lisabethal Musik der Nacht - Das Phantom und die Inquisition

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Musik der Nacht -

Das Phantom und die Inquisition –

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©lisabethal Klappentext: Eigentlich will Nell nach ihrem Abitur nur in Paris Architektur studieren und anfangs geht, dank Onkel Henry, auch alles recht gut. Jedenfalls bis Nell in einer Arbeitsgruppe mit dem so schönen wie wahnsinnig introvertierten Erik landet. Sie setzt alles daran die Zuneigung des seltsamen jungen Mannes zu gewinnen, weiß aber nicht in welche Gefahr sie sich begibt. Denn Erik umgibt eines der dunkelsten Geheimnisse.

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©lisabethal Vorwort Der folgende Text ist in zwei Personen aufgeteilt: Eleanor Archer und Erik (de Boscherville). Das vertrakte daran ist allerdings, dass beide aus jeweils ihrer Perspektive in Ich-Form schreiben. Zur besseren Verständlichkeit wird jeweils bei einem Erzählerwechsel eine Leerzeile mit drei Sternchen eingefügt. Alle Orte und Abläufe sind frei erfunden und entbehren einer einführlicheren Recherche. Das hier hat nichts mit realen Orten, Personen und Gegebenheiten zu tun!!!

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©lisabethal Inhalt: Seite Kapitel 1: Onkel Henry 5 Kapitel 2: Aus der Dunkelheit zum Licht 17 Kapitel 3: Paris = (Mode + Geld)² - Sprachprobleme ± Menschenmassen 21 Kapitel 4: Verwirrung, Jagd und Flucht 35 Kapitel 5: Engelsstimmen und die Hölle auf Erden48 Kapitel 6: Genie und Wahnsinn 57 Kapitel 7: Wie der Ausschlag eines Pendels 70 Kapitel 8: Fragen und Antworten 89 Kapitel 9: Das Eis bricht 106 Kapitel 10: Der Wiederaufbau von Ruinen 123 Kapitel 11: Blut und Eis 136 Kapitel 12: Süchtig 148 Kapitel 13: Neue Technik… 154 Kapitel 14: … in alten Häusern? 170 Kapitel 15: Rückkehr zum See 194

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Kapitel 1: Onkel Henry An sich war es ein Apriltag wie jeder andere auch. Ein Gemisch aus Sonne, Regen und eiskaltem Wind. Meine Mutter war auf einer ihrer Lehrerkonferenzen und ich fuhr mit dem Bus nach Hause. Die fast achthundert Meter von der Haltestelle bis zum Haus reichten in dem heftigen, kurzen Regenschauer aber aus, um mich bis auf die Haut zu durchnässen. Es ist schon wirklich äußerst lästig, wenn man als Abiturient in einer ländlichen Gegend zwar einen Führerschein aber kein Auto besitzt. Man ist trotz der Volljährigkeit immer auf jemanden angewiesen. Ich, in diesem Fall, auf die Gunst oder Ungunst meiner Mutter. Und das schon seit Ende März noch verstärkt. Um mich nämlich richtig für mein Abitur vorbereiten zu können, hatte ich meinen Aushilfsjob im hiesigen Lebensmittelladen an den Nagel gehängt. Aber ich merkte jetzt schon, dass mir die zusätzlichen Einkünfte fehlten. Ganz zu schweigen von meiner Freiheit. Und das bei einer Mutter, die von Tag zu Tag schlimmer zu ertragen wurde. Dad fehlte mir seit seinem Tod vor zwei Jahren ja auch wahnsinnig, aber ich versuchte ja auch nicht krampfhaft und mit allen Mitteln Mum an mich zu binden. Nun, umgekehrt tat sie das schon. Und das war für eine Neunzehnjährige die pure Folter. Deswegen strengte ich mich auch so an. Wenn ich mich rein hing, konnte ich einen Einserschnitt im Abitur schaffen und mir ein Stipendium für eine Universität angeln. Für eine Uni weit, weit weg. Klatschnass schloss ich also Tür und Postfach auf und betrat das Haus. Meine Jacke hängte ich an den 5

©lisabethal Haken im Flur. Es waren ungewöhnlich viele Briefe dabei. Das meiste waren Werbeschreiben, einer kam von der historischen Fakultät der LMU und der letzte war an mich adressiert. Das war ungewöhnlich, vor allem wenn man bedachte, welch hohe Qualität das Papier hatte. Ich suchte den Absender, während ich, mit dem Brief in der Hand, in mein Zimmer hochging, um mir trockene Sachen zu holen. An der Stelle des Absenders stand: Henry Archer, 3 Rue des Arbs, Paris. Das hatte ich allerdings nicht erwartet. Die Überraschung zog mir die Beine weg, so dass ich mit meinen nassen Sachen auf das Bett plumpste. Jeden, jeden hatte ich erwartet, nur nicht Dads jüngeren Bruder. Dad und Onkel Henry hätten unähnlicher nicht sein können. Dad war Informatikingenieur bei der USArmy gewesen, in Deutschland stationiert. Hier hatte er Mum in München kennen gelernt und dann kam ich noch mit dazu. Alles im Lot. Naja, bis Dad vor zweieinhalb Jahren nach Afghanistan abgezogen wurde und in einem weißen Sarg wieder zurückkam. Onkel Henry war von einem ganz anderen Schlag. Er war als junger Mann nach Paris gegangen und hatte dort versucht als Modeschöpfer Fuß zu fassen, was anfangs nicht so ganz rund lief, aber bei der Beerdingung sah es so aus, als hätte er sich wirklich gemacht. Aber warum zum Geier schickte Onkel Henry mir einen Brief? Immer noch tropfnass auf meinem Bett sitzend riss ich mit etwas Mühe den Umschlag auf und begann den mehr als vier Seiten fassenden Text zu lesen. 6

©lisabethal Der Text war handgeschrieben, die Schrift äußerst schwungvoll. Schon das „Dear Eleanor“ am Anfang der Seite zeigte den Künstler. Er bat mich, von mir hören zu lassen. Erzählte mir, das meine Großeltern in den USA vor einem Jahr ums Leben kamen und er wenigstens Kontakt zu seiner letzten lebenden Blutsverwandten halten wolle. Er fragte mich, wie es in der Schule lief und was ich nachher so vorhatte. Die Erkundigung nach Mum fiel reichlich knapp aus, offenbar war die Abneigung gegenseitig, denn Onkel Henry war für Mum schon immer ein rotes Tuch. Er entschuldigte sich, dass er bei der Beerdigung so wenig Zeit für mich gehabt habe und sich sonst so wenig gemeldet hatte. Er fragte mich nach meinen Interessen, ob ich genauso in Computer vernarrt sei wie mein Dad, schrieb mich für diesen Fall seine private Email-Adresse und plauderte ansonsten aus dem Nähkästchen, was er die letzten zwei Jahre so getrieben hatte. Der Brief endete mit den Worten: „I’m looking forward to receive (e-)mail from you! Love, your uncle Henry” Ich legte den Brief auf meinen Schreibtisch, zog mir endlich trockene Sachen an um mir nicht auch noch so kurz vor dem Abitur eine mörderische Erkältung zu holen. Der Vorsatz heute noch Chemie zu lernen, war durch Onkel Henry ins Hintertreffen geraten. Verwandtschaft ging schließlich vor. Ich schaltete mein Heiligtum, einen recht auffällig casegemodeten Computer im Stil eines Uraltradios aus den 30-er Jahren ein. Trotz der äußerlich altertümlichen Erscheinung war das Ding auf dem von 7

©lisabethal mir bezahlbaren, neuesten Stand der Technik und ich war recht stolz darauf, das ganze Ding in Eigenregie zusammengebaut und aufgesetzt zu haben. Die Speichereinheit bestand aus zwei Festplatten, denn nur mit der Linux-Platte war bei Freundinnen mit Windows-Betrieb kein Staat zu machen. Naja, mittlerweile wurden die Emulatoren schon besser, aber es blieb ein rechter Hickhack der Systeme. Von den nur windowsbetriebenen Rechnern an der Schule gar nicht zu reden. Ich bootete die Linux-Platte, mir gefiel meine selbstgemachte Optik viel besser als der WindowsStandard, außerdem war es schwieriger einen Virus in ein so individuelles System einzuschleusen, so dass ich mir angewohnt hatte, bei Sachen im Internet Linux zu benutzen. Die E-Mail, die ich Onkel Henry schickte, fiel für meine Verhältnisse ziemlich lang aus. Ich schrieb ihm alles, wirklich alles. Was ich so machte, wie es in der Schule so lief, wie Mum sich aufführte, was ich für Hobbies hatte. Ich schrieb, dass ich möglichst bald möglichst weit von hier weg wollte, dass ich deswegen lernte wie eine Wahnsinnige, dass ich auf ein Stipendium für irgendeinen Erasmus- oder sonstigen Studiengang hoffte, da meine Mittel recht begrenzt waren. Auch erwähnte ich, dass ich noch nicht wüsste, was genau ich nach der Schule anfangen sollte, ich fand einfach so vieles interessant. Über meine Hobbies gab es nicht viel zu schreiben: Computer... dann lange nichts, dann Nähen – fast alle meine Oberteile waren mittlerweile selbst genäht und schließlich Schwimmen, als einziger Sport. Ei8

©lisabethal gentlich spielte ich gerne Baseball, aber dafür gab es hier zu wenige Vereine in Deutschland. Ich fragte ihn über Paris aus, denn ich selbst war vor sieben Jahren nur eine Woche dort gewesen und da hatten vier Museen – unter anderem der Louvre – gestreikt und geschlossen gehabt. Nach, wie mir schien, endlosem, egozentrischem Geplauder schickte ich mit den Schlussworten „Love, Nell“ die Mail ab. Zwei Tage darauf kam die Antwort. Sie war so liebenswürdig, dass ich sie zweimal lesen musste. Anscheinend reute es ihn, sich so lange nicht gemeldet zu haben. In seiner E-Mail bot er mir an mal einen Blick auf meine selbst „designten“, wie er es nannte, Sachen zu werfen. Mit einer Webcam macht ich Bilder von meinem subjektivem Meisterstück, einer goldenen SatinTunikabluse mit Pailletten-Stickerei am Saum und an den Ärmeln, die ich ihm mit einer hoch erfreuten, aber wirklich nicht besonders langen E-Mail zurückschickte. Ich wollte mich heute wirklich nicht zu lange ablenken lassen, denn mein Abitur rückte näher und näher und Chemie zauberte ich nicht einfach aus dem Hut. Die Antwort-Mail kam diesmal noch am selben Abend und war so voll von begeisterter Euphorie, dass ich mir es erst gar nicht erklären konnte. Nicht, bis ich zu der Stelle kam, in der es um meine Bluse ging. Er war anscheinend wirklich beeindruckt und bat mich mehr von meinen „Entwürfen“ zu schicken. Und ich ließ mich nicht lange bitten. Alles was ich selbst gemacht hatte, Blusen, Kleider, Shirts, Röcke, fotografierte ich in möglichst passenden Kombinati9

©lisabethal onen und verschickte es in acht Mails, damit die nicht so übermäßig groß wurden. Die Antwort darauf ließ lange auf sich warten. Ich dachte schon, Henry hätte das Interesse an mir verloren. In den zwei Wochen tat ich genau zwei Dinge, lernen um ein richtig gutes Abitur zu bekommen und mich darüber schlau machen, wo ich mit einem Einser-Schnitt überall genommen würde. London klang gut. Zweisprachig aufgewachsen war das gar kein Problem, aber selbst mit der Maximalförderung würde ich nur sehr knapp über der Armutsgrenze wohnen. Das gleiche galt für die meisten Unis in den USA, die einen halbwegs guten Ruf hatten. Ich war nicht erfreut. Gar nicht. Und jeder weitere Tag machte es nur schlimmer und ließ mich noch mehr lernen und noch weniger essen. Dann eine Woche vor der ersten Prüfung – Englisch, ein Witz – kam Onkel Henrys Antwort. Und die haute mich so richtig aus den Latschen. Er fragte mich nämlich mit vollem Elan aus, über meine Art zu „entwerfen“, meine Nähmaschine, meine „Skizzen“, meine Inspirationen. Er sprach in Bezug auf mich von einem „Riesentalent“ und einer „Vergeudung auf dem Land“. Er fragte, ob er meine Designs verwenden durfte, natürlich in Abwandlung, aber das überlas ich fast. Diesmal dauerte mein Antwort länger, denn in der Nacht nach dieser Mail keimte in meinem Kopf eine Idee auf und meine Erkundigungen dauerten bis Mittwoch. Ich wollte absolut sicher sein, wenn ich Onkel Henry antwortete.

