Luther und die Reformation in der aktuellen Diskussion

Prof. Dr. Armin Kohnle Theologische Fakultät der Universität Leipzig Vortrag in Leipzig am 21.11.2008 Luther und die Reformation in der aktuellen Dis...
Author: Elke Scholz
0 downloads 1 Views 132KB Size
Prof. Dr. Armin Kohnle Theologische Fakultät der Universität Leipzig Vortrag in Leipzig am 21.11.2008

Luther und die Reformation in der aktuellen Diskussion

Gliederung: 1

Vorüberlegungen................................................................................................................ 3

2

Luther oder Reformation; evangelisch oder ökumenisch?................................................. 6

3

Martin Luther in der aktuellen Forschung.......................................................................... 8

4

Neue Gesamtdarstellungen der Reformation ................................................................... 13

5

Zwei ausgewählte Themen: Thesenanschlag und Religionsfrieden ................................ 13

6

Fazit.................................................................................................................................. 16

Ausgewählte neuere Literatur zu Luther und zur Reformation................................................ 17

2

(Folie 1) Martin Luther und die Reformation sind Lehrplanthemen im Religions- und im Geschichtsunterricht. Es ist nicht meine Aufgabe, und ich bin auch gar nicht kompetent, Ihnen zu sagen, wie Sie diese Themen im Unterricht vermitteln sollen. Ich habe mir für heute vielmehr vorgenommen, Ihnen einen Einblick zu geben in einige aktuelle Diskussionen, Sie auf neue Literatur hinzuweisen, von der ich glaube, dass sie auch für den Schulgebrauch nützlich sein könnte, und Sie wenigstens an einigen Stellen an Forschungsdebatten im engeren Sinne teilhaben zu lassen. Ich wünsche mir, dass Sie einige Impulse mitnehmen können, in erster Linie für sich selbst, dass Sie Lust bekommen, sich über das im Unterricht unmittelbar Verwertbare hinaus mit der Reformation neu zu beschäftigen.

1 Vorüberlegungen Die Reformation des 16. Jahrhunderts genießt im Augenblick eine mediale Aufmerksamkeit wie schon lange nicht mehr. Vor genau zwei Monaten, am 21. September 2008, wurde, wie Sie alle aus den Nachrichten wissen, die „Lutherdekade“ eröffnet. Den Anlass und das Datum lieferte die Ankunft Martin Luthers in Wittenberg vor genau 500 Jahren. Die ausgerufene Lutherdekade steht unter dem Motto: „Luther 2017. 500 Jahre Reformation“ und stellt uns einen Marathon an Feiern in Aussicht, bis man endlich dort angekommen sein wird, wo man hinwill: beim 500. Jahrestag des Thesenanschlags vom 31. Oktober 1517. Es könnte einem schwindelig werden, wenn man daran denkt, was in den kommenden 9 Jahren alles gefeiert werden könnte, wenn man so weitermacht, wie man angefangen hat: Nach Luthers Ankunft in Wittenberg könnte man seine erste Vorlesung an der Universität feiern, dann die zweite, dann die dritte, das Turmerlebnis, Luthers Disputationen, seine frühsten Schriften, alles könnte zum Trittstein werden auf dem Weg in das Jahr 2017. Zum Glück, so könnte man sagen, lässt sich vieles nicht genau datieren und wird sich schon aus diesem Grund nicht gebührend feiern lassen. Und 2017 hört es ja nicht auf: Wenn wir das große Jahr erst einmal erreicht und überlebt haben werden, fängt es ja erst richtig an: All die großen Ereignisse und Entscheidungen der Reformationszeit, die Leipziger Disputation 1519, der Lutherbann 1520, das Wormser Edikt 1521, der Bauernkrieg 1525, das Augsburger Bekenntnis 1530, um nur die wichtigsten zu nennen, werden Anlässe liefern für neue Feieraktivitäten. Ich persönlich bin also in der glücklichen Lage, einer Generation von Reformationshistorikern anzugehören, die bis an ihr Lebensende die Gelegenheit haben wird, in regelmäßigen Abständen 500. Geburtstage zu feiern. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich der Beteiligung an dem, was kommt, nicht entziehen. Aber ich will mich ja auch nicht entziehen, denn neben 3

manchem Absonderlichen werden die kommenden Jahre auch gewaltige Chancen bieten, die reformatorische Botschaft neu zu Gehör zu bringen. Hier wird auch den Religionslehrerinnen und Religionslehrern eine wichtige Aufgabe als Multiplikatoren zukommen. Im einzelnen stelle ich folgende vier Vorüberlegungen an, von denen ausgehend ich mich der aktuellen Diskussion über Luther und die Reformation nähern will: 1. Das Bewusstsein für die Bedeutung des Religiösen als einer gestaltenden Kraft in Vergangenheit und Gegenwart ist in den letzten Jahren wieder deutlich gestiegen, auch wenn dieses Bewusstsein auf eine immer eklatantere Unkenntnis der eigenen christlichen Traditionen stößt. In den neuen Bundesländern ist diese Unkenntnis vor dem Hintergrund des jahrzehntelang staatlich geförderten Atheismus und der Kirchenfeindlichkeit noch erheblich ausgeprägter als in den alten. Dieser Unkenntnis entgegenzuwirken, ist eine gemeinsame Aufgabe von Universitätstheologen und Religionslehrern. 2. Die besagte Lutherdekade wird vielfältige Möglichkeiten eröffnen, die Schulen an den aktuellen Forschungen zur Reformation zu beteiligen. Der Freistaat Sachsen ist in seinen Planungen allerdings längst nicht so weit wie die Nachbarländer Sachsen-Anhalt und Thüringen, in denen es eine Reihe konkreter Projekte bereits gibt und wo die finanzielle Absicherung von seiten der Politik bereits erfolgt ist. (Folie 2) Als Beispiel für die Einbeziehung von Schulen möchte ich Ihnen aus Sachsen-Anhalt das Projekt: „Gesucht: Luthers Spuren“ vorstellen: -

es geht um einen Geschichtswettbewerb für Schülerinnen und Schüler der Schuljahrgänge 3 bis 10 in allen Schulen Sachsen-Anhalts;

-

Aufgabe ist es, sich in der eigenen Umgebung auf die Suche nach Spuren Luthers zu machen und die Ergebnisse schriftlich und in einer wissenschaftlichen Kriterien genügenden Form einzureichen;

-

für Einzelpersonen und Gruppen sind Geldpreise ausgelobt.

