Pädagogik

Emine Tairi

Mediale Gewalt = Reale Gewalt?

Examensarbeit

Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft

Mediale Gewalt = reale Gewalt?

Examensarbeit im Fach Erziehungswissenschaft im Rahmen der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an der Grund -und Mittelstufe

Emine Tairi 2006

INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG............................................................................................................... 4 2. ZUR BESTIMMUNG DES GEWALTBEGRIFFS......................................................... 7 2.1. Strukturelle Gewalt................................................................................................ 9 2.2. Personale Gewalt................................................................................................ 10 2.3. Physische und psychische Gewalt ...................................................................... 11 2.4. Entstehung von Gewalt ....................................................................................... 11 2.5. Der Gewaltbegriff in medialen Zusammenhängen .............................................. 13 2.6.Zusammenfassung............................................................................................... 15 3. MEDIEN..................................................................................................................... 16 3.1. Definition Medien ................................................................................................ 16 3.2. Die Funktion von Medien .................................................................................... 17 3.3.Fernsehkonsum von Kindern ............................................................................... 20 3.3.1. Der quantitative Fernsehkonsum von Kindern von 3- bis 13-Jahren ............ 20 3.3.2. Der qualitative Fernsehkonsum von Kindern und Jugendlichen ................... 23 3.4. Darstellung von Gewalt im Fernsehern ............................................................... 24 3.5. Motive zum Konsum von Gewalt im Fernsehen .................................................. 27 3.6. Wahrnehmung von Gewalt.................................................................................. 31 3. 7. Zusammenfassung............................................................................................. 34 4. MODELLE ZUR ERKLÄERUNG DER WIRKUNG MEDIALER GEWALTDARSTELLUNGEN ....................................................................................... 36 4.1. Stimulus-orientierte Ansätze ............................................................................... 37 4.1.1. Stimulus-Respons-Ansatz ............................................................................ 37 4.1.2. Theorie der kognitiven Dissonanz ................................................................ 39 4.1.3. Verstärkertheorie (Geißler 1992, 23 ff.) ........................................................ 40 4.2. Rezipienten-orientierte Ansätze .......................................................................... 42 4.2.1.Theorie des Two- Step- Flow ........................................................................ 43 4.2.2. Uses- and- gratification- approach................................................................ 44 4.2.3. Dynamisch- transaktionaler Ansatz .............................................................. 45 4.2.4. Kultivierungshypothese ................................................................................ 47 4.3. Zusammenfassung.............................................................................................. 48 2

5. HABEN GEWALTAKTE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN IHRE URSACHE IN GEWALTDARSTELLUNGEN?..................................................................................... 49 5.1. Beispiele für Nachahmungstaten ........................................................................ 49 5.2. Der Wirkungsbegriff ............................................................................................ 51 5.3. Die klassischen Wirkungsansätze....................................................................... 51 5.3.1. Theorien, die Aggressionsmindernde Wirkungen erklären ........................... 51 5.3.1.1. Katharsisthese ....................................................................................... 51 5.3.1.2. Inhibitionsthese ...................................................................................... 53 5.3.2. Theorien, die Aggressionssteigernde Wirkungen erklären ........................... 53 5.3.2.1. Erregungstheorien ................................................................................. 53 5.3.2.1.1. Frustrations- Aggressions- Theorie ................................................. 53 5.3.2.1.2. Excitation-Transfer-Theorie ............................................................. 54 5.3.3. Lerntheorien ................................................................................................. 55 5.3.3.1. Die sozial-kognitive Lerntheorie ............................................................ 55 5.3.3.2 Habitualisierungstheorie ......................................................................... 58 5.3.3.3. Suggestitionsthese................................................................................. 59 5.3.4. These der Wirkungslosigkeit........................................................................ 61 5.4. Der Stand der Wirkungsforschung ...................................................................... 63 5.4.1. Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit ................................................ 64 5.4.2.Emotionale Effekte ........................................................................................ 64 5.4.2.1. Angst...................................................................................................... 65 5.4.2.2. Gewalt.................................................................................................... 67 5.5.

