Massimo Cacciari DER MEISTER DES SPIELS

DIE TEXTE Massimo Cacciari konzipierte in enger Zusammenarbeit mit Luigi Nono das Libretto, des „Prometeo“, das 1982 fertiggestellt wurde. Daraus entw...
Author: Miriam Kopp
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DIE TEXTE Massimo Cacciari konzipierte in enger Zusammenarbeit mit Luigi Nono das Libretto, des „Prometeo“, das 1982 fertiggestellt wurde. Daraus entwickelt Nono einen eigenständigen Text, der der definitiven Partitur von 1985 zu Grunde liegt. Bei dem Libretto handelt es sich über weite Strecken um Textkompilationen. Texte aus ganz unterschiedlichen Quellen und in unterschiedlichen Sprachen (griechisch, italienisch, deutsch) werden durch Cacciari und Nono zusammengestellt, neukomponiert, fragmentiert und umgeschrieben. Dadurch entsteht ein Textkosmos, dessen einzelne Elemente mehr oder minder offensichtlich zusammenhängen. Es ist nicht beabsichtigt und auch unmöglich, den Text nachzuverfolgen. Über weite Strecke hat er sich aufgelöst in Musik, ist ganz und gar Komposition geworden. Was hier im Folgenden zitiert ist, erscheint in der Komposition nie eins zu eins, sondern immer fragmentiert, manchmal überhaupt nicht vertont. Nachfolgendes erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und philologische Genauigkeit, sondern dient nur der groben Orientierung über den Textkosmos. PROLOGO (20 Minuten) Gesangssolisten, Chor, Sprecher, Solobläser, Solostreicher, Gläser, Orchestergruppen I-IV Texte aus Hesiods „Theogonie“, Fragmente aus Hesychios, Aischylos und Sophokles und Cacciaris „Meister des Spiels“

Hesoid Gaia gebar zuerst an Grösse gleich wie sie selber Uranos sternenbedeckt, damit er sie völlig umhülle und den seligen Göttern ein sicherer Sitz sei für ewig. Dann gebar sie die grossen Berge, die reizende Wohnstatt göttlicher Wesen: der Nymphen, die hausen in Schluchten der Berge. Auch die öde Meerflut gebar sie, die wogengeschwellte, Pontos, ganz ohne Liebe. Aber danach, sich mit Uranos bettend, gebar sie den Okeanos voll tiefer Wirbel, Koios gebar sie dann und Krios, auch Hyperion und Japetos, Theia und Rheia gebar sie und Themis sowie Mnemosyne, Phoibe, die goldbekränzte, die liebenswürdige Tethys; doch als Jüngster ward Kronos, der Krummgesinnte, geboren, fürchterlichstes der Kinder, er hasste den blühenden Vater. Japetos aber nahm die fesselschöne Okeanide Klymene ins Gemach und bestieg das gemeinsame Lager. Die gebar ihm als Sohn den Atlas trotzigen Sinnes und den ruhmerpichten Menoitios wie auch Prometheus, listenreich und beweglich, doch fehlbaren Sinns Epimetheus.

Massimo Cacciari DER MEISTER DES SPIELS I Höre, schwingt nicht hier noch ein Hauch der Luft die die Vergangenheit atmete? Überdauert nicht im Echo die Stimme jener Verstummten? Wie im Gesicht der Geliebten jenes von niemals gekannten Bräuten? II Es schwingen geheime Verabredungen. Sie verfangen sich in den Flügeln des Engels. Sie wissen das Zerschlagene wieder zusammenzufügen. Diese schwache Kraft ist uns gegeben. Verliere sie nicht.

II. Isola Prima (28 min) Orchestergruppen I-IV, Solostreicher, Chor Texte aus Aischylos‘ „Der gefesselte Prometheus“ kombiniert mit „Mythologie“ (Cacciari, Nono) Aischylos PROMETHEUS Wisse: obgleich sehend sahen sie nicht obgleich hörend hörten sie nicht die Menschen vergängliche Traumgespinste Unter der Erde wohnten sie wie Ameisen BIS ICH ihnen zeigte Morgenröte und Abenddämmerung ICH zwang ins Joch die Bestien quälte durch sie die Erde erfand die Wagen des Meeres ICH UND DIE ZAHL ERFAND ICH

ICH solch grosse Künste und Hilfen ersann ich ICH deutete die Träume die Stimmen den Umgang die Liebe

den Vogelflug die Vorzeichen die Gebräuche

HEPHAISTOS DICH, Sohn der Tethys werde ich fesseln DICH, mit unentwirrbaren Knoten DICH, an diesen unbeweglichen Fels DU wirst verwelken im Gleissen der Sonne DICH wird verzehren die allgegenwärtige Strafe Wisse: schwer zu besänftigen ist das Herz des Zeus Spender der Geschicke Cacciari/Nono MYTHOLOGIE: PROMETEUS diese Hoffnung willst du den Sterblichen geben: sich zu befreien vom Gott? BIST DU wie der Knabe der keines Gesetzes Spielball zu sein sich wähnt? BIST DU wie ein neuer Herrscher neidisch und unberechenbar?