Ähnliche Kooperationen von Universität und Schule sind für die kommenden Jahre auch im Freistaat Sachsen geplant. Gedacht ist im Augenblick an Projekte zum Thema Reformation und Schule oder Reformation und Bildung. Ich möchte alle Anwesenden heute schon einladen, auf entsprechende künftige Angebote zu reagieren und sie an den Schulen aktiv zu unterstützen. 3. Sachsen als das Mutterland der Reformation wird sich allerdings in der Lutherdekade schwerer tun als die Nachbarländer, da die bedeutendsten Lutherstätten wie Wittenberg oder Eisleben seit der napoleonischen Zeit von Sachsen getrennt sind. Die kommenden Aktivitäten werden also zwangsläufig Landesgrenzen überschreitend in einer mitteldeut4

schen Kooperation geschehen müssen. Über Schülerwettbewerbe hinaus werden vor allem Ausstellungen die Gelegenheit bieten, das Reformationsthema mit Schulklassen zu erarbeiten. Die kommenden Jahre werden mit Ausstellungen gepflastert sein. Sachsen-Anhalt ist uns auch hier wieder einen Schritt voraus, wie ich Ihnen am Beispiel der augenblicklich im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle gezeigten Ausstellung „Fundsache Luther“ demonstrieren möchte (Folie 3). Die Ausstellung präsentiert archäologische Funde aus den Lutherstätten Eisleben, Mansfeld und Wittenberg. Sie bietet also Einblicke in die Alltagsgeschichte der Lutherzeit und ist deshalb für den Besuch mit Schulklassen bestens geeignet. Ich will Ihnen aber nicht verschweigen, dass ich mit dem Ausstellungskonzept meine Probleme habe. Die Ausstellungsmacher behaupten nämlich, die archäologischen Funde ermöglichten einen „bisher noch nie dagewesenen Einblick in das Leben Martin Luthers und seiner Familie“. Man erfahre etwas, was den schriftlichen Quellen nicht zu entnehmen sei, ihnen sogar teilweise widerspreche. Neugierig geworden, was das denn sein könnte, liest man in der entsprechenden Presseinformation: „Besonders hinsichtlich der von Luther selbst angeführten Herkunft aus ärmlichem Elternhaus sprechen die Befunde und Funde aus Mansfeld eine deutliche Sprache: Der Reformator war nicht „eines armen Häuers“ [= Bergmanns] Sohn, sondern entstammte einer Familie, die vermögend war und dank reicher Einkünfte einen aufwendigen Lebensstil führen konnte. (Folie 4) Dies bezeugen die Funde von teuren Gläsern, Tafelmessern, Gewandapplikationen und nicht zuletzt neue Ergebnisse der Bauforschung, die eine viel größere Ausdehnung des elterlichen Anwesens feststellte als bisher angenommen wurde.“ Weiter heißt es, in der Abfallgrube zu Mansfeld habe man 300 Silbermünzen gefunden und außerdem Hunderte von Tierknochen, die eine relativ genaue Rekonstruktion von Luthers Speiseplan erlaubten. Weiter wörtlich: „Die Familie leistete sich das teuere Fleisch von jungen Schweinen, jagte und verzehrte aber auch Singvögel.“ Nun kennen die Historiker das alte Problem, dass Archäologen zwar vieles finden, aber nichts damit anzufangen wissen. Die Hallenser Ausstellung übertrifft aber doch das übliche Maß. Was will man dem Publikum weismachen? Dass die Wahrheit im Abfall liegt? Dass Luther ein Lügner war, der den Wohlstand seiner Eltern verschwieg? Dass er schon als Kind an Prasserei gewöhnt, ja sogar ein Umweltsünder war, der Singvögel aß? Offensichtlich ist Wohlstand für die Entdecker dieser „Sensationen“ etwas Anrüchiges. Abgesehen davon, dass kein Archäologe der Welt einem Schweineknochen ansieht, wer ihn abgenagt hat, oder einem Singvogelknochen, wer das Tier gefangen hat, oder runden 5

Steinen, wer mit ihnen gespielt hat, ist schon immer bestens bekannt gewesen, dass Martin Luther aus der Familie eines sozialen Aufsteigers stammte, der es zu Wohlstand brachte. Schließlich hat der Vater Hans Luder ausreichend Geld gehabt, um seinem Sohn Martin die beste Bildung angedeihen zu lassen, die es damals gab. Und das war teuer. Wenn Luther von der Armut seines Vaters spricht oder davon, er sei der Sohn eines Bauern, dann kokettierte er zwar mit seiner Herkunft, hatte aber zweifellos auch die Zeit vor dem sozialen Aufstieg Hans Luders im Blick, bevor dieser ein erfolgreicher Bergunternehmer wurde. Luthers Fähigkeit zur Selbstironisierung einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen und unterschwellige Angriffe auf seine Glaubwürdigkeit zu führen, wie es die Ausstellungsmacher tun, steht übrigens in einer Tradition mit der katholischen Polemik des 19. Jahrhunderts. Wir werden noch sehen, wie solche Argumentationsmuster im modernen Gewand konstruktivistischer Theorie wiederkehren und sogar Einfluss auf konkrete Forschungsergebnisse ausüben. 4. Die Hallenser Ausstellung mit ihren Unterstellungen und Missdeutungen sollte Ihnen vor Augen führen, dass die vor uns liegende Lutherdekade nicht nur von wissenschaftlichen Interessen geleitet sein, sondern dass Luther und die Reformation zwangsläufig für das Marketing in Städten und Land, die Tourismusförderung sowie für Imagekampagnen benutzt werden wird. Die Erfindung von Sensationen ist letztlich nur Indiz des Überwucherns solcher Interessen gegenüber einer ruhigeren und weniger auf Spektakel ausgehenden Forschung.

