Maxim Gorki. Wassa Shelesnowa

Maxim Gorki Wassa Shelesnowa Fassung von 1935 Aus dem Russischen von Werner Buhss (c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2014. Als unve...
Author: Hertha Boer
4 downloads 0 Views 86KB Size
Maxim Gorki

Wassa Shelesnowa Fassung von 1935

Aus dem Russischen von Werner Buhss

(c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2014. Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Alte Jakobstraße 85/86 10179 Berlin [email protected] Tel.: 030 - 4431 8888

PERSONEN

WASSA Borissowna, zweiundvierzig, jünger wirkend Sergej Petrowitsch SHELESNOW, sechzig, ehemals Kapitän auf dem Schwarzen Meer, später bei der Flußschiffahrt PROCHOR Borissowitsch Chrapow, siebenundfünfzig, Wassas Bruder NATALJA, achtzehn LJUDMILA, sechzehn, Wassas Töchter RAHEL, um die dreißig, Wassas Schwiegertochter ANNA Onoschenkowa, etwas über dreißig, Wassas Sekretärin und Vertraute MELNIKOW, Mitglied des Kreisgerichts JEWGENI, sein Sohn Guri KROTKICH, Geschäftsführer der Reederei LISA, Dienstmädchen POLJA, Dienstmädchen PJATJORKIN, siebenundzwanzig bis dreißig, ehemaliger Soldat und Matrose bei der Flußschiffahrt, hat dichtes, hartes Haar und einen gepflegten Schnurrbart

Erster Akt Ein großes Eckzimmer. Hier verbringt Wassa seit zehn Jahren den größten Teil des Tages. Ein großer Schreibtisch, dahinter ein Stuhl mit harter Sitzfläche, ein Tresor, an der Wand eine große farbige Karte der oberen und mittleren Wolga von Rybinsk bis Kasan. Darunter eine mit einem Teppich bedeckte Ottomane mit vielen Kissen. In der Mitte des Zimmers ein kleiner ovaler Tisch und Stühle mit hohen Lehnen. Eine verglaste Doppeltür zur Gartenterrasse, ebenfalls zum Garten zwei Fenster. Ein großer Ledersessel. Auf den Fensterbrettern Geranien. Zwischen den Fenstern ein eingetopfter Lorbeerbaum und ein kleines Wandbord. Darauf eine silberne Kanne und dazu passende vergoldete Becher. Neben der Ottomane eine Tür zum Schlafzimmer. Gegenüber dem Schreibtisch Türen zu den anderen Zimmern. Das Zimmer ist geräumig und hell. Ein Märzmorgen. Sonnenlicht vom Garten. Wassa und Krotkich treten ein. Wassa

Ein Rubel sechs Kopeken für hundert Zentner. Macht eine Kopeke pro Zentner. Ziemlich mickrig für die Schauerleute. Sie müssen die Ladung immerhin über fünfzig Meter an Land schleppen. Da kommen sie am Tag knapp auf einen Rubel. Sie müssen essen, ohne Fleisch im Bauch klappen sie ab. Dem sollten Sie sich widmen. Ein gut plazierter Artikel in der Zeitung. Suchen Sie sich jemanden, der mit den Schauerleuten spricht. Werden Sie jemanden finden.

Krotkich

aufgeräumt Finden wir.

Wassa

Gut. Man muß den großen Haien Feuer unterm Arsch machen. Unser Laden ist klein, und wir haben zuwenig Fracht. Wir beschäftigen kaum Schauerleute, unsere Matrosen laden selbst aus. Aber das wissen Sie ja.

Krotkich

Für die Matrosen ist ein Rubel auch zu wenig.

Wassa

Was wollen Sie denn, Krotkich. Sie müssen es schaffen, daß die „Kaukasische Merkur“ und die anderen großen Fische auf fünf Rubel pro hundert Zentner raufgehen. Und wenn dann die Kunden zu uns kommen, legen wir unseren Matrosen was drauf. So läufts. Entschuldigen Sie, Ihr Wisch hier wandert in den Papierkorb.