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©lisabethal Es gab nur eine begrenzte Anzahl an förderbaren Studiengängen in Paris, keiner davon war Modedesign. Aber das, was am nächsten dran war, wurde auch am meisten gefördert. Dank dem guten alten Garnier, Architekt der Pariser Oper und selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Architektur wurde in dieser Stadt ebenso großgeschrieben wie Mode. Ich konnte an einer der renommiertesten Unis auf diesem Gebiet meinen Abschluss holen, wenn Onkel Henry mitspielte. Und ich würde alles daran setzten, dass er es tat. Aber erst musste ich im Abitur überragend sein. Nichts unter 13 Punkte. Nur so konnte es funktionieren. Noch am Mittwoch Abend schrieb ich meine Antwort. So sehr hatte ich noch nie jemanden von mir überzeugen wollen. Ich schrieb, wie sehr ich mich freute und geehrt fühlte, dass ihm meine Entwürfe so gefielen, entschuldigte mich für die Wartezeit und kam dann zum Punkt. Ich bat ihn um zwei Dinge: ein Praktikum bei ihm, zwischen dem Abitur und dem Studienbeginn und darum, dass er die Augen nach einer möglichst günstigen Wohnung aufhalten sollte. Egozentrik und Schwafelei war mir immer schon zuwider und so blieb beim Einschlafen die leise aber ständige Furcht, dass mein Ton zu sachlich oder fordernd war um erhört zu werden. In dieser Nacht, so kurz vor dem Abitur und mit einer großartigen Möglichkeit meiner von Tag zu Tag ätzenderen Mutter zu entkommen, schlief ich besonders schlecht. Es war selten, dass mein Bett so zerwühlt war und ich doch kaum Schlaf gefunden hatte,

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©lisabethal als ich am anderen Morgen aufstand. Oder dass ich mich total gerädert fühlte. Noch vor dem Duschen warf ich den Computer an, aber nichts. Der Tag zog sich quälend lang. Die chemischen Umwandlungen, die ich wiederholte, wollten einfach nicht hängen bleiben. Irgendwann gegen drei Uhr gab ich es dann auf und rief meine einzige Freundin an, die nicht auch gerade für ihren Abschluss büffeln musste. Ich hatte Glück, sie hatte frei. Überstunden abfeiern. Wir verabredeten uns auf einen Kaffe in der Kreisstadt und sie nahm mich mit. Auto hatte ich ja keines. Meiner Mutter hinterließ ich einen Zettel auf dem Küchentisch. Es tat wirklich gut Carmen alles brüh warm erzählen zu können, angefangen bei Onkel Henrys Brief bis hin zu meiner Entscheidung in Paris Architektur studieren zu wollen. Und das seltsame war, sie war wirklich begeistert, ein wenig enttäuscht vielleicht, dass wir uns nicht mehr jedes Wochenende sehen würden, aber sie gönnte mir meine Möglichkeiten. Sie machte mit mir bereits Pläne, wie ich einmal ihr Haus entwerfen würde. Ihre Begeisterung tat gut und ich kam in weit besserer Laune nach Hause, als ich es verlassen hatte. Meine Glückssträhne hielt. Onkel Henry hatte am späten Nachmittag geantwortet. Das Praktikum hatte er selbst vorschlagen wollen und es freue ihn riesig seine hochtalentierte Nichte zu treffen Er beglückwünschte mich zu der Entscheidung in Paris studieren zu wollen. 12

©lisabethal Und dann kam meine Rettung: Er hätte eine passende Wohnung für mich, Einzug ab in einer Woche möglich. Lage: mitten in der Altstadt. Und dann kam der Clou! Sie lag im Dachgeschoss des Blocks, zum dem Henrys Boutique gehörte, in dem Henrys Wohnung und Atelier lagen und der – oh Wunder – Henry gehörte. Der Mann hatte sich offensichtlich gemacht. Er bot mir eine Art Gentlemens Agreement an, das ich unmöglich ausschlagen konnte. Anstatt Miete von mir zu verlangen, sollte ich jede Woche vier Entwürfe abgeben, für die er das Thema vorgab. Ich müsste nur noch die anfallenden Nebenkosten stemmen. Meine Finanzierung für das Studium war gerettet. Mein Studium war gerettet. Meine Zukunft war gerettet. Die Anspannung wegen den anstehenden Prüfungen war wie weggeblasen. Ich hatte eine Wohnung in Paris mit nur Minimalkosten. Ich Glückspilz! Laut jubelnd stürmte ich die Treppe hinunter, an meiner verdutzten Mutter vorbei zum Telefon. Carmens Nummer wählte sich wie von selbst. Selten, dass ich lange telefoniere, aber ich quatschte fast eine Stunde mit ihr. Meine Mutter ließ ich einfach außen vor. Für die würde es reichen, wenn sie es nach den Prüfungen erfuhr. Ich war fasziniert wie gut die Prüfungen in den nächsten beiden Wochen liefen. Keine Frage, bei der ich ahnungslos gewesen wäre, kein Punkt zu dem mir nichts eingefallen wäre. 13

©lisabethal Englisch war meine Muttersprache, jedenfalls eine davon und auf alles andere war ich gut vorbereitet. Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, organische, anorganische Chemie, Geographie. Alles kein Problem, alles vorhersehbar. Ab dann hieß es Däumchendrehen und auf die Noten warten. Ich hoffte stark auf in jeder Prüfung 13 Punkte. Das würde mein Stipendium sichern. In der Zwischenzeit nutzte ich meine Freizeit um mit meinen Freundinnen im Freibad rumzuhängen oder mich für mein Studium vorzubereiten. Die meisten Stunden gingen für ein selbstgeschriebenes Animationsprogramm drauf, das mir erlauben sollte, Grundrisse in ein dreidimensionales Modell umzuwandeln. Sobald das Wetter auch nur einen Anflug von Kühle zeigte, saß ich vor meinem Computer und programmierte und löschte und programmierte erneut. Erst die normalen Rechtecke, dann Polyeder aller Art, dann – nach mehreren Tagen und unzähligen Flüchen – auch gebogene Flächen, alles „lernte“ mein Programm zu den gewünschten Gebäuden zusammen zu fügen. Als Übung modellierte ich unser Haus. Nach drei Stunden, zick Fehlermeldungen, ebenso vielen Ausbesserungen am Programm und mehreren deftigen Flüchen in Englisch und Deutsch stand das Modell zu meiner Zufriedenheit. Meine Mutter redete seit meiner Ankündigung in Paris zu studieren nur noch das Notwendigste mit mir. Sie nahm es mir offensichtlich übel, dass ich es ohne ihre Einwilligung oder ihre Hilfe geschafft hatte in der Ferne Fuß zu fassen. Anscheinend wollte sie mich um keinen Preis hergeben. 14

©lisabethal Aber meine Heimatverbundenheit hörte da auf, wo meine Freiheit auf dem Spiel stand. Und die war bedroht wie nie. Über das Internet fand ich für mich und meine paar Habseligkeiten eine Mitfahrgelegenheit drei Tage nach dem Abiturball. Ich bereite alle Formalitäten soweit vor, dass nur noch der genaue Abiturschnitt und das Zeugnis fehlte. Die Tage zogen sich endlos. Wochen verschwammen ineinander, so sehr lebte ich für meinen Auszug. Noch drei Tage bis zur Zeugnisverleihung, ein Schnitt von 1,2. Perfekt Noch zwei Tage. Noch einer. Ich richtete mein selbstgenähtes Kostüm her, bügelte es, suchte die passende Bluse und hing alles auf einen Bügel. Das ebenfalls selbstgeschneiderte schwarze schlichte Ballkleid gleich daneben. Alles war gepackt. Ich wartete nur noch auf den Startschuss in drei Tagen. Ein recht langatmiger, für mich aber absolut bedeutungsloser Ball- und Zeremonientag ging ohne größere Schwierigkeiten zu Ende. Meine Mutter hatte zwar geheult wie ein Schlosshund und mich angefleht, es mir zu überlegen, aber schon die Wortwahl, in der sie es formulierte, war so herrisch und besitzergreifend, das ich es sicher nicht in Betracht zog zu bleiben. In drei Tagen, oder Gefangenschaft. Und letzteres war inakzeptabel.

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©lisabethal Mein letztes Erspartes war für ein Handy draufgegangen. Eine SMS an Onkel Henry, damit in drei Tagen ja alles glatt lief. Der Aufbruch in mein neues Leben verlief reibungslos. Der Kleintransporter, der mich mitnahm, kam pünktlich und die Fahrt verlief ebenso ereignislos wie langweilig. Der junge Österreicher, der fuhr, hatte mir genauso wenig zu sagen wie ich ihm. Nach endlosen Stunden Fahrt errichten wir Paris. Mein Leben wartete und ich war begierig wie nie, es in Empfang zu nehmen, was auch immer es bringen mochte. ***

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Kapitel 2: Aus der Dunkelheit zum Licht Wie lange genau die Finsternis meiner selbstgeschaffenen Gefangenschaft währte, kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen, denn es war ein schleichender Prozess. Irgendwann hatte ich einfach aufgehört über Hunger oder Durst nachzudenken oder sie wahrzunehmen. Irgendwann war ich einfach im Schmerz versunken, hatte mich in ihm verloren und war wie zur Statue erstarrt in völliger Dunkelheit. Ohne Licht, ohne Hoffnung, ohne Leben. Nichts trieb mich eine kleine, große Ewigkeit lang nach oben zum Licht. Es vergingen viele Jahre, von denen ich nichts mehr weiß als Schmerz und Dunkelheit. Nichts hatte mich erreicht. Nichts bis zu jenem Tag im Mai vor sieben Jahren. Bis dahin hatten mich meine Fesseln zuverlässig und erbarmungslos an mein Verlies gekettet. Keine eisernen Ketten, die haben mich zu keiner Zeit halten können, sondern Abneigung und Hass alles Lebendem gegenüber. Und das unerhörte Versprechen, das ich vor Ewigkeiten meinem einzigen Freund gab. Moral hätte mich nicht halten können, ich hatte sie ja schon vor meiner Gefangenschaft kaum mehr gekannt. Wozu auch? Was mir Menschen angetan haben, war monströs und so erschufen sie aus mir ein Monster ohne die geringsten Skrupel ihnen gegenüber. Doch als an jenem Tag vor sieben Jahren dieser wundervolle, betörende, erschreckend bekannte Ge-

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©lisabethal ruch zu mir drang, in mein Gefängnis, in mein Grab, da hatte mich nichts mehr halten können. Meine Instinkte sprangen an und lösten alle Ketten. Dieser Duft nach Flieder, Efeu, Vanille und süßem Kuchen jagte mich aus meiner Starre, hoch aus meinem Sarg, durch den Raum, aus der Tür, über das Wasser. Ich schwamm, denn vom Boot war nichts mehr übrig. Ich konnte das Raubtier, das die Jagd begonnen hatte, nicht mehr stoppen, wollte es in diesem Moment auch gar nicht. Das einzige, was ich wollte, war dieser Geruch. Die hunderten von Treppenstufen schoss ich mit all meiner verbliebenen Geschwindigkeit hinauf, riss die letzte Tür auf – und stand in gleißendem Licht. Verblüfft und geschockt blieb ich einige Sekunden stehen. Die Leute auf der Straße strömten an mir vorbei, kaum einer nahm mich irgendwie zur Kenntnis Dann bekam ich den Geruch, der mich hierher gelockt hatte, wieder in die Nase und weiter ging die Jagd. Im Zickzack so schnell mich meine Beine trugen. Durch die Menschenmassen, vor das Tor der Oper, die Treppen der Loggia wieder hinab, eine Straße entlang, mehrere Kreuzungen in verschiedenen Richtungen querend. Bis ich schließlich vor einer Ab- und Anlegestelle für eine Seinefahrt zum Stehen kam. Hier verlor sich der Geruch. Sackgasse. Das Adrenalin begann zu verebben und langsam spürte ich den brennenden Schmerz in meinen Händen, dem einzigen unbedeckten Teil meines Körpers. 18

