Silke Freitag Jens Richter (Hrsg.)

Mediation – das Praxisbuch Denkmodelle, Methoden­ und Beispiele

WEITERBILDUNG · TRAINING

9.

Übergang vom sachbezogenen zum personbezogenen Identitätskonflikt

1. Verhärtung

2. Debatte Polemik

4. stereotyPen koalitionen 3. taten statt Worte

5. Demaskierung

abgrunD 8. Völlige 7. Vernichtung begrenzte schläge 6. Unbändiger Drohung Hass erPressung Rachedurst Wut Verbitterung Verachtung

Desillusionierung

Entrüstung Zweifel Misstrauen

Ungeduld Verärgerung

Machteingriff Schiedsgericht Schlichtung

Mediation Konfliktmoderation Schlichtung

Führung/Coaching (Interne) Moderation

Abb. 3: Eskalationstreppe

Eskalation: Wie eskalieren Konflik te?

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Glasl (2014) weist jeder Stufe eine spezifische Leitemotion zu, die wir hier weitgehend übernehmen und durch kursive Schrift kennzeichnen. Wobei anzumerken ist, dass es durchaus Personen gibt, die generell oder situativ Stufen überspringen, und Konflikte so sehr schnell eskalieren. Jede Stufe bildet ein meist unausgesprochenes System von kognitiven Vor­ stellungen, sozialen Werthaltungen, Gefühlszuständen und Verhaltenswei­ sen. Es enthält bestimmte Vorstellungen von Verhaltensregeln, deren Einhal­ tung man von der anderen Seite erwarten darf und an die man sich selbst auch hält; beispielsweise: »Verfolge deine sachbezogenen Interessen unnach­ giebig gegenüber der anderen Seite. Bleibe dabei wertschätzend und vermeide jede personbezogene Kritik.« Solche Regeln sind in Werthaltungen verankert; zum Beispiel in Respekt und Wahrhaftigkeit, Gleichheit und Unterschiedlich­ keit, Selbstbestimmung und Bindung, Solidarität und Leistungsanforderung. Dieses System wird von Gefühlszuständen getragen und vorangetrieben, die durch die Kommunikation und die Handlungen der anderen Seite ange­ regt werden und zu ihnen passen  – entsprechend der eher kontrollierten

oder spontanen Ausdruckskultur der betroffenen Konfliktparteien. Zu der oben genannten Verhaltensregel passen beispielsweise Ungeduld und Ver­ ärgerung über die Sturheit der anderen Seite, die gute Argumente nicht ak­ zeptiert. Werthaltungen des Respekts, der Gleichberechtigung und Selbstbe­ stimmung sowie Leistungsanforderungen gegenüber dem anderen könnten den Gefühlsausdruck so steuern, dass beide Konfliktparteien ihre Ungeduld deutlich zum Ausdruck bringen, was kulturell als »normal« gilt, während sie Verärgerung nur mit kleinen Signalen andeuten, weil »Ärger« auf dieser Eskalationsstufe allgemein (noch) nicht akzeptabel ist. Die neun Eskalationsstufen lassen sich in drei Bereiche gliedern, die man plakativ als Win-Win, Win-Lose und Lose-Lose bezeichnen kann. Zur Be­ handlung dieser drei Bereiche sind verschiedene Vermittlungsverfahren ge­ eignet, die wir hier mit Anführungsstrichen hervorheben.

Eskalationsstufen 1 bis 3: Konflikte können (noch) für alle Seiten Gewinn bringen

Denkmodelle

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Die ersten drei Stufen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die Konflikt­ parteien um Kooperation bemühen, also eine Win-Win-Haltung einnehmen. Auf Stufe 1 gehen sie (noch) davon aus, dass beide Seiten von einer Konflikt­ lösung profitieren, obgleich sie bereits beginnen sich zu polarisieren: Beim Verhandeln strittiger Punkte entstehen Verhärtungen von gegensätzlichen Positionen. Gefühle der Verärgerung und Ungeduld kommen hoch. Auf Stufe 2, die Glasl als Debatte und Polemik bezeichnet, werden bereits ausführlich be­ gründete Sachverhalte debattenhaft wiederholt. Dabei greifen die Konflikt­ parteien zur Polemik. Man sucht die schwachen Punkte in der Argumenta­ tion des anderen und betont die Überlegenheit des eigenen Standpunktes. Die Sprache wird schärfer, Misstrauen und Zweifel an der Gutwilligkeit des anderen entstehen. Bleibt dies erfolglos, verlieren die Beteiligten die Hoff­ nung, mit sachlichen Argumenten zu einer Lösung zu kommen. Auf Stufe 3 mit dem einprägsamen Titel Taten statt Worte wird daher nicht mehr viel geredet. Die Kontrahenten stellen einander vor vollendete Tatsachen, was Missverständnisse und Vorurteile fördert. Dies wird als empörend erlebt. Die Leitemotion ist Entrüstung.