2 Luther oder Reformation; evangelisch oder ökumenisch? (Folie 5) Ich glaubte, diese allgemeinen Vorüberlegungen anstellen zu müssen, um den Kontext und die Problematik der aktuellen Luther- und Reformationsforschung deutlich zu machen. Zwei weitere Überlegungen sollen folgen: 1. Die Perspektive 2017 ist bei genauerem Hinsehen gar nicht so klar konturiert wie man denken könnte, weil eine ganz zentrale Frage nicht beantwortet ist: Was wird 2017 denn eigentlich gefeiert? Geht es um ein Lutherjahr oder um ein Reformationsjubiläum? Der Begriff der „Lutherdekade“ suggeriert, dass Person und Theologie Luthers im Mittelpunkt stehen. Das offizielle Logo geht den einfachsten Weg, den Weg des sowohl als auch: Luther 2017. 500 Jahre Reformation. Die Frage, ob Luther oder die Reformation im Mittelpunkt stehen sollen, hat Konsequenzen für die Dimensionen des Feierns. Die Reformation des 16. Jahrhunderts ist zweifellos ja etwas Umfassenderes als ein Lutherjubiläum und 6

würde außer dem deutschen und dem internationalen Luthertum auch die Reformierten und andere aus der Reformation hervorgegangene Gruppen einschließen müssen. (Folie 6) Vor einigen Wochen fand eine Tagung der Luther-Gesellschaft in Wittenberg statt, auf der die Frage beantwortet werden sollte, was denn 2017 eigentlich gefeiert werden soll. Die Tagung hat die Frage nicht beantwortet. Wir werden uns darauf einrichten müssen, dass je nach Bedarf und regionaler Anbindung ein Lutherfest oder ein Reformationsfest stattfinden wird. 2. Ein weiteres Problem stellt sich im Blick auf die Ökumene. Was bedeutet die Mobilisierung von Geldern und Energien für die evangelisch-katholische Ökumene? Oder anders gefragt: Mit welchem Ziel wird gefeiert? Sollen die Reihen auf evangelischer Seite geschlossen werden, soll man die Lutherdekade nutzen, um das schwindende evangelische Profil erneut zu schärfen, die Zusammengehörigkeit des weltweiten Protestantismus wieder ins Gedächtnis zu rufen, oder ist das Jahr 2017 nicht im Gegenteil eine große Chance, die im 16. Jahrhundert aufgerissenen Gräben wieder zuzuschütten? Soll man die katholische Seite mit ins Boot holen und wenn ja, bis zu welchem Grad? (Folie 7) Am 8. März 2008 veröffentlichte die englische Tageszeitung „The Times“ einen Artikel, der überschrieben war: „That Martin Luther? He wasn’t so bad, says Pope” (Dieser Martin Luther? Er war gar nicht so böse, sagt der Papst). Im Text heißt es dann, Papst Benedikt XVI. wolle das römische Ketzerurteil gegen Martin Luther überdenken und eine Neubewertung Luthers auf den Weg bringen. Die Nachricht wurde vom Vatikan umgehend dementiert. Trotz dieses Dementis ist klar, dass das Jahr 2017 auch eine Etappe im ökumenischen Dialog sein wird, sei es, dass der Papst (welcher auch immer und in welcher Form auch immer) wirklich die Gelegenheit zur Rehabilitierung Martin Luthers nutzen wird oder eben nicht nutzen wird, was ebenfalls ein deutliches Signal sein würde. In der deutschen katholischen Universitätstheologie jedenfalls gibt es eine Reihe von Stimmen, die eine klare Revision der römischen Haltung zu Luther anmahnen: -

der Tübinger katholische Systematiker Bernd-Jochen Hilberath hat auf der schon erwähnten Tagung der Luther-Gesellschaft dafür plädiert, Luther katholischerseits zum „Lehrer der Kirche“ erklären zu lassen;

-

der Hamburger Theologe Otto Hermann Pesch hat im Rahmen einer Wittenberger Tagung über „Luther und das Papsttum“ am vergangenen Reformationstag (Folie 8) eine Reihe von Kriterien genannt, die erfüllt sein müssten, um zu einem „ökumenetauglichen Papsttum“ zu kommen. Eines der Kriterien ist die Anerkennung der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen als „Kirchen im eigentlichen Sinne“. Damit ver7

bunden wäre auch die völlige Neubewertung Martin Luthers und seiner Lehre durch die römische Kirche. Die Zuversicht, dass anlässlich des Jahres 2017 aus Rom ein deutliches Signal kommen wird, ist bei beiden Theologen offenbar recht groß. Auf evangelischer Seite sind die Erwartungen eher gering, wenn man sich nicht sogar auf den Standpunkt stellt, diese Diskussionen seien ein innerkatholisches Problem und stünden für die evangelischen Kirchen nicht auf der Tagesordnung.

3 Martin Luther in der aktuellen Forschung (Folie 9) Nach dieser Skizze der langfristigen Perspektiven der Luther- und Reformationsforschung wende ich mich einigen Sachfragen zu und beginne mit Beobachtungen zum Gang der Lutherforschung in den letzten Jahren und zum reformationsgeschichtlichen Büchermarkt. Auch die aktuelle Lutherforschung steht noch in der Tradition, die mit der LutherRenaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann und insbesondere mit dem Namen Karl Holl verbunden ist. Holl hatte den radikalen reformatorischen Bruch Luthers mit dem Mittelalter akzentuiert und in Luther den eigentlichen Begründer der Neuzeit gesehen. Das Wesen der Reformation bestand für Holl in Luthers Entdeckung der Rechtfertigung des Sünders durch die freie Gnade Gottes, eine Entdeckung, die Holl in der Biographie Luthers eher früh datierte und schon in der Römerbriefvorlesung von 1515 angelegt sah. Holl und seine Schule mit ihrer auf die Persönlichkeit Luthers konzentrierten, die Rechtfertigungstheologie ganz in den Mittelpunkt rückenden Luther-Deutung blieben jedoch nicht ohne Konkurrenz. Vor allem die nach 1945 dominierende dialektische Theologie Karl Barths, der ja alles andere als ein Lutherfreund war, zwang die damalige Lutherforschung, andere Aspekte in der Theologie Luthers neu zu bedenken und eine rechtfertigungstheologische Engführung zu vermeiden. Damit einher gingen die Infragestellung des von Holl postulierten plötzlichen reformatorischen Durchbruchs bei Luther und ebenso die Infragestellung der von Holl vertretenen Frühdatierung. Zweierlei war nun plötzlich wieder umstritten: 1. was Luther wann auf welche Weise entdeckt hat und 2. worin denn Luthers reformatorische Entdeckung eigentlich bestand, was also als genuin evangelisch zu betrachten sei. Die systematische Lutherforschung hatte in der Debatte um den reformatorischen Durchbruch bei Luther für mehrere Jahrzehnte ihr eigentliches Tätigkeitsfeld gefunden. Dahinter trat die historische und kirchenhistorische Lutherforschung deutlich zurück. Seither steht die Frage des Vorrangs eines systematisch-theologischen oder eines biographisch-historischen Zugangs zu Luther im Raum. Im März des kommenden Jahres soll 8

