflußt. Merken wir uns immer, daß Daniel nur im Rahmen des MS und des IAS handeln kann, beides aber sind Schemata, die überaus leicht verknüpfbar sind. Ein Weiteres kommt hinzu, denn wenn unser Held so handelt, wie es im Maere üblich ist, dann ist wie im Partonopier und Meliur das Wunder tot, es ist reine Technik, und die hat bekanntlich ihre Tücken, die der Held aber genauestens taxieren kann. Um einen solchen Helden zu etablieren, nimmt man sich als Hintergrund am besten den altbekannten Artushof, dann nämlich wird das Neue erst richtig deutlich. Wir aber dürfen nie vergessen, daß der Hof keine Instanz mehr ist. Bestimmte Symbolfunktionen jedoch funktionieren immer noch. Überlegen wir doch einmal, wie unser Held es unmißverständlich deutlich machen kann, daß er kein Aktantenschema vollbringen kann und will. Richtig, genau das geschieht auch hier nun. Auf dem Weg zum Artushof begegnet Daniel einem Ritter, der auf âventiure aus ist. Ein Ritter wie Daniel aber rennt nicht, wie wir es bislang gewohnt waren, auf den

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erstbesten Gegner los, um ihn zu erschlagen oder was auch immer, denn das könnte ja dann ein AS sein. Also geschieht das Ungeheure, Daniel fragt seinen Gegner: dô begunde ern ansprechen, ob er iht wolde stechen. [DANIEL, 173 f. Da fragte er ihn zunächst, ob er Lust auf einen Tjost habe.] Der Gegner warnt Daniel vor seiner Kraft. Und nun können wir die wahre Stärke unseres Helden kennenlernen, denn der wird sofort wissen, ob er dem Gegner gewachsen ist. "ich mache sie alle ze zagen die mich ie geriten an. mich bestuont nie kein man, ichn bereite in mit einem valle.» dar umb schiuhent sie mich alle die mich noch ie erkanten. die aber an mich genanten, den geschach als iuch muoz geschehen. ich wil iuch schiere lâzen sehen ein siten den ich gelernet hân. [DANIEL, 178 ff. "Alle, die gegen mich anritten, habe ich zu Feiglingen gemacht. Mich forderte nie einer heraus, den ich nicht vom Pferd geholt hätte. Deshalb fürchten mich alle, die mich je kennengelernt haben. Die mich dennoch angriffen, denen passierte das, was Euch nun geschehen wird. Ich werde Euch nun eine Standardsituation zeigen, die ich gelernt habe."] Trotz dieser expliziten Warnung wagt unser Held den Kampf und…schon fällt wieder dieser verdammte Indianer vom Pferd! Natürlich war das Keie, der einzige, der sich selbst lobt, was Daniel natürlich nur dessen Schwächen offenbart. Was aber den Symbolgehalt dieser Szene anlangt, so wissen wir nunmehr genau, daß in dem Moment, wo der Repräsentant des AS vom Pferd stürzt, unser Held kein AS (mehr) begeht. Daniel macht sich gehörig über den siten Keies lustig, der sich trollt und entsprechend verbeult am Hof ankommt. Sofort fragen alle Kollegen, was ihm denn widerfahren sei, aber die einzigartige und lakonische Antwort Keies lautet: mir ist geschehen daz mir geschach. [DANIEL, 230]

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Das darf unübersetzt bleiben, denn dieser Satz wiederholt nur andersherum den Inhalt von Vers 185. Dennoch, so ganz ohne ist diese Äußerung nicht, gibt es meines Wissens doch nur noch eine ähnlich aufgebaute Äußerung in der Weltliteratur: 19

PJlatus aber schreib eine Vberschrifft vnd setzte sie auff das Creutze / vnd war geschrieben / Jhesus von Nazareth der Juden König 20Diese Vberschrift lasen viel Juden / denn die stete war nahe bey der Stad / das Jhesus gecreutziget ist. Vnd es war geschrieben auff Ebreisch / Griechisch / vnd Latinische sprach. 21Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilato / Schreib nicht der Juden König / Sondern das er gesaget habe / Jch bin der Juden König, 22Pilatus antwortet / Was ich geschrieben Hab. / das hab ich geschrieben. [S. Johannes, XIX ,19-22] Jedem HÄNDEL-Liebhaber sei hier einmal seine Johannespassion ans Herz gelegt, dem Kenner genau diese Passage mit dem Countertenor Charles Brett als Pilatus unbedingt empfohlen, denn was HÄNDEL aus diesem einfachen Satz macht, ist schlicht phantastisch. Etwas trister und zugleich angebracht sprachlos ist diese Sentenz in der Waschmittelwerbung mißbraucht, in etwa Vergil ist eben Vergil, was ich nur deshalb so formuliere, weil ich lieber lese als meine Hände oder was auch immer in Unschuld zu waschen. Was Keie geschehen ist, bedarf also keiner weiteren Erläuterung, keiner Erklärung und keines Zusatzes, zum ersten Mal spricht irgendetwas für Keie, besser jedoch, gegen ihn. Er braucht zum ersten Mal sein Maul nicht weiter aufzureißen, und die Reaktion aller Ritter beweist die Überflüssigkeit weiterer Statements: Nû bekannten sie wol sîn bejagen, und bâten in niht mêre sagen. dô riefdirre unde der: "harnasch unde ors her!'' [DANIEL, 231 ff. Nun war allen Rittern die Beschäftigung Keies durchaus vertraut, und deshalb baten sie ihn, nichts weiter zu sagen. Statt dessen riefen sie wie wild durcheinander: "Her mit Ross und Rüstung!"] Nacheinander reiten die Ritter der Tafelrunde gegen Daniel an, und alle schickt er in den Staub mit Ausnahme von dreien, die er ebensowenig überwinden kann, wie sie ihn, es sind Gawein, Iwein und Parzival. Wir müssen uns daher die durchaus dumme Frage stellen, weshalb er sich angesichts dieser Gegner lediglich als primus inter pares erweist. Hinsichtlich der Definition unseres Helden spielen diese Kämpfe und der Ausgang eine ganz entscheidende Rolle. Uns sollte zunächst einmal klar sein,

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daß alle drei Helden in den letzten zwei großen Krisenromanen Iwein und Parzival auftreten und mit ihrem spezifischen Weg ein Ziel und zugleich einen Endpunkt erreichten. Von da an war keine größere ritterliche Idealität mehr zu erreichen, der Krisenroman hatte sein Pulver verschossen, ein Nonplusultra schien etabliert. Wir können an dieser Stelle ruhig behaupten, daß der STRICKER den Wigalois nicht besonders ernst genommen haben kann, schließlich stellt er ja auch mit dem Daniel eine ganz andere Art von Idealhelden vor. Das aber ist nun von größter Bedeutung: Daniel übertrifft das Dreigestirn eben nicht an einer gar nicht definierbaren Idealität, die nur durch einen Tugendstein zu messen wäre und an nichts anderem sonst, denn was der als noch idealer apostrophierte Held Wigalois im Endeffekt tut, unterscheidet sich aber auch gar nicht von dem, was seine Vorgänger taten. Er hatte nur das gleiche Rüstzeug, die gleiche Methode, und er sollte eine Idealität übertreffen, die eigentlich nicht zu übertreffen war. Gerade dies aber war der wunde Punkt des Wigalois, das postulierte Neue beruhte auf gar nichts Neuem! Wenn nun Daniel die letzten Träger ritterlicher Idealität im Zweikampf nicht besiegt, liebe Leser, so ist das nur konsequent. Man kann definitionsgemäß auf dem ritterlichen Sektor niemals besser sein als diese, man muß dann schon einen anderen Weg gehen. Dann aber muß die Herausforderung so gestaltet sein, daß sie auf üblich ritterlichem Weg nicht mehr zu bestehen ist. Um dies klarzumachen, finden diese Kämpfe statt. Sie werden vielleicht fragen, was denn die Literaturwissenschaft dazu gesagt hat. Fragen Sie mich bitte nicht, denen ist geschehen, was ihnen geschah. Kaum aber ist Daniel in den Kreis der Artushelden aufgenommen, da naht schon eine Herausforderung, die so ungeheuer ist, daß ihr keiner der Ritter mit den gängigen Mitteln gewachsen ist. Ein Riese überbringt die Herausforderung König Maturs, der verlangt, Artus solle sein Vasall werden und sein Land als Lehen von ihm erhalten. Gegenwehr aber ist zwecklos, denn Matur verfügt über etliche Wunderwaffen. Der Riese selbst hat wie Siegfried eine Hornhaut die für jedes Schwert undurchdringlich ist, sein Bruder, ebenso geschützt, bewacht den schmalen Eingang in Maturs Reich. Daselbst steht ein goldenes Tier mit einer Fahne im Maul. Wenn man die herauszieht, ertönt ein Geschrei, daß jeder in der Nähe betäubt vom Pferd stürzt. Sogleich aber kommen ganze Heerscharen, um die Eindringlinge zu bekämpfen. Kurz und gut, es sieht sehr schlecht aus für Artus, der urplötzlich in die Situation eines Subjektaktanten gedrängt wird, eine Rolle also, die er als ehemaliger Tugendrichter nicht gewöhnt sein kann. Man sieht, die neue Herausforderung schert sich nicht um Idealität, sie setzt sich über sie hinweg und schaltet sie aus. Der Ritter, wie wir ihn bisher kennengelernt haben, ist diesen Dingen nicht mehr gewachsen. Dafür hat sich die Herausforderung geändert. Sie ist nunmehr meßbar geworden und ihr Schwierigkeitsgrad beginnt dort, wo die Idealität und die Gelingensgarantie von früher aufhört. Von nun an kann sich jeder Ritter an seinen Fingern abzählen, ob er

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eine Überlebenschance hat. Vorbei sind die Zeiten, da ein Ritter allein 18.000 Helme durchschlug und allein eine Schlacht entscheiden konnte, und wir können sicher sein, daß der sinnreiche Junker Don Quijote den Daniel nie gelesen hat, denn er bleibt den alten Vorstellungen verhaftet: Zu Beginn des zweiten Buches erhält Don Quijote Besuch vom Pfarrer, der seinen Geisteszustand im Plauderton erfahren will. Er erzählt nun auch nebenbei, daß der Türke Spanien mit einer riesigen Flotte bedroht, weshalb der König alle Länder in Alarmbereitschaft versetzt habe. Das aber läßt den Sinn Don Quijotes nicht ruhen, und schon ahnt der Pfarrer neues Unheil: Darauf versetzte Don Quijote: "Seine Majestät hat als ein einsichtsvoller Kriegsherr gehandelt, indem er seine Staaten rechtzeitig in Verteidigungszustand versetzt hat, damit der Feind ihn nicht unvorbereitet finde; aber wenn man mich um Rat anginge, so würde ich dem König anraten, sich einer Maßregel zu bedienen, an welche zu denken Seiner Majestät bis zur gegenwärtigen Stunde wohl sehr fern gelegen hat." Trotz der Einwände des Pfarrers und des Barbiers hält Don Quijote seinen Vorschlag für weder unausführbar, ungereimt oder gar unangemessen, und also lautet er: "Nun, bei Christi Leichnam!" sprach Don Quijote jetzt, "was braucht es weiter, als daß Seine Majestät durch öffentlichen Aufruf verordne, es sollen auf einen bestimmten Tag alle fahrenden Ritter, die durch Spanien streifen, in der Residenz zusammenkommen? Denn wenn ihrer auch ein halb Dutzend kämen, so könnte einer unter ihnen sein, der allein schon genügen würde, die ganze Macht des Türken zu vernichten. Schenkt mir eure Aufmerksamkeit und folgt meinen Darlegungen: ist es vielleicht etwas Neues, daß ein einziger fahrender Ritter ein Heer von zweimalhunderttausend Mann in Stücke haut, als ob alle zusammen nur einen einzigen Hals hätten oder aus Zuckerteig geformt wären? Oder sagt mir doch: wie viele Geschichten sind nicht voller solcher Wundertaten? Es sollte nur - wenn es auch mir zum argen Nachteil wäre, ob anderen, will ich unberührt lassen -, es sollte nur heutzutage der weitberufene Don Belians leben oder einer aus dem zahlreichen Geschlechte des Amads von Gallien! Denn wenn einer von diesen am Leben wäre und sich dem Türken gegenüberstellte, dann möchte ich nicht in der Haut des Türken stecken. Aber Gott wird sich seines Volkes annehmen und wird ihm einen Mann bescheren, der, wenn er nicht so gewaltig wie die früheren fahrenden Ritter, ihnen wenigstens an mutigem Sinne nicht nachsteht; und Gott weiß wohl, wie ich's meine, und mehr sag ich nicht." Miguel de CERVANTES SAAVEDRA, Don Quijote, 2. Buch, 1. Kapitel]

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Eines sehen wir überdeutlich, wer sich mit den Ritterromanen des Mittelalters beschäftigen will, der kommt am Don Quijote nicht vorbei, es sei, er möchte die gleichen Fehler machen wie unsere Mediävisten oder halt dieser sinnreiche Junker, der aber insofern meine Sympathie genießt, als er erstens mehr gelesen und zweitens mehr verstanden hat als diese Erzdussel. Wir werden gegen Ende des Buches in einem ganz anderen Zusammenhang nochmals auf diesen Junker treffen und auf sein einzigartiges Literaturverständnis, das zumindest denen abgeht, die sich erdreisten, über Literatur zu urteilen. Bedenken wir also nur, daß ein Abenteuer vormals lediglich als unbestehbar galt, was daran gemessen wurde, daß schon etliche daran gescheitert waren. Dies aber war der einzige Parameter, ansonsten war es einfach nur ungeheuer, unermeßlich und unerhört. Dies ist nun nicht mehr möglich, von nun an ist das Risiko kalkulierbar, die Herausforderungen sind nicht mehr zum Wundern, sondern zum Fürchten da. Der Schwierigkeitsgrad wird nicht mehr an der Anzahl derer gemessen, die daran gescheitert sind, sondern an einer ganz expliziten technischen Definition einer Wunderwaffe. Mag der normale Leser in den Beschreibungen des Riesen eine reine Protzerei vermuten, für Ritter wie Gawein, Iwein und Parzival ist damit klar, daß sie keine Chance haben. Es wird Zeit, daß wir unseren Helden zum Zuge kommen lassen, denn wenn er ein neuer Heldentyp sein soll, muß er mit dieser Herausforderung zurecht kommen. Während Artus eine Woche Zeit hat, ein riesiges Heer zu sammeln, um dann in Begleitung des Riesen in Maturs Land zu ziehen, bricht Daniel heimlich auf, um Matur allein zu bekämpfen. Das erweist sich aber als unmöglich, da der Bruder des Boten den Eingang bewacht, und der ist ja ebenfalls unverwundbar. Daniel überlegt hin und her, ob er den Kampf wagen soll, denn er will weder sein Leben verlieren, noch will er als Feigling gelten. Erinnern wir uns, weshalb Demantin angesichts des Feebordells ins Grübeln kam; er war sich nur über die Folgen seinen Sieges im klaren, der ihn ein Jahr gebunden hätte. Auf die Idee, daß er verlieren könnte, auch wenn das letzte Opfer ungeheure Wunden davongetragen hatte, kommt er genauso wenig wie wir. Wenn aber Daniel angesichts des unverwundbaren Riesen nicht gleichermaßen blind wie siegesgewiß gegen ihn Sturm rennt, dann folgt er einer Einsicht in das Wesen des Gegners, das völlig berechenbar und eben nicht einfach überwindbar ist. Aber er hat Glück. Ganz anders als Demantin gibt ihm das Hilfeersuchen einer Jungfrau die Möglichkeit, zunächst dem Kampf auszuweichen, denn Jungfrauen gehen immer noch vor. Etwas sehr Unübliches kommt hinzu: Die Jungfrau selbst nämlich folgt einem sehr raffinierten Kalkül: Nû bin ich durch daz her körnen (ich hân dicke vernomen daz nie nieman her quam wan der sîn ende hie nam)

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ob ich den hie kunde erwerben der dort wolde sterben ein wênic gerner denne hie. [DANIEL, 1291 ff. Nun bin ich aus dem folgenden Grund hergekommen (ich habe nämlich aus sicherer Quelle vernommen, daß bisher niemand zu diesem Riesen kam, der da nicht den sicheren Tod fand), so daß ich hier einen Ritter anwerben könnte, der bei mir etwas lieber stürbe als hier.] Sie nämlich wird von einem Zwerg namens Juran bedrängt, der ihren Vater und ihre Mutter auf dem Gewissen hat und gewalttätig um ihre Minne buhlt. Der aber besitzt ein Schwert, dem nichts widerstehen kann, es geht durch Stahl wie ein heißes Messer durch Butter. Daher versteht es sich auch von selbst, daß alle Ritter, die ihr bislang zuhilfe eilten, den sicheren Tod fanden. Auch dieses massenhafte Scheitern der Vorgänger ist Topos, andererseits ist es aber auch immer Voraussetzung zum Handeln, denn was nutzt ein Abenteuer, das bereits bestanden wurde. Im Gegensatz zu früher aber erfahren wir mit dem Helden, durch welches Mittel, welche Waffe genau der Zwerg unbesiegbar ist. Es kommt hinzu, daß es auch gerade dieses Schwert ist, das man angesichts des Riesen gut gebrauchen kann: Swen got des siges dâ gewert, dem wirt ein sô getânes swert dâmit er wol erslüege dise risen ungefüege, die alliu wâfen hânt vermiten daz sie nie wurden versniten. [DANIEL, 1301 ff. Wem immer da der Sieg zufällt, der hat dann ein so beschaffenes Schwert, daß er damit leicht die ungeschlachten Riesen erschlagen kann, die vor allen Waffen so geschützt waren, daß sie nie verwundet worden sind.] Damit kennt Daniel den Nutzen der âventiure, er kennt die Stärke des Gegners, und er erfährt die Schwäche desselben. Der ist nämlich blind vor Liebe, und wie in vielen Maeren kann man diese Blindheit zu dessen Schaden ausnutzen. Hören wir nun, wie Daniel es vermeidet, ins offene Messer zu laufen, und wie er es schließlich gegen den Feind selbst richtet: Daniel sprach fiirbaz: "mîn frouwe hât gelobet daz, si lâze disen zorn sîn darumbe daz ir tuot schîn ob ir sît der êren wert.

