Band 29 Die Studie „Macht Judo Kinder stark?“ untersuchte über ein Schuljahr hinweg Wirkungen von Judo im Schulsport auf phy­ si­sche und psychosoziale Ressourcen. Hierbei wurden durch

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die systematische Verknüpfung einer quantitativen Längsschnittstudie und einer qualitativen Querschnittstudie sowohl objektiv messbare als auch subjektiv empfundene Wirkungen berücksichtigt. Die quantitativen und qualitativen Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit Judo v. a. ihre Kraftfähigkeit verbessern können. bedingungen für die (positive) Beeinflussung von psycho­ sozialen Ressourcen hin. Die quantitativen Ergebnisse zur Selbstwirksamkeit zeigen jedoch nur deskriptiv Zuwächse und keine signifikanten Veränderungen. Und die widersprüch­li­ chen Resultate im Bereich der Empathie verdeutlichen den weiteren Forschungsbedarf. Dr. Sebastian Liebl promovierte bei Prof. Dr. Peter Kuhn an der Universität Bayreuth und arbeitet derzeit als Wissenschaft­ licher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft und Sport der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dort lei­tet er als Geschäftsführer die Einrichtung WEBS „Wissens­ transfer und Evaluationsforschung – Bildung im Sport“ im Ar­ beits­bereich von Prof. Dr. Ralf Sygusch.

Macht Judo Kinder stark?

Die qualitativen Resultate weisen zudem auf gute Rahmen­

Sebastian Liebl

Macht Judo Kinder stark? Wirkungen von Kämpfen im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen

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Sportforum Band 29 Macht Judo Kinder stark? Wirkungen von Kämpfen im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen

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Sportforum Dissertations- und Habilitationsschriftenreihe Band 29

Sebastian Liebl

Macht Judo Kinder stark? Wirkungen von Kämpfen im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie (Dr. phil.) im Fach Sportwissenschaft Eingereicht an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Kuhn (Universität Bayreuth) Zweitgutachter: Prof. Dr. Ralf Sygusch (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

Meyer & Meyer Verlag

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Herausgeber der Schriftenreihe Sportforum: Prof. Dr. Hans-Peter Brandl-Bredenbeck Prof. Dr. Wolf-Dietrich Brettschneider Prof. Dr. Christoph Breuer Prof. Dr. Ulrike Burrmann Prof. Dr. Dieter Hackfort Prof. Dr. Erich Müller Prof. Dr. Ralf Sygusch Prof. Dr. Walter Tokarski Betreuer dieses Bandes: Prof. Dr. Ralf Sygusch

Macht Judo Kinder stark? Wirkungen von Kämpfen im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 2013 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen Auckland, Beirut, Budapest, Cairo, Cape Town, Dubai, Hägendorf, Indianapolis, Maidenhead, Singapore, Sydney, Tehran, Wien Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA) ISBN 978-3-8403-1015-7 E-Mail: [email protected] www.wissenschaftundsport.de www.dersportverlag.de

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Inhalt

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Inhalt Zusammenfassung ............................................................................... 8 Einleitung ............................................................................................. 9 1 Sozialisationsbedeutung des Sports ............................................ 16 1.1 Theoretischer und empirischer Hintergrund zu Sozialisation und Sport......................................................................................... 16 1.1.1 Sozialisation als dynamischer Interaktionsprozess ............................ 16 1.1.2 Modell der sportbezogenen Sozialisation........................................... 23 1.1.3 Einblicke in den Forschungsstand ...................................................... 27

1.2 Zusammenfassung ................................................................... 28 2 Sozialisationsbedeutung der Kampfsportart Judo ................... 30 2.1 Theoretischer Hintergrund zum Thema Zweikampf .......... 30 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Kämpfen als Sport vs. Kämpfen als Kunst......................................... 32 Kämpfen im Kontakt vs. Kämpfen aus der Distanz ........................... 37 Miteinander im Gegeneinander .......................................................... 39 Bezug zur Lebenswelt von Kindern ................................................... 42