GLAUBST DU allmächtig sei dein Feuer? NENNST DU Wahrheit jene enge Lichtung die ein einziger Augenblick erhellt?

III. Isola Seconda a. Io - Prometeo 17 Minuten Gesangssolisten, Chor, Bassflöte, Kontrabassklarinette, Solostreicher, Orchestergruppen I-IV Text aus Aischylos‘ „Der gefesselte Prometheus“ IO Ah… oh weh, o weh welches Land? welches Volk? was sag' ich…? Warum, o Sohn des Kronos, warum nur… VERBRENNE MICH im Feuer STÜRZE MICH auf die Erde GIB MICH als Speise den Ungeheuern des Meeres ABER BESÄNFTIGE diesen göttlichen Sturm BESÄNFTIGE MIR diese gewalttätige Peitsche diesen unablässigen WAHNSINN BESÄNFTIGE MIR diesen Gott des nächtlichen Rituals der mich jagt bis an die Grenzen der Welt BESÄNFTIGE MIR die verrückte Bremse dieses furchtbaren Tanzes ABER BESÄNFTIGE dieses Unglück zu leben ich sterbe PROMETHEUS Ich, IO, die GOTTHEIT immerzu gewalttätig neidisch und unberechenbar von hier bis zum Morgenrot jagt sie dich

zu ungepflügten Fluren wo in geflochtenen Hütten auf Wagen ziehen die Skythen Lass Europa hinter dir Asien wirst du betreten Dringe in den Orient vor Überschreite tönende Flüsse Geh zum Aufgang der Sonne Folge den Ufern Äthiopiens wo schliesslich von den Bergen der heilige Fluss herabstürzt An seiner Mündung wo KANOPOS liegt ICH, IO, eifersüchtig die GOTTHEIT Bittere Hochzeit ist die ihre Immerzu gewalttätig

b. Hölderlin 8 Minuten 2 Sopran-Soli, 2 Sprecher, Bassflöte, Kontrabassklarinette Text aus Friedrich Hölderlins „Schicksalslied“, Anspielungen auf Pindars „Sechste Nemeische Ode“ Friedrich Hölderlin DOCH uns ist gegeben Auf keiner Stätte zu ruhn… Es schwinden es fallen Die leidenden MENSCHEN Blindlings Wie Wasser von Klippe zu Klippe ins Ungewisse hinab… DOCH Eines des Menschen Eines des Gottes Geschlecht Des Gottes unglückliche Brüder

c. Stasimo primo (8 Minuten) Gesangssolisten, Chor, Orchestergruppen I-IV Text aus „Alcestis“ von Euripides WEDER THRAKISCHES ZAUBERMITTEL NOCH DIE STIMME DES ORPHEUS NOCH HEILMITTEL DES PHÖBUS NOCH SCHLACHTOPFER NOCH GÖTTERBILD NOCH ALTAR BESÄNFTIGT SIE NOCH DAS EISEN DER CHALYBER BEUGT SIE SIE KENNT KEINE SCHAM unbetretbar hält sie den GIPFEL

IV. Interludio Primo (8 Minuten) Altsolistin, Solobläser (Flöte, Klarinette, Tuba) Texte aus Euripides‘ „Alcestis“ und Cacciaris „Meister des Spiels“ Euripides MYTHOLOGIE-CHOR und ich habe mich mit vielen Lehren befasst doch mächtiger als Ananke fand ich nichts Massimo Cacciari MEISTER DES SPIELS IV Verliere sie nicht. Sie gehört nicht uns allein. Wie in den Stimmen standhält das Echo der vergangenen Stillen, so stützt diese schwache Kraft diesen Augenblick, trifft geheime Verabredungen, unauflösbare V Verliere sie nicht diese schwache messianische Kraft. Der Wind im April auf der Wange der Blüte, dein Gesicht in der Weite der Wiese – verliere sie nicht.