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leget von iu iuwer swert und nemt daz beste daz hie sî und bestât danne dâ bî den aller swachesten man den mîn frouwe geleisten kan. muget ir an dem gesigen, mîn frouwe lât den strît ligen und tuot allez des ir gert. man zîhet es nieman denn das swert swaz ir mordes hât getân, dâ enkunde niht vor gestân. nû lât mîne frouwen und auch ir gesinde schouwen ob ir âne daz swert einem man des tôdes wert, swaz ir dan welt, daz ist getân." [DANIEL, 1538 ff. Daniel erklärte dem Zwerg: "Meine Herrin hat gelobt, daß sie Euch nicht mehr zürnen will, wenn Ihr beweist, daß Ihr ehrenwert seid. Legt Euer Schwert ab und wählt Euch das beste, das es hier gibt und besiegt damit den schwächsten Mann, den meine Herrin aufbieten kann. Wenn Ihr es schafft, den zu besiegen, vergißt meine Herrin den Streit und tut alles, was Ihr begehrt. Was an Morden geschah, lasten wir lediglich dem Schwert selbst an, und das soll vergessen sein. Nun zeigt meiner Herrin und ihrem Gesinde, ob Ihr auch ohne das Schwert einen Mann töten könnt. Was immer Ihr dann wünscht, wird erfüllt."] Na, lieber Leser, haben Sie die Spitzen bemerkt, die Daniel geschickt einflicht? Offensichtlich muß er ja zunächst vermeiden, daß der Zwerg sein Schwert benutzt, denn sonst hätte unser Held keine Chance. Aber er darf auch nicht zu einseitig darauf bestehen und deshalb bietet er als Gegner eben den Schwächsten an, um etwas von der Waffe abzulenken. Zugleich versetzt er den Zwerg schon in die Euphorie der nahen Wunscherfüllung. Das aber macht ihn völlig blind, und Daniels Rechnung geht auf. Der Zwerg nämlich wurde mit dem Angebot, mit dem Schwächsten kämpfen zu sollen, an seiner Ehre gepackt, und daher besiegelt er sein Todesurteil selbst: dô sprach daz twerc Jurân: "sô wil ich gerne bestân iuwern aller tiursten helt. swen ir darzuo hât erwelt, dem muoz der tôt geschehen. ich wil iuch lâzen sehen

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daz dehein mîn frümekeit an daz swert ist geleit, daz ichz an mînem lîp hân." [DANIEL, 1565 ff. Da antwortete der Zwerg Juran: "Dann werde ich sogar gerne Euern allerbesten Helden besiegen. Wen immer Ihr dazu erwählt, der wird unweigerlich den Tod erleiden. Ich werde Euch schon noch beweisen, daß meine Tapferkeit nicht von diesem Schwert abhängt, sondern in mir selbst wohnt."] Reingelegt, der Zwerg hat keine Chance mehr, und als er merkt, daß er in diesem Kampf unterliegen wird, will er zu der Stelle laufen, wo er sein Schwert deponiert hat, doch in diesem Wettlauf ist der Größere im Vorteil, Daniel ist zuerst bei der Waffe, und mit dieser erschlägt er den vormaligen Besitzer. Es zeigt sich also, daß sich wie im Maere die vordergründigen Stärken als hintergründige Schwächen erweisen, die gegen den Inhaber anwendbar sind. Daniel hat nun das Mittel, um die Riesen zu erlegen. Nun müssen wir nur noch erfahren, ob hier ein IAS vorliegt, das ja leicht mit dem Maerenschema verknüpf-bar ist. Und tatsächlich, es kommt die übliche Attributionsverweigerung: sie gâben sich ze sînem gebote, sie dankten im und gote der êren die in dâ was geschehen. ir mohtet hoeren unde sehen, haete er nach lône deheinen muot, wolde er lîp unde guot, daz ez ir fröude waere. sie begunden im die gebaere zuo den werken zeigen, waere diu werlt ir eigen, der dûhte er sie wol wert. wolde er ir lîbes hân begert, als diu âventiure giht, sien haeten es im verseit niht. Nû begunde er urloubs begern. [Vergl. Iwein, 3804] [DANIEL, 1751 ff. Sie unterstellten sich seinem Willen und dankten ihm und Gott für das Heil, das ihnen widerfahren war. Ihr hättet es hören und sehen können, hätte er Lust auf irgendeinen Lohn gehabt, hätte er Gut oder Leben verlangt, es wäre ihnen eine reine Freude gewesen. Sie fingen an, ihn durch entsprechendes Benehmen zu überzeugen, hätte ihnen die Welt gehört, er wäre sie ihnen wert gewesen. Hätte es ihn nach ihrem Leben verlangt, so berichtet uns die âventiure, sie hätten es ihm nicht versagt. Nun aber nahm er seinen Abschied.]

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Wir brauchen dieses immer wieder verwendete Kennzeichen des IAS nicht jedesmal genau zu analysieren, ich finde es lediglich witzig, daß das noch keinem der ungezählten Wissenschaftler aufgefallen ist. Ja es kommt noch witziger, denn meine ganze Examensarbeit baute auf dieser Erkenntnis auf, und alles, was meinem Professor dazu einfiel, war die Bemerkung: "Die Verweigerung der Prinzessin im IWEIN ist nett beobachtet." Dabei handelte es sich um den Burgherren, der Iwein seine Tochter bei Strafandrohung geradezu aufdrängen will. Wenn Sie dahingehend nun wissen, von welch eminenter Bedeutung das Schema, das ich IAS genannt habe, für die mittelalterliche Romanliteratur ist, meinen Sie nicht auch, das Gnadenbrot für diesen Herren sollte entsprechend dünn geschnitten sein! Zurück zu Daniel, den sogleich ein noch schlimmeres Abenteuer erwartet. Vierzig Jungfrauen begegnen ihm nun, die allesamt klagen und weinen. Die Dame, die sie führt, bittet unseren Helden dringend um Hilfe, die er schließlich trotz seines Zeitdruckes wegen des Riesen gewährt. Auch hier wird die Herausforderung, die ihm bevorsteht, genauestens beschrieben, und wieder können wir uns alle, Daniel eingeschlossen, ausrechnen, ob und wie man eine Chance haben wird. Es handelt sich um einen Teufel oder Teufelsbruder und seine Bande. Er sieht recht seltsam aus, für die, die Kinder haben, leicht vorstellbar, denn die zeichnen bis zum 5. Lebensjahr nur Kopffüßler, Personen, die nur aus Kopf und Gliedmaßen bestehen. Der nun verfügt dazu noch über ein Medusenhaupt, also über ein Pendant dessen, was Pallas Athene auf ihrer Brünne trägt und das sie von Perseus erhielt. Es tötet jeden, der es ansieht, auf der Stelle. Dazu sind sie Vorgänger des Grafen Drakula, denn sie trinken das Blut der Toten. Alle bis auf den Gatten der Dame und die Jungfrauen sind so ums Leben gekommen. Doch auch hier weiß Daniel Rat, und so läßt er sich von den Damen einen Spiegel geben und bricht auf. Bei der Burg angekommen, wo das Ungeheuer nunmehr haust, muß er dieses aus der Reserve locken, blind vor Wut machen, damit es aus der Burg rennt, um ihn zu suchen. Jeder Versuch, der andersherum abliefe, wäre enorm gefährlich, denn was könnte Daniel nicht alles finden, wenn er diesen Teufel suchte. Dies sind natürlich Überlegungen, die der STRICKER nicht ausführt, es sind Überlegungen, von denen er erwarten kann und muß, daß sie jeder einzelne Rezipient automatisch erschließt und einfügt. Die unumgängliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Ausgang dieser Auseinandersetzung ist also das Vermeiden einer Konstellation, bei der er das Ungeheuer suchen muß. Er muß es aus der Reserve locken und es irgendwie dazu bringen, seinen Heimvorteil aufzugeben. Das ist zunächst einmal leichter gesagt als getan, aber ich denke, die meisten unter Ihnen werden, früh an W. BUSCH geübt, hier um hilfreiche Tips nicht verlegen sein und vorschlagen, er solle doch einfach, leicht abgewandelt versteht sich, rufen:

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"He, heraus! du Ziegen-Böck! Schneider, Schneider, meck, meck, meck!!" Sie denken also, man müßte das Ungeheuer reizen, es wütend machen, so daß es wie der Schneider aus dem Haus gestürmt kommt, um ins offene Messer zu laufen. Gut gedacht, aber ein klein wenig zu oberflächlich, erstens würde es so nicht gelingen, zweitens dürfen wir nicht vergessen, daß uns Daniel mit seiner Intelligenz regelmäßig überraschen muß, sonst wäre der Roman nicht spannend. Kurz, Daniel muß sich immer als ein wenig schlauer herausstellen, als wir es sind! Schauen wir daher, was er macht, warum er es macht, was geschieht und weshalb es geschieht. da ruorte er den rinc vor und ruofte vil lûte hin, daz man in lieze dâ in. [DANIEL, 2023 ff. Er rüttelte am Torring und rief laut, man möge ihn einlassen.] Das Ungeheuer fragt (mit zornlîchen worten) ungehalten, wer da sei, und Daniel erwidert: Daniel sprach: "daz bin ich." [DANIEL 2029] Das ärgert das Ungeheuer, nun will es erst recht Namen, Herkunft und Berufsbezeichnung wissen, und Daniel führt aus: "ich heize sam mich der phaffe hiez dô er mich in den touf stiez. mîn geslahte ich dir wol sagen kan: mîn vater was mîner muoter man, der zweier sun bin auch ich. dâ bî erkenne dû mich." [DANIEL, 2047 ff. Ich heiße, wie mich der Pfarrer nannte, der mich taufte. Meine Herkunft will ich auch gerne nennen: Mein Vater war der Mann meiner Mutter und ich bin der Sohn beider. Damit solltest du mich nun genügend kennen."] Nun ist das Ungeheuer vollends sauer und spricht also: Dô sprach der bûchlôse: "ich vernam nie rede so lôse als ich dich hoere sprechen. daz wil ich selber rechen.

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dû endunkest dich nie sô frome, erbeitest dû unz ich dar ûz kome, waere al der werlte frümekeit in dich einen geleit, ichn lieze dich niht genesen. daz muoz dir gewislîch wesen, du soll den gewissen tôt hân, desn maht mir niht engân." [DANIEL, 2053 ff. Da sprach der Kopffüßler: "So eine freche Antwort, wie ich sie von dir höre, habe ich noch nie vernommen. Das wirst du mir büßen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie tapfer du bist, wenn du vor dem Tor wartest, bis ich da herauskomme, doch selbst wenn alle Tapferkeit der Welt in dir allein vereinigt wäre, ich gäbe dir keine Chance. Das muß dir klar sein, du kommst nicht mit dem Leben davon, das lasse ich mir nicht entgehen."] Ha, werden Sie nun sagen, genau wie wir vermutet haben, Daniel reizt das Ungeheuer so sehr, daß es blindwütig herausläuft. Nein, sage ich, das ist zwar grundsätzlich richtig, übergeht aber all das Raffinement Daniels, das hier wirklich unabdingbar ist. Schon der erste Schritt Daniels hätte Sie eigentlich stutzig machen müssen, widerspricht er doch so sehr der Taktik von Max und Moritz und mithin auch Ihren Erwartungen. Die Sache ist also etwas komplizierter, ihr Verstehen daher etwas befriedigender, insgesamt mithin einfach amüsanter, wir erleben hier nämlich ein richtiges Poker. Machen wir uns daher die Ausgangssituation klar, schauen wir, wie die Karten verteilt sind, und schauen wir insbesondere, wer hier eigentlich die Karten des anderen kennt. Hier liegt zunächst einmal der Hase im Pfeffer, was die wenigsten unter Ihnen nämlich bedenken, ist der einfache Sachverhalt, daß Daniel so wie wir darüber informiert ist, mit wem er es zu tun hat und über welche Waffen der verfügt, doch, und dies hätte aus den vagen Drohungen des Kopffüßlers, die vorweggenommene Schadenfreude verraten, deutlich werden müssen, der Gegner hat nicht die blasseste Ahnung, daß Daniel dies alles weiß! In diesem Glauben muß Daniel das Ungeheuer unbedingt lassen, er darf nicht für einen einzigen Moment verraten, daß er weiß, was ihn erwartet, denn das würde dem Gegener einerseits die Vorfreude auf den Überraschungseffekt nehmen, andererseits die fatale Folge haben, daß der dann gezwungen wäre zu überlegen, wie er seine Waffe dennoch wirksam einsetzen könnte. Nur, überlegen darf das Ungeheuer nicht ein einziges Mal, es wäre dann im wahrsten Sinne des Wortes überlegen. Daniels enorme kognitive Leistung besteht also darin, eine Situation zu fingieren, die dem zuvor taxierten Erwartungshorizont und Handlungsrahmen des Gegners so genau entspricht, daß dieser gar nicht merkt, daß er einen Köder schluckt. Aus diesem

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Grunde stolpern allenfalls wir, die wir ja vorinformiert sind, über den Wunsch Daniels, eingelassen zu werden. Die Art und Weise, in der Daniel diesen Wunsch vorbringt, ist aber derart unhöflich, für das damalige Publikum also unhöfisch, daß er recht in der Annahme gehen kann, daß sich nicht stante pede das Tor vor ihm öffnet. Und richtig, das Ungeheuer fühlt sich zu recht breits derart beleidigt, daß es mit zornlîchen worten antwortet und nicht daran denkt, das Tor zu öffnen, was Daniel ja in peinlichste Bedrängnis brächte. Die Devise lautet hier daher: Fordere vom Gegner unhöflich, was du nicht willst, und es bleibt dir erspart. Sie sehen, hätte er gerufen: "komm heraus!", der Gegner hätte womöglich gesagt: "tritt doch ein'." Mit einem Gesichtspunkt aber waren wir verzeihlicherweise noch etwas vorschnell. Von Gegnerschaft kann und darf hier noch gar nicht die Rede sein. Der einfache Wunsch um Einlaß, egal, wie formuliert, ist lange noch kein Zeichen oder gar Anlaß von Gegnerschaft. Auch hier darf das Ungeheuer nicht wissen, daß Daniel es als Gegner betrachtet, den es herauszufordern und herauszulocken gilt. Wer da ans Tor klopft, gibt sich nicht als Gegner zu erkennen, kommt nicht als Gegner und gibt sich auch scheinbar alle redliche Mühe, nicht als solcher zu gelten, denn schließlich verweigert er die Auskunft nicht explizit, was ein erklärter Gegner täte, er verweigert sie implizit, was das Ungeheuer zwingt, ihn zum Gegner zu erklären. Damit geht diese Initiative nicht von Daniel aus, was das Ungeheuer wenigstens vorsichtig werden ließe, sondern Daniel wird geradezu, wenngleich beabsichtigt, in diese Rolle gedrängt. Ja, er gibt sich wirklich alle Mühe, dem Gebot der Auskunft nachzukommen, um ja nicht die Feindschaft des anderen erklärt zu bekommen: er sprach: "ich leiste dîn gebot an disen dingen michels ê denne ez mir an daz leben gê." [DANIEL, 2042 ff. Er sagte: "Ich komme deiner Aufforderung lieber in stärkerem Maße nach, als daß es mir am Ende noch an das Leben geht."] Man sieht unschwer, Daniel wird scheinbar zum Objekt der Handlung. Auch dies lenkt das Ungeheuer vom eigentlichen Thema ab, nämlich von sich selbst, die Rede wird nämlich nie darauf gebracht, wer es ist und was es ist, all dies wären störende und ablenkende Selbstreflexionen und würden Daniels Taktik des stimulusresponse vereiteln. Nun gut, der Kopffüßler hat erwartungsgemäß einseitig den Krieg erklärt, hat die Regie übernommen und sich zum Handlungssubjekt bestimmt, ist also unausweichlich in der Rolle desjenigen, der selbst zum Angriff übergeht, und wir nähern uns daher unaufhaltsam dem spannenden Moment, da sich das Tor öffnen wird. Die Diskrepanz zwischen der vermeinten Überlegenheit hier und der geradezu ver-

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letzenden Ahnungslosigkeit dort ist so groß geworden, daß das Ungeheuer kurzschließt, ihm reißt der Geduldsfaden und es denkt sich, mit dem mache ich kurzen Prozeß, kein Wunder, meint es doch das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Ob das, was der Kopffüßler zuvor an Drohungen ausstößt, wohlüberlegte Taktik ist, den Gegner über das, was ihn erwartet, ins falsche Licht zu setzen, oder ob er sieggewohnt und hybrid nur seine Erwartungen vorwegnimmt, vermag ich nicht vollends zu entscheiden. Eines aber dürfte offensichtlich sein, jeder normale Ritter würde nun exakt so handeln, wie das Ungeheuer es erwartet. WIESO ? Wenn ein Ritter, und nichts anderes erwartet ein Ottonormalritter jenseits des Tores schließlich, verkündet, gleich gehe es dem anderen todsicher ans Leben, ja, dann erwartet jeder Ritter auf der anderen Seite Keie persönlich oder einen Leidensgenossen. Damit aber dürfte jeder Ritter geneigt sein, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen und eher gelangweilt an den Fingernägeln zu kauen. Und doch, ob gelangweilt oder gespannt, einer typisch ritterlichen Haltung darf sich das Ungeheuer gewiß sein, einer Haltung, die ihm totalen Erfolg garantiert. Jeder solchermaßen herausgeforderte Ritter wird sein Ross wenden, wird gut fünfzig Meter zurückreiten, wird den Schild vom Rücken nehmen und fest vor die Brust drücken, er wird die Lanze unter dem Arm einlegen, sich dem Tor zuwenden und durch die Schlitze des Visiers gespannt schauen, wann der Gegner durch das Tor galoppiert. Das letzte, was er dann sehen wird, ist ein Kopffüßler und das Medusenhaupt. Damit darf das Ungeheuer rechnen, doch, wie wir wissen, es verrechnet sich. Sehen Sie, lieber Leser, dies ist, einmal expliziert, eigentlich sonnenklar, es liegt auf der Hand und man klatscht sich an die Stirn und fragt sich, weshalb man nicht selbst sofort darauf gekommen ist. Diese Einsicht zeichnet Sie aus, ihre Vorbereitung folglich mich, und, wie Sie inzwischen wissen, zeichnen sich wissenschaftliche Interpretationsversuche dadurch aus, daß man sich die geballte Faust gegen die Stirn hämmert und sich fragt, wie um Himmels willen die bloß auf so etwas kommen können. Damit Sie nun einen kleinen Teil meiner täglichen Kopfschmerzen ermessen können, dieselbe Stelle nunmehr aus akademischer Sicht, ich zitiere aus der Habilitationsschrift der bereits bekannten Hedda RAGOTZKY mit dem Titel Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Seite 67/68: In der zweiten Aventiure lockt Daniel das bauchlose Ungeheuer zunächst durch eine Reizrede vor das Burgtor, um dort auf freier Fläche mit dem Spiegel, der ihn vor dem tödlichen Anblick des Medusenhauptes bewahren soll, operieren zu können. Anlaß dieser Reizrede ist die Aufforderung des Ungeheuers, sich zu erkennen zu geben. Daniel erfüllt dieses Gebot durch eine Antwort, die seine Identität gerade nicht preisgibt, sondern listig verrätselt. Das Ungeheuer aber erkennt nicht, obgleich

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gerade diese Reizrede die spezifische Stärke des Gegners kenntlich macht. Kopflos fällt es auf die Provokation herein und wird, als es wütend am Burgtor erscheint, von Daniel umgebracht. Sie haben nun, lieber Leser, die Gelegenheit, zu erkennen, daß ich wirklich nicht auf alles eine Antwort habe, denn ich sehe mich außerstande, die Relevanz des Gesagten nachzuvollziehen. Lassen wir diese krude Äußerung der Einfachheit halber lediglich als weiteren Beleg dafür gelten, daß eine Analyse, die ein Kunstwerk zu erklären vorgibt, selbst nicht erklärungsbedürftig sein darf. Abgesehen davon, daß der Stil wenig Reife verrät, abgesehen auch davon, daß allein die Beschreibung dessen, was da vor dem Tor geschieht, hinsichtlich der Detailgenauigkeit allenfalls Hauptschulniveau erreicht (unter der Prämisse wissenschaftlicher Gründlichkeit, Exaktheit und Vollständigkeit ist dies ohnehin nur ein weiteres Armutszeugnis), und abgesehen davon, daß RAGOTSKY am Ende überhaupt nicht verstanden hat, wie das alles funktioniert, dürfen wir uns fragen, was denn mit der verweigerten Preisgabe der Identität (Daniel von dem blühenden Tal) gewonnen ist. Schließlich genießt Daniel nicht den vorauseilenden Ruf eines Bestienkillers, geschweige, daß Poseidon persönlich dem Ungeheuer geweissagt hätte, daß da mal einer namens Daniel käme, ihn über die Klinge springen zu lassen, weshalb es für Daniel zweckmäßig wäre zu sagen: "My name is nobody!" Nichts von alledem ergibt irgendeinen Sinn. Demgegenüber steht aber unsere Erkenntnis, daß, hätte Daniel gesagt: "Ich bin Daniel von dem blühenden Tal" oder ruhig auch: "Ich bin Wolfram von Eschenbach,/ und kan ein teil mit sange," nichts anderes geschehen wäre, als daß sich genauso höflich das Tor geöffnet hätte, ihn hereinzulassen! Listig verrätselt soll sie sein, also ich weiß nicht, stellen Sie sich aber einfach einmal praktisch vor, das Ungeheuer hätte so viel Humor wie wir, würde auf das Rätselraten eingehen und Daniel fragen: "Heißt du am Ende RUMPELSTILZCHEN?" Aber das ist es nicht allein, wieder einmal belegt eine Vertreterin der Filologie in katastrophaler Offenheit, daß man sich überhaupt nicht mehr überlegt, was man alles so schreibt. Listig verrätselt, das ist ein kraftloser Versuch, dem behenden Witz Daniels zu folgen, um doch nur abgeschlagen im Graben zu enden. Für den Fall, daß die Dame einmal merkt, daß sie Nachhilfeunterricht benötigt, sei soviel nachgereicht: Ein Rätsel birgt nicht nur die Notwendigkeit in sich, lösbar zu sein, es enthält zudem noch sämtliche Voraussetzungen zur Lösung! Ein Rätsel hat zudem nur eine mögliche Lösung, das, was Daniel erzählt, hat unendlich viele. Ich denke, die Dame soll mal dieses Rätsel lösen, dann ist sie bis zur Rente beschäftigt: Wer siegte wann wo?