2.2 Theoretischer Hintergrund zum Judo................................... 46 2.2.1 Die Entwicklung von Bujutsu zu Budo .............................................. 46 Exkurs: Der Begriff Budo und seine Bedeutungen ...................................... 49 2.2.2 Das Kodokan-Judo und seine Grundsätze .......................................... 51 2.2.3 Kanos optimistische Erziehungsansprüche ........................................ 57

2.3 Potenzielle Sozialisationswirkungen von Judo ..................... 61 2.3.1 Potenzielle Wirkungen auf die physische Entwicklung ..................... 62 2.3.1.1 Förderung koordinativer Fähigkeiten ............................................ 62 2.3.1.2 Förderung konditioneller Fähigkeiten ........................................... 64 2.3.2 Potenzielle Wirkungen auf die psychosoziale Entwicklung .............. 65 2.3.2.1 Förderung von Empathie ............................................................... 65 2.3.2.2 Förderung von Selbstwirksamkeit ................................................. 70 2.3.3 Zusammenfassung .............................................................................. 75

2.4 Forschungsstand zur Sozialisation im Kampfsport ............. 77 2.4.1 Studienüberblick ................................................................................. 77 2.4.2 Zusammenfassung .............................................................................. 89

2.5 Fazit: Ein Modell der judobezogenen Sozialisation ............. 94 3 Entwicklung der Fragestellungen............................................... 97 3.1 Theoretische Präzisierungen .................................................. 98 3.1.1 Die physischen Untersuchungsmerkmale .......................................... 98 3.1.2 Die psychosozialen Untersuchungsmerkmale .................................. 101 3.1.3 Forschung mit Kindern ..................................................................... 107

3.2 Die Fragestellungen der Studie ............................................ 111

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Inhalt

4 Empirische Untersuchung ......................................................... 115 4.1 Vorüberlegungen zur Konzeption der Studie ..................... 115 4.2 Erhebungs- und Auswertungsmethoden ............................. 119 4.2.1 Motorische Tests (quantitative Untersuchung) ................................ 120 4.2.1.1 Auswahl der Motoriktest-Items und Durchführung der Erhebung ... ...................................................................................................... 120 4.2.1.2 Auswertung der motorischen Tests ............................................. 122 4.2.1.3 Gütekriterien der motorischen Tests............................................ 126 4.2.2 Schriftliche Befragung (quantitative Untersuchung)........................ 127 4.2.2.1 Auswahl der Fragebogen-Items und Durchführung der Erhebung ... ...................................................................................................... 127 4.2.2.2 Auswertung der schriftlichen Befragung ..................................... 132 4.2.2.3 Gütekriterien der schriftlichen Befragung ................................... 135 4.2.3 Mündliche Befragung (qualitative Untersuchung) ........................... 136 4.2.3.1 Konzeption und Durchführung der mündlichen Befragung ........ 136 4.2.3.2 Auswertung der mündlichen Befragung ...................................... 140 4.2.3.3 Gütekriterien der mündlichen Befragung .................................... 149

4.3 Setting und Stichprobe .......................................................... 152 4.3.1 Beschreibung des Settings und der Stichprobe................................. 153 4.3.2 Stichprobe der quantitativen Untersuchung ..................................... 155 4.3.3 Stichprobe der qualitativen Untersuchung ....................................... 162

4.4 Beschreibung des Unterrichtskonzepts ............................... 164 4.5 Design der Studie ................................................................... 168 5 Darstellung der Ergebnisse ....................................................... 171 5.1 Ergebnisse der quantitativen Untersuchung ...................... 171 5.1.1 Überprüfung der Voraussetzungen ................................................... 172 5.1.2 Darstellung quantitativer Ergebnisse ................................................ 174 5.1.2.1 Bedeutsame Ergebnisse: Physische Entwicklung ....................... 175 5.1.2.2 Bedeutsame Ergebnisse: Psychosoziale Entwicklung ................. 201 5.1.3 Vergleich zwischen Untersuchungsgruppe 1 und 2 ......................... 205 5.1.4 Zusammenfassung ............................................................................ 208