eine Tagung stattfinden, auf der die Erkenntnismöglichkeiten beider Zugangsweisen gegeneinander abgewogen werden sollen, indem zu wichtigen Problemen der Lutherforschung parallele Referate aus systematischer und kirchenhistorischer Perspektive gehalten und die Ergebnisse miteinander verglichen werden. Es wird spannend sein zu sehen, was bei diesem Methodenexperiment herauskommt. In der Lutherforschung spiegeln sich seit jeher die kirchlichen Entwicklungen, theologischen Deutungsmuster und Frageinteressen der jeweiligen Zeit. Die Lutherforschung wurde seit 1945 zunehmend international und ökumenisch. Seit Joseph Lortz und Erwin Iserloh in den 1950er und 1960er Jahren den katholischen Luther entdeckten, der gegen eine im Spätmittelalter immer unkatholischer werdende Kirche aufbegehrt habe, gibt es einen breiten Strom konstruktiver katholischer Lutherforschung. Der katholische oder aus seinem spätmittelalterlichen Kontext zu verstehende und das mittelalterliche Erbe in sich tragende Luther wurde gleichzeitig aber auch von evangelischer Seite neu entdeckt, so dass eine ökumenische Lutherforschung möglich wurde, die Luther wieder stärker als Theologen und Menschen des Spätmittelalters begriff und sich vom Lutherbild Karl Holls immer weiter löste. Dieser Forschungsansatz, der an der Universität Tübingen im Forschungsprojekt Spätmittelalter und Reformation (Heiko A. Oberman) seit Jahren intensiv gepflegt wurde, ist auch heute noch fruchtbar für die Lutherforschung. Die Frage, wie stark Luther im Spätmittelalter verwurzelt war und worin vor diesem Hintergrund die reformatorische Wende bestand und wann sie anzusetzen ist, ist heute noch immer aktuell. Die im eigentlichen Sinne neuere Lutherforschung begann mit dem Lutherjahr 1983. Damit verbunden war die Wiederentdeckung Luthers in einer breiteren Öffentlichkeit nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch der DDR. Die ostdeutschen Reformationshistoriker befreiten sich zum ersten Mal aus dem Korsett der vulgär-materialistischen Geschichtsinterpretation, die den Fürstenknecht Luther mit dem angeblichen Revolutionär Thomas Müntzer kontrastierte, und wandelten sich zu ernstzunehmenden Gesprächspartnern. Auch die innerhalb der DDR immer betriebene theologische Lutherforschung wurde nun wenigstens teilweise von staatlicher Seite anerkannt. Ganz entfallen ist die Auseinandersetzung mit dem materialistischen Geschichtsbild aber erst nach 1989, und heute findet man marxistische Interpretamente nur noch in erheblicher Verdünnung. (Folie 10) Fragt man, was die Lutherforschung seit der Jahrtausendwende umtreibt, so wird man von völlig neuen Fragestellungen wohl kaum sprechen können; es geht vielmehr um die Fortschreibung und Differenzierung älterer Ansätze der Luther-Interpretation. Neue Tendenzen sehe ich auf folgenden vier Feldern: 9

1. Noch immer interessiert sich die Forschung stark für die Frage nach dem jungen Luther und seinen geistigen Wurzeln, insbesondere für die Frage nach seiner Stellung zum Renaissance-Humanismus, zur spätmittelalterlichen Scholastik und zur spätmittelalterlichen Mystik. 2. Neben der traditionell intensiven Beschäftigung mit dem jungen Luther gewinnt die Beschäftigung mit dem älteren Luther inzwischen stärker an Bedeutung. Der ältere Luther war für die evangelische Theologie und Kirchengeschichte immer ein besonders sperriges Thema wegen seiner Härte, wegen seiner teilweise unerträglichen Polemik gegen die Feinde des Evangeliums wie das Papsttum, die Juden und die Türken. Von besonderer Aktualität ist Luthers Auseinandersetzung mit dem Islam, wie sie vor allem in späteren Schriften erfolgt ist. Wie man nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit Luthers Antijudaismus umzugehen hat, scheint mir noch immer nicht hinreichend geklärt. 3. In der Forschungsgeschichte haben sich Phasen der Konzentration auf die Einzelpersönlichkeit und die Lehre Luthers und Phasen der intensiveren Erforschung des Gesamtphänomens Reformation abgewechselt. Im Augenblick scheint wieder ein Bewusstsein dafür zu wachsen, dass Luther die Reformation nicht alleine gemacht hat, sondern immer eingebettet werden muss in seinen Wittenberger Kollegenkreis, der ihn stützte und beriet. Vor allem Philipp Melanchthon als der wichtigste Kollege und Mitreformator wird in seiner Bedeutung heute höher geschätzt als noch vor einiger Zeit. Die anderen, weniger bekannten Wittenberger Reformatoren werden in den letzten Jahren wieder intensiver erforscht. 4. Schließlich sehe ich eine Tendenz, die Luther-Forschung stärker zu erweitern auf das riesige Feld der Luther-Rezeption und der Wirkungsgeschichte. Das Lutherbild durch die Jahrhunderte ist bisher nur in ersten Ansätzen erforscht. Vieles ist noch zu tun hinsichtlich der Stilisierung Luthers, seiner Musealisierung, Popularisierung oder Skandalisierung. Insgesamt gehören Luther und die Reformation heute zu den am intensivsten erforschten Feldern der neueren Kirchengeschichte. Kirchenhistoriker und Allgemeinhistoriker fühlen sich gleichermaßen zuständig, andere Fächer wie die Kunstgeschichte oder die Germanistik sind traditionell in der Reformationsforschung präsent. Angesichts einer auch für den Spezialisten längst nicht mehr überschaubaren Zahl an Neuveröffentlichungen kann es hier nicht darum gehen, Ihnen einen vollständigen Überblick über aktuelle Bücher, Themen und Probleme zu geben. Ich behandle vielmehr einige ausgewählte Autoren und Fragen, die in den letzten Jahren besonders intensiv diskutiert wurden, und versuche dabei, die Interessen derjenigen zu berücksichtigen, die Luther und die Reformation im Schulunterricht behandeln. Wissenschaftliche Spezialprobleme scheiden dadurch von vornherein aus. Die folgende Auswahl der Titel 10