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Der zweite von mir unterstrichene Satz legt durch die Verwendung der Konjunktionen aber und obgleich den Schluß nahe, ein Erkennen der spezifischen Stärke des Gegners sei geradezu zwingend, weil extra kenntlich gemacht. Nun ist RAGOTSKY natürlich fein raus, weil sie die Stärke Daniels überhaupt nicht spezifiziert, aber mit Sicherheit versteht sie darunter auch etwas völlig anderes als wir, denn schließlich ist jene Stärke Daniels allenfalls für intelligente Rezipienten kenntlich, nimmermehr sollte sie es für das Ungeheuer sein und leider ist sie es nicht für diese Professorin, die hier ganz unzweifelhaft belegt, daß sie lange nicht so schlau ist wie Daniel beziehungsweise der STRICKER. Daß es hier aber nicht ganz mit rechten Dingen zugeht, belegt denn auch ein Satz runde dreißig Zeilen später, da heißt es: Dieser heilsgeschichtliche Bedeutungsaspekt,... !!! - Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein...! Angesichts solch banaler Habilschriften möchte ich eine Novelle zur Prüfungsordnung vorschlagen. Sollen die sich doch ganz praktisch in eine solche Situation begeben, sollen sie doch ihren Namen heilsgeschichtlich verrätseln, dann stehen sie endlich einmal so dumm da, wie sie es sind. Wie im Kapitel über den Parzival gilt auch hier: Wer dumm ist, kann sich nicht dumm stellen. Wutentbrannt und eben auch siegesgewiß jede Vorsicht vergessend, stürzt das Ungeheuer also hinaus, wo Daniel sich versteckt hält und es mit dem Spiegel beobachtet. Kaum ist es in der Nähe, schlägt er ihm mit dem neuen Schwert beide Beine und die Hand ab, die das Haupt trägt. Daraufhin tötet Daniel das Ungeheuer mit dessen eigener Waffe, die sich auch hier wieder gegen den Inhaber wendet. Der Schrei weckte die anderen, die sofort beginnen, das Medusenhaupt zu suchen, vorsichtig tastend, so wie wir Kontaktlinsen suchen, denn sie wissen gut genug, was dem geschieht, der es mit den Augen findet. Als sie es aber nicht finden können, blicken sie auf und sehen Daniel, der es selbst in der Hand hält. Hier, wie zuvor, hat unser Held die Schwäche des Gegners erkannt und ausgereizt, hat er dem Gegner Überlegenheit suggeriert, die ihn unvorsichtig werden ließ, hat er am Ende die Stärke des Gegners gegen ihn selbst gewandt und ihn so besiegen können. Intelligenz gewinnt gegen die, die sich auf überlegene Technik stützen, denn die Technik hat ihre Tücken, und die hat sie bis heute nicht verloren. Angesichts einer derartigen Verwendung von technischen Prinzipien in der Literatur müssen wir uns wohl fragen, ob der Beginn der Neuzeit nicht etwas früher angesetzt werden muß. Liebe Leser, erlauben Sie mir, eine kleine aber notwendige Reflexion über das Mittelalter einzufügen, denn ich glaube, wir könnten eine Menge lernen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß dieser Roman überaus modern ist. Das bedeutet natürlich nicht, daß man dieses Werk, wie es so häufig versucht wird, aus einem neuzeitlichen Lite-

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raturverständnis heraus deuten darf. Die Mittel der Kunstschaffung sind nun doch noch immer ganz andere. Dennoch möchte ich Sie nochmals auf den Sinn solcher Romane wie Iwein, Gregorius und Parzival aufmerksam machen, die nichts anderes taten, als den Erwerb von Objekten durch jegliche Form von Gewalt zu verdammen, die ein sehr frühes Plädoyer für Verständigung waren. Daß diese wichtige Aussage verloren ging, ist unzweifelhaft die Kardinalschuld einer Geisteswissenschaft, die weder den heutigen Problemen noch der damaligen Denkweise gewachsen ist. Alles, wozu die in der Lage ist, ist eine grandiose Fehlinterpretation des sogenannten Religionsgespräches zwischen Gyburc und Terramer im Willehalm des WOLFRAM VON ESCHENBACH. Wir tun gut daran, dieser Geisteswissenschaft, die so einfache Literaturinhalte wie FRIEDEN nicht verstehen und nachvollziehen kann, den Nährboden für ihr unseliges Wirken zu entziehen. Ich möchte Ihnen, lieber Leser, jetzt mal vor Augen führen, was im finstersten Mittelalter, lange vor den Erleuchtungen der Reformation und der Renaissance, vor gut 700 Jahren also ein Mensch tat, der sich unversehens im Besitz einer ultimativen Waffe wiederfand. Hat er sie wohl gegen Matur eingesetzt, vielleicht sogar benutzt, um sich die gesamte Welt Untertan zu machen, Jerusalem zu befreien oder die Heiden auszurotten? Was tut ein Homo Faber, der im Mittelalter plötzlich die technischen Mittel zur Massenvernichtung in seinen Händen hält? Wie wird er die Intelligenz nutzen, die er bisher so trefflich unter Beweis gestellt hat? Sehen Sie, eigentlich haben wir diese Fragen bereits zu Beginn beantwortet, als wir sahen, daß ein Ritter wie Daniel niemals fähig ist, durch Gewalt (AS) etwas für sich zu erwerben, er kann nur seine Kraft und seine Intelligenz in den Dienst anderer stellen. Damit Sie jetzt sehen, wie ein mittelalterlicher Autor seinen Helden handeln läßt, den er mit Intelligenz und Denkvermögen ausgestattet hat, damit Sie zugleich sehen, was man denen absprechen kann, die Tausende solcher ultimativer Waffen horten, deshalb gebe und übersetze ich Ihnen seine ganze Überlegung: als Daniel daz ersach, wider sich selber er sprach: "wer künde mir des widerstân sît ich diz houbet hân? ez müezen die riesen schouwen die dâ nieman mac verhouwen. sie müezen hie von tôt ligen, ich mac wol dâmit gesigen in dem lande zu Clûse und helfen dem künic Artûse von dem künic Matûre.

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ez wirt in allen ze sûre die uns dô wellent wider stân: ich wil sie diz houbet sehen lân. des haete ich aber schande swenne ich in dem lande begienge einen grôzen mort. ich haete dester boeser wort. man weste wol, ein armez wîp naeme al der werlte wol den lîp swenn si diz houbet trüege und alle die liute dâmit slüege. man jaehe, ich waere ein tîfel und trüege ez durch den zwîfel ich getörste nieman bestân, und begunden mich für einen zagen hân, die liute schulten alle mich und würden mir unheimlich. ouch kunde ich des niht engân, solde ich ez dehein wîle hân, ich würde es lîhte unfrô. ez quaeme eteswenn alsô daz ich ez vornen saehe und mir der tôt geschaehe. dû hâst sô mangem den lîp benomen, dû bist von dem tîfel körnen, der müeze dîn auch walten: ich wil dich niht behalten." iesâ warferz in den sê. [DANIEL, 2165 ff. Als Daniel das gesehen hatte, überlegte er Folgendes: "Wer kann mir jetzt noch, da ich dies Haupt besitze, widerstehen? Das müssen die Riesen ansehen, die niemand besiegen kann. Die werden hierdurch sterben. Damit kann ich im Lande Cluse gewinnen und Artus gegen Matur helfen. Das kommt ihnen teuer zu stehen, wenn sie sich gegen uns stellen: Dann lasse ich sie das Haupt sehen. Dann aber käme große Schande über mich, wenn ich in dem Land so einen Massenmord beginge. Statt dessen würde man mich verfluchen. Man wüßte nur zu gut, daß ein armes Weib die ganze Menschheit vernichten könnte, wenn sie das Haupt trüge und alle damit tötete. Man würde mich selbst für einen Teufel halten und sagen, ich trüge es nur, weil ich sonst Angst vor Gegnern hätte, und man würde mich für einen Feigling halten. Die Menschen würden mich anklagen und mir aus dem Weg gehen. Auch ließe es sich nicht vermeiden, sollte ich es verlieren, ich würde meines Lebens

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nicht mehr froh. Irgendwann würde es zwangsläufig geschehen, daß ich es selbst von vorne sehe, und dann ist es mein Tod. Du hast so viele Menschen umgebracht, du bist eine Gabe des Teufels, soll der sich um dich kümmern: ich jedenfalls will dich nicht behalten." Damit warf er es in den See.] Meine lieben Leser, dies sind Gedanken, die 700 Jahre neu sind, die geäußert wurden angesichts einer rein fiktiven ultimativen Waffe, eines Massenver-nichtungsmittels vom Schlage einer H-Bombe. Ich finde es beschämend, daß unseren Wissenschaftlern ähnliche Skrupel erst nach dem Massenmord von Hiroschima und Nagasaki gekommen sind. Ich finde es beschämend, daß wir uns jeder Einsicht in die Gefahren solcher Waffen verweigern, die so lange vorformuliert sind. Ich finde es beschämend, daß uns ein Autor des Mittelalters lehren kann, was humane Intelligenz bedeutet. Ich finde es beschämend, daß wir nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte gelernt haben. Ich finde es zum Kotzen, daß uns Politiker und Militärs für so dumm verkaufen, daß sie die Gefahren, die Daniel offensichtlich sind, schlicht verschleiern. Ich finde es zum Kotzen, daß die Geisteswissenschaft, die uns alle erziehen sollte, unfähig ist, das zu begreifen, was uns aufklären könnte. Ich fände es aber zum Totlachen, wenn das alles Methode hat! Kehren wir zurück zu diesem sympathischen Ritter, der auch hier jeglichen Lohn ablehnt und zeigt, daß er ein IAS vollbracht hat: "was lônes waere ich darumbe wert daz iuwere vîende ligent tôt? diz ist mir selber alsô nôt als iu und iuweren liuten." [DANIEL, 2303 ff. "Weshalb sollte ich Lohn dafür bekommen, daß Eure Feinde tot sind? Das war für mich so notwendig wie für Euch und Eure Leute."] Schließen wir uns dieser Einsicht in gewisse Notwendigkeiten getrost an, wenn wir diese Waffen gegen die Besitzer richten, trifft es nie den Falschen! Immerhin will sich der Gerettete Daniel anschließen, das ist auch notwendig, denn er muß in eine Falle tappen, in die Daniel nie geraten könnte, er führt ihn mithin zu einem Abenteuer, das unser Held zwischen den Kämpfen in Cluse bestehen wird. Beide erreichen die Stelle, die in das Land Cluse führt, jene Pforte, die von dem einen Riesen bewacht werden, dort entdecken sie ein herrliches Zelt, wo sie sich niederlassen. Da sprengt ein Ritter vorbei, der auf ihre Fragen keine Antwort gibt, weshalb Daniels Freund auf sein Pferd springt, um ihn zu verfolgen. Daniel folgt mit Abstand nach. Der fremde Ritter reitet in eine Öffnung im Fels, Daniels Freund hinterher, und kaum ist Daniel selbst angelangt, schließt sich der Fels und riesige Was-

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sermassen stürzen hervor. Da kann Daniel nicht folgen und so muß er die Befreiung verschieben. Dafür aber besiegt er daraufhin den Riesen, der ihn siegesgewiß angreift und diese Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlt. Auch diese Tat Daniels ist als IAS erkennbar, denn er begeht sie für Artus. Dieser Nexus ist relativ leicht herzustellen, denn in diesem Moment erreicht Artus den Kampfplatz. Der andere Riese, der Artus führte, gerät in große Verwunderung über den Tod seines Bruders, tröstet sich aber damit, daß Artus und die seinen das alles mit dem Tode büßen werden. Kurz, man reitet zu dem Tier und zieht das Banner aus dem Maul. Es ertönt ein Geräusch, schlimmer als ein Donnerschlag, und allen wäre wohl der Kopf zersprungen, hätte Daniel nicht geistesgegenwärtig das Banner ins Maul zurückgestoßen. Schon erscheint König Matur und bittet zum Kampf. Verehrte Leser, etwas Ungeheures geschieht, Artus kämpft selbst gegen Matur. Mehr noch, er besiegt und tötet ihn auch noch. Hat man je gehört, das Artus zum Schwert griff? Das ist nun umso seltsamer, als wir nun erstmals zwei Subjektaktanten auf der gleichen Seite haben, zwei Ritter, die etwas erwerben können. Das aber gilt nur prinzipiell, wir werden sehen, daß dies gar kein Widerspruch ist, daß nämlich nur so die Geschichte zu einem befriedigenden Ende gebracht werden kann. Daselbst aber hebt ein großes Gemetzel zwischen den Heeren an, das ich wieder gerne überspringe. Wichtig ist nur, daß Daniel auch den zweiten Riesen tötet und daß Artus da erst erfährt, wer diese Taten vollbracht hat. Nachdem die erste Schlacht geschlagen ist, macht Daniel sich heimlich auf, um seinen Freund zu suchen, der im Fels verschwunden war. Wütend, daß er ihm nicht folgen kann, schlägt er mit dem Schwert auf den Fels und siehe da, es schneidet auch den. So schafft er sich den Durchgang und reitet in das Land dahinter. Am nächsten Morgen entdeckt er den Ritter, der seinen Freund entführt hat, und da Daniel dessen Schicksal erfahren muß, kommt es zu einem heftigen Kampf. Doch kann keiner der beiden gewinnen, denn der Ritter trägt unter der Rüstung die Haut einer Meerminne, die so undurchdringbar ist, daß sogar Daniels Schwert versagt. Schließlich aber kann er ihn mit einem Schlag betäuben, doch der Ritter beantwortet keine der Fragen über den Verbleib von Daniels Freund. Er verschont das Leben des Mannes selbstverständlich, denn er will lediglich erfahren, wie es dem Freund erging. Weiter folgt er dem Weg und ist urplötzlich von einem unsichtbaren Netz gefangen, das keine Bewegung erlaubt. Die Fallenlegerin ist eine Jungfrau in großer Not, und nachdem Daniel sie überzeugt hat, daß er alles für sie tun wird, gibt sie ihn frei. Dies aber ist ihre Geschichte: Ihr Vater, ein sehr höfischer Mann und in der Rangordnung gleich hinter Artus, bekam einst eine undurchdringliche Haut, das unsichtbare Netz und eine Salbe, mithilfe derer man das Netz sehen kann, von einer Königin über alle Meerwunder geschenkt. Dadurch wissen wir, daß der letzte Gegner Daniels der Vater der Jungfrau ist, doch

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kann ja irgendetwas nicht mit ihm stimmen. Tatsächlich erfahren wir nun eine absonderliche Begebenheit. Mitten in einem Fest tauchte vor einem Jahr ein völlig kahler und roter Mann auf, der mit dem Teufel im Bund sein muß. Er verfügt über suggestive Fähigkeiten, was er sagt, das muß der ausführen, der es hört, er kann sich nicht widersetzen. Dieser Mann aber hat die üble Angewohnheit, einmal wöchentlich im wahrsten Sinne des Wortes ein Blutbad anzurichten, in dem er sein Siechtum kuriert. Im Laufe des Jahres mußte beinahe die gesamte männliche Bevölkerung ihr Leben lassen, und zudem ist ihr Vater gezwungen, möglichst viele Männer zu fangen, um frisches Blut zu besorgen. Morgen sollen die Männer geschlachtet werden, unter denen sich der Freund Daniels befindet. Nun hat es keinen Sinn, so erfährt unser Held, sich wie Odysseus Wachs in die Ohren zu stopfen, da er dann keinen Befehl hören könnte, würde er sofort auffallen. Daraufhin nämlich würde der rote Mann seine schlimmsten Flüche oder Zaubersprüche loslassen und den Ärmsten völlig wehrlos machen, wie die Jungfrau anschaulich nach einem gescheiterten Experiment zu berichten weiß. Was also tun? Ich gestehe, ich bin ratlos, dieser Herausforderung würde ich mich nicht stellen, denn wo altbewährte Mittel versagen, die einem so listigen Kopf wie dem des Odysseus entsprangen, wage ich keine Alternative zu empfehlen. Sehen wir uns also an, was der STRICKER Daniel tun läßt, und schon sind wir an einem Punkt, wo weiteres Ausholen für das Verständnis unabdingbar ist. Was Daniel nämlich tut, leuchtet auf den ersten Blick zwar ein, doch die tatsächliche Relevanz dessen, das geradezu Revolutionäre daran, das wird jedem verborgen bleiben, weshalb ich eben gezwungen bin, weiter auszuholen. Doch sehen wir erst einmal, was Daniel unternimmt, nachdem unbemerkt er zu den Schlachtopfern gelangt ist: er besach die guoten ritter gar unz daz er den grâven vant, und hâte in vil schiere erkant. dô er quam dar gegangen, er wart dâ niht enpfangen, weder sie sprâchen noch nigen. durch daz sie sô stille swigen, sô sweic er unde sprach niht, er vorhte des, und spraeche er iht, daz der sieche lîhte dâ sô nâhe waere etswâ daz er die rede gehôrte und im sîn gewerp zerstôrte. als Daniel gesach