5.2 Ergebnisse der qualitativen Untersuchung ......................... 211 5.2.1 Kurzbeschreibung der Interviewpartner ........................................... 211 5.2.2 Darstellung qualitativer Ergebnisse .................................................. 214 5.2.2.1 Kinderperspektive auf die physische Entwicklung ..................... 216 5.2.2.2 Kinderperspektive auf die psychosoziale Entwicklung ............... 218 Exkurs: Kinderperspektive auf Mit- und Gegeneinander-Kämpfen ....... 225 5.2.3 Zusammenfassung ............................................................................ 227

Inhalt

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5.3 Beantwortung der Fragestellungen ..................................... 232 5.3.1 Antworten im Bereich der physischen Entwicklung ........................ 232 5.3.2 Antworten im Bereich der psychosozialen Entwicklung ................. 234

6 Diskussion ................................................................................... 237 6.1 Interpretation der Ergebnisse .............................................. 237 6.2 Einordnung der Ergebnisse .................................................. 242 6.2.1 Vergleich der Ergebnisse mit Resultaten anderer Studien ............... 243 6.2.2 Einordnung der Ergebnisse in den theoretischen Rahmen ............... 247

6.3 Methodenkritik und Ableitungen ........................................ 251 6.3.1 Kritische Bewertung der empirischen Untersuchung ....................... 251 6.3.2 Ableitungen für die Praxis ................................................................ 253 6.3.3 Ableitungen für zukünftige Forschungsarbeiten .............................. 256

Schluss .............................................................................................. 258 Literaturverzeichnis........................................................................ 260 Abbildungsverzeichnis .................................................................... 278 Tabellenverzeichnis ......................................................................... 279

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Zusammenfassung

Zusammenfassung Stark machende Wirkungen werden dem Judo seit seiner Entstehung zugeschrieben, wobei nicht nur ein Zuwachs körperlicher, sondern insbesondere auch psychosozialer Ressourcen postuliert wird. So resümierte bereits Jigoro Kano (1860-1938), der Begründer des Judo, dass Judo eine „Übung von Geist und Körper sei, die für die Führung des Lebens und aller Angelegenheiten“ (Kano, 1976, S. 147) gelte. Auch das moderne Judo erfährt entsprechende Zuschreibungen. Der Deutsche Judo-Bund wirbt bspw. auf seiner Homepage, dass „die Sportart Judo (...) wie kaum eine andere zur ganzheitlichen Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen“ beitrage und „die parallele Entwicklung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Geschicklichkeit (...) Kinder stark mache“ (DJB, 2011a). Die Studie überprüft physische und psychosoziale Sozialisationswirkungen des Judo am Beispiel von schulischen SportArbeitsgemeinschaften (Sport-AGs). Für die empirische Untersuchung wurden an fünf Grundschulen Judo-AGs eingerichtet. Das Training basierte auf der Grundlagenausbildung des Deutschen Judo-Bundes. Als Vergleichsgruppen dienten einerseits Sport-AGs, die keinen Kampfsport zum Inhalt hatten, und andererseits Kinder, die keinen organisierten Sport ausübten. Bei der Untersuchung kamen sowohl quantitative (motorische Tests, schriftliche Befragung) als auch qualitative (mündliche Befragung) Methoden zum Einsatz. Erstere wurden längsschnittlich erhoben. Die Interviews fanden am Ende des Untersuchungszeitraums statt. Die Studie zeigt, dass Judo Kraftausdauer- und koordinative Fähigkeiten und insbesondere Kraftausdauer im Rumpfbereich signifikant verbessern kann. Darüber hinaus scheint Judo gute Rahmenbedingungen für die Förderung von Selbstwirksamkeit zu besitzen, eine grundlegende Wirkung konnte jedoch nicht belegt werden. Möglicherweise kommt diese erst in Verbindung mit einem spezifischen Konzept zur Förderung psychosozialer Ressourcen (vgl. Sygusch, 2007) zum Tragen. Die z. T. widersprüchlichen Ergebnisse bezüglich des Einflusses auf die Empathie deuten darauf hin, dass weiterer Forschungsbedarf besteht. Nach den Aussagen der Kinder kann Judo zur Selbstbehauptung und Reduktion der Angst vor Übergriffen beitragen. Sie sind auch der Meinung, Judo fördere Rücksichtnahme und Regelbewusstsein.