Von Heeren und Kornthaler beharren anfangs auf ihren sachbezogenen Standpunkten (Verhärtung), anstatt durch aktives Zuhören zu einem besseren Verständnis davon zu gelangen, welche differenzierten Beweggründe der andere hat. Auf der nächsten Stufe wiederholen sie ihre Argumente, die noch weitgehend sachbezogen sind, schießen nun jedoch auch polemische Spitzen ab (»Das müsste doch jeder vernunftbegabte Mensch akzeptieren«). Beide stellen den anderen gelegentlich vor vollendete Tatsachen: Von Heeren reduziert den Kontakt zu Kornthaler spürbar, und dieser trifft vermehrt Entscheidungen ohne vorherige Absprache. Auf diesen Eskalationsstufen könnten beide mit der Unterstützung ihrer Vorgesetzten wieder zu einer konstruktiven Auseinandersetzung zurückfinden. Jedoch schalten sich die Vorgesetzten viel zu spät ein.

In diesen drei Stufen kann es den Beteiligten durchaus gelingen, die eskalie­ rende Dynamik selbstständig zu beenden und zu einer allseitig akzeptablen Lösung zu kommen. Allerdings sind hier meist »Führung« im Sinne struk­ turierter Gespräche mit Vorgesetzten oder »Coaching« bzw. »Moderation« durch eine (interne) professionelle Kraft gefordert. Dies wird oftmals nicht explizit als Mediation bezeichnet, sondern beispielsweise als Problemlö­ sungsgespräch, Teamentwicklung, Kooperationsförderung. 21

Nun verhalten sich die Beteiligten nach dem Win-Lose-Prinzip, als könne nur noch eine Seite gewinnen. Der Konflikt intensiviert sich: Die Umgangs­ formen werden aggressiver, die Konfliktpunkte weiten sich aus. Es geht nicht mehr bloß um die Sache, sondern auch um die Personen. Es werden weitere Personen einbezogen. Auf Stufe 4 werden negative Stereotypen ge­ pflegt und Koalitionen mit Personen gebildet, die bisher noch nicht involviert waren. Die Kontrahenten versuchen nach dem Motto »Wer nicht für mich spricht, ist gegen mich!« wichtige Personen auf ihre Seite zu ziehen. Dies findet allerdings (noch) nicht öffentlich statt. Man ist voneinander schwer enttäuscht und endgültig desillusioniert. Diese Gefühlslage bringt die Parteien dazu, die Schwelle zu Stufe 5 zu überschreiten. Hier greifen sie zu Demaskierungen der jeweils anderen Par­ tei und bedrohen damit deren Identität: Sie bemühen sich nicht mehr um Gesichtswahrung, sondern greifen das Selbstbild des anderen öffentlich an.

Eskalation: Wie eskalieren Konflik te?

Eskalationsstufen 4 bis 6: Nur einer kann gewinnen

Die gegenseitige Kritik wird moralisch: Die eine Partei behauptet, dass die Gegenseite hinter einer ehrenhaften Fassade geradezu verabscheuungswür­ dige Einstellungen verberge. Die öffentliche Zuschreibung negativer Eigen­ schaften schädigt jetzt massiv die Beziehung. Aus einem Sachkonflikt wird ein Beziehungs- oder Identitätskonflikt. Die Parteien fühlen sich in ihrer Identität und in ihrer Gruppenzugehörigkeit empfindlich bedroht. Wie die andere Seite einen sieht, wird als Verleumdung wahrgenommen. Die Leit­ emotion ist Verachtung. Durch diese Wahrnehmung fühlen sich die Parteien legitimiert, den Kon­ flikt auf die nächste Stufe 6 zu steigern und gezielt Drohung und Erpressung einzusetzen. Da der Gegner aus ihrer Sicht völlig unglaubwürdig ist, können Gespräche und Verhandlungen nichts bringen. Daher glaubt man, die eige­ ne Position nur noch durch machtvolle Forderungen durchsetzen zu können. Dazu gehört der Einsatz verbaler Machtmittel. Bedrohungen erzeugen Gefüh­ le der Verbitterung und ungehemmten Wut, schädigen die Beziehungen noch mehr und verstärken die Furcht vor Identitätsverlust und Ausgrenzung.