Krotkich

zieht die Stirn in Falten Sie sollten wissen, Wassa Borissowna …

Wassa

Werben Sie bei den Ladenbesitzern, den Töpfern, den Müllern, überhaupt bei den kleinen Krautern, versprechen Sie Ihnen Rabatt, daß sie ihr Zeug von uns befördern lassen, das wär mal was.

Krotkich

nicht ohne Stolz Das letzte Jahr haben wir gut abgeschlossen. Ein

solider Gewinn.

1

Wassa

Pipifax. Ich höre immer nur gut und nochmal gut. Besser hört sich besser an. Immer nur gut ist langweilig. Gehen Sie schon. Ich ertrinke in Arbeit.

Krotkich verbeugt sich stumm und geht. Wassa lauscht. Anjuta.

Anna. Hier, das muß schleunigst kopiert werden. Ist Krotkich sauer. Anna

Direkt stinkig.

Wassa

Was hat er gesagt.

Anna

Hab ich nicht kapiert. Irgendwas von Konservatismus.

Wassa

Klar. Er ist Sozialist. Sozialismus ist für ihn das Gleiche wie Gott für Prochor. Er betet ihn an, aber glaubt nicht dran. Hör nicht auf sein Gewäsch. Worüber habt ihr gestern gesprochen.

Anna

Er sagte, daß die deutschen Sozialisten ihrem Kaiser in den Arsch kriechen.

Wassa

Paß auf, daß er dir mit seinem Sozialismus keinen dicken Bauch macht.

Anna

Keine Gefahr. Er ist hinter Natalja Sergejewna hinterher.

Wassa

Ich weiß. Nun ja, Natka ist nicht auf den Kopf gefallen.

Anna

Und auch hinter Ljuda.

Wassa

Sieh an. Welche Vielfalt in der Einfalt.

Das Telefon klingelt. Wassa hebt ab. Ja. Ich bins. - Kommen Sie. Legt auf Das war der Untermieter. Melnikow.

Schickt Anna mit einer Handbewegung weg. Denkt nach. Blättert in Papieren. Stellt Gegenstände um. Sieht nachdenklich ins Nirgendwo.

2

Melnikow aus Annas Zimmer. Melnikow

Guten Morgen, Verehrteste.

Wassa

Danke, daß Sie sich die Zeit nehmen. Machen Sie die Tür zu. - Setzen Sie sich. Also, wie stehts.

Melnikow

Der Untersuchungsrichter hat die Sache dem Staatsanwalt übergeben. Dabei schwört er, er hätte mehr als ein Auge zugedrückt.

Wassa

Für drei Riesen hätte er auch drei Augen zudrücken können.

Melnikow

Unmöglich. Ich hab die Aussage dieser Kupplerin gelesen. Die hat ausgepackt wie beim Pfarrer im Beichtstuhl.

Wassa

Heißt das, es wird einen Prozeß geben.

Melnikow

Das wird sich nicht vermeiden lassen.

Wassa

Was wird er kriegen.

Melnikow

Wahrscheinlich Sibirien.

Wassa

Wie nennt man sowas bei Ihnen.

Melnikow Wassa

Was. Dieses Liebsein zu Kindern.

Melnikow

Mißbrauch von Minderjährigen.

Wassa

Brr. Sowas bleibt kleben. Wie gehts jetzt weiter.

Melnikow

Der Staatsanwalt erhebt Anklage, stellt sie dem Angeklagten zu und verfügt die Verhaftung.

Wassa

Alle drei. Auch die Kupplerin.

Melnikow

Selbstverständlich.

Wassa

Und kann der Staatsanwalt ein Auge zudrücken.

Melnikow

Können und wollen sind ungleiche Schuhe. Unserer will Karriere machen, da wird er sich eher gegen ein Augenzudrücken entschließen. Allerdings sagt man, daß von Seiten der anderen Beschuldigten gewisse Anstrengungen in der Sache unternommen werden.

3

Wassa

Na dann unternehmen auch wir was. Ich bitte Sie, geben Sie sich Mühe. Bieten Sie dem Staatsanwalt einen Vergleich an, daß er keine Wellen macht. Die Sache muß aus der Welt, für immer aus der Welt. Ich habe Töchter.