Einleitung

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Einleitung Kämpfen ist laut Fink (1979) eines der fünf Grundphänomene des menschlichen Daseins: „Der Mensch ist ebenso wesenhaft Sterblicher und Liebender, wie er Arbeiter, Kämpfer und Spieler ist“ (ebd., S. 424). Er meint dabei v. a. das Kämpfen um Herrschaft und betont deren Zweideutigkeit: Herrschaft „gilt als Segen, sofern sie die zügellose Gewalt eindämmt, das Menschenleben einrichtet und ordnet – und sie gilt als Fluch, sofern sie Überordnung und Unterordnung, und damit ein Machtgefälle verfestigt“ (ebd., S. 314). Kämpfen könne aber auch Inhalt eines Spiels sein, denn „das Spiel des Menschen hat keine andere Äußerungsdimension als eben die Lebensfelder unserer Existenz gemeint sind die o. g. fünf Grundphänomene menschlichen Daseins; Anm. d. V.“ (ebd., S. 401): „Wir spielen den Ernst, spielen die Echtheit, spielen Wirklichkeit, wir spielen Arbeit und Kampf, spielen Liebe und Tod“ (Fink, 2010, S. 19). Das Spiel ist für Fink eine symbolische Handlung und vergegenwärtige dadurch den Sinn von Welt, Leben und eben auch von Kämpfen (ebd., S. 28). Die Gelegenheiten für spielerisch-freundschaftliche oder ernsthaftaber-faire körperliche Auseinandersetzungen sind in unserer modernen Gesellschaft rar. Im privaten Bereich besteht eine Tendenz zur Ein-Kind-Familie (Hanke, 2002, S. 14) und je weniger Geschwister ein Kind besitzt, desto weniger potenzielle „Rauf- bzw. Kampfpartner“ stehen ihm zur Verfügung. Im öffentlichen Bereich werden körperliche Auseinandersetzungen missbilligt und meist unterbunden. Studien zur sogenannten „veränderten Kindheit“ (Fölling-Albers, 1995) zeigen, dass für eine Mehrheit der Kinder spontanes und unbeobachtetes Spiel immer seltener wird. Spielsituationen sind stattdessen zumeist arrangiert, pädagogisiert und beaufsichtigt. Nach Pilz (2003) ist das Verhalten von Pädagogen1 in diesem Kontext oftmals kontraproduktiv: „Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Tabuisierung von körperlicher Gewalt, der erhöhten Sensibilität gegenüber körperlicher Gewalt werden in Kindergarten und Schule viel zu oft spielerische Balgereien und Raufereien von Aufsichtsperso-

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Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet.