und Themen (eine umfangreichere Liste ist bei mir erhältlich) bleibt zwangsläufig subjektiv, da die Entscheidung über Bedeutung und Relevanz für die Schule meine persönliche Entscheidung ist. In das Gesagte sind nun die aktuellen Neuerscheinungen einzubetten, unter denen eine Reihe schmaler Biographien auffällt, die man auch Schülern in die Hand geben kann. Zwar bleibt die dreibändige, im Zusammenhang mit dem Lutherjubiläum 1983 erschienene Lutherbiographie Martin Brechts das Maß aller Dinge, doch ist dieses Werk wegen seines schieren Umfangs für den Schulgebrauch kaum geeignet. Als Grundlage für Schülerreferate besser geeignet sind zumindest auf den ersten Blick wegen des geringen Umfangs und vergleichsweise niedriger Anschaffungspreise die neuen Lutherbücher von Albrecht Beutel, Thomas Kaufmann, Dietrich Korsch und Albrecht Beutel, zu denen ich einige Sätze sagen möchte (Folie 11). Albrecht Beutel ist Kirchenhistoriker in Münster. Er lässt sein Büchlein mit einem Kapitel über die Wirkung Martin Luthers beginnen, bevor er sich eher traditionell einem Gang durch die Biographie des Reformators zuwendet. Eine Besonderheit des ausgesprochen gut lesbaren Beutelschen Buches ist die Beachtung der Sprache Luthers. Thomas Kaufmanns (Kirchenhistoriker in Göttingen) Lutherbüchlein erschien in der Reihe Beck Wissen, was Umfang und äußere Form mehr oder weniger festlegt. Vom Unfang her mit dem Beutelschen Werk durchaus zu vergleichen und wegen des Preises (7,90) wohl eine Verlockung, werden sich Schüler mit diesem Büchlein nach meiner Auffassung eher schwer tun, weil es viel zu ambitioniert geschrieben ist und all das hineinpacken will, was eigentlich nur in einer viel umfangreicheren Lutherbiographie einen Platz beanspruchen darf. Wer sich hinreichend auskennt, wird auf seine Kosten kommen, wer Basisinformation benötigt, eher nicht. (Folie 12) Dietrich Korsch, systematischer Theologe in Marburg, bietet in seiner LutherEinführung keine Erzählung der Lebensgeschichte des Reformators, sondern eine Aneinanderreihung theologischer Themen wie Sünde und Gerechtigkeit, Gott und Mensch, geistliches und weltliches Regiment. Damit handelt es sich um ein typisch systematisierendes Werk, das theologische Aussagen nicht aus ihrem Entstehungskontext heraus begreift, sondern im Nachhinein eine Dogmatik Luthers rekonstruiert, was Luther selbst übrigens nie hat tun wollen. Deshalb ist Korschs Einführung in den Händen von Studierenden und Lehrern wohl besser aufgehoben als in den Händen von Schülern. Ähnliches gilt für das Luther Handbuch, das Albrecht Beutel herausgegeben hat. Dieses Werk etabliert sich im Augenblick als StandardHilfsmittel für die Beschäftigung mit Martin Luther. Person, Werk, Wirkung, Hilfsmittel, alles lässt sich mit diesem Buch aufschlüsseln. Vom Umfang und Preis ist dieses Buch am 11

besten in einer Schulbücherei aufgehoben, dort sollte es nach meiner Auffassung aber auch wirklich stehen. Eine preisgünstigere Taschenbuchausgabe bei UTB ist in Vorbereitung. (Folie 13) Die Luther-Biographie, die in neuester Zeit für das größte Aufsehen gesorgt hat, ist 2006 von dem Jenaer Kirchenhistoriker Volker Leppin vorgelegt worden. Die Auseinandersetzung über dieses Buch wurde scharf und bis in die Tagespresse hinein geführt. Die Polemik wurde durch Leppins Vorgehensweise ausgelöst. Der Verfasser nahm sich nämlich vor, in einer Art gedanklichem Experiment Luther so lange wie möglich so zu lesen, „als wüsste man nicht, dass sich mit ihm ein Neuaufbruch in Kirche und Gesellschaft, für manche, wohl allzu hoch gegriffen, sogar eine neue Epoche der Weltgeschichte verbindet. Er soll so lange wie möglich als Mensch des späten Mittelalters verstanden werden, der entdeckt, der gelegentlich sogar auch zögerlich entdeckt, der mit seiner Herkunft nicht brechen will – und am Ende wohl auch nicht ganz mit dieser Herkunft bricht“ (S. 12). In diesem Zitat wird schon deutlich, worum es Leppin geht: Luther von seinen spätmittelalterlichen Wurzeln und nicht von seinen Folgen her zu verstehen. Nach dem, was ich über den Gang der Lutherforschung gesagt habe, ist Leppins Zugang im Kontext der vielen Studien zu Spätmittelalter und Reformation an sich nachvollziehbar und wissenschaftlich zweifellos völlig berechtigt. Die teilweise aggressiven Reaktionen auf das Buch erklären sich dadurch, dass einige Kollegen in Leppins Zugang nicht nur eine Dekonstruktion von Luther-Mythen erkannten, sondern überhaupt eine Infragestellung der Bedeutung Luthers und seiner reformatorischen Entdeckung. Das Neue der reformatorischen Botschaft und der Epochencharakter der Reformation werden sozusagen von ihrem theologischen Kern her in Frage gestellt und von Leppin zu einer Geschichtskonstruktion späterer Zeiten erklärt. Viele tradierte Bilder werden von Leppin zu Produkten einer Monumentalisierung Luthers erklärt, also zum Teil einer späteren Lutherstilisierung und Verklärung. Ich werde Leppins Beitrag zur Diskussion um den Thesenanschlag gleich noch näher erläutern. Trotz der an diesem Werk geäußerten Kritik und obwohl ich selbst manche Zuspitzung in Leppins Lutherbild nicht teile, finde ich das Buch anregend und empfehlenswert. Ich würde es allerdings lieber in den Händen von Religionslehrern sehen, die zur kritischen Auseinandersetzung fähig sind, als in den Händen von Schülerinnen und Schülern, die Informationen für bare Münze nehmen und die Problematik nicht erkennen.