©lisabethal Auch mein Kopf dröhnte und mir war schlecht, schlecht vor Hunger, der mich anfiel wie ein Tier und meinen Magen in eine eiserne, bleischwere Kugel verwandelte, und schlecht vom Gestank des Flusses und der Stadt. Ich war hungrig, entsetzt, verwirrt. Aber das Leben hatte mich wieder. In der Nacht, die auf diesen Tag folgte, traf ich dann auf Charles. Er musste einen seiner gütigen Momente gehabt haben, denn er bot mir an, mich in diese Welt einzuführen. In diese Welt voller ignoranter Menschen, alle nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, blind für andere. Eine gute Welt – für mich jedenfalls. Er nahm mich mit zu sich und seiner Frau Florence in eines der wenigen verbliebenen alten Herrenhäuser. Er lehrt mich zu überleben. Er lehrt mich nicht aufzufallen. Er gibt jemandem eine Zukunft, den Gott bereits aufgegeben hatte. Außerdem lasse ich jedes Jahr auf Jules Bernards Grab einen großen Blumenkranz ablegen. Als Dank für seine loyalen Dienste weit über seinen Tod hinaus und seine weit vorausplanende Anlagetechnik, der ich jetzt ein gut gefülltes Konto und viele Möglichkeiten zu verdanken habe. Erst er und Charles machen meinen Neuanfang möglich. Ich kann nicht immer untätig herumsitzen, sonst versinkt mein Geist wieder in der Dunkelheit. Mein Weg zum Licht ist lang und um nicht davon abzukommen, muss ich die Nähe der Menschen suchen. 19

©lisabethal Ich werde das tun, was ich bisher immer am besten konnte, was mich bisher finanziell immer über Wasser gehalten hatte. Und dieses Mal mache ich es auf dem regulären Weg, das erspart mir nachher bestimmt einiges an Ärger und Geld. Auf zum Licht! Auch wenn es mir schwer fällt. ***

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Kapitel 3: Paris = (Mode + Geld)² - Sprachprobleme ± Menschenmassen Ich kam in Paris an und war ebenso überwältigt wie der junge Österreicher, in dessen Transporter ich mitfuhr. Es dauerte geschlagene zwei Stunden bis wir von den äußeren Vororten, die man zum Teil getrost als Slums bezeichnen kann, zur Rue des Arbs vordrangen. Sie lag in einem Teil der Altstadt, den der französische Kaiser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rundum modernisieren hatte lassen. Hier dominierten Offenheit, Luft, Licht und hohe, weite Räume. Und überall waren Leute, es mussten hunderte sein und dabei war es nur ein kleines Gässchen gemessen an der Champs Elysée. Vor sieben Jahren war mir das gar nicht so aufgefallen, aber mit zwölf hat man ja schließlich auch noch anderes im Kopf. Jetzt aber erschlugen mich Landei diese Menschenmassen. Aber was hatte ich erwartet, ich kam in eine der ältesten noch existierenden Städte Europas. Onkel Henry wartete bereits auf uns. Er hatte einen Parkplatz direkt vor dem Block freihalten lassen und begrüßte mich persönlich, kaum das ich ausstieg. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Dad, aber auch nicht mehr. Er war ebenso blond und blauäugig wie Dad und ich, er hatte auch Großteils ähnliche Gesichtspartien: ein markantes Kinn, hohe Wangenknochen, ein bisschen zu scharf geschnittene Nase. Und dann hörte jede Ähnlichkeit mit Dad auf. Mein Vater war groß und athletisch gebaut gewesen, der Prototyp eines US-Marines. 21

©lisabethal Onkel Henry dagegen war um beinah einen Kopf kleiner, wirkte zierlich, wo Dad bullig gewirkt hatte, und war so dünn, dass es beinah schon lächerlich aussah. Aber das ist mein Geschmack. Ich erinnere mich allerdings daran, dass er schon immer so war und Dad einmal sagte, er beneide Henry für diese Stoffwechselstörung, die verhinderte, dass sein Körper tierisches Fett verarbeitete. Also vertrieb ich den Gedanken an berufsmäßige Magersucht sofort wieder. Hinter Henry stand bei der Begrüßung seine gesamte Belegschaft, der ich dann der Reihe nach vorgestellt wurde. Tom, dem zweiten Designer, Anette, der ersten Schneiderin, Justine, die für die Boutique zuständig war, Marie, dem Schneiderlehrling von Anette, Chantalle, die sowohl entwarf als auch nähte und Francois dem Hausmeister. Ein recht lustiger Trupp im ganzen betrachtet. Francois und die Frauen waren total nett, sie halfen mir sogar und trugen jeder etwas mit nach oben in meine Wohnung. Nur Tom war ein bisschen seltsam. Er begrüßte mich zwar mit den anderen, aber etwas in seiner Stimme und seiner Wortwahl sprach von Arroganz und Überheblichkeit, von der ich mir gewünscht hätte, er hätte sie weggelassen. Mein Französisch war nie über das Niveau der elften Klasse hinausgekommen, mein Akzent war schauderhaft und ich hatte bei einem Satz von Marie gleich bei zwei Wörtern Probleme. Anette war so lieb, sie mir zu erklären. Offensichtlich mochte sie mich. Und ich mochte von Haus aus

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©lisabethal alle, die mir nicht von vorne herein negativ eingestellt waren. Ich bedankte mich überschwänglich – jedenfalls nach meinem Empfinden – bei allen Helfern, inklusive meinem Onkel. „Merci très, très beaucoup, tout le monde ! Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass alle so freundlich zu mir sind. Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe!“ „Sei nicht gar so förmlich, Mädel“, tadelte mich Henry in liebevoll-spaßigem Tonfall. „Wir sind hier alle per du.“ Ich bedankte mich für das entgegengebrachte Vertrauen und nachdem alle außer Tom in freundlicher Nachlässigkeit abwinkten und sich aus meinem Wohnzimmer trollten, meinte Henry noch: „Wenn du dich hier einigermaßen eingerichtet hast, soll Francois dir eine kleine Hausführung geben und dich dann bei uns im Atelier absetzen.“ „Geht klar!“ Erst einmal wollte ich meine Wohnung selbst erkunden. „Also, Eleanore“, meinte Francois verlegen und drehte seine Schiebermütze zu einer Wurst. „Wenn du die Hausführung haben willst, klingelst du einfach bei mir. Ich wohne einfach einen Stock darunter.“ „D’accord! Bis gleich dann!“ Als alle verschwunden waren, hatte ich dann endlich Zeit mein Zuhause für die nächsten paar Jahre, denn so lange würde das Studium wahrscheinlich dauern, eingehender kennenzulernen. Meine Wohnung lag im Dachgeschoss eines vierstöckigen Wohnblocks aus dem ausgehenden 19. Jahr23

©lisabethal hundert. Trotz der Dachschrägen war auch hier die Decke relativ hoch und alles war auf die Wirkung von Offenheit hin angelegt. So fanden sich allein im Wohnzimmer vier Gauben, zwei rechts, zwei links, mit mannshohen Fenstern. Das gleiche galt für das Schlafzimmer. Beide Räume waren für meine Auffassung sehr großzügig, sie hatten die gesamte Breite des Vordergebäudes als Fläche. Vom Eingang aus kam man in einen kleinen Flur und dort ging auch nach rechts die Tür zu meinem kleinen Bad weg. In einem Schränkchen unter dem Waschbecken verstaute ich dann meinen Föhn und meinen Kulturbeutel. Mein Heiligtum stand noch immer auf dem Wohnzimmer-/Esstisch, da ein Schreibtisch oder ähnliches in der spärlichen Möblierung nicht vorhanden war, als ich mich nach dem Verstauen meiner meisten Habseligkeiten dazu entschied mit Francois die Hausführung zu machen. Bei der Gelegenheit wollte ich auch fragen, wem die Wohnung gegenüber von meiner gehörte. Wie ich dann von einem recht gut gelaunten Francois erfuhr, wohnte darin ein Vincent Bernier, ein Musiker, der mit Henry befreundet war und an der Universität Klavier und Geige unterrichtete und gelegentlich in der Oper einsprang. Francois hatte den gesamten 3. Stock des Vordergebäudes inne, denn gegenüber seiner Wohnung befand sich eine Werkstatt für Reparaturarbeiten. Chantalle, Justine und Annette teilten sich die Stockwerke eins und zwei. Im Erdgeschoss des Vordergebäudes war dann die Boutique untergebracht. 24

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Als wir dort vorbei schauten, versuchte Justine gerade einer recht rundlichen Dame von etwas abzuraten, dass wie ein Fünfziger-Jahre-Korsagenkleid ohne Träger dafür mit jeder Menge bunter Punkte auf rotem Grund aussah. Es sah allein schon beim Hinhalten scheußlich an der Frau aus und machte sie noch kürzer, als sie eh schon wirkte. „Wirklich, Madame Ferron, ich glaube nicht, dass sie viel Freude...“ hörte ich Justine höflich ansetzen. Weit kam sie aber nicht, denn „Mme Ferron“ unterbrach sie recht unwirsch in trotzigem Ton. „Also ich finde es ganz exquisit! Extraordinaire!“ Wahrscheinlich hätte ich die Klappe halten sollen, aber das konnte ich bei so einer Geschmacksverirrung einfach nicht. Ich musterte noch einmal kurz und eingehend die Dame und sah mich dann im Laden um. Wenn Psychologie in Frankreich nicht anders funktionierte als in Deutschland, sollte eigentlich hinhauen, was ich plante. Mein Blick blieb auf einem ähnlichen Kleidertyp, aber für die runde Lady viel geeigneterem, hängen. Perfekt, das konnte ich mir eher an der Frau vorstellen. Was jetzt kommen sollte, wenn es gut ging, war Vermeidung von Trotz durch Aufzeigen von Alternativen, so lautete wenigstens die Theorie aus den Büchern meiner Mutter. „Sie haben recht, Madame, das Kleid ist wirklich schön.“ Ein triumphierendes Lächeln in Richtung Justine kam von Mme Ferron, während ich mich mit 25

©lisabethal diesen Worten zu ihnen gesellte. Justine warf mir einen geschockten Blick zu. Schnell fuhr ich fort. „Allerdings hängt dort hinten ein Kleid, das ich für mindestens ebenso hübsch halte. Vielleicht möchten Sie es sich auch noch ansehen, bevor Sie sich entscheiden?“ Als Madame sich ganz begeistert von dem moosgrünen Cocktailkleid zeigte, das ich vorgeschlagen hatte, atmete Justine erleichtert durch und Francois und ich verdrückten uns in Richtung Hintergebäude. Über einen kleinen Innenhof, auf dem zwei Autos parkten, gelangte man in das Erdgeschoss, in dem auf der einen Seite die Schneiderei und auf der anderen Seite ein Lager für Stoffe und Borten und Ähnliches lagen. Im ersten Stock war das Atelier, der zweite Stock war in der Hand von Tom, beherbergte aber noch eine winzige Wohnung für etwaige ausländische Models für Fotoshoots. Der Rest wurde von Henry in Beschlag genommen. Im Atelier warteten schon Henry, Tom, Annette und Chantalle. Marie war zur Feier des Tages früher nach Hause geschickt worden. „Ah, schön dich zu sehen, Mädel. Und kennst du dich jetzt aus? War Francois ein guter Führer oder verschwiegen wie immer?“ „Also gleich verlaufen werde ich mich nicht.“, grinste ich zurück. „Und Francois war sehr informativ.“ „Habt ihr Justine getroffen? Ich habe ihr gesagt, sie soll die Boutique früher zumachen, aber anscheinend ist sie verschollen.“, meinte Henry noch immer gutgelaunt, aber mit etwas ratlosem Gesichtsausdruck.