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Einleitung

nen unterbunden, den Kindern und Jugendlichen somit die Erfahrungen im Umgang mit körperlicher Gewalt genommen“ (ebd., S. 11). Beudels und Anders (2008, S. 15) sehen im Kämpfen nach schützenden Regeln primär den Sinn, einen strukturierten Rahmen bzw. ein legales Ventil für das Ausleben kindlicher Bewegungslust und archaischer Bedürfnisse zu bieten. Kindern wird so die Möglichkeit gegeben, natürliche Verhaltensweisen wie das spielerische Balgen auszuleben und gleichzeitig über ritualisierte Aggressionsformen destruktives Verhalten zu kanalisieren (Pilz, 2003, S. 11). „Kämpferische und aggressive Leidenschaften werden in der Form ‚zivilisierter’ Wettkämpfe ausgedrückt und nicht als ungezügelte barbarische Gewalt“ (Krüger, 1995, S. 368). Mit der Möglichkeit, durch zivilisiertes bzw. kultiviertes Kämpfen kindliche Bewegungslust und archaische Bedürfnisse kontrolliert auszuleben, ist die Annahme verknüpft, dass Kämpfen unter bestimmten Voraussetzungen bedeutsam für die kindliche Entwicklung sein kann. Diese These wird seit den 1980er-Jahren von der Sportpädagogik zunehmend thematisiert. Den entscheidenden Impuls hierfür gab im deutschsprachigen Raum Funke (1988) mit seinem Artikel Ringen und Raufen, in dem er folgende Fragen aufwirft: „Was bedeutet körperlich-handgreifliche Auseinandersetzung, was geht da vor, wenn sich Haut an Haut reibt, wenn einer flüchtet oder standhält, wenn die Muskeln in der Anstrengung schwellen, wenn einer obenauf ist und der andere buchstäblich unter ihm, was entwickelt sich ggf. falsch oder gar nicht, wenn der Biographie solche Erfahrungen fehlen?“ (ebd., S. 13). Mittlerweile ist die normative Aufarbeitung des sportlichspielerischen Kämpfens weit fortgeschritten. Stellvertretend seien hier die Arbeiten von Beudels (Beudels, 2007; 2008a; 2008b; Beudels & Anders, 2008), Funke bzw. Funke-Wieneke (Funke, 1988; 1990; Funke-Wieneke, 1994; 1999; 2009), Happ (1983; 1998), Janalik (Janalik, 1992; 1997; 2000; Janalik & Knörzer, 1986), Kuhn (2008) sowie Lange und Sinning (2003; 2007) genannt. Sie stellen derzeit eine Entscheidungsgrundlage für die Integration bzw. Ausweitung des Kämpfens in den aktuellen Sportlehrplänen dar. Einen ersten Eindruck, was mit Kämpfen im Schulsport gemeint ist, gibt folgender Auszug aus dem aktuellen Sportlehrplan für Grundschulen in NordrheinWestfalen:

Einleitung

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„Beim Ringen und Kämpfen im Sportunterricht steht der spielerische, regelgeleitete Aspekt der körperlichen Auseinandersetzung im Vordergrund. Oberstes Prinzip ist das verantwortungsbewusste Handeln gegenüber der Partnerin/dem Partner bzw. der Gegnerin/dem Gegner, d. h., die Beherrschung von Emotionen und die Sorge um die körperliche Unversehrtheit der Partnerin bzw. des Partners müssen das Kräftemessen steuern. Hier ergeben sich nutzbringende Chancen, über die bewussten Erfahrungen unmittelbarer Körperkontakte ein rücksichtsvolles Miteinander in der Begegnung von Schwächeren und Stärkeren anzubahnen“ (NRW, 2008, S. 118). Noch ist das kultivierte Kämpfen nicht in allen Bundesländern in den Lehrplänen verankert. So ist es beispielsweise im Sportlehrplan für Grundschulen in Bayern nicht als eigenständiges Bewegungsfeld berücksichtigt (KM Bayern, 2000). Ob jedoch im Lehrplan bereits erwähnt oder nicht, den spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten, die sich durch ein verantwortungsvolles Miteinander im gegeneinander gerichteten Zweikampf erleben lassen, wird ein hoher pädagogischer Wert beigemessen. Diese reichen laut Lange und Sinning (2007) von der Aggressionsbewältigung und der Selbstbehauptung bis hin zur motorischen Geschicklichkeit und Kraftfähigkeit. Die beiden Autoren weisen jedoch darauf hin, dass die Thematisierung des Kämpfens und die damit verbundenen „Erwartungen und Wirkungshoffnungen“ (ebd., S. 9) auch als Reaktion auf zahlreiche, gesellschaftlich bedingte Problemlagen interpretiert werden können. Lange und Sinning setzen daher der Vielfalt unreflektierter Wirkungshoffnungen „eine differenzierte sportpädagogische Auseinandersetzung und Diskussion mit den vermeintlichen Wirkungen“ (ebd., S. 9) entgegen. Eine solche normative Betrachtungsweise kann Aufschluss über die pädagogischen Möglichkeiten des Kämpfens im Schulsport verschaffen, allerdings ist dieser Zugang allein nicht ausreichend. Auf diese Problematik verweisen auch Beudels und Anders (2008, S. 25). Ihnen zufolge gibt es zwar im Bereich des kultivierten Kämpfens „auch ohne Vorliegen wissenschaftlich anerkannter Untersuchungen (...) pädagogisch-therapeutisch nutzbare Erkenntnisse, die (...) in langfristigen, subjektiven Beobachtungen und Erfahrungen“ gewonnen wurden (ebd.). Dennoch weisen beide Autoren darauf hin, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht immer identisch sein können und müssen. Schmoll (2010) fordert daher die Sportwissenschaft auf,