V. Tre Voci A (13 Minuten) Gesangssolisten, Solobläser (Bassflöte, Kontrabassklarinette, Euphonium), Gläser, Orchestergruppen I-IV (nur Geigen) Text aus Cacciaris „Meister des Spiels“ Massimo Cacciari MEISTER DES SPIELS VII Sprich nicht vom Gestern. Heute wirft die Sonne das Band der Morgendämmerung aus, giesst ihr rotes Siegel in den Kelch des Himmels. Hier schwingen geheime Verabredungen. Hier erfüllt sich das Maß der Zeit. VIII Ergreife diesen Augenblick. Er blitzt auf für einen Moment, für einen Lidschlag. Auf der Höhe der Gefahr, inmitten der Wüste. Breite die Flügel aus. Mach dass der Hauch, dass die geheime Verabredung, mitreisst deinen Flug.

VI. Terza/Quarta/Quinta Isola Dauer: (20 Minuten) Isola 3: Gesangssolisten, Solobläser, Solostreicher, Orchestergruppen I-IV; Text aus Sophokles‘ „Ödipus auf Kolonos“ Isola 4: Gesangssolisten, Solobläser (Flöte, Klarinette, Alt-Posaune), Solostreicher; Texte aus Sophokles‘ „Ödipus auf Kolonos“, Hölderlins „Kolomb, „Achill“, Schönbergs „Moses und Aron“, Hesiods „Werke und Tage“ Isola 5: Solobläser (Piccolo, es-Klarinette, Tuba); Texte (nicht gesungen oder rezitiert) aus Schönbergs „Das Gesetz“, Aischylos‘ „Der gefesselte Prometheus“, Nietzsches „Menschliches, Allzumenschliches“ und Hölderlins „In lieblicher Bläue“ Eco lontano (aus dem Prolog): Chor, Orchestergruppen I-IV (nur tiefe Instrumente)

DRITTE INSEL Prometheus, mach dich auf den Heimweg

Du siehst leuchtend das berühmte Athen Hier wirst du wachsen lassen einen Baum den Asien nicht kennt Folgen wird über das Meer dein Ruder behenden Nereïden Hier wirst du sprechen vor einem Altar mit Zeus Und kein Gott wird vermögen dies Feuer dir zu entreissen PROMETHEUS Zu Ende ist meine Fahrt Ich sehe die wohlklingende göttliche Stadt Hier werde ich wachsen lassen die Narzisse und den regenbogenfarbigen Krokus Auf dem Meer wird mein Ruder sein tausend himmelblaue Segel Hier werde ich sprechen vor einem Altar Fest und Tragödie Und kein Gott wird vermögen dies Feuer mir zu entreissen VIERTE INSEL I Prometheus, zu Ende ist deine Fahrt… Wenn es dir gegeben ist ein Held zu sein, einzig auf dem Meer vermagst du es. Dich ruft die Stimme des Gottes wo offen ist das Himmelsblau. Die Sterne führen dir die Hand am Ruder. Die Himmlischen wissen nicht um diesen Reichtum der schönen Inseln. DU ALLEIN erträgst

das Ungeheuer, das lacht in der Ferne UND DU BIST in der Wüste des Meeres UNÜBERWINDLICH II Komm Muse, nichts ist mehr zu trösten… Komm herbei beim Weinen des Sohnes Steig auf vom Grunde der See Zu hören die stumme Seele, seinen fliehenden Tag Deine Worte an seiner Quelle reinige sie in seinem Schweigen vertreibe die Lüge Der Erinnerung Fülle sag sie dem ENGEL III EIN HAUS verschaffe dir und einen Ochsen und eine Frau Wenn aus der Höhe du hörst die Stimme des Kranichs dann mach dich ans Pflügen Sieh dich gut vor: vermeide den Rauhreif den schädlichen durch der Bora Wehen die Thrazien entlang überm Meer aufkommt und wütet Höre mich ferner: lenk nicht die Schiffe in die Strudel des Pontos wenn die Plejaden untergehen auf der Flucht vor der wilden Heftigkeit Ort Ziehe sie aufs Trockene Mach in den Kiel ein Loch