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daz im dâ nieman zuo sprach, dâmite wart er innen daz sie von ir sinnen gar gescheiden wâren, und begunde ouch gebâren vil rehte alse sie. sîn ouge im allez umbe gie und begunde vil eben lâgen alles des sie pflâgen. derselben gebaerde pflac ouch er. [DANIEL, 4746 ff. Er schaute sich die braven Ritter genau an, bis er den Grafen fand, den er sofort wiedererkannte. Als er zu ihnen ging, wurde er nicht empfangen, weder sprachen sie, noch nickten sie ihm zu. Weil sie aber so mucks-mäuschenstill waren, schwieg auch er und gab keinen Laut von sich, denn er befürchtete, sagte er ein Sterbenswörtchen, der Sieche könne möglicherweise so nah sein, daß er das Sprechen hören und ihm seinen Plan vereiteln könnte. Als Daniel nun sah, daß niemand zu ihm sprach, wurde ihm klar, daß sie ihres Verstandes verlustig gegangen sein mußten, und fing also an, sich genauso zu verhalten wie sie. Er ließ seinen Blick schweifen und richtete sein Augenmerk auf ihr Verhalten. Das gleiche Verhalten legte er sich zu.] Damit ist wohl jedem offensichtlich, daß Daniel eine altbewährte Methode im Spiel von Jägern und Gejagten anwendet, kurz Mimikri. Derart unauffällig gelingt es ihm auch, den Siechen so lange in Sicherheit zu wiegen, bis er den entscheidenden Schlag anbringen kann, worauf alle gerettet und wieder bei Sinnen sind. Doch, wie gesagt, bei dieser relativ platten Erkenntnis will ich es nicht bewenden lassen, wenngleich wir allein damit den Horizont der LW schon um einige Meridiane überschritten haben. Welche Leistung Daniel nämlich im Horizont der mittelalterlichen Denkungsart vollbracht hat, wird niemand so schnell würdigen können, wodurch ihm dann auch die eigentliche Pointe entgeht. Zunächst einmal müssen wir uns vergegenwärtigen, daß Daniel sich schutzlos in eine ungeheure Gefahr bringt, vor der es überhaupt keinen technischen Schutz, sei es Rüstung oder Bienenwachs, gibt. Ein Laut, eine falsche Bewegung, und er wird nicht einmal mehr die Möglichkeit haben zu kämpfen. Diesen Mut allein gilt es schon zu würdigen, lieber Leser, doch ist dies nicht alles. Wir wissen heutzutage erbärmlich wenig über den mittelalterlichen Ritterkodex, und sei es auch nur der literarische, wie sonst sind die peinigenden Fehlinterpretationen bei dem Begriff âne zuht im Iwein zu erklären. Aber genau hier, bei dem Ritterkodex, liegt der Hase im Pfeffer, und ich behaupte, daß die List Daniels das

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damalige Publikum ganz enorm überrascht hat, denn, was er tat, wäre niemandem im Traum eingefallen. Nun ist uns durch den Prosalanzelot bekannt, daß dieser bis über beide Ohren in Königin Guinevra veliebte Ritter auf der Verfolgung der wie üblich entführten Dame sein Pferd verliert und einen ganzen Augenblick überlegt, bevor er auf einen Pferdekarren springt. Dieses Gebaren ist nämlich derart unritterlich, daß es ihn den guten Ruf kosten kann. Im Iwein aber erleben wir einen Ritter auf der niedrigsten Existenzstufe, als so sinnelos wie ein Tier. Dies ist nun nicht einfach nur ein deutlicher Gradmesser für Iweins Liebe zu Laudine, ist nicht einfach nur ein Parameter für tiefste Krise, nein, für den mittelalterlichen Menschen war Iwein damit so gut wie tot, gesellschaftlich gestorben, weit unter einem Tier, das übrigens auch im Daniel als passendster Vergleich herhält: swer gehôrte sîniu wort, der wart tumber denne ein huon. [DANIEL, 4428 f. Wer immer ihn hörte, der wurde tumber als ein Huhn.] Und genau wie ein Huhn wandelt nun auch unser Held zwischen den übrigen Toren herum, und ungeachtet der Tatsache, daß er diese Rolle nur spielt, riskiert er damit weit eher seinen Ruf als sein Leben. Das gehörte sich ebenso wenig, als dies schlicht unerhört war. Dies aber gibt uns erst ein vollständiges Bild von der überragenden Intelligenz unseres Protagonisten. Zum einen ist er ja nicht nur in der Lage, eine Situation völlig angemessen zu beurteilen, ohne gefährliche Experimente in Form von Interviews unter den Toren anzustellen, er ist zum anderen auch in der Lage, deren wesentliche Verhaltensweisen zu erkennen und darüber hinaus auch zu kopieren. Was aber am wichtigsten ist, er kann über seinen ritterlichen Schatten springen, er kann, wenn er erfährt, daß Ohren zuhalten und draufhauen nichts bringt, seinen Ehrenkodex einfach vergessen und lieber überleben, als für und mit ihm sterben. Wie sehr der Ritterkodex im Daniel unter Beschuß gerät, wissen Sie ja noch aus dem Exkurs zu Beginn des Buches. Bevor ich aber fortfahre, möchte ich Sie noch auf ein Maere namens Die halbe Birne von HANS FOLZ aufmerksam machen, die Sie spätestens in meinem nächsten Buch kennenlernen, denn da gewinnt ein Ritter auf so ziemlich ähnliche Weise eine Königstochter. Daniel gelingt es also wieder einmal, den Erwartungshorizont seines Gegners zu dessen Schaden auszunutzen, denn ob mit dem Teufel im Bunde oder nicht, wir dürfen voraussetzen, daß der Sieche mit dem Ritterkodex so vertraut war wie das Publikum, er tötet das Ungeheuer und im gleichen Moment verfügen alle wieder über ihren Verstand. Die wenigen, die dem Lande verblieben waren, sind gerettet, und Daniel konnte wieder ein IAS verbuchen. Die Geretteten wollen auch gern Artus

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im Kampf gegen die Heere von Cluse unterstützen, und so brechen sie schnell auf. Jeden Tag nämlich erscheint ein frisches Heer, gegen das Artus' Mannen kämpfen müssen. Wir können diese Schlachten überspringen, denn Daniel setzt ihnen ein Ende, als er den Seinen empfiehlt, sich beim nächstenmal die Ohren zuzuhalten. Kaum erscheint das neue Heer, zieht er dem Tier das Banner aus dem Maul und das betäubte Heer muß sich ergeben. So wird auch hier mit den Mitteln der Feinde einem allgemeinen Blutvergießen ein Ende gesetzt, können diese Mittel gegen sie angewendet werden, weil unser Held etwas mehr Einblick in technische Zusammenhänge hat und sich dadurch gegenüber den alten Haudegen als überlegen erweist. Die Fürsten von Cluse ergeben sich alle und geben Artus ihr Land und ihr Leben. Was aber tut Artus mit der Witwe Maturs und dem Land Cluse, das er gewonnen hat? Auf den Rat der Edelsten hin, die von den Taten Daniels erfahren haben, schenkt er alles Daniel. Das klingt auf den ersten Blick enorm platt, doch steckt eine gewisse Logik dahinter. Zunächst ist dies der einzige Weg für einen Ritter wie Daniel, überhaupt etwas zu erlangen. Wenn aber Artus als Kriegsherr das Gewonnene verschenkt, handelt der selbst wiederum nicht nach dem Aktantenschema, sondern nach dem IAS. Damit aber ist beiden Genüge getan, und keiner hat die Grenzen des Erlaubten überschritten. Erinnern wir uns jetzt wieder an unsere Definition des Maerenerwerbs, dann müßte uns eine Ähnlichkeit auffallen. Im Maere bekommt der Held ja auch das, was er benötigt, indem es ihm jemand freiwillig gibt. Nun ist es dort aber eher der Regelfall, daß der Held seinem Gegenüber das Geben einsuggeriert, indem er seine menschlichen Schwächen taxiert. Aber nicht einmal dieser Weg des Erwerbs muß von Daniel beschritten werden, denn die Beeinflussung des Artus übernehmen Ritter wie Gawein, die erkannt haben, daß der Kampf ohne Daniel verloren gewesen wäre. Nicht Daniel darf diese Beeinflussung übernehmen, denn ERWERB ist nicht sein Ziel. Wenn er aufgrund seines maßgeblichen Anteiles am Sieg das eroberte Land geschenkt bekommt, kann ihm auch niemand unterstellen, seine Taten seien auf einen Erwerb ausgerichtet gewesen und nicht als Hilfe (IAS) für Artus verstanden worden. Gerade an solch komplizierten Stellen, lieber Leser, kann man immer wieder besonders deutlich erkennen, daß die mittelalterlichen Dichter sich an bestimmte Spielregeln gehalten haben, daß sie immer bemüht waren, nicht wild drauflos zu fabulieren, sondern sich an Gesetze des Erzählens zu halten, diese aber in dem gesamten zur Verfügung stehenden Spielraum auszugestalten. Damit stehen wir jedoch vor einem anderen Problem, denn nun wissen wir gar nicht so recht, welchen Rang Daniel einnimmt, der ja Geschenke von Artus annehmen muß, um etwas zu erwerben. Wer ist denn nun der Protagonist, wer ist der Subjektaktant? Sehen Sie, deshalb taucht mitten in der Siegesfeier der Riesenvater auf, schnappt sich Artus, setzt ihn auf einen

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hohen Felsvorsprung und stellt die Ritter vor das bereits erwähnte Dilemma. Damit ist Artus nämlich ganz plötzlich ein völlig wehrloser Objektaktant, der auf die Hilfe des einzig möglichen Subjektaktanten Daniel angewiesen ist, der jetzt diese seine Hauptrolle ausspielen kann, denn nichts von dem, was er nun tut, kann auf einen Erwerb zielen. Daniel besorgt sich schnell das Zaubernetz, der Riesenvater verfängt sich darin und muß sich erläutern lassen, daß seine Söhne die freche Herausforderung des Königs Matur unterstützt hatten. Er gibt daher Frieden, holt Artus und Parzival wieder herunter, wird mit dem Netz beschenkt und zieht sich zurück. Deutlicher konnte man die Überlegenheit Daniels nicht zeigen, denn alles, was die bekannten Idealritter hätten schaffen können, wäre ein Sieg mit Waffen über den Riesen gewesen, dann aber hätten sie ihn so kampfunfähig machen müssen, daß er nicht in der Lage gewesen wäre, Artus wieder herunterzuholen. Und dann säße Artus immer noch da oben, wenn er nicht heruntergesprungen wäre. So aber schafften Intelligenz und Überredungskunst Frieden und bestätigt gleichzeitig unseren Helden und den neuen Heldentyp. Dies war in groben Zügen der Aufbau des Daniel von dem blühenden Tal des STRICKER. Zugegeben, dieser Roman ist gewagt und modern, nichtsdestoweniger unternimmt er den konsequenten Versuch, den Helden auf keinen Fall selbst etwas für sich im Kampf erwerben zu lassen. Der einzige Schwachpunkt ist dann aber auch der Erwerb des Reiches Cluse, das aber als umstrittener Objektaktant nur durch Artus gewonnen werden konnte, um an unseren Helden verschenkt zu werden, wodurch Artus selbst vom AS dispensiert wurde. Gerade an diesem Zusammenhang wird den besonders Aufmerksamen die sinnvolle Verknüpfung im Daniel deutlich. Bedenken wir nur, daß die Kämpfe um einen Objektaktanten gehen müssen, der nicht im Besitz von König Artus ist, den er somit nach dem Gewinn verschenken kann. Und genau deshalb finden die Kampfe im Land Cluse statt und nicht, wie man nach der Herausforderung Maturs hätte annehmen können, im Reich des Königs Artus. Das nämlich hätte uns etwas wundern müssen, daß der Herausforderer, der Artus zum Vasallen machen will, nicht bei diesem mit einem Heer auftaucht, um ihn zu besiegen, sondern geradezu den Gegner einlädt, sich von ihm besiegen zu lassen. Daniel selbst erwies sich als ein Ritter, der nur noch im Rahmen des IAS handelt, der sich aber schon dadurch über die alten Idealhelden erhebt, daß er einsichtig und intelligent handelt. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird dieser Heldentyp erst wieder im Picaroroman auftauchen, wird er im Simplicius seine technischen und intellektuellen Fähigkeiten zeigen. Eines aber dürfte im Daniel deutlich geworden sein, daß nämlich der STRICKER das Problem des Erwerbs seitens eines krisenlosen Idealritters am überzeugendsten und konsequentesten löst.

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Bleibt am Ende die Frage, ob Artus damit endgültig seinen Ruf verloren hat, ob das Rittertum nicht seinen Sinn verloren hat. Der Dichter ist gnädig, er selbst scheint im Daniel auch nur einen Einzelfall zu erkennen. Um uns zu zeigen, dass Artus noch einen Sinn verkörpert, begegnet Daniel einem jungen höfischen Knappen namens Beladigant, der von Artus seinen Ritterschlag empfangen will. Der aber wird von Daniel nicht zu einem besseren König geschickt, sondern mit zu Artus genommen, woraus unschwer ersichtlich wird, daß der alte Herr immer noch nicht abgedankt hat. Vielleicht können wir auch aus diesem Grund nun noch einen Artusroman kennenlernen. Dies wird im Rahmen unserer Untersuchung auch der letzte sein. Wenn ich mich nicht sehr irre, habe ich noch wenige Zeilen zuvor vorschnell gesagt, wird dieser Heldentyp erst wieder im Picaroroman auftauchen. Das ist nur insofern richtig, als es sich auf die Gattung Roman bezieht. Früher, viel früher werden uns die legitimen Söhne Daniels von dem blühenden Tal wiederbegegnen, denn, so behaupte ich, mit diesem Roman hat der STRICKER die Urform des Märchens geschaffen, jeder Geschichten, in denen ein Nobody auszieht und mit List, seltener mit Kraft, ein Königreich und eine Prinzessin erwirbt. So spannend kann Literatur sein, und wer unter den Lesern diesen Gedanken aufgreifen und wissenschaftlich belegen möchte, sei herzlich eingeladen und meiner Mithilfe versichert.

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GAREL VON DEM BLÜHENDEN TAL oder Homo ludens in der Marktlücke Lieber Leser, wir erkunden jetzt den letzten Artusroman dieser Untersuchung, er ist natürlich nicht der letzte der Literaturgeschichte, aber er rundet unseren Erkenntnishorizont gut ab. Auch die allgemeine Gattung âventiure-Roman setzt ihre Tradition weiter fort, und sei es in Werken wie dem Theuerdank von MAXIMILIAN I, dem deutschen Kaiser und sogenannten letzten Ritter. Aber Vollständigkeit konnte hier, gerade von einem einzelnen, nicht angestrebt werden. Mir ist es zunächst wichtiger, diese Theorie und die damit verbundenen Erkenntnisse endlich zugänglich zu machen und dadurch nicht zuletzt unseren Filo-logen ihr unseliges Handwerk zu vermasseln. Wenn wir nun den Roman des PLEIER kennenlernen, so stehen wir an einem Wendepunkt der Literaturgeschichte. Der Grund dafür ist leicht dem Titel seines Romanes zu entnehmen, denn der lautet: Garel von dem blühenden Tal (GAREL). Damit ist sonnenklar, daß der PLEIER sich auf den Roman des STRICKER bezieht, also just auf den Roman, den wir zuletzt besprochen haben. Wie er das aber tut, das soll uns zunächst interessieren. Für die Forschung ist der Garel unzweifelhaft eine Kritik am Daniel, auch die beliebten Begriffe wie Kontrafaktur fallen immer wieder, überhaupt enthebt dieser Begriff die Gelehrten der Mühe, selbst zu denken, selbst zu urteilen und zu verstehen. Wie schon gesagt, gehören Kontrafakturen zu dem wohl Kompliziertesten in der Romanliteratur, nur wissen das die Wissenschaftler noch nicht, die diesen Terminus bekanntlich allem überstülpen, das nur etwas anders ist als ihr zudem noch falsches Ideal. Nein, Pustekuchen, von alledem kann keine Rede sein, wir stehen in jedem Fall, den wir bislang erarbeitet haben, immer nur vor einer Weiterentwicklung, niemals vor einer Kritik. Rückschläge, Kritik und Schmähungen größerer Art mußte hingegen die großartigste Kontrafaktur selbst, der Don Quijote, einstecken, wie aus der Vorrede zum zweiten Buch deutlich wird. Und doch, irgendein Bezug muß zwischen dem Daniel und dem Garel doch wohl bestehen. Es gibt ihn auch, und das ist der Grund, weshalb ich hier von einem Wendepunkt in der Literaturgeschichte gesprochen habe. Alles wird wesentlich klarer, wenn wir uns verdeutlichen, wie überaus modern der Daniel war, welch rasanten Sprung nach vorn er wagte. Stellen wir uns deshalb ruhig einmal vor, der Daniel hätte im Zuge der Romanentwicklung wenigsten zwei Schritte auf einmal nach vorn gemacht. Was liegt dann näher, als die entstandene Lücke auszufüllen, einen Schritt zurückzumachen und immer noch moderner und neuer zu sein als die übrigen Vorbilder. Genau das hat der PLEIER getan, der überaus gewitzt war und natürlich diese Marktlücke erspähte. Er entwirft auch kein Gegenbild zum Daniel, sondern schafft

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allenfalls ein Komplement. Was er schreibt, müßte demzufolge zwischen den Wigalois und den Daniel passen, müßte von beiden Romanen etwas übernehmen. Hier nun ist die Sternstunde des Strukturalisten, hier kann er sich die Hände reiben, denn er kann in jeder Abweichung eine unumgängliche Korrektur für eine andersartige Sinnstruktur erkennen. Das geht aber erst dann, wenn wir die kleine gemeinsame Basis beider Romane gefunden haben, wenn wir den gleichen Ausgangspunkt und das gleiche Ziel haben, das ein anderer Held auf eine andere Weise erreichen soll. Unsere erste Frage lautet dann auch folgerichtig: Wie würde der Daniel aussehen, wenn wir statt eines Maerenhelden einen normalen krisenlosen Ritter an seine Stelle setzen? Zuallererst muß er einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten haben, was für uns sogleich bedeutet, daß er eine âventiure wie die mit dem kahlen roten Mann, der wöchentlich sein Blutbad im Zuber anrichtete, nie und nimmer bestehen wird, weshalb der PLEIER sie auch tunlichst unterschlägt. Wenn also kein Maerenheld auftritt, dann können die Gegner und die Wunder wieder normale Dimensionen annehmen, sie sind dann untechnisch und mit handelsüblichen Waffen zu überwinden. Damit sind wir beim nächsten Aspekt, denn Garel muß ein Ritter sein, der ebenfalls, mangels Alternative, versuchen muß, etwas zu erwerben, ohne daß der Anschein erweckt wird, er erwerbe aktantiell, es wird also wieder zu entscheidenden Problemen dort kommen, wo unser neuer Held im Zuge seiner IAS einmal an sich selbst denken muß. Selbstverständlich kann ein Ritter dieses Typs nicht auf materiellen Lohn seitens des Königs Artus hoffen, denn diese Form des Erwerbs war paßgenau auf einen Helden zugeschnitten, dem es verboten ist, etwas zu erwerben, das auch nur geringfügig mit Gewaltanwendung in Verbindung gebracht werden kann. Wenn Garel also im Prinzip doch, mit den entsprechenden zu erwartenden Kaschierungen, selbst erwerben darf, dann braucht König Artus nicht mehr in Aktion zu treten, um eventuelle Gegner zu töten und das derart Erworbene dem Helden zu schenken. Er kann wieder der zentrale Ruhepunkt des Hofes sein, ideal, tatenlos und ein wenig trottelig. Wir haben dann auch keine Probleme mehr, den eigentlichen Subjektaktanten zu ermitteln, Artus kann zu Hause bleiben und wird nicht mehr auf Felsvorsprüngen deponiert. Betrachten wir zur Abwechslung das, was für Daniel und Garel die gleiche Ausgangssituation ist, was somit beide von Wigalois unterscheidet. Wenn wir uns nur den Daniel und den Wigalois anschauen, so fällt auf, daß der Held im letzteren Roman eine klare Zielvorgabe hatte, den Erwerb von Frau und Land, am Ende mußte somit ein AS stehen, auch wenn versucht wurde, dies nolens volens in einem anderen Licht dastehen zu lassen. Daniel hatte hingegen kein anderes Ziel, als Artus zu helfen, er handelte nur nach dem IAS und wurde am Ende mit einem Erwerb (Schenkung)überrascht.