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©lisabethal „Jaaa. Da war noch Kundschaft im Laden.“, gab Francois zurück. „Eine Madame Ferron,“ setzte ich noch hinzu. Onkel Henry stöhnte auf, ebenso wie Annette. Anscheinend war die Dame bereits bekannt. „Das kann sich ja dann nur noch um Stunden handeln.“, meinte Tom trocken. „Sie wird wieder ein ganz unmögliches Kleid ausgesucht haben, das ich niemals an ihr passend bekomme.“, seufzte Annette mit Märtyrermiene. Chantalle, Tom und Henry lachten lauthals los. Warum war mir allerdings schleierhaft. Die Aussage hätte für das erste Kleid mit den Tupfen ja sogar zutreffen können. Fragend sah ich von einem zum anderen. Tom hatte sich als erster wieder in der Gewalt. „Annette-pas-possible!“, grinste er und machte sich mit diesem Lächeln bei mir etwas beliebter. „Sie sagt immer, dass alles ‚pas possible‘ sei, aber dann bekommt sie es immer ganz formidable hin. Selbst an Madame Ferron.“ Bei diesen Worten kam Justine herein. „Das ging aber schnell.“, japste Henry. „Oui, oui. Dank deiner Nichte. Wie hast du das übrigens vorher gemacht. Die war ja erst äußerst verbohrt, aber dann war sie in richtiger Kauflaune. Nach dem grünen hab ich ihr noch drei andere Kleider gezeigt und sie war von allen begeistert.“ „Cool!“, grinste ich. „Aber sag, hat die immer so einen grässlichen Geschmack?“ „Oui, oui. Einfach zum fürchten! Ach, Annette, du hast eine Menge Arbeit vor dir.“ Justine hielt ihr drei Kleider hin. Eins moosgrün, eins karmesinrot und 27

©lisabethal eins türkisblau. Alle ähnlich geschnitten aber mit verschiedenen Details und aus verschiedenen Stoffen. Dazu eine Liste. „Schaffst du das bis nächste Woche?“ „Wenn ich das für diese zickige Schauspielerin verschieben darf, dann ja.“, wandte sich Annette an Henry. „Natürlich. Mme Ferron zahlt ja schließlich im Voraus.“, grinste Henry. „Außerdem freut es mich, dass du so optimistisch bist.“ Leises Gekicher vom Rest der Anwesenden. Annette nahm es auf die leichte Schulter. „Aber jetzt,“ fügte er hinzu, „sollten wir Nell erst einmal vernünftig willkommen heißen und ihren Einstand feiern. Chantalle, hol mal bitte den Champagner!“ Hatte er gerade „Champagner“ gesagt? Ich musste mich verhört haben. Doch es war wirklich wahr. Wie ich mich dafür je revanchieren soll, weiß ich nicht. Alle waren super nett, plauderten mit mir und erklärten mir alles. Selbst Tom taute langsam auf. Das Geschäft lief normalerweise in zwei Möglichkeiten ab: entweder jemand war wichtig genug und hatte, nebenher bemerkt, das nötige Kleingeld, dann bekam er ein absolut exklusives Outfit – ein absolutes Unikat – auf den Leib geschneidert; oder es fehlte das Geld und es wurde nur das, was Henry „von der Stange“ nannte. „Von der Stange“ bedeutete, es wurden pro forma Entwürfe gemacht, von denen ein Modell an der Schneiderpuppe und die landeten dann für die Kunden zur Ansicht in der Boutique. Dort konnte man sich dann Maßnehmen lassen und Annette und Marie 28

©lisabethal fertigten nach groben Schnittteilen dann alles nach Maß. Aber es konnte eben auch passieren, dass zwei Damen an einem Abend das selbe Kleid trugen. Mit diesem Konzept verdiente Onkel Henry in den letzen Jahren wirklich Kohle und wie ich erfahren sollte, gingen alle wie auch immer gearteten Reichen und/oder Schönen in Henrys Boutique ein und aus. Tom erzählte mir, Mme Ferron sei die Gattin eines recht erfolgreichen Handelskettenbesitzers und konnte gut und gerne 20.000 € im Monat für Kleidung ausgeben. Kein Wunder, dass die Vorrang bekam. Justine pries mich in den höchsten Tönen bei Henry, vor allem nach dem zweiten Glas Champus. Ich hörte kurz zu und wurde bei ihrem Überschwang sogleich verlegen und rot. Ihre Lobeshymne veranlasste aber Tom, mit dem ich mich nach langer Unterhaltung etwas besser verstanden hatte, in beißendem Sarkasmus überzugehen. Ich hege so ein wenig den Verdacht, dass er Angst hat, ich könnte ihm den Rang Streitig machen. Himmel! Was für ein Unsinn! Ich bin ja schließlich mehr als nur froh, wenn er mir was erklärt. Vom nächsten Tag an lief dann alles in wunderbarer Routine. Ich stand um sieben Uhr auf, wusch mich, frühstückte und machte mich mit einem Mäppchen voller Buntstifte, einem Tacker und einer Schere in der Tasche auf ins Atelier zur Morgenbesprechung. Morgenbesprechung hieß am ersten Tag eine peinlich genaue Fragerei, wie ich denn bisher entworfen hatte. Dabei kam ich mir so dämlich, unwissend und 29

©lisabethal tölpelhaft vor, vor allem bei Toms Fragen, das es der pure Horror war. Eine meiner besten Freundinnen aus der Grundschule hatte Näherin gelernt. Und ich hatte aus meiner Not gutsitzende Klamotten zu finden eine Tugend gemacht und sie mir als Mentorin geschnappt. Ihre Mutter war Hobbyschneiderin und hatte mit den Jahren eine beträchtliche Sammlung an Schnittzeitungen zusammengetragen, die ich mit benutzen durfte. Dann war ich zum nächsten Stoffladen gefahren und hatte mich mit groben Mengenangaben für Blusen, Röcke, Kleider und Hosen bewaffnet umgesehen. Wenn ich einen Stoff sah und in den Händen hielt, wusste ich, was ich daraus machen wollte. Mit den Stoff setzte ich mich dann über die Schnittzeitungen und suchte bis ich den gewünschten Schnitt fand. Dann legte ich mit dem Nähen los. Es lag mir nicht groß Skizzen zu machen, ich hatte ja immer das nehmen müssen, was vorhanden war. Aber daraus hatte ich das subjektiv Beste gemacht. Absolut nicht die Art und Weise wie Profis arbeiteten. Sehr ungeplant; immer nur von einem Stück zum nächsten. Annette gefiel allerdings meine Denkweise. Sehr praktisch, meinte sie. Von nun an musste ich lernen, meine Vorstellungen in Bilder zu fassen und zwar in solche, die sowohl künstlerisch ansehnlich als auch praktisch ausführbar waren. Eine echte Herausforderung. Und eine gute Übung fürs Studium. Am Rest des ersten Tages nahm mich allerdings Justine in Beschlag. Sie war von meiner Intervention am Tag zuvor so begeistert, dass sie mich am liebsten 30

©lisabethal gleich die ganze Woche in der Boutique gelassen hätte. Tom entspannte sich nach der Befragung sichtlich. Offenbar war er zu dem Schluss gekommen, dass ich wirklich keine Gefahr für seinen Status darstellte. Von nun an verliefen die Tage in schöner Einmütigkeit. Tom wurde immer freundlicher. Er gab mir sogar umsonst Zeichenunterricht und freute sich über meine Entwürfe, die von Mal zu Mal besser wurden. Allerdings war meine Technik der Inspirationsfindung gleichgeblieben. Jeden Vor- oder Nachmittag klapperte ich die Pariser Stoffläden ab und immer wenn mir ein Stoff gefiel, ließ ich mir zehn Zentimeter mitgeben. Dann tackerte ich die Materialprobe auf ein Blatt meines Zeichenblocks, schrieb dazu aus welchem Laden und begann mir dann Gedanken darüber zu machen, welches Kleidungsstück aus diesem Stoff einmal werden könnte. Nach einiger Meckerei von Tom und viel Rückenstärkung von der weiblichen Belegschaft wurde es aber so allgemein akzeptiert. Umso mehr, da ich nach und nach lernte ohne die Stoffproben auszukommen. Morgens um acht oder halb neun, je nachdem wann Henry aus dem Bett fiel, hielten wir Besprechung. Dann half ich entweder Justine in der Boutique, saß mit Henry, Tom und Chantalle im Atelier und zeichnete und diskutierte Entwürfe, oder ich saß bei Annette und Marie in der Schneiderei und ließ mich in die Feinheiten ihres Handwerks einführen. Wochen verstrichen so und ich hätte ewig so weitermachen können. 31

©lisabethal Ich gewöhnte mich an die Menschenmassen, die durch die Straßen flossen und lernte schnell selbst ein Teil davon zu werden. Das war hier in Paris einfacher als sonstwo, denn in dieser Stadt waren die schrillen Vögel buchstäblich zuhause. Es gab kaum eine soziale oder modische Nische, die nicht schon vorhanden war und wenn doch, dann lebten hier alle nach der Parole des Laisser-faire. Solange man nicht allzu sehr im Weg stand. Denn bei aller französischen Gemütlichkeit, auf den Straßen waren die Pariser ein hektisches Völkchen. Das einzige Manko, die Sprache, hatte sich zwar gebessert, aber ich lief nach nicht ganz zwei Monaten immer noch mit einem Wörterbuch herum. Was noch hervorragend war und meine Situation sehr verbesserte, war Henrys Zahlungsmoral. Für jedes Modell, das es in die Boutique schaffte, gab es eine Pauschale. Und für jedesmal das es verkauft wurde, noch etwas oben drauf. Am Ende der zwei Monate reichte das Geld für einen Laptop, zusätzlich zu den normalen Lebenshaltungskosten. Dieses Leben war so schön regulär, dass ich beinahe den Termin für die persönliche Einschreibung an der Universität versäumt hätte, einen Monat vor Beginn des Studiums. Daraufhin begann ich dann, mich wieder mehr für mein Studium als für Mode zu interessieren. Ich kaufte mir ein paar französische Bücher über Baustile und Architektur, aber nichts hoch wissenschaftliches, und verfrachtete mein Animationsprogramm auf den niegelnagelneuen Laptop.

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©lisabethal Dann kümmerte ich mich um meine Garderobe, denn obwohl ich die letzten zwei Monate in der Modebranche tätig gewesen war, hatte sich diese durch Verschleiß recht ausgedünnt. Dank Chantalle und Annette besserte sich das aber gehörig bis zu Studienbeginn. Außerdem begann ich Paris‘ Baudenkmäler zu besichtigen. Notre Dame wurde zu einem meiner Lieblingsorte, auch im Bois de Boullogne ließ es sich an den heißen Tagen unter einem Baum gut aushalten. Mein absoluter Lieblingsort wurde aber die Bank gegenüber dem Hotel Delibes auf der Faubourgh Saint-Honoré, einem wunderschönen, riesigen Stadthaus aus der späten Renaissancezeit. Und das nicht nur wegen der beeindruckenden Fassade. Mehrmals die Woche spielte dort jemand Klavier, so wundervoll, herzzerreißend, bitter-süß, traurig, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Ab etwa abends um sieben saß ich dann dort auf der Bank, ein belegtes Baguette dabei und wartete. Manchmal vergebens, aber meistens mit Erfolg. Und jedesmal ging ich tief berührt wieder nach Hause. In einer Woche würde mein Studium beginnen und ich wurde langsam nervös, ob ich das wirklich schaffen würde. Aber alle redeten mir gut zu, vor allem Tom, der nach und nach mein bester Freund hier in Paris geworden war. Die Sprachprobleme hatten sich gemildert, mein Akzent war weniger schlimm und ich lernte langsam Skizzen zeichnen. Es würde also schon schief gehen. Hoffte ich.

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©lisabethal Der erste Tag mit der Einführungsveranstaltung stand vor der Tür und ich sagte mir, alles würde gut!

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Kapitel 4: Verwirrung, Jagd und Flucht Am Morgen des Tages mit der Einführungsveranstaltung war ich aufgekratzt wie seit dem Abitur nicht mehr. Die Veranstaltung war Pflichtprogramm, wer nicht kam, war für die Prüfungen nicht zugelassen. Das machte mich so nervös, dass ich um fünf Uhr früh bereits wach wurde und nicht mehr einschlafen konnte. Nach einigem Hin- und Hergewälze stand ich dann doch um halb sechs auf, ging gründlich duschen und verbrachte dann einige Zeit bei der Auswahl meiner Kleidung. Mittlerweile bestand diese zu mehr als zwei Drittel aus Henry-ArcherTeilen, vornehmlich Prototypen, die für die Boutique zu wenig ausgefallen wirkten, aber zu schade waren um einfach in einer Lagerkiste zu verstauben. Annette hatte mir gezeigt, wie ich sie ändern musste, damit sie passten, denn bei meiner extremen Sanduhrfigur war das durchaus nötig. Es war Anfang Oktober und es wurde langsam kühl. Daher entschied ich mich für schwarze Jeans, ein Poloshirt mit 70er-Jahre-Muster und darüber einen passenden Pullover. Dann warf ich zwei Mäppchen – eines mit Buntstiften, eines mit Schreibmaterial – und zwei Blöcke – Zeichen- und Schreibblock – in eine bestickte – von mir selbst handbestickte und von Henry und Tom sehr gelobte – Umhängetasche aus schwarzem Demnin. Ich frühstückte ausgiebig, hatte aber bis zehn Uhr immer noch extrem viel Zeit. Naja, lieber zu früh als zu spät und nicht für die Prüfungen zugelassen. So nahm ich um acht Uhr den Bus in Richtung Universität. Es war Freitag früh, der Freitag vor dem offiziellen Semesterbeginn am Montag, und der Bus war überfüllt bis über die Grenzen des zulässigen hinaus. Aber das störte hier absolut 35