damit sie nicht faulen im Regen UND WARTE

FÜNFTE INSEL MYTHOLOGIE Bedenke: dass einer sich auflehnt ist eine banale Selbstverständlichkeit. Dass es jemand gibt der eindringt und das Feuer überbringt das kann man verstehn. ABER dass du das Feuer offenbarst und dass das Offenbaren ein Gesetz wird das ist WUNDER Bedenke: dass es ein GESETZ gibt fernab von DIKE dass es das Übertreten gibt und das Wiederbegründen eines anderen Gesetzes fernab von DIKE das ist Wunder Bedenke: dass es das Gesetz gibt EKDIKA verlassen von DIKE gefesselt an Werke und Tage das einzig offenbart und dem auch du gehorchst das ist WUNDER Bedenke: dass es kein Ziel gibt ist eine banale Selbstverständlichkeit. dass UNDICHTERISCH sei unser Wohnen das kann man verstehn. ABER dass das Gehen sei Wahrheit lieblicher Bläue dass das Gehen sei Sich wiedersehen Sich verwundert betrachten Wiedererklingen dass das Gehen sei

dieses Gesetz das fortschreitet und verlässt das begreift und verwandelt das wirkt und vergeht das ist WUNDER

PROMETHEUS Dass ein Sturm weht Der sich in meinen Flügeln verfängt stärker als der Wahnsinn der IO der in diesem Sturm uns fortreisst Irgendwohin, das ist nicht WUNDER ABER dass in diesem Sturm der Blick sich zurückhält das Zerschlagene zu erwecken dass in ihm unsere Stimmen sind wie durchlittene heitere Wellen das ist WUNDER dass im Unruhigen stets währt unsere Geduld dass unsere Erwartung ausdauert das ist WUNDER Dass man im Unruhigen besteht ist eine banale Selbstverständlichkeit, dass unser Feuer ähnelt dem Wahnsinn der IO, das kann man verstehen ABER dass man in diesem Wahnsinn vermag lieben zu lernen in der Zeit der Not EKDIKA das ist WUNDER ABER dass ich weitermache und schaue und begreife und übertretend offenbare und vergehend wiederbegründe EKDIKA das ist WUNDER Es werden kommen böse Nächte und eine zweite Wüste wird auf die Wüste niedersinken und ich werde zum Wandern müde sein ABER

als Entgelt kommen die Morgen wo auf den Gebirgen die Musenschwärme an uns vorübertanzen DER BLAUE GLOCKENSCHLAG DES VERGEHENS DIE WAHRHEIT DER BLAUEN STILLE die in dir frei wird fortschreitet schaut verwandelt verlässt und begreift wirkt und vergeht

VII. Tre Voci B (6 Minuten) Chor Text aus Cacciaris „Meister des Spiels“ Massimo Cacciari MEISTER DES SPIELS X In der Wüste lobe die Erde, im Dauern höre diesen Augenblick, in der Abwesenheit vom Haus. Dem Gedanken ist nicht nur gegeben von den Ideen zu sprechen. Eine schwache Kraft ist gegeben dem Gedanken: STILLSTELLUNG zum Schweigen bringen FELSEN, SCHWERE, ABSCHEU aus der Stille KRISTALL machen erfüllt von Ereignissen XI Uns ist gegeben die schwache Kraft zu versetzen ins Schweigen augenblicklich die leere Dauer. Es erwarten den Gedanken Gelegenheiten, glückliche Augenblicke, entsetzliche. Die geheime Verabredung spricht aus diese schwache Kraft

XII ABER sie genügt HERAUSZUSPRENGEN eine Epoche aus dem Lauf der Geschichte, ein Werk aus der Bewegung der Werke, ein LEBEN aus seiner Epoche, den Kristall eines MORGENS aus der Wiederholung der Tage ein GESICHT aus der Trauer der Vorübergehenden einen GEHEIMEN HAUCH

VIII. Interludio Secondo (5 Minuten) Orchestergruppen I-IV, Gläser Dieser Teil kommt ohne Text aus, er ist rein instrumental. IX. Stasimo Secondo (9 Minuten) Gesangssolisten, Solobläser, Solostreicher Text als Fragment von Aischylos, Cacciari und Schönberg GESETZ der vielen Namen einzige Gestalt IST besetzen, nehmen IST ursprüngliche Verteilung IST die Herden hüten IST DIE WEIDE IST das Eindringen das Herrschen IST das Übertreten das Wiederbegründen IST das Erschlagen das Verteidigen IST das was entreisst jeglichen Trost IST was im Kreise des Feuers einzig offenbart UND in diesem Kreis Öffnet vielfältige Wege Fordert uns auf, das Zerschlagene zusammenzufügen zu erneuern die Stillen

Verwandelt und erinnert Übertritt und begründet aufs Neue BLITZT AUF UND IST IN DER WÜSTE UNÜBERWINDLICH

Die Übersetzungen folgen dem Booklet der bei Col legno erschienenen CD des Werkes.