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Hier lag wahrscheinlich für den PLEIER der Ansatzpunkt für seinen Roman, denn er hatte wohl gesehen, daß sogar ein aktantieller Erwerb bei einem krisenlosen Ritter noch widerstandsloser zu legitimieren ist, wenn dieser Erwerb nicht seine Zielvorgabe ist. Der Erwerb von Frau und Land muß also zufällig und am Rande geschehen, darf nicht eingeplant und angestrebt sein. Dann folgt daraus eine weitere Abweichung. Da der Held einen Grund benötigt, um auszuziehen und etliche IAS vorzulegen, sollte auch hier am besten Artus attackiert werden, damit Garel nicht persönlich involviert ist. Auch dann kann er aufbrechen, um Artus zu helfen, und handelt damit automatisch im Rahmen des IAS. In diesem Falle aber kann der herausfordernde König nicht ein widerlicher Kerl wie Matur sein! Wieso, werden Sie fragen. Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Garel sich seine Frau und seinen Besitz selbst erwerben wird, dies jedoch nicht als Ziel vor Augen haben darf, sondern das eher nebenbei und ungeplant erreichen wird. Wenn dann unser Held von dem erwerben würde, der Artus herausfordert, hätte er damit automatisch ein Ziel vor Augen gehabt und verfolgt. Damit wir aber auch gar nicht auf die Idee kommen können, bei dem Auszug unseres Helden könnte etwas anderes im Spiel sein als eine Ehrenrettung des Königs Artus, ist der Herausforderer überaus höfisch, er will sich Artus auch nicht zum Vasallen machen, sondern hat statt dessen ein altbekanntes Problem, das zwar nur aktantiell gelöst werden kann, aber, wie alle Fälle außer dem Erec zeigen, so nie gelöst wird. Wir erinnern uns an das, was Gawein im Parzival von Kingrimursel vorgeworfen wurde, was dann dank Antikonie vertagt und schließlich wegen verwandtschaftlicher Beziehungen aus der Welt geschafft werden konnte. Es ist der brauchbare Vorwurf, Artus habe den Vater des Herausforderers hinterrücks ermordet. Hat er natürlich nicht, aber unser Held hat einen Grund, diesen Vorwurf für Artus aus der Welt zu schaffen, selbst damit im Rahmen des IAS zu handeln und dadurch die Ehre des Artushofes zu einem Wert zu machen, den Artus nicht selbst verteidigen muß, sondern den er innehat. Damit sind wir bereits mitten in der Geschichte, wir müssen jetzt nur noch die Paradehelden wie Gawein vom Hof entfernen, damit sie Garel die âventiure nicht vor der Nase wegschnappen. Wie das geht? Na, erinnern Sie sich mal an den Iwein, als alle beschäftigt waren, die entführte Ginover zurückzuholen, uns nur den Daniel und den Wigalois anschauen, so fällt auf, daß der Held im letzteren Roman eine klare Zielvorgabe hatte, den Erwerb von Frau und Land, am Ende mußte somit ein AS stehen, auch wenn versucht wurde, dies nolens volens in einem anderen Licht dastehen zu lassen. Daniel hatte hingegen kein anderes Ziel, als Artus zu helfen, er handelte nur nach dem IAS und wurde am Ende mit einem Erwerb (Schenkung)überrascht. Hier lag wahrscheinlich für den PLEIER der Ansatzpunkt für seinen Roman, denn er hatte wohl gesehen, daß sogar ein aktantieller Erwerb bei einem krisenlosen Ritter

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noch widerstandsloser zu legitimieren ist, wenn dieser Erwerb nicht seine Zielvorgabe ist. Der Erwerb von Frau und Land muß also zufällig und am Rande geschehen, darf nicht eingeplant und angestrebt sein. Dann folgt daraus eine weitere Abweichung. Da der Held einen Grund benötigt, um auszuziehen und etliche IAS vorzulegen, sollte auch hier am besten Artus attackiert werden, damit Garel nicht persönlich involviert ist. Auch dann kann er aufbrechen, um Artus zu helfen, und handelt damit automatisch im Rahmen des IAS. In diesem Falle aber kann der herausfordernde König nicht ein widerlicher Kerl wie Matur sein! Wieso, werden Sie fragen. Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Garel sich seine Frau und seinen Besitz selbst erwerben wird, dies jedoch nicht als Ziel vor Augen haben darf, sondern das eher nebenbei und ungeplant erreichen wird. Wenn dann unser Held von dem erwerben würde, der Artus herausfordert, hätte er damit automatisch ein Ziel vor Augen gehabt und verfolgt. Damit wir aber auch gar nicht auf die Idee kommen können, bei dem Auszug unseres Helden könnte etwas anderes im Spiel sein als eine Ehrenrettung des Königs Artus, ist der Herausforderer überaus höfisch, er will sich Artus auch nicht zum Vasallen machen, sondern hat statt dessen ein altbekanntes Problem, das zwar nur aktantiell gelöst werden kann, aber, wie alle Fälle außer dem Erec zeigen, so nie gelöst wird. Wir erinnern uns an das, was Gawein im Parzival von Kingrimursel vorgeworfen wurde, was dann dank Antikonie vertagt und schließlich wegen verwandtschaftlicher Beziehungen aus der Welt geschafft werden konnte. Es ist der brauchbare Vorwurf, Artus habe den Vater des Herausforderers hinterrücks ermordet. Hat er natürlich nicht, aber unser Held hat einen Grund, diesen Vorwurf für Artus aus der Welt zu schaffen, selbst damit im Rahmen des IAS zu handeln und dadurch die Ehre des Artushofes zu einem Wert zu machen, den Artus nicht selbst verteidigen muß, sondern den er innehat. Damit sind wir bereits mitten in der Geschichte, wir müssen jetzt nur noch die Paradehelden wie Gawein vom Hof entfernen, damit sie Garel die âventiure nicht vor der Nase wegschnappen. Wie das geht? Na, erinnern Sie sich mal an den Iwein, als alle beschäftigt waren, die entführte Ginover zurückzuholen, genau das geschieht auch hier. Garel erscheint bei Hofe, erfährt von der Entführung und erbietet sich gleich, zu folgen, um Ginover zurückzuholen, doch Artus hält ihn zurück. Da erscheint auch schon ein Riese, der überaus höfisch und gesittet ist und die Herausforderung König Ekunavers vorbringt. Die Gründe sind nunmehr bekannt, neu ist, daß dieser König in einem Jahr selbst gegen Artus ziehen will. Sie erinnern sich sicherlich, daß Artus gezwungen war, in Maturs Land zu ziehen. Das hatte seinen strukturalen Grund in dem Erwerb des Landes Cluse. Dieser Grund entfällt hier dann auch konsequenterweise, denn Ekunavers Reich soll niemand erwerben. Anders ausgedrückt heißt das,

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daß Garel dieses Reich oder Ekunavers Gattin nicht erwerben wird, denn dann hätte er hier, im Moment des Aufbruchs gewissermaßen ein Ziel vor Augen. Man hält Kriegsrat, beschließt, ein Heer zu sammeln und dem Feind auf halbem Wege entgegenzureiten. Zudem will Garel dem Riesen bis in sein Land folgen, um den Weg auszukundschaften. Trotz der Warnung von König Artus bricht er auf, denn ihn wie uns lockt ein Begriff: Artûs sprach "nu volge mir, ich wil mit triwen râten dir: du solt dîn reise sporn und gein Kanadic niht varn. dâ ist vil âventiure." [GAREL, 587 ff. Artus sprach: "Höre auf mich, ich rate es dir im guten: Stehe ab von deiner Ausfahrt, und gehe nicht nach Kanadic. Da gibt es viel âventiure."] Da hat er recht, wir können uns auf einiges gefaßt machen, doch zunächst spottet Keie über unseren Helden. Fällt jetzt wieder dieser verdammte Indianer vom Pferd? Nein, vergessen Sie bitte nicht, Garel hat sein AS noch vor sich, Keie wird nur von solchen Rittern vom Pferd geholt, die es bereits hinter sich haben oder nie ausführen. Garel folgt also der Spur des Riesen und kommt in ein Land, das beiderseits der Straße verheert und verbrannt ist. Gein dem âbent zôch der tac, und unser Held muß sich nach einer Unterkunft umsehen. Auf einer Burg wird sie ihm von einem freundlichen Burgherren, der eine wunderschöne Tochter namens Sabine hat, gewährt. Er erfährt von der Not des Königs Artus, doch hat der Herr nicht minder Kummer. Die Frage Garels beweist höchste Ritterschule, vielleicht sogar das Internat von Gurnemanz: "herre, getörste ich iuch des gebiten, und wolt ir ez niht für übel hân, daz ir mich ruochet wizzen lân, waz iu leides ist geschehen. ruochet ir mir des verjehen, daz gedien ich immer, als ich sol. herre, ich getrowe iu wol, daz iuch iht betrâge mîner tumben vrâge, daz ich iuchs gefrâget hân; ich hanz in wân durch guot getân."

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[GAREL, 986 ff. "Herr, dürfte ich Euch bitten, wenn Ihr es mir nicht übel auslegt, daß Ihr mich gnädigst wissen laßt, was Leides Euch widerfahren ist? Wollt Ihr mir das sagen, so bin ich Euer untertänigster Diener. Herr, ich befürchte, daß Euch meine dummen Fragen beschweren. Daß ich mir die Frage erlaubte, tat ich im guten Glauben."] Eine erlösende Frage wie auf der Gralsburg ist das weiß Gott nicht, aber dafür vollendet höfisch formuliert. Garel erfährt, daß ein gewisser Gehart seit zehn Jahren versucht, mit Heeresmacht die Tochter des Burgherren zu gewinnen. Dabei blieb schon sein Sohn auf der Strecke. Am nächsten Morgen reitet Garel hinaus, besiegt zuerst den Grafen Rialt, dann Gehart selbst. Wie so häufig freunden sich Sieger und Besiegter an, wir kennen das aus dem Erec und dem Demantin. Natürlich sind Vater und Tochter überaus dankbar, es folgt das nun schon übliche Angebot: Der wirt zuo sînem gaste sprach "swaz mir leides ie geschach, des habt ir mich ergetzet wol, daz ich vil gerne dienen sol die wîl und ich mîn leben hân. iu sol wesen undertân mîn liut, mîn lant und mîn guot." [GAREL, 1859 ff. Der Herr sprach zu seinem Gast: "Was immer mir an Leid geschah, davon habt Ihr mich befreit, weshalb ich von nun an bis ich sterbe Euer Untertan sein will. Betrachtet meine Leute, mein Reich und allen Besitz als Euer Eigentum."] Davon will Garel jedoch nichts wissen, Lohn lehnt er ab, er attribuiert nichts und zeichnet daher seine Tat als IAS aus. Hier, wie in allen folgenden Befreiungen wirbt er jedoch Truppen für den Kampf gegen Ekunaver an. Artus, als sein eigentliches Ziel, bleibt also präsent. Weiter geht der Ritt gen Kanadic, da begegnet Garel einem kampfbereiten Ritter. Nach langem Kampf besiegt unser Held den Gegner namens Gilan. Er entbindet auch hier den Besiegten von Verpflichtungen und Vasallentum und schließt mit ihm Freundschaft. Hier fühlt man sich an Erec und Guivreiz erinnert, natürlich liegt auch hier ein IAS vor. Der neue Freund ist aber ebenfalls bereit, Artus in seinem Kampf gegen Ekunaver zu helfen. Doch hat der neue Freund einen Kummer, der zur nächsten âventiure überleitet. Zwei Söhne seines Schwagers, Alexander und Floris, sind von einem Ritter namens Eskalibon gefangen worden. Wir haben diesen Mann bereits ganz zu Anfang im Exkurs kennengelernt, er war der Ritter, der sich ungewollt vor seiner Dame

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selbst lobte. Durch Garel wird er aus dem circulus vitiosus ständig wiederholter AS befreit, zudem gewinnen auch alle Gefangenen ihre Freiheit wieder. Auch diesen Vorgang kennen wir aus der Befreiung Mabonagrins im Erec. Aber da gibt es zufällig noch die Schwester Eskalibons, die der Gewinner automatisch als Siegespreis bekommt. "herre mîn, her Gârel, iwer hant hât hie den prîs bejaget und dise minniclîche maget, mîne swester, diu hie stât. iwer hant die erstriten hât; mit der schafft, swaz ir weit." [GAREL, 5274 ff. "Mein verehrter Herr Garel, Eure Hand hat hier den Ruhm erkämpft und diese schnuckelige Jungfrau. Die habt Ihr auch erworben; sie gehört Euch, macht mit ihr, was immer Ihr wollt."] Jetzt wissen wir es ganz genau, wenn Garel das ablehnt, war das wieder ein IAS. Gottlob hat er dazu die Chance, denn Eskalibon hat nicht die Sorgen des Burgherrn aus dem Iwein, das Mädchen unter die Haube zu bekommen. Da Garel machen kann, was er will, darf er sie auch sehr höflich ablehnen, auf seine Verpflichtungen verweisen, auf die Tatsachen, daß er ein Todgeweihter (veiger) ist. Das alles beginnt nun schon langweilig zu werden, wir wissen nun schon immer im voraus, daß Garel Attributionen ablehnen muß, daß er gegen jeden Ritter gewinnt, und dies ist der Grund, weshalb der PLEIER von nun an einen Gang höher schaltet. Jetzt endlich fliegen Späne, denn unser Held gerät an ein überaus unhöfisches Riesenpaar, Purdan und Fridegart. Purdan ist natürlich mit der üblichen Stange bewaffnet und fordert Garel heraus, der ihn natürlich besiegt und tötet. Das funktioniert hier wie sonst überall, schließlich ist ein Riese nicht so behende wie ein berittener Kämpfer. Das Resultat sieht Fridegart, die Garel etwas vorwirft, was den Kenner des Eckenliedes schmunzeln laßt; es ist der Vorwurf, den Riesen im Schlaf überrascht und getötet zu haben. Garel zeigt ihr, wie er es gemacht hat, und enthauptet auch sie. Mit dem Sieg über die beiden Riesen hat er zugleich einige Gefangene befreit, als da wären zwölf schöne Jungfrauen und einen Ritter namens Klaris. Zudem war dem Riesen auch der Zwergenkönig Albewin untertan. Was nun folgt, ist gewöhnungsbedürftig. Unser Held hatte ja die Gewohnheit, jeden Besiegten oder Befreiten zum Freund zu machen. Hier haben wir die erste Ausnahme, Zwerge können keine Freunde werden, sie werden Vasallen. Dieser Status ist für das Folgende aber auch nicht unwichtig, denn der Zwerg wird später in einer Funktion gebraucht werden, für die nur ein Vasall in Frage kommen kann. Dieser Zwerg schenkt Garel noch ein Schwert, wie es schärfer keines gibt, und einen Ring, der ihm die Stärke von

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zwölf Männern verleiht, alles ganz übliche und untechnische Stücke aus der mittelalterlichen Asservatenkammer, es sind magische Dinge und allenfalls durch Zauber zu bannen, nicht durch Intellekt und Taktik. Die Befreiten ziehen heim, Klaris verspricht Hilfe für Artus, Garel bekommt noch eine unzerstörbare Rüstung von Albewin und bricht dann wieder auf. Für die Geübteren unter den werten Lesern dürfte mithin offensichtlich sein, daß bald eine ungeheure âventiure auf den Mann zukommen wird, der so nützlich ausgerüstet ist. Unverkennbar ist ein ähnlicher Anstieg des Schwierigkeitsgrades wie im Wigalois. Die Gegner werden zu Ungeheuern, haben keinen großen Nutzen für den Krieg zwischen Artus und Ekunaver, es bahnt sich also langsam aber sicher etwas anderes an, etwas, das unser Held gar nicht im Auge hatte, etwas, das entsprechend großartig ausgemalt werden muß, denn es muß den allerhöchsten Schwierigkeitsgrad besitzen, damit Garel nichts vorgeworfen werden kann, kurz, der Erwerb einer Jungfrau steht kurz bevor. Dies alles reicht aber noch lange nicht aus, den Erwerb von Jungfrau und Land zu legitimieren. Da braucht es erhebliche Unterschiede zu all den Möglichkeiten, die sich unserem Helden zuvor geboten haben. Zwei Fälle haben wir auf Ga-rels Weg kennengelernt, in beiden Fällen war die Jungfrau bereits zum Kampfobjekt oder zum Siegespreis degradiert. Dergestalt herrscht Gewißheit, wer den Gegner besiegt, wer die Voraussetzungen erfüllt, der bekommt automatisch die Frau geschenkt. Wir ahnen, daß dies keine akzeptable Basis für eine Ehe ist, daß Garel solcherlei Objekte nicht haben will. Aus diesem Grund spielt sich der folgende Erwerb einer Frau auch völlig anders ab. Garel gelangt weiterreitend in ein Land, das vollkommen entvölkert ist. Hier haust ein Meerwunder namens Vulgan, eine Art Centaur, der ein Medusenhaupt im Schild führt, das jeden auf der Stelle tötet, der es erblickt. In der nahegelegenen Burg lebt die schöne Laudamie, die keine Angehörigen mehr hat und seit fünf Jahren aus Furcht vor dem Ungeheuer die Burg nicht mehr verlassen hat. Von alledem hat unser Held aber noch keine Ahnung: nu enwesse unser degen niht umb disiu maere. [GAREL, 7262 f. Nun hatte unser Held von alledem keinen blassen Schimmer.] Damit wird aber dem aufmerksamen Leser folgendes klar: Erstens ist die Dame Laudamie nicht das Objekt einer Auseinandersetzung, denn Vulgan ist nur an Verwüstung allgemein interessiert. Zweitens ist sie ihre eigene Herrin, sie hat nämlich keinen Vater mehr, der sie als Preis für die Befreiung von dem Ungeheuer aussetzen könnte. Drittens ist sie eben dadurch auch so ungemein schutzlos und verlassen, daß es geradezu notwendig wird, sie mit einem fähigen Ritter auszustatten. Und damit