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Von Heeren sucht sich Koalitionspartner – vor allem in den höheren Etagen. Kornthaler ist darin nicht so erfolgreich und fühlt sich ausgegrenzt. In einer Mischung aus Furcht und Abscheu beginnt er, von Heeren öffentlich zu kritisieren und persönlich als unglaubwürdig darzustellen, worauf dieser ihn vor seinen Mitarbeitern lächerlich macht und ihn als »hilflosen, verbohrten alten Mann« etikettiert. Schließlich drohen beide damit, nicht mehr zu kooperieren (»Mit dem nicht mehr!«) und jeden Fehler, jede Schwäche des anderen nicht mehr auszubügeln, sondern unnachsichtig zu veröffentlichen.

Wo es aus der Sicht einer oder beider Parteien keine unparteiischen Vorge­ setzten mehr gibt, braucht es Unterstützung von außen in Form von »Medi­ ation«, »Konfliktmoderation« oder gelegentlich auch »Schlichtung«. Schon ab Stufe 3, spätestens aber ab Stufe 4 benötigt die Konfliktbehandlung eine professionelle und zugleich system-externe dritte Kraft.

Eskalationsstufen 7 bis 9: Und koste es, was es wolle! Nun geht es den Konfliktgegnern vor allem um die Schädigung oder Ver­ nichtung der anderen Seite. Die gegenseitigen Bedrohungen auf Stufe 6 wer­ den massiver und führen in den Bereich der Taten, bis hin zu Gewalttätig­

keiten. Jetzt können alle nur noch verlieren (»Lose-Lose«). Auf Stufe 7 sollen begrenzte Schläge die Gegenseite gefügig machen, was in der Regel nicht ge­ lingt. Respekt vor der Würde des anderen geht verloren, dieser soll gezielt gedemütigt werden. Die Schädigung der anderen Seite wird als Erfolg und Gewinn verbucht. Die erlebten Verluste aktivieren den Wunsch nach Rache, es den anderen heimzuzahlen – Gefühle, die die Spirale von Schlag und Gegen­ schlag beschleunigen. Aus Gegnern werden Feinde. Die Eskalationsdynamik der zunehmenden Härte der Schläge überschrei­ tet schließlich die Schwelle, den anderen nur zum Einlenken zu bewegen. Auf Stufe 8 zielt der Schlagabtausch auf die völlige Vernichtung des anderen ab. Die Rachegelüste werden von unbändigem Hass getrieben. Während auf dieser Stufe noch eigene Verluste minimiert werden, fällt auf Stufe 9 auch diese letzte Hürde. Jetzt geht es ohne Rücksicht auf Verluste gemeinsam in den Abgrund. Der Feind muss vernichtet werden, auch wenn man dabei selbst beruflich untergeht.

Bei hoch eskalierten Konflikten der Stufen 7 bis 9 sind die Konfliktparteien meistens nicht zu einer Mediation bereit, und sie ist auch nicht das passen­ de Verfahren. Dafür stellt sie zu hohe Anforderungen an die Kooperation, an das gegenseitige Zuhören und gemeinsame Ausarbeiten von Lösungen. Stattdessen müssen starke Vermittler gelegentlich zum »Machteinsatz« grei­ fen, um die Konfliktparteien zu Verhandlungen zu bewegen, um Entschei­ dungen über Streitthemen zu treffen (»Schiedsgericht«) oder um Lösungen vorzuschlagen, die die Kontrahenten nur unter Inkaufnahme empfindlicher Nachteile ablehnen können (»Schlichtung«). Hilft keines dieser Vermitt­ lungsverfahren, bleibt noch der Rechtsweg.

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Eskalation: Wie eskalieren Konflik te?

Von Heeren gelingt es, Kornthaler aus einigen Verteilern zu streichen, sodass dieser wichtige Informationen nicht erhält. Für eine wichtige Entscheidung des Vorstands bringt er mithilfe eines starken Vorstandsmitglieds überraschend ein Gegenvotum zu einer Vorlage ein, die Kornthaler vorbereitet hat und die auf unzureichenden Informationen beruht. Kornthalers Auftritt wirkt dilettantisch. Nach dieser Bloßstellung schlägt er zurück. Er fordert von Heerens Entlassung wegen Illoyalität und Inkompetenz, worauf dieser mit der Einleitung einer Klage wegen Verleumdung reagiert. Obgleich beiden klar ist, dass sie sich selbst beschädigen, weil ihr Verhalten im Vorstand abgelehnt wird, bekämpfen sie einander weiterhin, sodass sich das Unternehmen von beiden trennen muss.