Zusammenfassung.......................................................................................... 70

6. PÄDAGOGISCHE PRÄVENTIONSMÖGLICHKEITEN ............................................ 72 6.1. Selbstkontrolle und Verantwortung der Medien .................................................. 73 6.2. Medienpädagogische Ansätze ............................................................................ 73 7. MEDIALE GEWALT= REALE GEWALT? ................................................................ 78 Literaturverzeichnis .................................................................................................... 83

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1. EINLEITUNG Am 20. April 1999 betreten der 17-jährige Dylan Klebold und sein 18-jähriger Freund Eric Harris ihr High-School-Gebäude in Littelton, Colorado. Sie sind mit zwei abgesägten Schrotflinten, einer Neun Millimeter - Pistole, einem Karabiner, 30 selbstgebauten Sprengsätzen und einer 10kg-Bombe ausgerüstet. Dabei tragen sie Skimasken und lange schwarze Trenchcoats. Während ihres Amoklaufs töten sie zwölf Schüler und einen Lehrer. Anschließend erschossen die Täter sich selbst. Gasthoven, 12 Februar 2002: Der 19-jährige Michael Weinhold, als Tod verkleidet, bricht in ein Familienhaus ein und ersticht die 12-jährige Vanessa mit mindestens 21 Stichen. Michael ahmte seine Helden ”Billy” nach, den Mörder aus dem Film Scream, dessen Maske er an seine Wand hängen hatte. ,Scream` und ,Halloween` hatte Michael Weinhold mindestens 50-mal gesehen. Die Polizei fand 72 Gewalt-Videofilme in seinem Zimmer, von denen allein 60 aufgrund der besonders hohen Brutalität auf dem Index stehen. Am 26. April 2002 tötete der 19-jährige Robert Steinhäuser, der 2 Monate vor seiner Abiturprüfung von seiner Schule, dem Gutenberg-Gymnasium, wegen Dokumentenfälschung verwiesen worden war, zwölf Lehrerinnen und Lehrer, eine Schulsekretärin, zwei Schülerinnen, einen Polizisten und anschließend sich selbst. “Ich möchte, dass mich einmal alle kennen und ich berühmt bin”, hatte Robert seinen Mitschülern gegenüber `mal erwähnt. Drei (von vielen) schrecklichen Taten - und bei allen wurde schnell in den Medien, der Politik etc. das Spielen von Gewalt-Computerspielen und das Rezipieren von HorrorVideos als Ursache genannt. Denn bei allen Tätern wurden solche gewalttätigen Computerspiele wie DOOM, Quake etc. und ein hohes Maß an ”Blut triefenden” Gewaltfilmen sichergestellt. Doch besteht wirklich ein Ursache-/ Wirkungs-Zusammenhang zwischen den Massenmedien (Computerspiele, Videos, Actionfilme, Zeichentrickfilme etc.) und auftretender Gewalt? Machen Medien Mörder? Welche Auswirkungen hat der Konsum von Massenmedien? Welche Ansätze bietet die Medienpädagogik? 4

Mit diesen Fragestellungen hat sich die Wissenschaft stark befasst und eine große Anzahl von Studien und Theorien publiziert. JO GROEBEL und ULLI GLEICH machten bereits 1993 (S.15) ca. 5000 systematisch erfasste Bücher und Artikel über dieses Thema allein in Deutschland ausfindig. Beliebt ist schon seit der Einführung des Fernsehens die These, so genannte Schundfilme, in denen Gewalt eine große Rolle spielt, hätten eine Zunahme der Gewalttätigkeit in unserer Gesellschaft zur Folge. Auf der anderen Seite existieren Standpunkte, die jegliche Wirkungen von medialer Gewalt abstreiten. Zwischen diesen extremen Gesichtspunkten stehen Wissenschaftler, nach deren Positionen weder von einer monokausalen Wirkung noch von einer Nicht-Wirkung ausgegangen werden kann. Sie plädieren für eine Einbeziehung des Umfeldes und insbesondere der familiären Situation, um der Frage nach möglichen Wirkungen von Gewaltdarstellungen auf Kinder und Jugendliche gerecht zu werden. Als exemplarisches Beispiel sei hier eine These von THEUNERT (1987,56) zu nennen: “Reale Gewalttätigkeit von Individuen - so lässt sich dieser Aspekt auf das Problem Gewalt übertragen - hat mehr als nur eine Ursache. Die Ursachen liegen weder ausschließlich im Individuum selbst noch ausschließlich in seinem gesellschaftlichen Umfeld, vielmehr im Wechselprozess zwischen diesen beiden Komponenten.” Als fester Teil im kindlichen Alltag kann von dem Leitmedium Fernsehen als einer neuen Sozialisationsinstanz neben den Eltern gesprochen werden. Junge Rezipienten sind den Wirkungen der Fernsehinhalte besonders stark ausgesetzt, da sie bis zu einem Alter von 7 bis 9 Jahren längst nicht alle Geschehnisse auf dem Bildschirm kognitiv nachvollziehen können (vgl. Wilhelm/ Myrtek/ Brügner 1997, 31). Die Berücksichtigung der Wirkungen weiterer Medien mit violenten Inhalten wie Computerspiele oder das Internet wäre in einem weiteren Rahmen ebenfalls interessant, würde hier jedoch den Rahmen sprengen. In der vorliegenden Arbeit setze ich mich mit der Frage der Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien auf Kinder und Jugendliche auseinander. Das Fragezeichen im Titel deutet schon daraufhin, dass in diesem Themenbereich keine Einigkeit über allgemeingültige Aussagen besteht und auch nicht voraussehbar zu sein 5