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auch die Schwerfälligsten merken, daß hier alles etwas anderen Regeln folgt, geschieht unserem so überaus gut gewappneten Recken dies: er het sô schoenes niht gesehen bî allen sînen jâren. vil dicke er an die klâren mit schämen tougenlîchen sach. in sînem herzen er des jach, swaz er vrouwen het gesehen, doch müest er diser meide jehen des prîses vor in allen. sîn lôz daz was gevallen an dise minniclîche maget. ir schoen ûz sînem herzen jaget gedanc nâch andern wîben. er gedâht "ich wil belîben mit staeten triwen dienestlîch an diser meide zühte rîch. der blic dâ git sô liehten schîn. ir schoene hât das herze mîn gewalticlîch besezzen. ich hân vil gar vergezzen, ob ich ie hôhen muot gewan. owê, ich vil tumber man" gedaht er "wes gedenk ich mir? jâ weiz ich wol, daz ich ir leider niht gedienet han." [GAREL, 7526 ff. In seinem ganzen Leben hatte er so etwas Schönes noch nicht gesehen. Immer wieder blickte er die Reine verschämt und heimlich an. In seinem Herzen wußte er genau, was immer er an Damen gesehen hatte, nur dieser Maid gebührte die Auszeichnung vor allen anderen. Die Würfel waren gefallen, und zwar für diese entzückende Jungfrau. Ihre Schönheit jagte jeden Gedanken an andere Frauen aus seinen Gedanken. Er dachte: "Ich will mich mit ganzem Herzen in den Dienst dieser vollkommenen Maid stellen. Ihr Anblick ist so herrlich. Ihre Schönheit hat mein Herz vollständig erobert. Ich habe total vergessen, ob ich mich je besser gefühlt habe. Verdammt, ich Trottel", sprach er bei sich, "wo denke ich hin? Ich müßte doch wissen, daß ich ihr noch gar nicht gedienthabe."] Bis auf einige Professoren, an denen Amors Geschosse so exakt vorbei gehen wie Musenküsse, die also ihr emotionales SDI-Programm verwirklicht haben, ist jedem

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klar, unser Held ist bis über beide Ohren verliebt. Zuerst ist also das Gefühl da, nicht der Erwerb und der Besitz, wie dies im Iwein geschah. Dieses Gefühl ist bedingungslos, es zielt auch nicht auf Erwerb, sondern, wie es die Situation einer autonomen Dame gebietet, es zielt auf Dienst. Dies aber bedeutet, daß die Dame zur Richterin darüber erhoben wird, ob dieser Dienst genügt, sich dafür hinzugeben. Jetzt erst erfährt Garel von Vulgan und dem Medusenhaupt, und er ist sofort bereit, den Kampf in ihrem Dienst zu wagen. Doch halt, unser Held ist weder intelligent noch blind, es erhebt sich für das Publikum die interessante Frage, wie er es vermeiden will, dem Tod ins Auge zu sehen. Nun hätte der PLEIER das Ungeheuer einfach eliminieren können, da sein Held ihm sowieso nicht gewachsen ist, aber es war für ihn so eine herrliche Legitimation für den Erwerb der Dame Laudamie. Das mußte es nun mal sein, aber wohin mit dem Medusenhaupt? Ganz einfach, wissen Sie, im Mittelalter gibt es eine Figur, mit der in der Regel das Wissen um Geheimnisse und Magie verknüpft ist, die in Verbindung mit Erdgeistern und Trollen gebracht wird. Des Pudels Kern ist nicht Mephisto, sondern Albewin der Zwergenkönig, Garels Vasall. An ihn schickt er eilends einen Boten, der das Problem schildert, und sofort ist Albewin zur Stelle. Der hat wie seine Begleiter eine Tarnkappe, ist als Zwerg eh nicht auf den Kopf gefallen und entwendet Vulgan kurzerhand den Schild, auf dem das Medusenhaupt angebracht ist. Nun steht Garel so gut wie kein Hindernis im Wege, dem Ungeheuer mit normalen Geräten beizukommen. Bedenken wir an dieser Stelle, daß dies der Hauptgrund dafür ist, daß Albewin zum Vasall gemacht wird, denn als solcher ist er zur Hilfe verpflichtet, ist er Leibeigener und Teil Garels. Damit ist sein Handeln nie Konkurrenz, sondern Dienst. Niemand im Mittelalter käme auf die Idee, in Albewin den Hauptakteur beim Erwerb der Jungfrau zu sehen. Nein, unserem Helden bleibt genug zu tun, die Zwerge haben ihm noch einen großen Brocken übriggelassen, obwohl sie zweifelsohne in der Lage gewesen wären, Vulgan seinen eigenen Schild zu zeigen. Das hätte aber Garel total den Spaß verdorben, dann hätte er nichts tun können, um Laudamie von seiner Tüchtigkeit zu überzeugen und sie durch den Kampf zu erwerben. Braver Albewin, aber wahrscheinlich kennt er sich mit Romanen aus, sind ja gelehrte Jungs, die Zwerge. Sie sehen, wie untechnisch es hier zugeht, die Waffe selbst wird lediglich versteckt, ist sozusagen außer Betrieb, alles ist bereit für Garels Auftritt. Obwohl Vulgan von einer undurchdringlichen Fischhaut umgeben ist, findet unser Held nach mörderischem Kampf, in dem ihm nur der Gedanke an Laudamie Kraft gibt, die Lücke im Panzer und kehrt als Sieger zurück auf die Burg. Laudamie empfängt den Sieger mit diesen Worten: "ob ez ist alsô ergân, daz der übel Vulgân

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ist tôt, vil lieber herre mîn, sô sult ir gewaltic sîn über guot und über mînen lîp. ich wirt nimmer mannes wîp wan iuwer, ob ir mich habt erlôst. [...] nu gebietet, herre, über mich. swaz ir weit, daz wil auch ich. [GAREL, 8588 ff., 8600 f. Wenn es den Tatsachen entspricht, daß der schreckliche Vulgan tot ist, mein geliebter Herr, dann sollt Ihr über meinen Besitz und mich gebieten. Ich werde niemals die Frau eines Mannes, wenn nicht Eure, da Ihr mich erlöst habt. (...) Nun gebietet, Herr, über mich. Was immer Euer Wille sein mag, der sei auch der meine."] Damit kein Zweifel an der Art des Erwerbes bleibt, folgt noch diese Aussage: "ir habt mich und mîn laut erstriten; dâ mit schaffet, swaz ir welt." [GAREL, 8667 f. "Ihr habt mich und mein Reich erfochten; verfahrt damit, wie immer es Euch beliebt."] Diese Bekenntnisse genügen vollauf für eine Klärung der Gesamtsituation. Es wird uns in dieser Situation nicht im mindesten anrüchig erscheinen, daß Garel dieses Angebot einmal nicht ausschlägt. Der evidenteste Unterschied zu den vorausgegangenen Angeboten besteht darin, daß Laudamie nicht so nebenbei abfällt, wenn man einen Gegner vom Ross holt. Dieser Kampf war ernster. Vor allem aber ist es die Dame selbst, die die Alternative zwischen AS und IAS bietet, die nicht einfach automatisch attribuiert wird, sondern die sich selbst zum erkämpften Objekt erklärt. Damit aber auch keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Erwerbs bleiben, klärte Garel die Dame zuvor selbst über die Hilfestellung Albewins auf. Noch ist unser Held unschlüssig, ob er das Angebot Laudamies annehmen kann, er läßt sich von Albewin beraten, und der empfiehlt ihm zuzupacken. Nun kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, Garel ist einverstanden, und es heißt lapidar: Gârel, der küene degen balt, sich der meide underwant. ir lîp, ir Hute und ir lant gap si dem degen ze lône. [GAREL, 9043 ff. Garel, der tapfere Held, nahm sich der Jungfrau an. Sie gab dem Helden sich, ihre Leute und ihr Land zum Lohn.]

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Das Problem des aktantiellen Erwerbs ist wacker entschärft, und seien Sie unbesorgt, Garel hat sein eigentliches Ziel, die Hilfe für Artus, nicht einen Moment aus den Augen verloren, nicht der Erwerb von Frau und Land ist der Ziel- und Endpunkt von Garels âventiure-Fahrt, sondern die Ehrenrettung des Artushofes. Jetzt werden sich natürlich einige Leser fragen, was unser Ritter hier mit dem Massenvernichtungsmittel unternimmt. Ach, er ist aber auch nicht der Hellsten einer, beziehungsweise darf er das nicht sein. Also, ich gestehe hier die Grenzen meines Vorstellungsvermögens, aber es hat doch sehr den Anschein, als wäre Verstand im Mittelalter eine enorme Bürde für einen Ritter gewesen. Daher gibt der PLEIER auch hier dem Intellekt zwei kurze Beine und den Namen Albewin, welcher rät, das Haupt mit Blei zu umgießen und ins Meer zu werfen, wo es am tiefsten ist, damit nie wieder ein Unhold Unfug damit treiben kann. Die Frage, ob man nicht Ekunaver damit besiegen könne, stellt sich Garel überhaupt nicht, woraus wir ersehen können, daß es bei gleichem Resultat doch eine Menge ausmachen kann, ob der eine Ritter reflektiert, der andere lediglich treudoof ist. Unser Held aber ist schlicht Ritter, sonst nichts, er kennt nur Kampf und Erwerb, und er sucht auch nur den Kampf. Dieser Ritter vom alten Schlage würde sein eigenes Handwerk ad absurdum führen, wenn er industrielle Massenver-nichtungsmittel erkennen und akzeptieren würde. Kurz, die Frage nach Sinn oder Unsinn des ritterlichen Kampfes darf sich hier nicht stellen, denn hier wie vor dem Daniel gibt sich das Rittertum seinen Sinn ausschließlich durch die Rittertat selbst. Wenn das Rittertum sich aber nur durch sich selbst definieren und beweisen kann, ist jede Infragestellung von einem Außenstandpunkt, von einer Position also, von der aus die einzige ritterliche Beweisführung, der Zweikampf, als überflüssige und unrationelle Beschäftigungsform erscheinen könnte, von der gleichen verderblichen Wirkung wie die Lösung auf das Rätsel der Sphinx. Darin aber liegt die Ursache für die sonst niemals aufkeimende Reflexionsfähigkeit unserer Helden, die von WOLFRAM so grandios entlarvt wurde. Der gesamte Denk- und Handlungshorizont aller Ritter besteht aus dem Surreptions-schema und dem Aktantenschema. Ihr Lernprozeß hingegen führt sie zum Figu-ralschema, zu höheren Werten, und ihre einzige Leistung dazu ist das IAS. Aber nicht einmal dieses Indirekte Aktantenschema wird bewußt eingesetzt. Seine Wirkung entdeckt sich dem unbewußt richtig handelnden Ritter allenfalls am Ende des Romans, zum gleichen Zeitpunkt mithin, wie uns selbst. Ich habe wohlüberlegt allenfalls gesagt, denn das Geheimnis um die Wirkungsweise des IAS wird weder von den Autoren, geschweige von den Protagonisten jemals verraten. Nicht einmal Gawein ist, wie wir aus dem Iwein wissen, über das Rezept informiert, dessen Symbol er selbst ist. Dieses mangelnde Wissen hat jedoch seinen guten Grund. Wäre die Funktion des IAS jemals bei den Rittern als bekannt vorauszusetzen, würden sie es jemals bewußt als Mittel zum Zweck einsetzen, dann wäre es im gleichen Moment in seiner Funkti-

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on zerstört und könnte nicht mehr einen ideellen Wert repräsentieren, sondern nur noch einen genauso praktischen wie das Aktantenschema. Erlauben Sie mir, geneigter Leser, eine kleine Abschweifung. Sicher wird es manchen interessieren, ob denn jemals die Idee des Indirekten Aktantensche-mas irgendwo etwas deutlicher gemacht wurde, ob es nicht irgendeine Geschichte gibt, die sich nur mit dieser Idee beschäftigt, geradezu ihren Ursprung behandelt. Recht haben Sie mit dieser Frage, es gibt sie, und es ist gewissermaßen nur natürlich, daß diese Geschichte aus einer Zeit stammen muß, in der die Idee des Rittertums wie des IAS gleichermaßen degeneriert ist. Es trifft sich gut, daß wir damit kurz in die Epoche CHAUCERs Einblick nehmen können, in die Zeit des Hundertjährigen Krieges, in die Zeit, wo das Rittertum sich spätestens in der Schlacht von Crécy als längst überholt erwies. Interessierten kann ich nur das ungemein sachkundige und spannende Buch Der ferne Spiegel von Barbara TUCHMAN empfehlen. In dieser Zeit also entstand eine Geschichte, die nur vom IAS handelt, und wie könnte es anders sein, natürlich handelt sie auch nur von unserem altbekannten und immer jungen Sir Gawain. Es ist die bereits erwähnte Geschichte von Sir Gawain and the Green Knight. Sie baut eine Episode aus, die bereits in Diu Crône Erwähnung findet, und verwendet sie, um darzustellen, wie es überhaupt dazu kam, daß Gawein zum Symbol des IAS wurde. Diese Geschichte zeigt paradigmatisch, wie sich der enge Handlungshorizont des AS gegen einen Ritter, der es blindlings anwendet, wenden kann. Ein grüner Ritter erscheint am Artushof und fordert König Artus auf, ihm mit einer Streitaxt den Kopf abzuschlagen. Doch der, der es wagt, müsse selbst in einem Jahr ihm seinen Kopf hinhalten. Das klingt unmöglich, daher drängelt sich Gawein vor und schlägt das Haupt ab. Peinlich für ihn, aber wahr, der Ritter nimmt sein Haupt und setzt es wieder auf. Nun ist Gawein geliefert, denn diesen Trick beherrscht er nicht. Doch der grüne Ritter zeigt ihm und uns etwas anderes, etwas Bedeutenderes. Um was es sich handelt, dürften die aufmerksamen Leser sich denken können, den übrigen aber sei wie den ersteren die Lektüre dieser entzückenden Geschichte ans Herz gelegt, sie ist mit einer guten Übersetzung bei RUB erschienen und kostet nicht viel mehr als zehn Mark. Wer jetzt nichts anderes kennt als das Aktantenschema, wer nur den normalen platten Horizont eines Ritters hat, der lebt jetzt in ständiger Angst. Wer den normalen Horizont eines Germanistikprofessors hat, der kann sich auch nur wundern, daß ich meinen Kopf wieder aufgesetzt habe, den sie mir dummerweise abgeschlagen haben. Doch nun ist die Reihe ja an mir, woll'n doch mal sehen, wer den Kopf einzieht! Zurück zu Garel, zurück zu seiner eigentlichen Aufgabe, die er natürlich nicht vergessen hat, denn sicherlich darf diese Geschichte nicht mit einer erfolgreichen Attribution enden, und genau deshalb war dies auch nicht das erklärte Ziel unseres Helden. Indem hier aber das Wichtigste scheinbar zur Nebensache wird, keinen Endpunkt der Geschichte darstellt, liegt hier auch nicht das Sinngewicht des ritterlichen

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Handelns. Und weil Garels Weg nicht mit einem aktantiellen Erwerb endet, kann naturgemäß der Gedanke an eine KRISE auch gar nicht aufkommen. Erinnern wir uns nur an die Mühe, die WIRNT hatte, um den Erwerb Laries durch Wigalois zu legitimieren, denn krisenloser Idealritter hin, krisenloser Idealritter her, ohne Aktantenschema läßt sich nun mal keine Frau gewinnen. Aus diesem Grund wurden immer einige IAS vorgeschaltet, die sozusagen eine Vorausentschuldigung waren. Und dennoch kommt es im Wigalois zum erneuten Aufbruch des Helden, der ein Unrecht ausbügeln soll. Und damit jeder erkennen kann, daß Wigalois mit dem letzten AS nichts Unrechtes getan hat, ist es sein Vater Gawein, der den Bösewicht besiegt. All diese Winkelzüge sind aber dann nicht notwendig, wenn es noch ein anderes Ziel als den Erwerb gibt, wenn es die Möglichkeit für den Helden gibt, zu beweisen, daß er immer noch selbstlos und ohne Hoffnung auf eben Gewinn handeln kann. Dies tut Garel, ohne zu zögern, als die Zeit des Pfingstfestes anbricht, der Termin, da Ekunaver gegen Artus ziehen wollte. Die angeworbenen Hilfstruppen der Freunde treffen sich mit Garel, und auf geht's. Wir werden wie üblich die Schönheiten des Werkes, die langen Schlachtschilderungen, überspringen und lediglich schauen, was uns an den Daniel erinnert und was der PLEIER daraus gemacht hat, um seinen Roman bruchlos zu verwirklichen. Der Bote Ekunavers, der Riese Malseron, ist ja ein überaus höfischer Mann, auch er bewacht den Zugang zu Ekunavers Reich, er wird aber lediglich besiegt und zum Vasallen gemacht. Hier gelten die gleichen Gesetze wie hinsichtlich Albewin; wer vom Durchschnitt abweicht, wird kein Freund, sondern Untertan. Wenn wir an die Episode mit dem Riesenvater im Daniel zurückdenken, erkennen wir hier den ritterlichen Kampf als einzig funktionierendes Überzeugungsmittel wieder. Malseron und seine Verwandten kündigen Ekunaver die Treue und beschließen darauf, nicht in die Kämpfe einzugreifen. Auch dies ist wieder ein nötiger Schachzug des PLEIER: Das Töten der Riesen war ausgeschlossen, der Gegner mit allen seinen Untertanen und Vasallen ist höfisch und nicht anmaßend. Er soll auch nicht getötet, sondern eines Besseren belehrt werden. Wenn die Riesen nicht getötet, sondern unterworfen werden, wohin mit ihnen? Würden sie nun auf seiten Garels kämpfen, könnte der Eindruck entstehen, der Sieg wäre zu leicht errungen, ginge vielleicht zum Großteil auf das Konto der Riesen. Also halten sie sich heraus, übrig bleiben ausschließlich normale Gegner mit Konfektionsgröße. Aber halt, da erzählte Malseron noch von einem seltsamen erzenen Löwen, der in einer Furt steht: "en mitten furte stêt ein lewe, der gint wît mit sîner kewe. dem stecket ze aller stunde ein banier in dem munde und ist ûz erz gegozzen dar

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mit listen, des sult ir nemen war. swen des gelüstet und gezimt, daz er die baniere nimt dem lewen ûz dem munde, sô kumt im an der stunde ûz dem halse ein solich dôz, der ist sô michel und so grôz, daz man in hoert wol vaste breit, herre, daz sî iu geseit: swer dâ bî ist nâhen, daz muoz vil balde gâhen dô von, oder er hât den lîp verlorn von dem dôze. degen ûz erkorn, dâ vor behüetet iwer her, daz ir iht sterbet âne wer. [GAREL, 13619 ff. "Mitten in der Furt steht ein Löwe, der seinen Rachen weit aufgesperrt hat. Zu jeder Zeit steckt ihm ein Banner im Maul und er ist mit großem Sachverstand aus Erz gegossen. Hütet euch davor. Wer immer meint, dem Löwen das Banner aus dem Maul zu ziehen, der löst damit in seiner Kehle ein Tosen aus, so laut, daß es weit und breit zu hören ist. Wer sich in der Nähe befindet, muß sofort davonlaufen oder von dem Getöse sterben. Einzigartiger Held, schützt Euer Heer davor, daß niemand von ihnen kampflos sterben muß."] Nun weiß der Riese selbstverständlich keinen Rat, wie diesem Löwen beizukommen wäre, und nebenbei, wir dürfen vollkommen sicher sein, daß Garel diese Waffe nicht benutzen wird. Er warnt daher die Vorhut, Eskalibon reitet schlicht und einfach hin, packt das Banner, stößt es der Figur tief in den Schlund, wo es abbricht. Jetzt kann es keinen Schaden mehr anrichten, und beide Heere können sich auf höchst ritterliche Weise gegenseitig abschlachten. Wieder keimt nur das Gefühl auf, all die Ritter wollten sich in keinem Fall ihr Spiel verderben lassen. Und tatsächlich verwandelt der PLEIER den HOMO FABER des STRICKER in einen HOMO LUDENS. Gerade die unübersehbaren Versuche, alles das zu eliminieren, was den Charakter des fair play stören könnte, verstärken den Eindruck, daß das Rittertum seinen ursprünglichen Sinn verloren hat und nur noch als das weiterexistiert, was sich bis heute unter der Bezeichnung SPORT gehalten hat. Ironie der Geschichte oder nicht, es ist von entlarvender Bedeutsamkeit, wie heutzutage der Sport, den ich als reinen Rückschritt vom Gebrauch des Kopfes ä la Daniel zum geregelten Gebrauch der Muskulatur á la Garel ansehen möchte, den Selbstsinn des Sports dadurch höhnt, daß all jene technischen Mittelchen zur Anwendung kommen, die im Garel so verpönt waren. Das hat nichts mit der Intelligenz

