Metamorphosen Ursula Buchwald Nach einem lausigen Arbeitstag war Bianca wie üblich spät nach Hause gekommen. Ihr Freund befand sich gerade auf Geschäftsreise; so hatte sie ihre gemeinsame Wohnung ganz für sich allein. Sie würde sich gleich einen Tee kochen, in aller Ruhe zu Abend essen, ihre Lieblings-Serie schauen und es sich anschließend mit einem guten Buch im Bett gemütlich machen. Als sie die Post durchsah, fiel ihr ein, dass sie noch diesen Schwangerschaftstest machen wollte. Seit Dienstag lag er unangetastet im Bad. Genau genommen hatte sie ihn im Badezimmerschrank versteckt. Wieso sie ihn versteckt hatte, war ihr selbst schleierhaft. Eigentlich dachte sie, sie sei ein vernünftiger Mensch. Mit heimlichem Stolz konnte sie an einer Hand abzählen, wie oft sie in ihrem bisherigen Leben geweint hatte. Selbst als sie als Fünfjährige sechs Wochen alleine zur Kur an die Nordsee verschickt worden war, hatte sie kein einziges Mal geweint. Die Kinder, die weinten, bekamen von den Schwestern Schokolade. Manche heulten nur um der Schokolade willen. Und bekamen sie auch noch, was Bianca als äußerst ungerecht empfand, schließlich hatte auch sie Heimweh gehabt. Bianca tat nie etwas Unvorhergesehenes. Den B-Test zu verstecken, war ziemlich lächerlich gewesen. Zumal

niemand da war, der ihn hätte sehen können. Mit einem bangen Gefühl im Magen ging sie ins Bad, öffnete die Packung aus der Apotheke und führte den Test korrekt nach Anweisung durch. Kaum dass sich der Streifen rot verfärbte, schoss ihr Puls in die Höhe und sie kam ins Taumeln. Als ob man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Kein Grund gleich durchzudrehen, versuchte sie sich zu beruhigen. Das ist eine rein chemische Reaktion, die nun mal bei einer bestimmten hormonellen Konzentration entsprechend reagiert. Andererseits spürte sie, wie sie sich innerlich dagegen sträubte, dieses Resultat zu akzeptieren, obwohl es so eindeutig war. Denn das war es, was sie letztendlich beunruhigte: Etwas Ungeheuerliches war mit ihr passiert, ohne dass sie die geringste Ahnung hatte. Irgendwelche Hormone schossen seitdem durch ihren Körper und sie konnte es nicht kontrollieren. Was sie noch mehr beunruhigte, war die Frage, wie sie es ihm erklären sollte. Prüfungsangst war nichts dagegen. Beim Frauenarzt erging es ihr nicht besser. Etwas, das aussah wie ein Pantoffeltierchen pulsierte in ihrer Gebärmutter und sie spürte eine seltsame Ergriffenheit! Erst in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie Mutter wurde. Und dass das bedeutete, dass sie ein Kind bekam! Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie gerührt über ihren Bauch streichelte. Oder morgens panisch wurde, wenn er flach war wie eine Flunder. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Ungeduldig fieberte sie weiteren

Untersuchungen entgegen. Sie allein bewiesen, dass sie nicht träumte. Bald war das Pantoffeltierchen so groß wie eine Kaulquappe mit Rückenwirbeln, Armen und Beinen. Überall erzählte sie nun, dass sie schwanger war. Ihr Freund war aschfahl geworden, als sie es ihm gesagt hatte, und für einen Moment sah es so aus, als würde er gleich umkippen. – Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich längst für das Kind entschieden. Seine ersten Bewegungen fühlten sich an wie ein sachtes, inwendiges Streicheln, auch wenn es ein wenig zog. Am liebsten hätte sie los geheult vor Glück. Während ihre Schwangerschaft beständig voran schritt, wurde ihr zunehmend bange bei dem Gedanken, dass ihr bald eine Geburt bevorstand. Die bloße Vorstellung war für sie so abstrakt wie eine Landung auf dem Mond. Ihre Zweifel schienen sich auch auf ihren Körper zu übertragen, der mit heftigen Vorwehen reagierte. Das könnte auch ihre stressige Arbeit verursacht haben, hieß es, sei aber noch wenig erforscht. So fand sie sich voll gepumpt mit Wehen-Hemmern im Krankenhaus wieder. Trotz der Infusionen durfte sie sich neun Wochen lang so gut wie nicht bewegen. Dreimal täglich wurden Untersuchungen durchgeführt, wobei ihr das galoppartige Hämmern des kleinen Herzens immer vertrauter wurde. Auch wenn es sich nicht wie ein Pochen anhörte, sondern eher wie ein rauschendes Klopfen.

Einen Monat vor dem errechneten Geburtstermin wurden die Wehen-Hemmer eingestellt. In der darauf folgenden Nacht platze ihre Fruchtblase. Aus medizinischen Gründen gab es kein Zurück mehr, eine Geburt stand unmittelbar bevor. Doch wie sollte sie so etwas Unvorstellbares bewerkstelligen? Man hätte sie genauso gut auffordern können ein Klavierkonzert zu geben oder gar ein Raumschiff zu steuern. – Während sie im Krankenhaus lag, konnte sie keinen einzigen Vorbereitungskurs besuchen, schon deshalb fühlte sie sich außerstande. Ungeachtet dessen nickten ihr die Hebammen aufmunternd zu. Was blieb ihr anderes übrig? Sie musste sich durchmogeln, wie schon so oft in ihrem Leben, und hoffen, dass sie nicht aufflog! Bianca atmete brav in ihren Bauch hinein, während die Wehen zunehmend heftiger wurden. In immer kürzeren Abständen krampfte sich ihr Unterleib zusammen, sodass es sich anfühlte wie ein Panzer. Gemeinsam mit den Schwestern schrie sie auf `Ah!´, obwohl sie nicht unbedingt hätte schreien müssen, und schon gar nicht auf `Ah!´ Stunden später wartete sie darauf, dass man sie aufforderte zu hecheln. Irgendwo hatte sie gelesen, dass man das in den einschlägigen Kursen übte. Doch dazu kam es nie. Irgendwann hieß es, wenn sie sich danach fühle zu pressen, dann solle sie! Den Hebammen zuliebe täuschte sie es gewissermaßen vor! Und irgendwie schien sie damit durchzukommen.

Nachdem ihr Freund sie Tränen überströmt umarmt hatte, sie küsste und das anschließend bei sämtlichen Hebammen fortsetzte, mit den Worten: »Ganz, ganz toll gemacht!« legten sie Bianca ihren Sohn in die Arme. Er strahlte und leuchtete, als sei er mit einer Glückshaut überzogen. Gleich als sie seine kleinen Hände und Füße berührte, spürte sie sofort, dass alles perfekt war. Mit einem Mal sah sie dieses menschliche Wesen mit seinen unendlich blauen Augen groß und aufmerksam an. Und plötzlich war all ihre Skepsis verschwunden: Sie brauchte dieses Kind nur an sich zu schmiegen, sein Bäuchlein zu küssen und zärtliche, alberne Dinge in sein Öhrchen zu flüstern, schon wurde alles gut. Verwundert hört sie sich seitdem den Lauf der Welt erklären: Dass Mamas und Papas ihre Kinder für immer und ewig lieben, komme, was da wolle; dass Freunde füreinander da seien und die Bösen sowieso keine Chance hätten. Früher war ihre Welt flach und kantig gewesen; nun war sie prall und rund und voller Gefühl! Für Bianca hat seitdem eine neue Zeitrechnung begonnen: Sie war endlich mitten im Leben angekommen.

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