12

4 Neue Gesamtdarstellungen der Reformation Kürzer halte ich meine Buchempfehlungen zur Reformationsgeschichte. An kurzen und preiswerten Übersichtsarbeiten herrscht kein Mangel. Viele Darstellungen stammen von Allgemeinhistorikern, die für die theologische Dimension der Reformationsgeschichte ein mehr oder weniger großes Verständnis aufbringen. Zur ersten Information über die politische und die Sozialgeschichte der Reformationsepoche sind durchaus empfehlenswert: (Folie 14) - Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter - Olaf Mörke, Die Reformation (Folie 15) - Luise Schorn-Schütte, Die Reformation - Helga Schnabel-Schüle, Reformation. (Folie 16) Für die Ereignisgeschichte der Reformationszeit sind die genannten Arbeiten alle brauchbar, sie stoßen hinsichtlich theologischer Fragestellungen allerdings schnell an ihre Grenzen. Hier ist das Handbuch von Gottfried Seebaß, erst in diesem Jahr verstorbener Heidelberger Kirchenhistoriker, am ehesten zu empfehlen. Seebaß war nicht nur ein ausgezeichneter Kenner der Theologie Luthers, sondern vor allem ein Spezialist für den linken Flügel der Reformation, also für Thomas Müntzer und das Täufertum. Sein Handbuch bezieht außerdem das Spätmittelalter und die konfessionelle Zeit mit ein.

5 Zwei ausgewählte Themen: Thesenanschlag und Religionsfrieden (Folie 17) Um Ihnen wenigstens einen ersten Einblick in einige aktuelle Forschungsdebatten zu geben, spreche ich zum Ende noch über zwei Fragen, die zugleich den Beginn und das Ende der Reformationsepoche markieren: den Thesenanschlag und den Augsburger Religionsfrieden. Das Ereignis, das nach der gängigen Auffassung den Beginn der Reformation bezeichnet und das gewiss zu den Themen gehört, die auch im Religionsunterricht immer vorkommen, war bekanntlich der Anschlag der Ablassthesen Martin Luthers am 31. Oktober 1517 an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Dieser Vorgang gibt uns den Anlass zur Feier des 500. Geburtstags der Reformation 2017, der Thesenanschlag gehört zu den wenigen urprotestantischen Szenen, mit dem sich evangelisches Selbstverständnis verbindet und das noch immer zum kirchenhistorischen Allgemeinwissen zu rechnen ist. Sie alle wissen aber auch, dass die Tatsache des Thesenanschlags umstritten ist, umstritten nicht erst seit heute, sondern um13

stritten seit Anfang der 1960er Jahre, als der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh auf den in der Tat erklärungsbedürftigen Umstand aufmerksam machte, dass Luther selbst 1517/1518 in Briefen darauf hinwies, dass er seine Ablassthesen erst den zuständigen Bischöfen vorgelegt habe, bevor er sich an die Öffentlichkeit wandte. Hätte er die Thesen am 31. Oktober 1517 angeschlagen, so Iserloh, müsste man ihm unterstellen, dass er die Unwahrheit gesagt habe. Iserloh gab also vor, durch die Eliminierung des Thesenanschlags als Faktum Luthers Glaubwürdigkeit retten zu wollen. Er bot den Reformator selbst gleichsam als Zeugen gegen das evangelische Geschichtsbild auf. Gegen den Zeugen Melanchthon, dessen Bericht über den Thesenanschlag man bis dahin völlig selbstverständlich gefolgt war, wurde ins Feld geführt, dass seine Notiz erst nach Luthers Tod entstand und dass Melanchthon kein Augenzeuge war, weil er erst 1518 nach Wittenberg kam. Zu spät, zu weit entfernt, um glaubwürdig zu sein. Iserloh löste mit seiner Leugnung des Thesenanschlags einen Sturm aus. 1967 titelte der Spiegel: „Luthers Thesen. Reformator ohne Hammer“. Daneben gab es aber auch immer diejenigen, die der Meinung waren, dass die Anschlagsgegner zwar gezeigt hätten, dass es zeitnahe Zeugnisse vom Thesenanschlag nicht gebe, dass damit aber noch lange kein Gegenbeweis erbracht sei. Auf diesem unbefriedigenden Stand blieb die Diskussion bis vor ungefähr zwei Jahren. Dann kam neues Leben in die Debatte, die Sie vielleicht in den Medien verfolgt haben, denn tatsächlich hat es einmal ein reformationsgeschichtliches Problem bis in die Tagespresse geschafft. Auslöser war die Entdeckung einer unscheinbaren handschriftlichen Notiz auf einer 1540 in Wittenberg gedruckten Bibelausgabe (Folie 18), die in der Jenaer Universitätsbibliothek verwahrt wird. Martin Treu, langjähriger Mitarbeiter am Lutherhaus in Wittenberg, der die Notiz Ende 2006 entdeckte, konnte sie dem engen Vertrauten Martin Luthers Georg Rörer (1492-1557) zuschreiben und hat die Entstehungsumstände der Notiz und ihre Datierung auf zwischen 1541 und 1544 überzeugend nachgewiesen. Die Debatte über die Bedeutung der Rörer-Notiz brach auf der Stelle los. Denn Rörer bestätigt zweierlei: Das Datum und das Faktum des Thesenanschlags. Rörers Notiz ist außerdem einige Zeit jünger als die Melanchthons und wurde vermutlich sogar noch zu Lebzeiten Luthers verfasst. Rörer spricht aber von den Türen der Wittenberger Kirchen im Plural, Melanchthon nur von der Schlosskirche. Nun hat der Ihnen schon bekannte Volker Leppin in Zeitungsartikeln und in der Zeitschrift Luther die Auffassung vertreten, dass Melanchthon und Rörer an einer Legende vom Thesenanschlag gestrickt hätten. Gegen Melanchthon und Rörer wird vorgebracht, dass beide Zeugnisse als Ausdruck des um 1540 bereits deutlichen Bemühens um eine Monumentalisierung Luthers, die schon am Ende von Luthers Leben eingesetzt habe, zu wer14