©lisabethal niemanden, nur mich. Ich gab eine innerliche Memo an mich: Fahr nie mehr um Punkt acht Uhr Bus! Entweder vorher oder nachher, aber nie mehr Punkt acht! Nach unendlichen fünfundreißig Minuten und mindestens zehn zusätzlichen blauen Flecken kam ich endlich an der Uni an. Es dauerte dann noch etwa eine halbe Stunde bis ich den Weg zum richtigen Raum erfragt hatte, aber um etwa neun Uhr saß ich dann in einem typischen, aufsteigenden Hörsaal. Der Raum war riesig, gespickt mit zig Reihen Klapptischen und –stühlen, mit vier Türen, zwei unten, zwei oben, jeweils rechts und links, aber ohne Fenster. Ein hässlicher Betonkasten, unverputzt und ungestrichen, mit einem Beamer auf einem Stahlgerüst und einer überdimensionierten Tafel. Und hier sollten wir lernen schöne Bauwerke zu schaffen? Welch Ironie des Schicksals! Ich setzte mich in eine der hinteren Reihen auf den dritten Platz von links und begann die Zeit totzuschlagen. *** Die Wochen vor meinem Experiment, das sich „normales menschliches Leben“ – allein der Begriff in Bezug auf mich war lachhaft – nannte, war ich bemüht alles für ein möglichst gutes Gelingen vorzubereiten. Ich mischte mich des Abends unter die Menschenmassen um eine gewisse Abhärtung nach all der Zeit der Einsamkeit zu bekommen. Schließlich hatte ich mir ja vorgenommen den normalen Weg zu gehen. Und der führte notgedrungen über staatliche Einrichtungen, wo es von Menschen nur so wimmelte. Begeistert war ich nicht, aber nach einiger Zeit half es doch, den Drang zu kontrollieren, jeden, der mir näher als eineinhalb Meter kam, an die Kehle zu springen. 36

©lisabethal Ich dachte, ich hätte in den letzten sieben Jahren aufgehört, nach dem wundervollen, gefährlichen Duft zu suchen, aber so kurz vor meiner geplanten Wiederauferstehung müssen wohl die Nerven mit mir durchgehen, denn in letzter Zeit glaubte ich immer wieder, einen Hauch davon, nein eigentlich eine ganze Salve, wahrzunehmen. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht schlägt sich der vor Jahren betriebene Raubbau an meinem Körper endlich durch. Jetzt da ich es am wenigsten gebrauchen kann. Am Anfang des Abends ist es am schlimmsten, wenn ich gerade wach geworden bin und den aktiven Teil meiner vierundzwanzig Stunden mit etwas Musik beginne. Vielleicht liegt es auch an der Musik. Sie war schon immer Schlüssel und Spiegel meiner Seele. In ihr verliere ich mich, jeden Abend aufs Neue. Vielleicht öffnet sie mein Unterbewusstsein so weit, dass es beginnt mir Streiche zu spielen. Aber ich bin unwillig damit aufzuhören. Lieber werde ich ganz verrückt. Meine Einschreibung und alle weiteren Bürokratismen waren sowohl entnervend als auch anstrengend und zeitaufwändig. Für passende Papiere waren sowohl gewisser Grad an Einschüchterung als auch verschiedene Stufen an Überzeugungsarbeit nötig. Aber nun ist alles geebnet, morgen beginnt mein erster regulärer Tag an einer Universität. *** Der Raum füllte sich langsam tröpfchenweise. Immer wieder kamen kleinere Gruppen oder einzelne Personen mit etwas unsicherem Gesichtsausdruck herein. Man versicherte sich gegenzeitig, dass dies der richtige Raum war und kam darüber schnell ins Gespräch, selbst über zehn Bankreihen

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©lisabethal hinweg. Es war leicht in dieser Atmosphäre allgemeiner Unwissenheit Bekannte zu machen. Um viertel vor zehn hatte ich mich mit mehreren Dutzend Leuten unterhalten und mit ca. 20 Handynummern getauscht. Der Raum war in etwa zu dreiviertel gefüllt. Neben mir saß ein recht attraktiver Junge/Mann meines Alters, mit dem ich versuchte mich zu unterhalten. Er fand es toll, dass ich von so weit her kam, bremste seinen recht raschen Redefluss aber kaum, so dass ich Schwierigkeiten hatte alles zu verstehen. Er hieß Domenic. Noch einen Platz weiter rechts, saß ein Baptiste, ihn verstand ich besser. Die beiden schienen ganz nett zu sein. Die ganze Reihe verabredete sich nach der Besprechung in ein kleines Café um sich besser kennenzulernen. Alle sehr kollegial, sehr angenehm. Fünf Minuten vor Beginn, der Raum war proppenvoll. Nur neben mir und in der Reihe hinter mir fanden sich noch vier Plätze. Zwei Minuten vor Beginn hatte sich die Anzahl der freien Plätze auf die beiden neben mir ausgedünnt. *** Wie es mir passieren konnte, dass ich verschlief, war mir zwar kein Rätsel, aber so peinlich, dass ich im Nachhinein über diesen dummen Fehler kaum mehr nachdenken wollte. Meine dumme Angewohnheit tagsüber zu schlafen und erst abends aufzustehen und das Fehlen eines Weckers, waren die Hauptgründe für diesen Lapsus. Ich wurde aus einer inneren Unruhe heraus um zwanzig vor zehn wach und erschrak zutiefst, als ich erkannte, wie spät ich dran war. Mir war bewusst, dass mein Hunger noch größer werden würde, aber um noch irgendwie pünktlich zu erscheinen, musste ich mit aller zur Verfügung stehenden Geschwindigkeit agieren. 38

©lisabethal Ich schoss wie eine Kugel durchs Haus und rannte beim Verlassen fast Florence um, ihr „Du bist spät dran“ ignorierend. Die letzten drei Wochen hatte ich keine Nahrung zu mir genommen. Mein Magen knurrte verdächtig, war nicht mehr als eine bleischwere, harte Kugel und alle meine Sinne waren so überscharf, dass ich gerade heute mich sehr am Riemen reißen musste um überhaupt auf die Straße zu gehen. Zum Glück war es bewölkt, dass linderte meine Abneigung gegen Tagesausflüge etwas, verbesserte aber den Hunger keineswegs. Und für Essen war definitiv keine Zeit mehr. Es war hell, es waren Menschen auf der Straße, also versuchte ich mich deren Geschwindigkeit einigermaßen anzupassen. Das ging allerdings nur zwei Straßen lang gut. Es dauerte etwa eine zehntel Sekunde als ich die Hacken in den Boden rammte und zu einem jähen Halt kam. Aus einer Querstraße drang etwas zu mir, das ich gar nicht brauchen konnte, ein wunderbar lieblich betörender Geruch – „mein Duft“. Und schon gab es kein Halten mehr. Hunger und Instinkt hatten mich trotz aller willentlicher Auflehnung voll im Griff. Wie im Rausch rannte ich im Zick-Zack durch die Stadt, immer der Spur des Duftes hinterher. Ob Passanten mich sahen, kümmerte mich nicht, ich wollte nur zur Quelle dieses köstlichen Geruchs. Mehr als einmal hätte ich ihn beinah verloren. Aber nur beinah. Erst nach etwa einer Viertelstunde hatte ich mich soweit wieder in der Gewalt, dass ich beginnen konnte rational zu denken. Ich verjagte mit einiger Anstrengung das letzte Aufbäumen des fast übermächtigen Instinkts und sah mich um. Ich stand in einem dieser furchtbaren Betonklotzgebäude und vor einer Tür. Hinter der Tür drang der Geruch hervor, so mächtig, dass mir klar wurde, dass dahinter die Quelle liegen musste. 39

©lisabethal Ich starrte das Schild neben der Tür an. Die Raumnummer kannte ich, jedenfalls wenn das hier die Universität war. Hier hätte ich sowieso her gemusst. Aber wenn dem so war, konnte es passieren, dass ich hier öfter in direktem Kontakt mit dem Geruch kam. Das musste ich unbedingt vermeiden. Ich atmete tief durch und öffnete die Tür. Der Duft schlug mir entgegen wie eine Wolke und ich bemühte mich normal zu erscheinen. Aber stehenbleiben musste ich doch. *** Domenic hatte offensichtlich Interesse an mir. Jedenfalls glaubte ich das. Vielleicht war das auch nur die französische Variante eines leichten unbedeutenden Flirts. Allerdings hätte ich nichts gegen Domenic, jedenfalls wenn er sich angewöhnt langsamer zu sprechen. Er ist hübsch, groß, athletisch, dunkelblond mit grau-grünen Augen. Er hat etwas Verlässliches an sich. Er wirkt wie ein Fels in der Brandung. Ob er das wirklich war würde sich dann zeigen. Aber er schien nett zu sein und anders als meine Mitschüler in Deutschland gar nicht darauf erpicht mich zu hänseln. Ein gutes Zeichen. Eine Minute vor zehn, Domenic versuchte mir gerade die Vorzüge des Pariser Nachtlebens zu schildern, immer noch viel zu schnell, aber langsam kam ich auch mit seiner Sprechweise auf einen grünen Zweig. Dann ging die Tür auf und ich hätte beinah nicht darauf geachtet, hätte Baptistes Blick mich nicht auf eine Besonderheit hingewiesen, die es anscheinend lohnte sich den Nachzügler genauer anzusehen. Ich drehte mich also so unauffällig ich nur konnte Richtung Tür und sah jemanden der hier unmöglich hergehören konnte. 40

©lisabethal Der Mann – es war eindeutig ein Mann, nicht wie Domenic oder Baptiste, die noch halb im Teenageralter steckten – war so groß, dass er gerade so durch den zwei Meter hohen Türrahmen ging, ganz in schwarz gekleidet und mit einem Aussehen, das in Hollywood richtig Karriere gemacht hätte. Wie er so dastand, wirkte er fast ein bisschen dünn, was aber auch die Größe machen könnte. Sein Gesicht sah wohlproportioniert aus, hohe Wangenknochen, angenehm markantes Kinn, hübsche, gerade Nase. Sein Blick wirkte unsicher, so als wäre er sich nicht sicher, ob er hier richtig wäre. Das war ich mir allerdings auch nicht. Nur knapp hielt ich mit so einer dummen Phrase wie „Das Model-Casting ist im nächsten Haus“ hinter dem Berg, überrascht wie sehr zwei Monate Paris die Schlagfertigkeit trainierten. Noch ein unsicherer Blick von ihm in die Runde. Dabei fiel mir auf, das seine Augen so dunkel waren, das Iris und Pupille anscheinend die gleiche Farbe hatten. Seine Haare waren auch dunkel, nur eine Nuance von tiefstem Nachtschwarz entfernt. Die Haut dagegen wirkte wie das genaue Kontrastprogramm, denn sie war so bleich, als wäre er in einen Eimer Kalk gefallen. Schließlich ging er auf meine Reihe zu und setzte sich auf Platz ganz am Rand. Seine Haltung war seltsam steif, der Rücken ganz gerade durchgedrückt, die Arme fest vor der Brust verschränkt, die Beine im rechten Winkel zum Boden, die Füße zuckten, so als wolle er gleich wieder aufspringen. Sein Unterkiefer war angespannt, seine Augen blickten stur geradeaus und seine Augenbrauen und Mundwinkel waren nach unten gezogen. „He! Erde an Eleanor!“ Ich riss meinen Blick von dem Neuankömmling los und wandte mich Domenic zu.