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Einleitung

„die tatsächlichen positiven Möglichkeiten von Zweikampfsport in der Schule empirisch zu belegen. Feststellungen (...), dass Lehrkräfte bei der Durchführung von Unterrichtsvorhaben zum Zweikampfsport von zahlreichen positiven Wirkungen (z. B. Reduzierung von Nervosität) berichten und Schüler weniger unerwünschte Verhaltensweisen (z. B. Reduzierung von Beschimpfungen) zeigen, sind ohne empirische Belege wertlos“ (ebd., S. 4). Die Studie Macht Judo Kinder stark? möchte diese Lücke schließen und einen Beitrag zur empirischen Aufarbeitung von Kämpfen im Schulsport leisten, indem am Beispiel des Schulsports Judo die Sozialisationswirkungen des kultivierten Miteinander-Kämpfens überprüft werden. Für die Auswahl von Judo sprechen mehrere Gründe:  Der Lehrplan in Bayern umfasst derzeit 28 Sportarten. Judo ist neben Ringen und Selbstverteidigung eine der wenigen Kampfsportarten, die im Rahmen des differenzierten Sportunterrichts in Bayern angeboten werden dürfen (KM Bayern, 2011).  Von neun derzeit in Bayern angebotenen Kampfsportarten stellt Judo die meisten Sport-Arbeitsgemeinschaften im Rahmen von „Sport nach 1“ (Kooperationsmodell für außerunterrichtlichen Schulsport; Laspo, 2011a, 2011b).  Judo ist derzeit in Bayern die Kampfsportart mit der höchsten Beteiligung bei schulischen Teamwettbewerben (Laspo, 2011c).  Judo ist momentan die einzige Kampfsportart, die im Rahmen von „JUGEND TRAINIERT FÜR OLYMPIA“ (Bundeswettbewerb für Schulen) angeboten wird (Laspo, 2011d).  Judo ist nach der Bestandsaufnahme 2009 des Deutschen Olympischen Sportbundes mit 180.599 Mitgliedern der größte Verband der olympischen Kampfsportarten in Deutschland, gefolgt von Ringen (68.438), Boxen (63.656) und Taekwondo (60.754 Mitglieder; DOSB, 2011). Außerdem werden dem Judo seit seiner Begründung „stark machende Wirkungen“ zugeschrieben. So resümierte bereits Jigoro Kano2 (18601938), dass Judo eine „Übung von Geist und Körper sei, die für die Führung des Lebens und aller Angelegenheiten“ gelte (Kano, 1976,

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Begründer des Judo (siehe Abschnitt 2.2).

Einleitung

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S. 147). Auch das moderne Judo erfährt entsprechende Zuschreibungen. Der Deutsche Judo-Bund wirbt etwa auf seiner Homepage, dass: „die Sportart Judo (...) wie kaum eine andere zur ganzheitlichen Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen“ beitrage; „die parallele Entwicklung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Geschicklichkeit (...) Kinder stark mache; der Kerngedanke der Kampfsportart Judo, einen Partner körperlich zu besiegen, ohne ihn zu verletzen, (...) in hohem Maße gewaltpräventiv wirke und (...) Verantwortungsgefühl“ vermittle; und „der kontinuierliche Fortschritt im Judo (...) enorm zur Entwicklung von Selbstwertgefühl und Selbstbehauptung“ beitrage (DJB, 2011a). Wie unterschiedlich und vielfältig die Wirkungsannahmen von Judo hinsichtlich der Entwicklung von Kindern sind, zeigt ein Blick in die aktuellen Unterrichtskonzepte3 für Judoanfänger und in Beiträge4, die sich mit den Chancen und Möglichkeiten des Schulsports Judo befassen. Die dort genannten Erwartungen lassen sich gliedern in:  konditionelle Aspekte, z. B. Förderung der Leistungsfähigkeit von Arm-, Schulter- und Rumpfmuskulatur (Mosebach, 2012; Süssenguth, 1997; Clemens et al., 1989);  koordinative Aspekte, z. B. Steigerung der koordinativen Leistungsfähigkeit (Pöhler et al., 2006; Süssenguth, 1997);  fertigkeitsorientierte Aspekte, z. B. Förderung der Grundfertigkeiten Laufen, Springen und Rollen (Pöhler et al., 2006);  gesundheitsorientierte Aspekte, z. B. Prävention von Sturzunfällen (Mosebach, 2012);  soziale Aspekte, z. B. Gewaltprävention, Förderung von Rücksichtnahme und Empathie (Mosebach, 2012; Pöhler et al., 2006);