ten seien. Rörer erscheint in dieser Perspektive als der erste, der die Legende vom Thesenanschlag in Umlauf setze. Volker Leppin wertet die Rörer-Notiz ein reines „Schreibtischprodukt“, das nicht einer persönlichen Erinnerung Rörers, der 1517 selbst nicht in Wittenberg war, entstammen könne. Rörer habe aber aus den Universitätsstatuten gewusst, wie man in Wittenberg bei Disputationen normalerweise vorging und habe aus der allgemeinen Regel geschlossen, dass dies auch bei Luthers Thesen der Fall gewesen sei. Das ganze habe er kombiniert mit dem überlieferten Datum des 31. Oktober, so dass daraus die Legende vom Thesenanschlag entstanden sei. Gegen Rörers Glaubwürdigkeit wird weiterhin eingewandt, dass Rörer sich etwas später noch einmal über den Thesenanschlag äußerte und diesmal wie Melanchthon nur von einem Anschlag der Thesen an der Schlosskirche gesprochen habe. Leppin schließt daraus, dass Rörer Melanchthons Darstellung höhere Glaubwürdigkeit zugemessen habe als seiner eigenen früheren Auffassung vom Anschlag an mehreren Türen. Der Thesenanschlag also doch nur eine Legende wie Luthers auf der Wartburg nach dem Teufel geworfenes Tintenfass oder wie Luthers Schlussworte in Worms „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“? In der Presse wurde dies gelegentlich so kolportiert. Allerdings gibt es gewichtige Argumente, die gegen Leppins Deutung sprechen. Eine kleine Tagung zum Problem des Thesenanschlags, deren Ergebnisse vor wenigen Tagen veröffentlicht wurden (Folie 19), hat Pro und Contra noch einmal zusammengestellt und die Position der Leugner des Thesenanschlags doch deutlich erschüttert. Ich selbst denke, dass die Frage „Thesenanschlag: Faktum oder Fiktion“ nur vordergründig eine Frage der Quellenkritik ist. Ob man Melanchthons und Rörers Nähe zu Luther oder ihre Abwesenheit aus Wittenberg im Jahr 1517 höher wertet, ist letztlich eine Glaubensfrage. Meines Erachtens ist die Frage, ob der Thesenanschlag stattgefunden hat, entschieden, und zwar mit einem deutlichen Ja! Die besseren Argumente sprechen für das Faktum des Thesenanschlags, und Sie sollten in Ihrem Unterricht weiterhin oder jetzt erst recht davon sprechen, dass die Thesen angeschlagen wurden, und nicht verschleiernde Formulierungen gebrauchen wie die, dass die Thesen veröffentlicht wurden. Der 31. Oktober 2017 als Datum des 500. Geburtstags der Reformation beruht nicht auf einer Fiktion. Ich würde diese Probleme heute Nachmittag in einem Workshop gerne mit interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern weiter vertiefen. Als zweites Beispiel für eine aktuelle Forschungsdebatte spreche ich über den Einschnitt, der nach landläufiger Auffassung das Ende der Reformationsepoche markiert, den Augsburger Religionsfrieden von 1555 (Folie 20). Der Religionsfrieden wird vermutlich eher im Geschichts- als im Religionsunterricht näher behandelt, aber im Religionsunterricht doch zumin15

dest erwähnt werden. 2005 wurde der 450. Geburtstag des Religionsfriedens gefeiert. Von den zahlreichen Neuerscheinungen gibt Ihnen die Abbildung einiger Titelblätter einen Eindruck. Auf die Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen, sondern ich will nur eine Frage ansprechen, die im Anschluss an den Religionsfrieden in der Diskussion war und vielleicht auch in Ihren Unterricht einfließen könnte: die Frage der religiösen Toleranz. Vor dem Problem, dass verschiedene Konfessionen in einem Land zusammenleben mussten, stand schon die Reformationszeit. Der Religionsfrieden wurde zwischen Lutheranern und Katholiken vereinbart. Deshalb war es naheliegend, dass das Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens in den Medien gelegentlich für die Frage genutzt wurde, ob der Augsburger Religionsfrieden nicht auch ein Modell sein könnte für das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Deutschland oder sonst irgendwo auf der Welt. Um diese Frage zu beantworten, müsste ich sehr lange über den Religionsfrieden und seine Intentionen sprechen. Dazu fehlt mir die Zeit. Ich kann nur so viel sagen, dass der Augsburger Religionsfrieden nach meiner Überzeugung kein Modell abgibt. Die Politiker und Juristen, die den Religionsfrieden vereinbarten, wollten nicht tolerant sein, sondern waren tolerant nur im ursprünglichen Sinn des Wortes, indem sie das duldeten, was sie nicht verhindern konnten, nämlich die Existenz einer zweiten Konfession neben der eigenen, die keinerlei Abstriche an ihrem absoluten Wahrheitsanspruch machte. Man duldete, was man nicht verhindern konnte. Von einem modernen Toleranzbegriff, der den anderen in seinem Eigenwert bestehen lässt, war dieser Toleranzbegriff weit entfernt. Der moderne Toleranzbegriff, den wir heute haben sollten, ist aber erst ein Ergebnis der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Er setzte eine Säkularisierung des Denkens voraus, zu der das 16. Jahrhundert noch nicht in der Lage war. Aber ich füge hinzu: Es gibt Länder auf dieser Welt, für die ein Religionsfrieden, wie er 1555 in Augsburg vereinbart wurde, bereits ein enormer Fortschritt wäre.