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©lisabethal „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass es in Frankreich unhöflich ist, Leute anzustarren, nur weil sie spät dran sind.“, lachte er, aber ich konnte ein bisschen den angeknacksten Stolz spüren, dass ich dem Zuspätkommer mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als ihm. „Pardon.“, murmelte ich. Allerdings kam ich nicht weiter, denn von unten wuselte ein rundlicher Mann um die Fünfzig mit einer viel zu großen Nase in den Raum und alle Unterhaltung erstarb – der Dozent. *** Ich fiel auf einen Platz, soweit von Menschen entfernt wie ich nur konnte. Der ganze Raum schien geschwängert von dem Geruch. Mir wurde vor Gier beinahe schlecht. Das war sehr nach an dem, was ich ertragen konnte. Und der Hunger machte es schlimmer. Der Duft und die immer schwerere Bleikugel meines Magens schienen sich gegenseitig zu steigern. Es war gut, dass die Luft so derartig im Raum stand, denn so konnte ich die Quelle des Geruchs nicht genau lokalisieren. Hätte ich es gekonnt, es wäre übel ausgegangen – für uns beide. Aber schon so musste ich mich heftigst zusammenreißen. Ich verbot meinem Körper mich zu bewegen, verschränkte die Arme fest vor dem Körper und ballte die Hände zu Fäusten. Um dem Gedanken an meine Mitmenschen zu verbannen, füllte ich meinen Kopf mit Musik, ich schaute dabei aber niemanden an um nur ja nicht in Versuchung zu kommen. Schließlich riss mich eine furchtbar misstönend, nasale Stimme aus einer gerade entstehenden Komposition. ***

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©lisabethal Der Vortrag des Dozenten war recht informativ. Er sagte uns, wo wir wie viele Punkte brauchen würden. Allerdings war sein Vortragsstil sehr eintönig und seine Stimme relativ unangenehm. Aber wenigstens sprach er langsam und deutlich, wofür ich ihm sehr dankbar war. Der schöne Mann neben mir hatte sich allerdings kaum bewegt. Während alle anderen, inklusive mir, mitschrieben als hinge unser Leben davon ab, saß er mit noch immer verschränkten und verkrampften Armen da, ohne Stift und ohne Block. Sehr seltsam. Irgendwann kam der Vortrag zu dem Punkt, an dem es um Arbeitsgruppen zur Arbeitsbewältigung ging. Wir sollten immer zu zweit eine Aufgabe pro Vorlesung bearbeiten, die dann bepunktet wurde. Um das fair zu regeln, sollten wir alle unsere Namen auf eine Liste schreiben und ein Computer würde uns per Zufallsgenerator zusammenwürfeln. Das klang gut. Fair. Mein Nachbar rührte sich immer noch nicht, wohin gegen Domenic sich munter neben mir weiter unterhielt und ich mir alle Mühe geben musste, um ihn auszublenden. Schließlich kam die Liste für die Arbeitsgruppen zu mir. *** Ich wusste, das hier war die Hölle, meine persönliche kleine Hölle. Der Hunger wurde so schlimm, dass ich mir die Fingernägel in die Handflächen bohrte bis ich Blut roch – mein eigenes. Der schwere Geruch überdeckte den gefährlichen Duft, der hier im Raum hing. Ich hörte nur mit halbem Ohr auf die Stimme, die ganz monoton vor sich hinschwafelte. Wenn ich wieder klar denken konnte, würde ich den Vortrag aus dem Unterbewusstsein kramen müssen. Der größte Teil meines Bewusstseins war damit beschäftigt hier kein Mas43

©lisabethal saker zu veranstalten. Nadir, hätte er mich so sehen können, hätte sich tödlichst für mich geschämt. Ich versuchte die Luft anzuhalten und nur möglichst kurz durch den Mund zu atmen, um so wenig Gerüche wie möglich aufzunehmen. Die Wunden an meinen Händen hatten sich bereits wieder geschlossen, aber das verlorene Blut verstärkte den Hunger noch mehr. Je schneller ich hier herauskam umso besser. Irgendetwas stupste mich auf den rechten Oberarm, ganz sachte zwar nur, aber so andauernd, dass ich es nicht ignorieren konnte. Ich blickte nur gerade lang genug in die Richtung um das Klemmbrett und den Stift wahrzunehmen. Wenigstens hatte mich niemand direkt berührt, das hätte nämlich äußerst übel enden können, bei meiner Verfassung. Mit einer Handbewegung, die wahrscheinlich zu schnell für einen normalen Menschen war, zog ich das Schreibbrett zu mir. Offensichtlich eine Art Anwesenheitsliste, die später für die Einteilung in irgendwelche Gruppen behilflich sein sollte. Kurz überlegte ich, ob ich es nicht bleiben lassen und so weitermachen sollte wie bisher, da stieg Nadirs Bild aus uralten Zeiten vor mir auf. Nadir, wie wir in dem schäbigen kleinen Wohnzimmer sitzen und er mich mit all dieser enttäuschten Traurigkeit mustert, diesem Blick hatte ich noch nie etwas entgegensetzen können. Ich musste kurz Luft holen, bekam dabei wieder etwas in die Nase von diesem unglaublichen Duft und zögerte erneut. „Eine solche Verschwendung, Erik! Wie konnte ich mich nur so in Ihnen täuschen?“, flüsterte eine todtraurige Stimme mit starkem arabischen Akzent in meinem Kopf. Ich packte den Stift und unterschrieb und zwar so wie es in letzter Zeit verlangt wurde mit meinem vollen Namen – jedenfalls mit dem, der auf etwaigen Formularen der neueren Zeit stand. 44

©lisabethal *** Ich hatte gerade neben meinem Namen unterschrieben und wollte schon die Liste weiterreichen, als ich kurz zögerte. Der Mann ganz am Rand schien immer noch zur Salzsäule erstarrt. Vorsichtig tippte ich mit dem Brett an seinen Arm – keine Reaktion. Nochmal und nochmal und nochmal. Erst bei Versuch acht, als ich schon im Kopf eine höfliche Anrede zurechtgelegt hatte, wurde mir das Klemmbrett mit einem so schnellen Ruck aus der Hand gerissen, dass ich auch zwei Sekunden danach noch verwirrt auf meine leeren Hände starrte. Als ich wieder hochsah, bekam ich gerade noch mit, wie der Mann unterschrieb und mit einer recht schnellen ruckartigen Bewegung das Brett in die Reihe hinter uns reichte nur um dann gleich wieder in starre Bewegungslosigkeit zu verfallen. Dieses Verhalten irritierte mich dermaßen, dass ich nur noch auf halbem Ohr zuhörte, allerdings fleißig weiter mitschrieb, eine sehr nützliche Fertigkeit, die man sich in dreizehn Jahren Schule recht gut aufbauen kann. Ich überlegte mir Gründe für solche offensichtlichen Normverstöße. Vielleicht kam er aus einem anderen Land und wurde mit der Situation des überfüllten Hörsaals nicht fertig. Vielleicht war er krank und es ging ihm nicht gut und er quälte sich für die Aufnahme hier rein und wollte eigentlich nur seine Ruhe. Wie ich es auch drehte und wendete, ich kam nicht so richtig auf einen grünen Zweig. Was nach zehn Minuten Überlegung blieb, war Verwirrung. Diese steigerte sich noch als der Dozent eine halbstündige Unterbrechung ankündigte. Denn ich nahm nur kurz aus den Augenwinkeln wahr wie Monsieur Seltsam ging. Beziehungsweise ich nahm es nicht wahr. Das einzige, was ich bemerkte, war, dass sein Stuhl noch leise etwas nachwippte und die Tür zuknallte. 45

©lisabethal Baptistes Schulterzucken auf meinen fragenden Blick hin, brachte mich auch nicht viel weiter. Domenics Antwort war zwar eher lapidar gemeint, verursachte aber doch ein flaues Gefühl in meinem Magen. „Auf was auch immer der Kerl ist, der scheint echt dringend Stoff zu brauchen.“ Auch ein Grund für so ein seltsames Verhalten, aber die Verwirrung blieb. *** Ich hörte nur das Wort „Unterbrechung“ und schon war ich weg. Nur raus hier! Wie eine Stahlfeder schoss ich von meinem Sitz. Raus aus dem höllischen Raum mit dem viel zu guten Geruch. Nur weg! So schnell wie möglich! Ehe jegliche Beherrschung nachgab. Ich warf die Tür hinter mir zu, als wollte ich die Tore der Unterwelt hinter mir schließen. Ich rannte, wohin oder wie war mir egal, nur weg! Erst als ich bereits drei ganze Straßenzüge hinter mich gebracht hatte, wurde mir bewusst, dass ich aus Gewohnheit zur Rue Scribe und nicht in mein neues Zuhause bei Charles und Florence unterwegs war. Ich schlug einen Haken und nahm einen Umweg von mehr als einem Kilometer in Kauf, nur um nicht noch einmal an der Universität vorbei zu müssen. Ich rannte und rannte. Selbst im Haus rannte ich noch. Als ich hereinkam, begrüßte mich Florence. „Wie war dein - ?“ Ich ließ sie und ihre höfliche Frage einfach in der Eingangshalle stehen. Oben im Gang lief ich Charles fast über den Haufen. „Was soll das?“, stieß der recht empört über mein Benehmen hervor. 46

©lisabethal „Ich fliehe!“, war meine Antwort. ***

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Kapitel 5: Engelsstimmen und die Hölle auf Erden Der schöne, seltsame Mann neben mir auch noch anderen aufgefallen. Hauptsächlich der Damenwelt. Das bekam ich beim Kaffeetrinken mit dem Rest meiner Reihe und den Leuten aus der Reihe vor und hinter uns heraus. Das kleine Café unweit der Uni, in dem wir saßen, platzte dank dieses Ansturms fast aus allen Nähten und die beiden Kellner hatten zu tun um alle Bestellungen zu bedienen. Ich saß an einem Tisch mit Baptiste, Domenic und einer jungen Wienerin namens Anita, die ebenso erfreut war mit jemanden deutsch reden zu können wie ich. Außerdem hatte Anita das Glück direkt hinter „Monsieur Seltsam“ zu sitzen. Sie bestätigte, was ich vermutet hatte. Seine Augen waren so dunkel, dass Iris und Pupille nicht zu unterscheiden waren. Allerdings meinte sie auch, sie hätte ihm nicht lange ins Gesicht gesehen. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck sei so hart, ja fast mörderisch aggressiv gewesen, dass sie nicht länger als nötig aufschauen wollte. Wirklich sehr seltsam. Baptiste stimmte mir da zu und Domenic war der Ansicht, solche Leute solle man nur geflissentlich ignorieren. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl hatten dann auch alle verstanden und es wurde schnell weiter über die Anforderungen des Studiums diskutiert. Man versicherte sich dabei durch ständiges Wiederholen der vorher genannten Fakten gegenseitig, dass man was wann zu machen und abzugeben war. Irgendwann wurde das auf die Dauer aber langweilig und meine Gedanken schweiften wieder zu meinem wunderschönen, seltsamen, mysteriösen, finsteren Banknachbarn. Mir ging Anitas Beschreibung seines Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf. Warum sollte er aggressiv sein? Er kannte doch niemanden und niemand war unhöflich zu ihm 48

©lisabethal gewesen – gut, mal abgesehen davon, dass ich ihn geschlagene zehn Sekunden angestarrt hatte. Außerdem hatte er auf mich eher gequält als aggressiv oder wütend gewirkt. So viel ich auch nachdachte, ich wurde nicht schlau aus ihm. Den Rest des Wochenendes verbrachte ich dann damit noch einige Fehler in meinem Programm auszumerzen und mehrere Entwürfe für „Kleine Schwarze“ anzufertigen – das Thema dieser Woche. Und natürlich dachte ich über Ms Seltsam nach. Sogar viel zu viel. Nach dem Café waren einige von uns noch einmal zur Uni gepilgert und hatten zu unserer Freude festgestellt, dass die Einteilung für die Arbeitsgruppen bereits aushing. Domenic war allerdings sehr geknickt gewesen, dass er mit einer Jeanette Fourcade zusammen war. Offensichtlich hatte er sich schon mich ausgesucht. Baptiste war offen für alles, also störte ihn sein männlicher Partner nicht. Und ich hatte einen „Ms Erik de Boscherville“ als Partner. Der war mir vom Namen her nicht bekannt, also würde ich ihn mir am Montag irgendwie suchen müssen. Na Klasse! *** Ich war an Charles vorbei in meine Räume gestürzt, hatte ihm die Tür vor der Nase zugeworfen und begonnen Kleidungsstücke in einen ledernen Rucksack zu packen. „Erik! Was, im Namen des Allmächtigen, ist hier los?“ Nun klang Charles mehr besorgt als empört. „Es tut mir leid, dass ich deine Gastfreundschaft so lange strapaziert habe.“, versuchte ich in möglichst ruhigem Ton zu sagen, aber es klang immer noch gehetzt. Charles legte jetzt alle Autorität, die ein patriarchischer französischer Hochadeliger aufbringen konnte, in seine Stimme. 49