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Judo-Grundlagenausbildung des Deutschen Judo-Bundes für unter 11Jährige (Lippmann, 2009); Judo spielend lernen – Unterrichtsprogramm des Deutschen Judo-Bundes für Vor- und Grundschulkinder zwischen fünf und sieben Jahren (Pöhler, Dax-Romswinkel, Ehnes, Kleegräfe, Lippmann, Saam & Schäfer, 2006); Jugendgesamtkonzept und Rahmentrainingsplan des Bayerischen Judo-Verbands für unter 11-Jährige (BJV, 2011a; 2011b). Kämpfen und der Kampfsport (Mosebach, 2012); Judo im Schulsport – Chancen und Möglichkeiten (Süssenguth, 1997); Judo als Schulsport (Clemens, Metzmann & Simon, 1989).

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Einleitung

 motivationale Aspekte, z. B. Erwerb einer positiven Einstellung zu Judo (BJV, 2011a; 2011b; Lippmann, 2009);  persönlichkeitsbezogene Aspekte, z. B. Förderung von Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit durch die Erfahrung der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit (Pöhler et al., 2006);  kognitive Aspekte, z. B. Vermittlung von sportbiologischem und biomechanischem Grundwissen (Süssenguth, 1997) und  übergreifende Aspekte, z. B. Erziehung durch judospezifische Rituale und Werte (Süssenguth, 1997). Vor dem Hintergrund der in unserer Gesellschaft typischen Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben, mit denen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren konfrontiert werden5, sind primär diejenigen Aspekte bedeutsam, die eine Stärkung der physischen und psychosozialen Ressourcen6 verheißen, denn diese können „ihrerseits einen Beitrag zur Bewältigung von Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben leisten“ (Sygusch, 2007, S. 11). Ob Judo wirklich physische und psychosoziale Ressourcen fördern und dadurch Kinder für die Bewältigung von Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben stärken kann, soll im Rahmen dieser Studie empirisch überprüft werden. Die entsprechenden Fragestellungen lauten:

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Nach Brettschneider und Gerlach (2004) sind dies:  körperliche Geschicklichkeit, die für Spiele notwendig ist, erwerben;  positive Einstellung zu sich als wachsendem Organismus gewinnen;  lernen, mit Altersgenossen auszukommen;  geschlechtertypisches Rollenverhalten einüben;  Gewissen, Moral und Wertprioritäten aufbauen;  Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen entwickeln;  kognitive Konzepte und Denkschemata für den Alltag entwickeln und  grundlegende Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen entwickeln. Ressourcen sind Unterstützungsquellen, die zur Bewältigung alltäglicher und besonderer Anforderungen beitragen (BZgA, 2001, S. 17; vgl. Sygusch, 2007, S. 11); physische Ressourcen sind körperliche Potenziale einer Person (z. B. physiologische Parameter oder motorische Fähigkeiten), die zur Bewältigung alltäglicher und besonderer Aufgaben beitragen (vgl. Sygusch, 2007, S. 11); psychosoziale Ressourcen sind personale (z. B. Selbstkonzept oder Selbstwirksamkeit) und soziale Potenziale (z. B. soziale Kompetenzen oder sozialer Rückhalt) einer Person, die zur Bewältigung alltäglicher und besonderer Aufgaben beitragen (Sygusch, 2007, S. 11, 50).