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eines Daniel zu tun, der wäre bestimmt ein genauso radikaler Gegner des Sports gewesen wie Winston Churchill. Deutlich aber ist allemal die Verwandtschaft zwischen dem IAS und dem Sport. Bedenken Sie bitte, daß Boris Becker, wenn er Iwan Lendl schlägt, das Preisgeld nicht etwa vom Unterlegenen erhält, geschweige, daß dessen Lebensgefährtin in seinen Besitz überginge. Überspringen wir dieses mittelalterliche Rugby, und stellen wir lediglich die Eigenleistung des Mannschaftskapitäns Garel heraus, der die Partie durch die Gefangennahme Ekunavers entscheidet: Alsus vienc er den werden man und fuort in mit gewalte dan einhalp ûz dem strîte. dô er körn an die wîte, des werden küneges an der stat er zwelf ritter hüeten bat. [GAREL, 15669 ff. Auf diese Weise fing unser Held den edlen Mann und drängte ihn seitlich aus dem Getümmel. Als er auf offenes Gelände kam, bat er zwölf Ritter, hier den edlen König zu beaufsichtigen.] Danach dauert es keine 75 Verse mehr, und es heißt: Gârel ervaht al dâ den sic. [GAREL 15750 . Garel erfocht da insgesamt den Sieg.] Ekunaver muß klein beigeben, die Ehre von König Artus ist gerettet, ohne daß dieser sie sich aktantiell zurückerwerben mußte. Stattdessen erkämpfte Garel sie an seiner Statt, erwarb somit nichts für sich, sondern für einen anderen, weshalb hierin unschwer ein IAS zu erkennen sein dürfte. Da diese abschließende Großtat Garels für ihn sprechen soll, darf er natürlich keinen Boten zu Artus schicken, der die frohe Kunde vom Sieg Garels verbreitet. Es muß gewissermaßen zu Mißverständnissen kommen, damit das Verstehen der Großtat auf jeden Fall ohne deutliche und peinliche Hinweise ablaufen kann. Garel zieht mit der gesamten Heeresmacht zu Artus. Vorausreitend trifft er auf einen Artusritter, und schon fliegt wieder dieser verdammte Indianer vom Pferd. Damit ist für uns deutlich, daß Garel seinen aktantiellen Erwerb hinter sich hat und nie wieder in dieser Form handehl wird. Unser Held entwaffnet Keie und schickt ihn mit folgenden Worten zurück zu Artus: "dem sagt vil reht, ich siz der man, der iu daz ors an gewan."

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[GAREL, 18281 f. "Berichtet ihm wahrheitsgetreu, ich bin derjenige, der Euch das Ross abgerungen hat."] Das ist nun keineswegs eine plumpe Umformulierung dessen, was Keie anfangs des Daniel dem Artushof verkündete. Für die Mitglieder der Artusrunde ist dieser Satz nämlich wieder überaus informativ. Ich übersetze ihn jetzt einmal seinem gesamten Aussagegehalt nach: Der Mann, der wie alle anderen Ritter Herrn Keie vom Pferd geholt hat, hat seinen aktantiellen Erwerb bereits hinter sich, er will nichts mehr erwerben und stellt somit keine Gefahr für den Hof dar. Das beweist einmal mehr die Bedeutung Keies als eine Art aktantielles Frühwarnsystem. Der Sieg über ihn hat einen Symbolgehalt, einen Aussagewert, der unabhängig von der Identität eines Ritters dessen Absichten offenbart. Daher ist es konsequenterweise Gawein vorbehalten, am Wappen Garel zu erkennen und damit dessen Idealität zu unterstreichen. Es findet abschließend ein großes Fest statt, Artus vergibt König Ekunaver, und Garel kann schließlich die Heimreise antreten. Ein Aspekt verdient in meinen Augen noch Beachtung, denn auf der Heimreise stiftet Garel allerlei Ehebündnisse zwischen seinen Freunden und Helfern auf der einen, und befreiten Damen auf der anderen Seite. Besonders auffällig ist meines Erachtens die Tatsache, daß einer der wichtigsten Bundesgenossen Garels, Eskalibon, leer ausgeht. Wäre dies den Gelehrten überhaupt irgendwann einmal aufgefallen, so wäre ihnen angesichts ihrer Inkompetenz hinsichtlich der mittelalterlichen Romanstruktur selbstverständlich nichts anderes eingefallen, als die Tatsache, daß der ja seine Dame mit seinem Eigenlob beleidigt hatte. Das ist genauso selbstverständlich der gängige Quatsch und nur deshalb einigermaßen verzeihlich, weil es ab und zu doch ganz erheiternd ist, immer im voraus zu wissen, was genau ein Wissenschaftler ganz bestimmt völlig falsch deuten wird. Die Lösung liegt auf der Hand, wenn wir zudem erfahren, daß auch Gerhart, der zehn Jahre um Sabine gekämpft hatte, leer ausgeht. Beide Ritter haben nämlich bereits einen Fehlversuch hinter sich. Würde nun z.B. Klaretschanze beschließen, Eskalibon aufgrund seiner Taten in der Schlacht ihre Huld zu gewähren, dann läge hier automatisch eine zweiteilige abgeschlossene Erwerbshandlung vor und damit etwas, was im höfischen Roman nicht geht, der immer nur den vollständigen Erwerbsweg eines Protagonisten beschreibt. Bei allen anderen Bundesgenossen, die noch keine eigenen Versuche unternommen hatten, eine Frau zu erwerben, ist die durch Garel vermittelte Ehe lediglich Lohn und Auszeichnung, einteilig und daher nicht durch eine Erwerbsstruktur getragen. Wie immer an solchen Stellen bin ich einigermaßen erfreut, daß deutlich sichtbar wird, daß hier keine Dichter am Werk waren, die sich über ihr Tun nicht im klaren waren, wie es die Filologen so gerne

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behaupten, wenn sie wie üblich nichts verstehen. Der PLEIER vergißt nicht für einen Moment die überaus strengen Regeln romanhaften Erzählens, er macht nicht den geringsten Fehler, sondern gibt seinem Publikum darüberhinaus auch noch präzise Hinweise, wie der Roman verstanden werden darf. Verehrter Leser, wir sind am Ende dieser Untersuchung angelangt, und ich würde lügen, wenn ich nicht die heimliche Hoffnung hätte, daß dieses Buch das Ende einer Wissenschaft einläutet, deren einzige Beschäftigung im berufsmäßigen Raten bestand und die so weit gehen durfte, Dichtern nur deshalb mangelndes Können zu unterstellen, weil deren Werke nicht mit ihrer Vorstellung vereinbar waren. Ich denke, besser kann man sich nicht ins Abseits stellen, man sollte sie dort von nun an lassen.

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NACHWORT Geduldiger Leser, wir haben auf den vorangegangenen Seiten dreizehn Romane des Mittelalters kennengelernt. Kennengelernt aber haben wir sie nicht wie eine Großstadt, indem wir jede Gasse und Kneipe besuchten, sondern indem wir die Hauptstraßen und ihre Bedeutung erkannten, die sie für eine Orientierung haben. Wenn Sie diese Infrastruktur der Romane nachvollzogen haben, dann tappen Sie nicht wie die irrenden Ritter und irren Professoren durch finsteren Tann, sondern bemerken die klare Richtung der Geschichten. Dann erkennen Sie die Hinweisschilder, dann verstehen Sie den Sinn dieser Zeichen und landen nicht in Sackgassen. Was Sie jetzt über den höfischen Roman wissen, das reicht allemal für eine Staatsexamensprüfung, und Sie können sogar noch locker ihren Professor durchfallen lassen. Sie werden sich womöglich über meinen teilweise recht gehässigen Stil gewundert haben. Hie und da habe ich bereits durchscheinen lassen, wo die Ursachen dafür liegen. In meinen jungen Jahren habe ich eine Examensarbeit geringeren Umfanges, doch mit der gleichen Theorie und gleichen Inhalten verfaßt. Damit bin ich durch das Examen gefallen, und ich gestehe, ich war damals naiv genug, mich darüber zu wundern. Ich hatte irgendwie an eine wissenschaftliche Redlichkeit geglaubt, die trotz ständiger Frustration doch wenigstens ein Erkenntnisinteresse verinnerlicht haben sollte. Weit gefehlt, ich habe nach langen Studien erkennen müssen, daß es ein wie immer geartetes Erkenntnisinteresse überhaupt nicht gibt. Die Ursachen dafür sind vielgestaltig, die schwerwiegendste aber ist das pseudoelitäre Auswahlverfahren des wissenschaftlichen Nachwuchses. Wehe, da käme Widerspruch auf, die Karriere wäre beendet, der Tenor der innerdisziplinären Zustimmung würde zum heulenden Diskant. Niemand kann sich den Regeln dieser Wissenschaftsmafia entziehen, die Cosa Nostra duldet keine Verräter in ihren Reihen. Dergestalt beherrscht sie einen Markt, auf dem es nur leider nichts zu kaufen gibt, sie hält schlicht das Monopol für unverkäufliches und bedrucktes Toilettenpapier. Dieses Monopol scheint ihr am Herzen zu liegen, denn sie hat einen Abnehmer, der sich verpflichtet hat, ihre Produkte zu subventionieren, den Staat, uns Steuerzahler. Langsam aber reagiert der Staat und entzieht der Geisteswissenschaft Gelder, um sie endlich nutzbringender zu verwenden. Ich finde das köstlich und kann es nicht im geringsten bedauern. Schade finde ich es hingegen, daß hier lediglich der Geldmangel den Geistmangel entlarvt. Da lobe ich mir den neuen Berliner Senat, der aus reiner Einsicht in die Überflüssigkeit der Berliner Akademie deren Tore schließt. Dieses Beispiel sollte Schule machen, denn ich weiß aus intimster Quelle, daß z.B. die Göttinger Akademie mit Millionenbeträgen Schriften von renommiersüchtigen Geisteswissenschaftlern fördert, die kein Schwein freiwillig lesen würde. Es gibt

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lediglich eine Publikation in der gesamten Reihe der Akademieveröffentlichungen, die sich selbst verkaufte, die sich einen Namen machte und nebenbei als Aushängeschild für den sonstigen Unsinn mißbraucht wurde. Es handelt sich um die lesenswerte Untersuchung: Ernst Theodor SEHRT, Der dramatische Auftakt in der elisabethanischen Tragödie, Interpretationen zum englischen Drama der Shakespearezeit. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch - Historische Klasse Nr. 46 . Nur zufällig hat er sich den gleichen Namen gemacht wie ich. Mit alledem könnte in naher Zukunft Schluß sein, wir könnten dem ständig wachsenden akademischen Proletariat noch die Leute hinzufügen, die es zu verantworten haben, daß all jene Studenten nichts Brauchbares gelernt haben. Mit alledem sollte in naher Zukunft aber auch Schluß sein. Es gab in diesem Buch ausreichend Gelegenheit, das Können der Gelehrten kennenzulernen. Machen wir uns klar, daß dies nur ein Bruchteil dessen sein konnte, was tagtäglich angerichtet wird, ein verschwindend geringer noch dazu, und alles das, was ich Ihnen vorgesetzt habe, zeichnet sich überdies noch dadurch aus, wenigstens einigermaßen nachvollziehbar zu sein, denn natürlich wollte ich niemanden vergraulen. Man vergegenwärtige sich also mal, daß der überwiegende Teil dessen, was die Forschung zustande bringt, keinem Menschen, der seine fünf Sinne beisammen hat, zuzumuten ist. Wahrscheinlich ist dies allein der Grund, daß Sie etliches für delektierlich und amüsant halten konnten, und vielleicht hat es Ihnen überhaupt Spaß bereitet, mitzuerleben, wie einigen Hochgelehrten nachgewiesen wurde, daß sie, entgegen ihrer Selbsteinschätzung, hochgradigen Unsinn verbreiten. Wenn es Ihnen also Freude bereitet hat, gut, sei es, doch soll das schon alles gewesen sein? Soll das Lachen eine Ersatzbefriedigung des kleinen Mannes bleiben und nicht wenigstens ein befreiendes Lachen werden? Sollen jene unangreifbar sein und bleiben, nur weil sie über uns stehen, reicht es aus, sich lediglich zu ärgern und den Versuch zu unternehmen, auch sie zu ärgern? So wird man sie nicht ärgern können, was kümmern die sich schon darum, sie fühlen sich sicher, denn sie waren so lange unangreifbar, solange sie niemand verstand, solange niemand den Nachweis erbrachte, daß sie Worte um Dinge machen, die es gar nicht gibt. Worte, die man um Dinge macht, die es nicht gibt, solche Worte müssen schlechthin jedem unnachvollziehbar bleiben, und lange war es ihr Schutzwall. Ihre einfache Logik war, daß niemand, der sie nicht versteht, berechtigt sei, sie zu kritisieren und zu verurteilen. Je kruder sie werden, für um so abstrakter und hochgeistiger, lauterer und intelligenter halten sie sich, denn sie sind einsam und unerreichbar in ihren Gehirnknoten. Dabei muß man den Sachverhalt ganz einfach nur von einer anderen Seite sehen, muß man lediglich erkennen, daß der, den man nicht verstehen kann, nicht etwa von Dingen spricht, die zu kompliziert für uns sind, vielmehr sind nur für ihn die Dinge so kompliziert, weil er sie nicht ver-

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steht. Fort, weit weg mit allem Respekt, den wir diesen Geistesgrößen zollten, weil sie sich in fernen Sphären wähnten und undeutbare Verwirrnis von sich gaben, brabbelnde Geistesbeschwörungen nach Medizinmannart, sie sind der Wahrheit nicht näher, nur weil sie fern von uns sind, im Gegenteil. Unergründlich schienen uns ihre Wege, und doch sind sie deshalb nicht die Götter, für die sie sich halten. Unergründlich und unverständlich sind sie und ihre Verlautbarungen, weil sie selbst nichts ergründet haben, und damit gibt es auch keinen Grund, dies länger zu erdulden. Von nun an darf und muß die Devise lauten, wer sich nicht verständlich ausdrücken kann, hat selbst nichts verstanden, alles, was kompliziert dargestellt wird, muß der Sache nach nicht kompliziert sein, ist folglich eine Fehlleistung und ein Irrtum seitens des Darstellenden. Wer selbst von einer Sache nichts versteht, der wird somit seinem Verstand zu Recht nicht vertrauen, hat womöglich auch keinen und wird deshalb immerfort Gewährsmänner zu Rate ziehen. Wer sich auf solche verläßt, vergibt sich die Chance, etwas Neues und Richtiges aufzubauen, der verschwendet seine Zeit bei tradierten Fehlern. Gäbe es Gewährsmänner, die irgendetwas richtig erkannt hätten, so bedürfte es keiner weiteren Beschäftigung mit der Sache selbst, dann wäre die Sache, um die es geht, längst klargestellt, längst geklärt. Die Orientierungslosigkeit der Filologie ist mithin ein Resultat ihrer Irrtumstradition. Hier genau wird anzusetzen sein. Sie haben nun selbst, verehrter Leser, die Möglichkeit, nachzulesen, wie führende Köpfe der Mediävistik über das urteilten, was Sie soeben gelesen haben. Ich selbst kommentiere das nicht. So viel nur sei bemerkt, sie sprechen alle nicht für mich, was mir schmeicheln muß, sie sprechen aber alle für sich, was ihnen schmeicheln soll. Wo wir aber schon mal bei der Kritik sind, kann ich mich nicht zurückhalten, denen, die nun vielleicht dieses Buch kritisieren werden, von vornherein meine Meinung über Literaturkritiker kundzutun. In meinen Augen ersetzen Literaturkritiker das mangelnde Wissen der Literaturwissenschaftler etwas ehrlicher durch mangelnden Geschmack. Wenn wir uns fragen, wo eine Institution wie ein Literaturpapst wohl ihren Ursprung hat, müssen wir unseren Blick weit zurückschweifen lassen in die Zeit, da er noch Dorfpope war. Über das strenge und höchst kenntnisreiche Inquisitionsgericht des Vorgängers dieses unseren Literaturpapstes können wir Näheres im 6. Kapitel des Don Quijote erfahren, denn es handelt: Von der heiteren und gründlichen Untersuchung, welche der Pfarrer und der Barbier in der Bücherei unseres sinnreichen Junkers anstellen, Und just in dem Moment, als etliche Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten, als der berühmte weiße Qualm aufstieg, konnten wir unentschiedenen Literaten uni sono rufen: habemus papam! Da ich mir meine Meinung über Literatur immer selbst

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bilde, habe ich mich der Unfehlbarkeit des Kunstkanonikers ständig entzogen, weil ich aber beim Schreiben ständig RADIO BREMEN II höre, entging mir im Journal am Morgen natürlich nicht seine reife Meinung zum Thema HERZ. Nachdem die physiologischen Aspekte wie Koronarthrombosen und Bypässe abgehandelt waren, sprach also der Literaturkenner, der, sagen wir mal ruhig, eine Woche Zeit hatte, sich auf das Thema vorzubereiten. Wir täten ihm unrecht, wollten wir bei ihm Kenntnisse über das Herzmaere KONRADs VON WÜRZBURG voraussetzen, wir würden zuviel verlangen, trauten wir ihm Wissen zu über den Herzenstausch zwischen Iwein und Laudine beim Abschied, als Vrou Minne dem Dichter HARTMANN VON AUE vorwirft: "dune hâst nicht wâr, Hartman". All dies liegt weit vor der Zeit, da der Pfarrer im Don Quijote die ersten Bücher verbrannte. Erst bei HEINE setzt sein Wissen um Herzen so recht ein, und wahrscheinlich hat er da auch noch das wächserne aus der Wallfahrt nach Kevelaer erwischt. Wenig kenntnisreich aber waren seine Äußerungen zum häufigen Reimpaar HERZ / SCHMERZ. Ich habe es nicht fassen können, daß ein Mann mit diesem Ruf eben diese Spielerei von WIELAND nicht kennt: Das arme Weib verliert vor Wut und Schmerz die Sinne ganz, und - was sie tat, nachdem der Reim euch schon verraten hat, verdrießt mich euch zu sagen; denn, macht nicht, ohne was zu wagen, der dümmste stracks ein witziges Gesicht, und wettet was man will, es folge nun: und sticht sich einen Dolch ins Herz . Wen aber will es wundern, daß das Sommermärchen (Zweiter Teil) mit den Versen fortfährt: Herr Gawin auf dem Rückweg fand nichts bis nach Artus Hof als schönes ebnes Land. Wen will es wundern, daß WIELAND hier eine Episode bearbeitete, die dem Kenner aus Diu Crône bekannt sein müßte, die das gleiche Motiv aufgreift, wie Sir Gawain and the Green Knight, jenes Kopfabschlagen, an dem ich langsam Gefallen finde. So wenig zu Literaturkritikern, so viel zur Literatur. Wenn es darum geht, eklatant zu versagen, entsteht ein Gedränge wie beim Sommerschlußverkauf.