6 Fazit Mit dem Fazit meines Vortrags mache ich es ganz kurz: Es gibt eine umfassende und spannende aktuelle Diskussion über Martin Luther und die Reformation, die auf vielfältige Weise in den Religionsunterricht einfließen kann. Voraussetzung dafür ist aber die Bereitschaft auf seiten der Religionslehrerinnen und Religionslehrer, die aktuelle Forschung zur Kenntnis zu nehmen und für den Unterricht fruchtbar zu machen. Dass Sie hier waren und mir geduldig zugehört haben, war ein erster Schritt. Dafür danke ich Ihnen. 16

Ausgewählte neuere Literatur zu Luther und zur Reformation (die fett gedruckten Titel wurden im Vortrag ausdrücklich behandelt)

Baier, Helmut; Wüst, Wolfgang (Hrsg.): Der Augsburger Religionsfriede 1555. Augsburg 2005. Basse, Michael: Von den Reformkonzilien bis zum Vorabend der Reformation. Leipzig 2008. Beutel, Albrecht (Hrsg.): Luther-Handbuch. Tübingen 2005. Beutel, Albrecht: Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. 2. verb. Aufl. Leipzig 2006. Blickle, Peter: Die Reformation im Reich, 3. umfassend überarb. und erg. Aufl.. Stuttgart 2000. Brady, Thomas A.: Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 50). München 2001. Bünz, Enno (Hrsg.): Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation. Leipzig 2005. Burkhardt, Johannes (Hrsg.): Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. Danz, Christian (Hrsg.): Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Berlin 2008. Decot, Rolf: Kleine Geschichte der Reformation in Deutschland. Freiburg 2005. Decot, Rolf; Schmitz, Hans-Josef (Hrsg.): Luthers Reformation zwischen Theologie und Reichspolitik. Aufsätze. Frankfurt/Main 2007. Dieterich, Veit-Jakobus: Die Reformation. Reinbek 2002. Dingel, Irene (Hrsg.): Politik und Bekenntnis. Die Reaktion auf das Interim von 1548 (= Leucorea-Studien, Bd. 8). Leipzig 2006. Ehrenpreis, Stefan; Lotz-Heumann, Ute: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002. Freitag, Werner (Hrsg.): Mitteldeutsche Lebensbilder. Menschen im Zeitalter der Reformation. Köln u. a. 2004. Ganzer, Klaus (Hrsg.). Lexikon der Reformationszeit: Freiburg i. Br. u. a. 2002: Goertz, Hans-Jürgen: Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen. Göttingen 2001.

17

Goertz, Hans-Jürgen: Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen. Göttingen 2007. Hamm, Berndt (Hrsg.): Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis (= Spätmittelalter und Reformation, Bd. 15). Tübingen 2001. Hamm, Berndt; Seebaß, Gottfried (Hrsg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther. Tübingen 2007. Haustein, Jörg (Hrsg.): Reformation und Katholizismus: Beiträge zu Geschichte, Leben und Verhältnis der Konfessionen. Festschrift für Gottfried Maron zum 75. Geburtstag (= Reformation und Neuzeit, Bd. 2). Hannover 2003. Jung, Martin H.; Walter, Peter (Hrsg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus. Reformation. Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002. Jung, Martin H.: Die Reformation. Theologen. Politiker. Künstler. Göttingen 2008. Junghans, Helmar: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, 2. durchges. u. erw. Aufl. Leipzig 2005. Kaufmann, Thomas: Martin Luther. München 2006. Klueting, Harm: Das konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Kirchengeschichte und allgemeine Geschichte. Darmstadt 2007. Koch, Ernst: Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (15631675) (= Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/8). Leipzig 2000. Kohnle, Armin (Hrsg.): Reichstag und Reformation. kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden. Gütersloh 2001. Korsch, Dietrich: Martin Luther. Eine Einführung. 2. überarb. Aufl. Tübingen 2007. Leppin, Volker: Luther privat. Sohn, Vater, Ehemann. Darmstadt 2006. Leppin, Volker: Martin Luther. Darmstadt 2006. Lühr, Hans-Peter: Das albertinische Sachsen und die Reformation. Dresden 2003. MacCulloch, Diarmaid: Die Reformation 1490-1700. München 2008. Mantey, Volker: Zwei Schwerter – zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund. Tübingen 2005. Markert, Gerhard: Menschen um Luther. Eine Geschichte der Reformation in Lebensbildern. Ostfildern 2008. Maurer, Ernstpeter: Luther. Wiesbaden 2004. Mörke, Olaf: Die Reformation, Voraussetzungen und Durchsetzung (= EDG, Bd. 74). München 2005. 18

Mühlen, Karl-Heinz zur: Zugänge zur Kirchengeschichte. Reformation und Gegenreformation, Bd. 1 u. 2. Göttingen 1999. Oberman, Heiko Augustinus: Zwei Reformationen, Luther und Calvin. Alte und neue Welt. Berlin 2003. Reinhard, Wolfgang: Probleme deutscher Geschichte. 1495-1806. Reichsreform und Reformation. 1495-1555 (= Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 9). Stuttgart 2004. Rublack, Ulinka: Die Reformation in Europa. Frankfurt/Main 2003. Schnabel-Schüle, Helga: Die Reformation 1495-1555. Stuttgart 2006. Schnyder, Caroline: Reformation. Stuttgart 2008. Schorn-Schütte, Luise: Die Reformation. Vorgeschichte. Verlauf. Wirkung. 4. aktualis. Aufl. München 2006. Schwarz, Reinhard: Luther. 3. durchges. und korr. Aufl. Göttingen 2004. Seebaß, Gottfried: Spätmittelalter. Reformation. Konfessionalisierung (= Geschichte des Christentum, Bd. 3). Stuttgart 2006. Sierszyn, Armin: 2000 Jahre Kirchengeschichte, Bd. 3 (= Reformation und Gegenreformation). Neuhausen; Stuttgart 2000. Smolinsky, Heribert: Im Zeichen von Kirchenreform und Reformation. Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte in Spätmittelalter und Neuzeit (=Reformationsgschichtliche Studien und Texte, Bd. 5). Münster 2005. Tewes, Götz-Rüdiger: Die römische Kurie und die europäischen Länder am Vorabend der Reformation (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 95). Tübingen 2001. Todt, Sabine: Kleruskritik, Frömmigkeit und Kommunikation in Worms im Mittelalter und in der Reformationszeit. Stuttgart 2005. Tomlin, Graham: Luther und seine Welt. Freiburg i. Br. 2007. Treu, Martin: Von Wittenberg nach Europa. Eine kurze Geschichte der Reformation. Wittenberg 1999. Volkmar, Christoph: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488-1525. Tübingen 2008. Wildenradt, Ulrich von: Reformation und Glaubenskrieg. Stuttgart 2001. Zahrnt, Heinz: Martin Luther. Reformator wider Willen. Leipzig 2000.

19