Melnikow

Wassa Borissowna, trotz aller Verehrung und Dankbarkeit für Ihre Großherzigkeit …

Wassa

Fassen Sie sich kurz. Über Dankbarkeit reden wir, wenn Sie die Sache still und anständig zu Ende gebracht haben. Handeln Sie.

Melnikow

Ich bin ganz und gar nicht in der Lage. Ich kann das nicht.

Wassa

Geld spielt keine Rolle. Wenns klappt, erlaß ich Ihnen die Wechsel. Ich kann Ihnen sogar noch anderthalbtausend drauflegen. Das wären dann insgesamt fünf. Einverstanden?

Melnikow

Ja, aber. Es ist nur so …

Wassa

Nehmen Sie sich zusammen.

Melnikow

Es wäre besser, wenn Sie selbst …

Wassa

Wie unappetitlich, wenn ich mich vor dem zum Kasper mache. Geld rüberreichen, einverstanden. Aber mich zum Kasper machen, niemals. Ich bin grob und direkt. Was anderes kann ich nicht. Machen Sies noch heute, bitte. Rufen Sie mich dann an und sagen Sie, wieviel. Viel Erfolg. Was stehen Sie hier noch rum.

Melnikow

Ich verabschiede mich. Ich bin schon auf dem Weg ins Gericht.

Wassa

Gut. Sputen Sie sich.

Melnikow ab. Wassa schließt die Augen. Sie zieht eine Schublade des Tisches auf und sucht. In einer Schachtel stochert sie mit einem Federhalter rum. Geräusch hinter einer der Türen. Sie versteckt die Schachtel schnell in der Tasche. Ljudmila. Ljudmila

Grüß dich, Mama Wassa. Wassermann 1, mein lieber, ich hatte einen irren Traum, irre schön.

Wassa

küßt sie Ljudok, für dich ist auch das richtige Leben schön.

1

Gorki läßt Ljudmila Wasja sagen. Das ist die diminutive Form von Wassili. Für des Russischen nicht mächtige Zuschauer könnte Wassja eher weiblich, also als Koseform für Wassa klingen. Deswegen und wegen des kindlich-spielerischen Gestus’ Ljudmilas der Vorschlag des Übersetzers.

4

Ljudmila

Nein, hör doch mal.

Wassa

Das kannst du mir beim Essen erzählen.

Ljudmila

Da lacht sich Natka tot, oder irgend jemand stört, oder ich habs vergessen. Träume vergißt man irre schnell. Paß jetzt auf.

Wassa

Nein, Ljudok, schick mir sofort Lisa rein.

Ljudmila

Mein Gott, bist du heute mies drauf.

Ab. Wassa

Wenn du wüßtest, Kindchen.

Lisa. Mein Bruder hat sich beschwert, daß du nicht auf ihn hörst und die Schlösser nicht ölst. Lisa

Wassa Borissowna, ich pack das nicht. Ich allein für alle und alles. Nicht zu schaffen. Stellen Sie noch jemanden ein, irgendein Mädchen meinetwegen.

Wassa

Draus wird nichts. Ich dulde keine überflüssigen Leute im Haus. Die Töchter sollen dir helfen. Du kriegst gutes Geld, also streng dich an. Schlaf weniger. Ist mein Bruder da.

Lisa

Nein.

Wassa

Schick mir Sergej Petrowitsch rein.

Lisa ab. Wassa steht mitten im Zimmer, denkt nach, schnippt mit den Fingern und greift an ihre Tasche. Shelesnow im Morgenmantel. Wirres lockiges Haar, dichter grauer Schnurrbart, unrasiert. Gerade aufgestanden oder auf dem Weg ins Bett? Shelesnow

Was willst du.

Wassa

schließt die Tür zu Anna Onoschenkowas Zimmer fest zu Schrei nicht rum. Das macht keinen Eindruck.

5

Shelesnow geht zur Tür zurück. Wassa kommt ihm zuvor und verschließt auch diese Tür. Dein Fall ist beim Staatsanwalt gelandet. Shelesnow

stützt sich am Stuhl Das kann nicht wahr sein. Du lügst.