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Vielleicht habe ich bei einigen Lesern das Interesse wecken können, einige der behandelten Romane in Übersetzungen zu lesen. Das wäre für mich die allergrößte Auszeichnung, warnen muß ich aber nochmals eindringlich vor der Übersetzung jenes Einäugigen von Campitello, denn nicht zuletzt sein Nachwort gibt Aufschluß darüber, wer sein geistiger Vater, respektive sein Partner war, als es darum ging, dem Heiligen Martin einen frommen Wunsch anzutragen. Abschließend möchte ich mich in tiefer Demut vor HARTMANN VON AUE und WOLFRAM VON ESCHENBACH verneigen. Sie waren grandiose Dichter, und es ist nicht nur so, daß sie über allen Vergleichen stehen, es trifft vielmehr den Kern, daß ohne sie Vergleichbares gar nicht denkbar wäre. Ich verneige mich deshalb vor ihnen, weil ich fürchte, ihnen zu nah gekommen zu sein, weil ich unentschlossen bin, ob sie es gewollt haben, daß man das Geheimnis um ihre Romane lüftet, das sie so geschickt verborgen haben. Es liegt bei Ihnen, werter Leser, inwieweit Sie Ihr Wissen um diese wunderbaren Kunstwerke des Mittelalters zu pietätvolleren Zwecken verwenden. Helfen Sie mit, nach der Enthüllung der Romane dieselben mit warmem Verständnis zu umgeben. Geben Sie diesen Werken die ihnen gebührende Ehre, verschlingen auch Sie sie

vnd es wird dich im Bauch nicht krimmen / Vnd in deinem Munde wirds süsse sein wie Honig.

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GERMANISTISCHES SEMINAR DER RHEINISCHEN FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT ●



Prof. Dr. Christoh Cormeau

Germanistisches Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität 53 Bonn Am Hof 14

Herrn Michael Sehrt Arndtstr. lo 34 Göttingen ●

5 3 B O N N , den 12. Nov. Am Hof 14, Telefon 73 / 0 7881



Sehr geehrter Herr Sehrt besten Dank für Ihren Brief mit den offenen Schilderungen zur Vorgeschichte, die mir die Intention Ihrer Anfrage klären. Ich habe nun Ihre Arbeit inzwischen gelesen, die entscheidenden Teile genau, einzelne Interpretationen mehr diagonal. Ich bedauere nun wirklich und nach Ihrem sympathischen Brief umso mehr, daß meine Antwort Ihnen nicht die Bestätigung geben kann, die Sie sich erhoffen. Meine Kritik geht in eine ähnliche Richtung wie die von Herrn Haug, ich will aber versuchen, Ihnen die grundlegenden Einwände deutlicher zu machen. Sie verstehen es ohne Zweifel, Strukturen in Texten zu erkennen, Inhalte auf zugrundeliegende Konstellationen zu reduzieren - manches in den Interpretationen ist gut erkannt und auf den Punkt gebracht -, aber es fehlt Ihnen an theoretischer Basis für die Handhabung dieser Strukturen. Sie setzen die Strukturen als abstrahierende Erkenntnis zu direkt und unterschiedslos mit den Romanen selbst gleich und reflektieren zu wenig den hermeneutischen Eingriff, aufgrund dessen Sie Strukturen erhalten. Die Folge ist, daß Sie von den Romanen zu Strukturen, von denen zur Entwicklung von Strukturen zu kommen meinen, die Sie wieder als Geschichte der Gattung deuten wollen. In diesem zu direkten Ebenenwechsel versäumen Sie vor allem eine tragfähige theoretische Grund- 2 -

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legung. Wenn Ihre Anmerkungen keinen falschen Anschein erwecken, 1

haben Sie Greimas Thesen ausschließlich oder vorwiegend in Warnings Zusammenfassung rezipiert. Damit fehlt Ihnen Wichtiges an Voraussetzungen zum Verständnis, vor allem, daß Greimas versucht Propps Märchenfunktionen zu verallgemeinern (und damit scheitert). Die Attribuierung eines Objektaktanten funktioniert strikt wörtlich noch bei einem magischen Märchenobjekt (das freilich auch andere Dimensionen hat), wenn Sie den 'Erwerb eines Objekts' auf die Gewinnung einer Frau im Roman anwenden, wird der Begriff zur Metapher. Als Metapher ist er noch brauchbar, wenn man für das damit Gemeinte anderwärts einen festen Punkt findet, wie das Warning versucht hat. Weil Sie sich aber hier nicht Klarheit in der Theorie verschafft haben, ist Ihnen der Metapherncharakter des Begriffs völlig entgangen. Da der unmittelbar bei der Anwendung auf die Romane schon unabdingbar ist, ist Ihre Unterscheidung von AS und IAS völlig hinfällig. Aus dem Grund haben Sie auch Warnings Ausführungen gründlich mißverstanden - letztlich kommen Sie zu einer kaum modifizierten Bestimmung von Heterogenität ["wobei mir Zweifel bleiben, was Sie darunter verstehen] ; den entscheidenden Schritt von Warning, daß mit dem Erzähler eine neue Instanz der Sinndiskussion hereinkommt, haben Sie völlig unbeachtet gelassen. Anders ausgedrückt: Weil Sie sich zu wenig um die Theorie kümmerten, kommt über Warning Greimas herein und mit diesem die speziellen Implikationen von Propp, und diese nicht reflektierten Vorgaben sind es, die Ihre Analyse verderben und ihnen einen Fortschritt in Unterscheidungen vorspiegeln, die keine sind. Das Hantieren mit Strukturen braucht eine adäquate theoretische Basis, sonst ist es unverbindlich und eklektisch. Noch ein paar Einzelglossen, die das Gesagte vielleicht illustrieren: S. 48 wenn Parzivals Rittertum widerlegt wird, wird nicht ein Schema, sondern eine Wertordnung widerlegt. S. 55: einfache Umkehrung des Krisenromans - was macht das für einen Sinn? S. lo: Was Sie Surreptionsschema nennen, ist als Brautwerbungsschema längst diskutiert und präziser beschrieben. - 3 -

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Sie übersehen (S. 12), dass durch das Weggeben einer Tochter eine Disproportion entsteht; das Brautwerbungsschema impliziert immer einen grundsätzlichen Positionsunterschied zwischen den ’Subjektaktanten’ Vater – Freier. Hier ist die Symmetrie von sozialen Tauschbeziehungen in der Verwandtschaft der adäquate Bezugshorizont. S. 7: Die Entscheidung im ’Willehalm’ ist nicht endgültig, wie sowohl die franz. Willehalms-Tradition als auch der Wolfram-Fortsetzer dokumentieren. Doch will ich hier abbrechen, die Einzelheiten sollen Ihnen nur zeigen, daß an manchen Stellen eine kritische Nachfrage angezeigt ist, ohne daß ich das detailliert hier ausbreiten kann. Wichtig ist der Hauptpunkt meiner Kritik, daß das Defizit an strukturalistischer Theorie das Niveau Ihrer Arbeit beeinträchtigt hat und deshalb dem, was Sie als das Gedankenergebnis betrachten, so ziemlich der Boden fehlt. Ich hoffe sehr, meine Kritik klingt jetzt nicht zu schrill in Ihren Ohren, doch schien mir der Versuch, Ihnen Klarheit über meine Einschätzung der Arbeit zu vermitteln, der bessere Dienst für Sie als freundlich-verbrämendes Dranvorbeireden. Ich wünsche, dass Ihnen mein Urteil trotz seiner Negativität doch in irgendeiner Form zu einem positiven Anstoß wird. Mit besten Grüßen

Herr Warning ist gegenwärtig in den USA, von ihm dürften Sie So rasch keine Antwort erwarten.

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INSTITUT FÜR LITERATURWISSENSCHAFT

UNIVERSITÄT STUTTGART

NEUERE DEUTSCHE LITERATUR I

Prof. Dr. Heinz Schlaffer Keplerstraße 17 7000 Stuttgart 1 Telefon /07 11) 20 – 73/8 15

Neuere Deutsche Literatur I, Postfach 560, 7000 Stuttgart 1

Herrn Michael Sehrt Arndtstr. 10

16.12.1986

34 Göttingen

Sehr geehrter Herr Sehrt, ich habe mir Ihre Arbeit angesehen. Da ich die Einwände der von Ihnen genannten Professoren nicht kenne, kann ich nur mein eigenes Urteil andeuten. Für eine Hausarbeit scheint es mir verdienstvoll, daß sie überhaupt eine theoretische Durchdringung ihres Gegenstandes versucht. .Eine relativ breite Kenntnis mittelalterlicher Literatur ist ebenfalls ein Vorteil. Auf 80 Seiten kann dabei freilich nur ein Umriß erscheinen, nicht jedoch eine strenge Systembildung. Einige Bedenken gegenüber Ihrem Vorgehen möchte ich nicht verschweigen: 1. Für 11 Romane bieten Sie 4 Schemata an. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit gering, daß Sie wirklich ein vollständiges Verzeichnis der möglichen Typen gefunden haben. 2. Sie erstellen lediglich ein Schema von Handlungen, führen jedoch nicht bis zu den etwa von Lugowski beschriebenen Formprozessen. Form als Bedeutung wird bei Ihnen kaum sichtbar. 3. Eine Schematisierung von Inhalten und Personenbewertungen bleibt letztlich auf einer stofflichen Oberfläche, die nicht eine wirkliche Theoretisierung einleiten kann. Ich hoffe, daß ich mit diesen Bemerkungen Ihr Selbstbewußtsein nicht weiter verletzt habe. Mit freundlichen Grüßen Ihr

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Institut für RomanIsche Philologie der Universität München

D-8000 München Ludwigstraße 25

Prof. Dr. R. Warning

Tel. (0 89) 21 80 – 22 95

19. Dezember 1986

Herrn Michael Sehrt Arndstr. 1o 34oo Göttingen

Sehr geehrter Herr Sehrt, unmittelbar vor der Abreise zu einer Gastprofessur in die USA häufen sich hiesige Verpflichtungen derart, dass ich mich in Ihre Arbeit nicht mehr habe vertiefen können. Was ich in dem von Ihnen benannten Exkurs angelesen habe, hat mich nicht recht überzeugt, und zwar schon allein auf Grund einer äusserst reduktiven Darstellungsweise, mit der man so komplexen Fragestellungen m.E. einfach nicht gerecht werden kann. Das scheint mir auch für die Arbeit insgesamt zu gelten: auf welchem Abstraktionsniveau müssen sich Strukturanalysen bewegen, wenn man auf knapp 80 Seiten eine solche Fülle von Texten behandelt, wie Sie es tun? Ich glaube daher, dass meine Schwierigkeiten, Ihre Argumentation im einzelnen nachzuvollziehen und dazu Stellung zu nehmen, auch dann anhalten würden, wenn ich mehr Zeit hätte. Mit freundlichen Grüssen

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GERMANISTISCHES SEMINAR

6900 HEIDELBERG 1, den

19.2.1987

UNIVERSITÄT HEIDELBERG

Hauptstraße 207-209

Prof. Dr. H. Szklenar

Tel.-Durchwahl 06221754 -



┐ Germanische Seminar • Hauptstraße 207-209 • D-6900 Heidelberg 1

Herrn Michael Sehrt Arndtstr. 10 3400 Göttingen └



Sehr geehrter Herr Sehrt, nach wie vor stark belastet, habe ich Ihre Arbeit mit dem Thema "Überlegungen zur strukturanalytischen Deutung mittelalterlicher deutscher Versromane" - wer mag Ihnen dies Thema für die Hausarbeit im Staatsexamen gestellt haben? - auch jetzt nicht vollständig lesen können; aber darum ging es Ihnen ja auch nicht, sondern vielmehr um Fingerzeige, "wo die Gründe für die allseitige Ablehnung liegen" - wobei ich mich frage, ob Ihnen diese Gründe nicht von den Gutachtern (oder dem Gutachter? Hier in Heidelberg werden Examensarbeiten von zwei Gutachtern beurteilt) genannt und sogar erläutert worden sind. Ich kann hier nicht alles wiederholen, was ich bei der Lektüre mit Bleistift am Rand notiert habe, sondern möchte es zusammenfassen. Niemand wird - sonst wäre das Thema auch nicht so formuliert worden - vernünftigerweise etwas gegen strukturanalytische Untersuchungen haben, diese müssen aber nachvollziehbar und in ihren Ergebnissen plausibel sein. Zur Nachvollziehbarkeit gehört, daß die theoretische Ausgangsposition a) sorgfältig abgesteckt wird - das geht nicht auf anderthalb Seiten und ohne Darstellung dessen, was die Gewährsmänner dazu ausführen - und b) die Forschungslage dargestellt wird - die man nicht wie Seite 5 pauschal abqualifizieren kann ("gängig" - es sind schließlich nicht alle, die sich zu den Formfragen der höfischen Epik geäußert haben, unkritische Deppen, die "Gängiges" kolportieren) und die namentlich in der Diskussion der Frage literarischer Gattungen sehr klar die besondere Problematik der mittelalterlichen Literatur in diesem Felde umrissen hat. Zur Plausibilität gehört, daß man nicht - wie im Falle der 'Ilias' - an dem Werk vorbei argumentiert, - 2 –

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- 2 daß man begrifflich sauber unterscheidet - die Troja-Sage ist eine Sache, und wenn man sie in ihrem Gesamtumfang vergegenwärtigen will, kann man Elemente aus allen möglichen Dichtun– gen zusammenholen, der Vorwurf der 'Ilias' ist eine andere, und wenn ich deren Struktur erkennen will, kann ich mich nur an die 'Ilias' halten. Die Gefahr vieler strukturalistischer Arbeiten ist auch Ihnen zum Verhängnis geworden: Was nach Abstraktion von allem, was gerade den Reiz der Dichtung ausmacht, übrig bleibt, ist so banal, daß von einem Erkenntniswert kaum noch gesprochen verden kann. Das drängte sich mir als Eindruck schon bei den an1 deutenden Bemerkungen zu 'llias und 'Willehalm' auf, das bestätigte sich dann aber in den mageren Ausführungen zu den weiteren behandelten epischen Dichtungen. Ich finde dies bedauerlich, weil andererseits anerkannt werden muß, daß Sie sich immerhin mit einem großen Textcorpus beschäftigt haben, einem Textcorpus obendrein, zu dem auch selten gelesene und besonders schwierige Werke gehören. Das also könnten meiner Ansicht nach wesentliche Gründe dafür gewesen sein, daß Ihre Arbeit auf geringe Gegenliebe gestoßen ist, jedenfalls wären das einige der wesentlichen Gesichtspunkte in meinen Gutachten gewesen, wenn ich eines zu schreiben gehabt hätte. Andererseits hätte ich wahrscheinlich während der Betreuung der Arbeit über ein solches Thema stärker dirigierend eingegriffen, um angreifbare Punkte zu reduzieren . Ich hoffe und wünsche Ihnen, daß Sie die vorstehenden Annerkungen bei künftigen Arbeiten vorsichtiger und sorgfältiger argumentieren lassen, damit Sie zu Ergebnissen gelangen, die Ihnen eine erfreulichere Resonanz gewährleisten, als die jetzige Arbeit Ihrem Brief zufolge gefunden zu haben scheint. Lassen Sie sich jedenfalls durch einen Mißerfolg nicht entmutigen . Mißerfolge gehören zum Leben, und es kommt nur darauf an, daß man aus ihnen lernt. Mit herzlichen Grüßen Ihr

Anlage: Ihre Hausarbeit

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PROF. DR. MAX WEHRLI 8032 ZÜRICH EBELSTR. 27 8.3.87 Herrn Michael Sehrt Arndtstr.lo D-34oo Gbttingen

Sehr geehrter Herr Sehrt, Sie haben mir Ihre Prüfungsarbeit zum mittelalterlichen Versroman zur "kritischen Würdigung" zugesandt.Ich danke Ihnen für das Vertrauen,das Sie mir damit entgegengebracht haben.Dennoch kann ich leider nicht auf Ihre Bitte eintreten und muss Ihnen Ihr Ms.wieder zurückschicken. Ich habe dazu zweierlei Gründe. Zunächst bin ich zur Zeit gesundheitlich nicht in der Lage,zusätzlich zu bestehenden Verpflichtungen weitere Aufgaben zu übernehmen;denn soweit ich sehe,würde Ihre Arbeit eine anspruchsvolle Auseinandersetzung verlangen,die ich mir zur Zeit nicht leisten kann. Zweitens teilen Sie mir nicht mit,in welchem Stadium Ihres Prüfungsverfahrens(bei wem,wozu) Sie meine Meinung wünschen und wen Sie sonst noch angefragt haben.Ich kann nicht gut ins Blaue hinein ein Gutachten verfassen,ohne zu wissen, was damit geschieht. Ich bitte Sie um Ihr Verständnis.Das hindert nicht,dass ich Ihnen einen guten Erfolg Ihrer Arbeit und Ihrer beruflichen Tätogkeit wünsche. Mit freundlichen Grüssen Ihr

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Kurt Ruh Thüringerstr. 22 87 W ü r z b u r g 19.6.87 Sehr geehrter Herr Sehrt, mit Recht erinnern Sie mich an Ihr Manuskript. Es liegt freilich meinerseits kein bloßes Vergessen vor, sondern eine Art Blockade. Mit anderen Worten: Nein Nichteintreten ist von der Sache her bedingt. Die Problematik von Stellungnahmen seitens 'Dritter' auf Bitten hin, kann Ihnen kaum bewußt sein, wohl aber mir, nämlich auf Grund langer Erfahrungen. Eine Geradeaus—Kritik verärgert und führt zu einem oft unerquicklichen Briefwechsel, wohlwollend—freundliche Worte werden gerne gegenüber anderen, herber Urteilenden ins Feld geführt. Wenn ich mich recht erinnere, ist Ihr Fall besonders delikat gelagert, da Ihnen bereits eine Erstbeurteilung nicht verständlich war. Über dies hinaus habe ich auch wirklich keine Zeit, mich mit Arbeiten zu beschäftigen, zu deren Verfassern ich keine Beziehung habe. Es gibt genug Fälle, wo ich nicht anders kann. Wenn ich, anfangs Juli, nach Würzburg zurückkehre, werde ich Ihnen die Arbeit, wie es sich gehört, wiederum zur Verfügung stellen. Ich wünsche Ihnen ein erfolrreiches Studium. Eine Enttäuschung sollte Sie nicht entmutigen. Sie bleibt niemandem erspart. Mit freundlichen Grüßen

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