©lisabethal „Erik! Du sagst mir jetzt sofort, was das hier zu bedeuten hat! Toutes suite!“ Sonst hatte dieser Tonfall bei mir nie Wirkung gezeigt, oder höchstens kaltes Schweigen provoziert. Aber jetzt, mit so viel Sorge, die mitschwang, und meinen labilen Zustand, sprudelte alles aus mir heraus, während ich weiter versuchte einigermaßen systematisch zu packen. „Du läufst also vor etwas davon, dass du nicht lokalisieren kannst und das dir eigentlich gefällt.“, konstatierte Charles meinen zum Teil recht zusammenhangslosen Wust an Informationen, halbfertigen Beschreibungen und Emotionen. Florence trat gerade ein. „Du willst uns verlassen?“ Florence war wirklich gut darin, jemandem ein schlechtes Gewissen zu machen. Lange sahen die beiden mich an und mein Blick schweifte unsicher zwischen den beiden und der Tür hin und her. Nach einiger Zeit begann Charles erneut. „D’accord. Ich kann dich wohl kaum hindern zu gehen, aber willst du wirklich alles hinwerfen?“ Ich antwortete nicht, unsicher, was ich sagen sollte, unentschieden, was ich denken sollte. „Alors, mon ami. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag und den lässt du dir eine halbe Stunde durch den Kopf gehen. Soviel Zeit hast du schon noch, so oder so.“ Ich nickte. Was hätte ich auch anderes tun sollen? „Du kommst mit uns übers Wochenende nach Silvane und versuchst, ausgeruht und mit vollem Magen am Montag noch einmal dein Glück. Dann kannst du immer noch verschwinden, wenn du denkst, du hältst es nicht aus.“ Der Vorschlag klang einleuchtend, plausibel, machbar, vernünftig, durchdacht. Viel durchdachter als ich im Moment hätte handeln können. 50

©lisabethal „D’accord! Überredet.“, seufzte ich schließlich. Chateaux Silvane, an der Loire gelegen, war ein Kleinod im architektonischen Sinne. Der mittelalterliche Teil noch voll erhalten, alles andere schön darum herum gruppiert. Eine traumhafte Landschaft. Aber ich hatte im Moment nicht viel Sinn dafür. An diesem Wochenende nahm ich mehr Nahrung zu mir als je zuvor. Ich überaß mich derartig, dass mir am Sonntag nach der Abreise von dort noch immer schlecht war. Aber schließlich wollte ich am Montag so normal wie möglich wirken und nicht vom Hunger versteinert dasitzen müssen wie am Freitag. Wieder in Paris fiel mir ein, dass ich auch in eine Arbeitsgruppe eingeteilt worden war, was meine Laune nur noch tiefer in den Keller stürzte. Zum einen, weil es mir nicht lag im Team zu arbeiten, zum anderen, weil ich nicht mehr Zeit als irgend nötig mit einem Menschen verbringen wollte. *** Montagmorgen, dreiviertel zehn, und ich kam mir mittlerweile richtig, richtig blöd vor. Der einzige Trost war, dass es einigen anderen auch nicht besser ging. Am Anfang war mir meine Frage „Monsieur de Boscherville?“ an jeden männlichen Studenten, den ich nicht kannte und der meinen Raum betrat, ziemlich peinlich gewesen. Jetzt hatte ich Routine darin und war nur noch genervt, da anscheinend niemand „Monsieur de Boscherville“ war. Wenigstens hatte ich noch ein paar Leute kennengelernt. Mit meiner Geduld am Ende packte ich meine Tasche und marschierte in den Raum. Ich konnte drinnen ja genauso gut weiterfragen. *** 51

©lisabethal Ich saß seit mehr als eineinhalb Stunden bereits in dem Raum. So konnte ich mich an die Masse an Leuten gewöhnen, die ihn am Schluss füllen würden. Der Geruch war zwar in der Nähe, schon seit einiger Zeit, aber noch schwach. Nicht direkt im Raum. Erträglich. Nebenher horchte ich auch auf die Stimmen der Eintretenden. Mein Partner in der Arbeitsgruppe war eine Frau, eine Ausländerin, jemand mit Akzent. Ich tat so, als lese ich ein Buch um den anderen nicht unnötig ins Gesicht schauen zu müssen. Meine Abneigung gegen meine Mitmenschen hatte ich nie ganz ablegen können. Gerade als ich zu hoffen begann, die Quelle meines Duftes hätte vorzeitig hingeschmissen, traf es mich wie ein Schlag in den Magen. Ich drehte mich um. Eine Gruppe schnatternder Mädchen traten durch die Tür. Die letzten beiden redeten Deutsch. Niemand mit anglo-amerikanischem Akzent dabei. Glück gehabt. *** „Hoffentlich nicht, sag einfach „nein“!“, dachte ich, als ich den Raum betrat und Ms Seltsam am gleichen Platz wie freitags sitzen sah. Er musste bereits vor mir da gewesen sein. Ich atmete tief durch, versuchte mein Herz in niedrigere Umdrehungszahlen zu zwingen und ballte meine schwitzenden Hände zu Fäusten. Anita schubste mich in seine Richtung. Das würde ich nie überstehen. Doch schon stand ich neben ihm. Wenn ich mich nicht zusammenriss und etwas sagte, würde ich mich bis auf die Knochen blamieren. Also los, feuerte ich mich selbst an. Bei den letzten war es ja auch kein solches Drama mehr gewesen. Aber die letzten sahen auch nicht so aus, als hätte man 52

©lisabethal einem Engel die Flügel abgenommen und ihn aus dem Himmel auf die Erde geworfen, wo er so gar nicht hinpassen wollte. Seine Haltung war noch genauso steif wie am Freitag. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn wieder genauso fasziniert anstarrte wie am Freitag auch. „Anstarren ist unhöflich.“, flötete mir Domenics Stimme im Kopf herum. Als ob ich das nicht selber wüsste. Aber es kostete mich einige geistige Gewalt um den Blick kurz von ihm zu lösen. *** Das Mädchen, von dem dieser teuflisch gute Geruch ausging stand jetzt neben mir. Ich versteifte mich, so gut ich konnte und wollte ihr gerade auf meine unterschwelligste Art einflüstern, dass sie weiter gehen sollte als sie zu sprechen begann. *** „Monsieur de Boscherville?“ Dass ich die schon so oft gestellte Frage nicht stammelte oder stotterte, sondern am Stück und einigermaßen selbstsicher klingend herausbrachte, musste wohl an der Übung liegen. Denn an meinem Inneren lag es definitiv nicht. Mein Herz raste, meine Hände schwitzten und mein Puls trommelte in meinen Ohren. Ich war aufgeregt wie eine Nonne im Puff mit lauter Strippern. „Sag einfach nein“, betete ich wieder in Gedanken vor mich hin. ***

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©lisabethal Oh nein! Nein! Nein! Wie war das möglich? Woher kannte dieser mein spezieller kleiner Dämon meinen Namen? Nein, halt! Ruhig! Das war eine Frage. Sie war sich nicht sicher. Was könnte sie wollen? War es vielleicht das Beste, wenn ich sie anlog? Aber mein unsäglicher, gottverdammter Mund war wieder einmal schneller als ich. *** „Oui!?“ Mein Herz und mein Gehirn setzten bei diesem Wort kurz aus. Aber nicht wegen dessen Inhalt. Die Stimme, die das Wort sprach, passte auf ganz verheerende Weise zu diesem Mann, denn sie war ebenso überirdisch schön, wie er selbst. Obwohl das Wort harsch und kurz ausgesprochen war, jagte mir diese unbeschreibliche Schönheit einen nie gekannten Schauer über den Rücken. Trotz des Tonfalls war sie weich, melodisch, im höchsten ästhetischen Sinn musikalisch und von ihrer Tonhöhe nicht wirklich zu verorten, obwohl sie nicht nach einem Jungentenor klang. Sie besaß Ähnlichkeit mit einem extrem guten Klavier, es schwangen perfekte Obertöne mit, die man aber nicht orten konnte. Gleichzeitig besaß sie Tiefe und Resonanz, auch wenn das Wort sehr leise gesprochen war. Die Haare an meinen Unterarmen stellten sich auf und ich wurde nur noch nervöser. Jetzt war ich wirklich kurz davor mich durch Stottern vor diesem Mann mit der Stimme eines Engels zu Tode zu blamieren. *** Offenbar hatte sie meine Antwort aus dem Konzept gebracht. Vielleicht hatte sie meine Stimme genug erschreckt, 54

©lisabethal dass ihr Instinkt ihr riet, sich schnell von den Socken zu machen und mich tunlichst zu meiden, was das Beste für uns beide wäre. *** Ich nahm meinen Mut zusammen und redete weiter. „Monsieur, ich glaube, wir sind in der gleichen Arbeitsgruppe. Mein Name ist Eleanor Archer.“ Was auch immer es war, dass ihm an dieser Aussage nicht gefiel, es schlug sich auf seinen Gesichtsausdruck deutlich wieder. Die eh schon verspannten Gesichtszüge krampften sich noch weiter zusammen, bis sein Mund ein kaum erkennbarer Srich war und die Kiefer so fest aufeinander gepresst wurden, dass die Muskulator deutlich sichtbar wurde. Er konnte doch nicht wirklich etwas gegen mich haben, er kannte mich ja nicht, hatte ganz offensichtlich gerade erst meinen Namen gehört. War er vielleicht irgendso ein frauenfeindliches Arschloch, das einfach schon deshalb nicht mit mir arbeiten wollte, weil ich keinen Penis hatte. Oder war er vielleicht zu schüchtern und verklemmt um mit einer Frau arbeiten zu können. Sicher konnte es nicht an mir persönlich liegen, dass er so ablehnend reagierte. Oder? *** Der Himmel straft mich. Gott der Herr will mich wieder prüfen – als hätte er das in meinem letzten Leben nicht genug. Er setzt mir die größtmögliche aller Versuchungen vor die Nase um mich in die ewige Verdammnis zu locken. Nur um mich, das verkorksteste seiner Lebewesen nicht sehen zu müssen. Welche Bösartigkeit. Soll mir jetzt noch einer predigen, Gott liebe alle seine Geschöpfe. Er schafft mir hier 55

©lisabethal die Hölle auf Erden. Meine Strafe ist die gleiche, wie die des armen Sünders in der Unterwelt: ich verhungere, habe alles Essen vor mir und kann – nein, ich darf – es nicht erreichen. Tue es ich doch ist mir nach allem, was ich sonst getan habe, der ewige Zorn meines einzigen Freundes sicher. Die einzige Instanz, vor der ich mich wirklich verantwortlich fühlte, denn wie viele ungezählte Male hatte sie schon Verantwortung für mich übernommen, was hatte sie nicht alles aufgegeben für mich. Ja, das hier war die Strafe für meine Taten, meine persönliche kleine Hölle, aber sie war überwindbar. Sie war zeitlich begrenzt. Ich musste im allerschlimmsten Fall nur ein paar Jahre durchhalten. Meine Wut verrauchte bei diesem Gedanken, denn er war seltsam tröstlich. Kurz wollte sie noch einmal auflodern, als ich feststellte, dass die einzigen freien Plätze in meiner direkten Nähe waren, aber eisern versuchte ich dann nicht ihr die Schuld dafür zu geben. Oder dafür, dass sie aussah wie auf dem Präsentierteller. „Herr Gott, Erik!“, schalt ich mich selbst. „Hör endlich auf bei dieser Frau Begriffe von Essen anzuwenden. Das verbessert deine Situation ja wirklich nicht.“ Aber mir wollte einfach in diesem Moment keine andere Beschreibung für ihr Aussehen einfallen. Also versuchte ich meinen kleinen Dämonen möglichst objektiv zu betrachten; klein war sie, blond, herzgesichtig mit großen blauen Augen. Diese Augen faszinierten mich. Sie waren von seltener leuchtend blauer Farbe, wie das Meer an einem besonders schönen Tag. Und eben wie in einem Ozean schien die Schattierung sich immer wieder zu verändern, so als würden Wellen in ihnen gespiegelt. Ihre Haut war hell, nicht künstlich gebräunt, sondern von einem wundervollen AlabasterTon. 56

©lisabethal Mein Blick wanderte vom Gesicht abwärts, eigentlich hatte ich mir ihre Kleidung ansehen wollen, aber so weit kam ich nicht. Ich blieb bereits an der unbedeckten Beuge ihres Halses hängen, wo nur eine schmale Kette aus rundgeschliffenen blau-violetten Halbedelsteinen hing. Ruckartig riss ich mich von diesem Anblick los. Ja ich kniff sogar die Augen zu, um solcher Verführung zu entgehen. ***