scheint. Der Begriff der Gewaltdarstellung bezieht sich dabei ausschließlich auf ausgeübte Gewalt im Medium “Fernsehen”. Grundlage dieser Arbeit bildet die zu Beginn skizzierte Gewaltpräsenz im deutschen Fernsehprogramm und die darauf folgende Zusammenfassung des aktuellen Fernsehverhaltens der Kinder und Jugendlichen. Des weiteren sollen die Argumente für die Motivation zur Rezeption von Gewaltdarstellungen herausgearbeitet werden. Das vierte Kapitel befasst sich mit Modellen, die zur Klärung der Wirkung medialer Gewaltdarstellungen angewendet werden. Hierbei gehe ich auf die Stimulus- orientierten und die Rezipienten- orientierten Ansätze ein. Im darauf folgenden 5.Kapitel, dem Hauptteil dieser Arbeit, widme ich mich vorerst den Nachahmungstaten, die mich auf dieses Thema “Mediengewalt = reale Gewalt????... aufmerksam gemacht haben. Im Anschluss daran wende ich mich den klassischen Wirkungsansätzen zu, die aus zahlreichen Untersuchungen zur Medienwirkung hervorgegangen sind. Der Schwerpunkt ist den Auswirkungen, den Gewaltdarstellungen im Fernsehen auf Kinder und Jugendliche ausüben, gewidmet. Er fokussiert, unter Einbezug der aktuellen Forschungstrends, mögliche Einflüsse auf ihr Gewaltverhalten und ihre Angst. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen werden abschließend die Grenz- und Präventionsmöglichkeiten skizziert. Dabei gehe ich auf die Selbstkontrollen der Medien und auf die Arbeit der Medienpädagogik und ihre Ansätze ein. Begonnen werden soll im Folgenden jedoch mit den umstrittenen Begriff ‚Gewalt’, der bis dato ungenügend und in den meisten Studien sehr unterschiedlich verwendet wird, und daher eine Präzisierung des Diskurses der Gewaltwirkung weiterhin erschwert.

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2. ZUR BESTIMMUNG DES GEWALTBEGRIFFS Da in dieser Hausarbeit eine Analyse zum Zusammenhang zwischen medialer und realer Gewalt durchgeführt wird, müssen als erstes folgende Fragen geklärt werden: Was ist unter Gewalt zu verstehen? Wann tritt Gewalt auf? Welche Formen von Gewalt gibt es und wo fängt Gewalt an? Wie entsteht Gewalt? Zunächst wird der Begriff ohne direkten Bezug auf die Medien definiert, denn Gewalt gibt es nicht erst, seit es Medien gibt, sondern es ist ein allgemein-gesellschaftliches Phänomen. Gewalt tritt in unserer Gesellschaft in den unterschiedlichsten Formen auf, so dass individuelle Definitionen von Gewalt zum Vorschein kommen.

Der Terminus ,Gewalt` ist auch durch die Experten wie Juristen oder Medienwissenschaftler aktuell nicht eindeutig definiert und wird in der Gesellschaft sehr vielschichtig genutzt. Wie vielschichtig die mit dem Terminus ,Gewalt` bezeichneten Handlungszusammenhänge sind, zeigt die “exemplarische Auflistung” von MERTEN, K. (1999, 15): 1

Gewalt gegen bestimmte Personen und Personengruppen (innerfamiliäre Gewalttaten, Gewalt gegen kollektiv definierte Opfergruppen)

2 Gewalt an bestimmten Orten bzw. in bestimmten sozialen Zusammenhängen (Gewaltfelder wie Schule, Familie, Arbeitsplatz etc.) 3 Gewalt auf der Basis unterschiedlicher Motivation (politisch motivierte Gewalt) 4 Gewalt als abstraktes Phänomen (soziale Phänomene wie steigende Gewaltbereitschaft und Gefährdung der öffentlicher Sicherheit) 5 Gewalt als natürliches Phänomen (Naturkatastrophen) 6 Gewalt in unterschiedlichen Ausprägungen (Mobbing, Vandalismus, sexuelle Gewalt):

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