Wassa

ruhig Er erhebt Anklage.

Shelesnow

Und ich hab den Schurken beim Kartenspiel gewinnen lassen. Neuntausend. Und hab ihm gesteckt, daß er nochmal elftausend …

Wassa

In ein paar Tagen kriegst du die Anklageschrift, und dann gehst du in den Knast.

Shelesnow

Du warst zu geizig. Du hast den Untersuchungsrichter nicht richtig geschmiert. Und wies aussieht, hast du auch Melnikow zu wenig gegeben. Wieviel hast du ausgespuckt, sags mir.

Wassa

Auf Mißbrauch Minderjähriger steht Sibirien.

Shelesnow

Setzt sich, schüttelt den Kopf. Dumpf Bist du nun zufrieden.

Wassa

Du hast Töchter, die geheiratet werden wollen. Was wird aus ihnen, wenn du ins Arbeitslager kommst. Welcher anständige Mann soll sie dann noch nehmen. Du hast einen bald fünfjährigen Enkel. Wär besser gewesen, du hättest jemanden umgebracht, als sowas ekliges zu machen.

Shelesnow

Dich sollte man umbringen und dir dein grausames Herz rausreißen und es den Hunden zum Fraß vorwerfen. Du hast mich ganz wirr gemacht, mich zerstört.

Wassa

Lügen hilft dir nicht, Sergej. Und wen belügst du. Nur dich selbst. Lüg nicht, das hört sich widerwärtig an.

Geht zu ihm, drückt die offene Hand gegen seine Stirn, hebt seinen Kopf an und sieht ihm in die Augen. Ich bitte dich, laß die Angelegenheit nicht vor Gericht kommen. Mach der Familie keine Schande. Ich hab dich selten um was gebeten in meinem erbärmlichen Leben mit dir Säufer und Hurenbock. Aber jetzt bitte ich nicht meinetwegen, ich bitte dich wegen der Kinder.

Shelesnow

mit Angst Was willst du. Was.

Wassa

Du weißt es.

6

Shelesnow

Auf keinen Fall. Das nicht.

Wassa

Willst du etwa, daß ich vor dir auf die Knie gehe. Ich. Vor dir.

Shelesnow

Hau ab. Laß mich allein.

Wassa

drückt ihn zurück in den Sessel Nimm das Medikament.

Shelesnow

Geh.

Wassa

Denk nach. Du kommst in den Knast. Und dann wird sich die ganze Stadt drum reißen, dich auf der Anklagebank zu sehen. Und danach wirst du ganz langsam in Sibirien elend und erbärmlich in Schande krepieren. So aber - schnell, ohne Schmerz, ohne Aufsehen. Das Herz hört einfach auf. Es ist wie einschlafen.

Shelesnow

Hör auf. Hau ab. Solln sie mich verurteilen. Mir egal.

Wassa

Und was wird aus den Kindern. Diese Schande.

Shelesnow

Ich gehe ins Kloster. Werde Einsiedler. In einem Erdloch. Aber ich werde leben.

Wassa

Blödsinn. Nimm das Medikament.

Shelesnow

steht auf Nein. Von dir nehme ich gar nichts.

Wassa

Nimm es aus freiem Willen.

Shelesnow

Und wenn nicht. Vergiftest du mich dann.

Wassa

Sergej, denk an die Töchter. Sie haben das Leben noch vor sich. Kinder sollen nicht für die Verbrechen ihrer Väter bezahlen.

Shelesnow

Aber für die ihrer Mütter.

Wassa

Red keinen Quatsch. Ich sags dir, Sergej. Ich werde vor Gericht nicht den Mund halten. Ich werde aussagen, wie du irgendwelche Schlampen in mein Haus geschleppt und es mit ihnen getrieben hast, und wie du dann diesen Huren deine Töchter vorgeführt hast. Ich werde auch sagen, daß du den beiden beigebracht hast, Alkohol zu trinken.

Shelesnow

Du lügst. Das war dein Bruder Prochor, der hats ihnen beigebracht.

Versucht aufzustehen.

7