Kapitel 6: Genie und Wahnsinn Offenbar konnte sich dieser Mensch nur ruckartig bewegen. Warum er die Augen zupresste und ebenso unmerklich wie nachdrücklich den Kopf schüttelte, musste wahrscheinlich auch ein ewiges Rätsel bleiben, denn ihn danach zu fragen, schied als Möglichkeit gänzlich aus. Ein anderes Problem bestand jedoch noch. Durch meine Frageaktion waren Anita und ich spät dran. Es blieben nur noch vier mögliche Sitzgelegenheiten, zwei direkt neben ihm und zwei direkt vor ihm. Ich entschied mich dafür ihn lieber in meinem Rücken zu haben, als ihn die ganze Zeit anstarren zu können. Anita setzte sich allerdings zuerst, was mir nur noch den Platz direkt vor ihm ließ. Nicht sehr optimal. Aber was sollte es. Nach kurzer Zeit erschien dann der Dozent, ein kleiner verhutzelter, alter Mann. Er stellte sich als Prof. Carnaud vor. Seit Freitag wusste ich, dass dieser Herr dann für Mathematik zuständig war. Der Tag konnte kaum schlechter beginnen. Allerdings begann er nicht gleich mit Mathematik, sondern mit der Ankündigung, dass die Listen für die Raumbelegungen der Arbeitsgruppen ab zwei Uhr nachmittags im Sekretariat ausliegen würden. Er wies daraufhin, dass es pro Tag und Gruppe nur einen Raum ge57

©lisabethal ben und die Belegung ab 15:00 Uhr des jeweiligen Tages galt. Wie lange wir dann dort arbeiteten sei egal, die nächste Belegungen würden für ein anderes Semester ab 8:00 Uhr vergeben. Wir könnten also auch die ganze Nächte durcharbeiten. Das sollte wohl als Scherz verstanden werden, rief aber nur ein allgemeines Aufstöhnen hervor. Prof. Carnaud nahm es mit Humor und beruhigte uns, er gedenke nicht uns so viele Aufgaben zu stellen, dass wir dazu genötigt wären. Erleichtertes Aufatmen folgte. Was nun folgte, war Mathematik der elementarsten Stufe auf hoch geistigem Niveau – wie unser Dozent es bezeichnete. Ich verstand, was er sagte, konnte ohne Probleme folgen, musste mich aber doch konzentrieren. Irgendwann vergaß ich dann das ungute Gefühl, das Ms Seltsam in meinem Rücken auslöste. *** Krampfhaft zwang ich mich immer wieder, meinen Blick von der schönen Rundung ihres Nackens loszureißen. Stattdessen landete er auf Haaren und Kleidung. Ihr strohblondes Haar war mit einer farblich zur Kette passenden, verschnörkelten Haarklammer hochgesteckt. Sie trug eine offene, graue Jacke so etwas wie festem Jersey und darunter ein zu Kette und Haarklammer passendes ärmelloses Oberteil mit nur ganz dünnen Trägern und Stickereien. Das sah ich als sie nach etwa einer Stunde in dem vollgesteckten Raum die Jacke auszog. Dazu eine graue, sehr enge Hose und graue Schuhe. Die Kleidung war, obwohl recht geschmackvoll, ein sehr schnell erschöpftes Thema. Aber die Tatsache, dass der Mann dort vorne anscheinend wirklich gerade einfachste 58

©lisabethal mathematische Zusammenhänge erklärte, machte es mir nicht leichter ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken. Und so schwenkte meine Aufmerksamkeit immer wieder zu dem bezaubernden, herrlich duftenden Nacken genau vor mir. *** Mir kam Erik de Boscherville erst wieder in den Sinn, als ich etwa zur Hälfte der Vorlesung meine Jacke auszog und mich dabei in seine Richtung drehte. Mehr als seine Hände fielen dabei zwar nicht in mein Blickfeld, aber auch die reichten schon um meine Konzentration gefährlich zu untergraben. Kurz, sie passten perfekt zu dem Mann, kreidebleich, groß, aber nicht breit, mit schlanken langen Fingern. Ich zwang mich nicht aufzusehen und verbot mir deutlich, zu kontrollieren, ob seine Augen wirklich so schwarz waren, wie sie am Freitag den Anschein erweckt hatten. So unauffällig wie ich nur konnte, wandte ich mich wieder nach vorne. „Hoffentlich hat er nicht gemerkt, dass ich ihn schon wieder angestarrt hab‘“, dachte ich und konnte nicht verhindern, dass mir vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht stieg. Das war mir noch nie passiert. Das Fazit dieser Mathematikvorlesung: Stoff verstehbar, aber leichte Hänger durch die undeutliche Aussprache des Profs. Größtes Problem: ein wunderschöner, seltsamer Psychopath genau in meinem Rücken. Die Vorlesung war gerade beendet worden, aber niemand rührte sich, denn es sollte eine Übung zum selben Thema im selben Raum folgen. Also noch eine Stunde mit ihm in meinem Nacken, kein sehr aufbauender Gedanke. „Miss Archer?“ Seine Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. 59

©lisabethal „Oui!“ Ich fuhr herum, wobei ich mir mein Knie am Schreibpult anschlug, was ich aber erst später bemerkte. „Wären Sie so freundlich, mich bei der Raumeinteilung zu entschuldigen und alleine hinzugehen?“ Er sprach in ausgewählt höflichem, sehr hochgestochenem Tonfall, aus dem ich immer noch harsche Kälte herauszuhören glaubte. „Natürlich, Monsieur!“ Ich versuchte ruhig zu klingen, war mir aber nicht sicher, ob es auch wirklich so ankam. „Würden Sie vielleicht, wenn möglich, darauf achten, dass wir Räume auf der Nord-Seite bekommen?“ Irgendetwas daran schien ihm sehr wichtig, denn es hatte sich ein leise drängender Unterton in seine herrliche Stimme geschlichen. Wie hätte ich da auch nein sagen können? „Ich werde mein Bestes versuchen, Räume im Norden zu ergattern.“ „Danke.“ Den Rest der Übung schwieg er und gab mir dadurch Gelegenheit über die Gründe für diese seltsame Bitte zu sinnieren. Aber auch nach einer Stunde kam ich auf keine befriedigende Lösung. Aufgaben hatten wir noch keine bekommen, sodass ich nicht fürchten musste ihn heute noch einmal zu sehen. Wie schon am Freitag verschwand er nach dem letzten Wort des Dozenten so schnell, dass ich nur sehr kurz den Luftzug in meinem Rücken spürte. Meine typisch deutschen Angewohnheiten, schnelles Mittagessen und übertriebene Pünktlichkeit, verschafften Anita und mir die allerersten Plätze beim Eintragen in die Liste. Ein genordeter Plan lag neben dem Belegungszettel und ich entschied mich für einen Raum im dritten Stock direkt über der Bibliothek mit dem Treppenhaus in der Nähe und Fenstern, wie gewünscht, nach Norden. Ich trug uns – welch seltsamer Gedanke von diesem Irren und mir als eine Ein60

©lisabethal heit zu denken – für die gesamte Woche im selben Raum ein. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Anita, die offensichtlich noch größere Schwierigkeiten mit der Sprache hatte als ich und von Mathe nur bedingt Ahnung. Natürlich kam unser Gespräch nebenher auch wieder auf meinen Arbeitsgruppenpartner, aber in der Beziehung auf kein richtiges Ergebnis. Der Mann blieb uns beiden ein Rätsel. Und er schien von Mal zu Mal mysteriöser zu werden. *** Ich verließ wieder fluchtartig den Raum. In meinem Kopf fuhren die Gedanken so schnell Karussell, dass ich kaum einen festhalten konnte. Hatte ich mich durch meine Bitte verraten? Würde sie mir fern bleiben? Würde ich es überstehen, den ganzen Tag, fünf Tage die Woche, mit ihr in einem Raum zu sein? Würde sie das überstehen? Konnte ich vielleicht noch etwas an der Einteilung ändern? Würde sie meiner bitte folgen? Wie würde ich beim Arbeiten mit ihr auskommen? Wird sie Fragen zu meinem beträchtlichen Wissen stellen? Hat sie etwas geahnt, ihr Blick war so argwöhnisch? Habe ich mich seltsam verhalten? Schließlich wurde mir klar, dass ich ihr eine Erklärung für mein zugegebener Maßen merkwürdiges Verhalten geben musste. Eine Erklärung, die möglichst viele Symptome abdeckte und doch nichts verriet. Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in verschiedenen Bibliotheken um etwas Passendes zu finden. Und wirklich schien es eine fast perfekte Lösung für mich zu geben. Diese würde ich ihr morgen beim ersten Zusammentreffen der

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©lisabethal Arbeitsgruppe auftischen. Und ich betete zu Gott, dass sie sie glaubte. *** Anderntags begann dann das, was man als wirklich erste Architektenvorlesung bezeichnen konnte. Und die eine Hausaufgabe geben würde. Schon früh stand ich daher vor dem Spiegel und überlegte, was ich wohl anziehen sollte. Gestern hatte ich einige Blicke auf mir ruhen gespürt, hauptsächlich von männlichen Wesen. Vielleicht war das Outfit gestern ein bisschen zu äh…sommerlich für manchen gewesen. Also verlegte ich mich dieses Mal auf gerade Jeans, ein Poloshirt und einen Pulli, alles in verschiedenen Blaunuancen. Außerdem band ich mir die Haare diesmal nur im Nacken zusammen und steckte sie mir nicht hoch. Vielleicht half das auch bei meinem äh… „Arbeitsverhältnis“. Aber sicher war ich mir dabei nicht. Dieses Mal war ich früher dran und hatte mehr Platzauswahl, aber Erik de Boscherville war trotzdem vor mir da. Wieder saß er auf dem gleichen Platz. Als ich an ihm vorbei ging, schien er in ein Buch vertieft. Ich räusperte mich. „Mosieur de Boscherville?“ „Oui.“ ‚Wieder der kalte, harte Ausdruck in seiner Stimme. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Raum B305 belegt habe. Der ist direkt über der Bibliothek. Mit Nordblick.“, fügte ich nervös hinzu. Als stummen Protest für so viel Nichtbeachtung setzte ich mich so weit weg von ihm, wie es der riesige Raum zuließ. Domenic, Baptiste und Anita setzten sich zu mir. Gott sei Dank, erklärte mir Baptiste hin und wieder ein unklares 62

©lisabethal Wort, sonst wäre ich nie mitgekommen. Es ging um die verschiedenen Variationen von Bögen, was eine Kämpferlinie war und sowas. Ich hatte zum Teil echt Probleme damit, die vom Dozenten bereits vorbereiteten Skizzen schnell genug nachzuzeichnen. Das würde heute Nachmittag ein Fiasko geben. Da war ich mir sicher. *** Sie war nervös gewesen, als sie mit mir redete. Man hatte es ihr deutlich anmerken können. Ihre Hände hatten sich ineinander verkrampft und in ihrer Stimme war ein leises Schwanken gewesen. Und ihr Puls hatte sich beschleunigt. Die Tatsache, dass ich es unter so vielen Leuten wahrgenommen hatte, bedeutete nichts Gutes. Was würde erst passieren, wenn ich mit ihr allein war? Gar nicht auszudenken, wenn mein Instinkt mit mir durchginge. Meine Stimme hatte abweisend geklungen. Nicht, weil ich wirklich unfreundlich sein wollte, sondern weil es ein Abwehrreflex gewesen war. Ihr erhöhter Puls hatte ihn ausgelöst. Ich war sarkastisch, böswillig ironisch und arrogant, aber nicht auf diese Weise unhöflich zu jemandem, den ich eigentlich noch gar nicht kannte und der an sich weder auffällig dumm noch geschmacklos war. Nein, eigentlich im Gegenteil. Aber wenigstens hatte sie heute etwas an, das mehr Schutz gewähren würde. Schutz vor meiner Versuchung. Und sie war klug genug sich möglichst weit von mir zu entfernen. Braves Mädchen. Die Vorlesung war tödlich langweilig. Sie beschäftigte höchstens die Finger und das nicht mal für lange. Was der Mann da erklärte, hatte ich mit fünf Jahren bereits gewusst. Ich war hier um etwas Neues zu lernen. Die Aufgabe für die 63

©lisabethal Arbeitsgruppe erledigte ich nebenbei noch mit. Zehn verschiedene Bogenarten zeichnen, Kämpferlinie angeben, Bogenarten benennen, eventuell noch die Säulenarten angeben und mögliche Verwendungszwecke oder –epochen. Viel zu simpel. Das lenkte mich nur sehr kurzfristig ab von ihr. Aber wenigstens mussten wir dann heute nicht allzu lange im gleichen Raum allein sitzen. Aber auch die kurze Zeit konnte in einer Katastrophe enden. Und es war beinah gewiss, dass es das auch würde. *** „Drei Uhr, Monsieur?“ „Drei Uhr.“, bestätigte er nickend. Das klang nicht mehr ganz so abweisend. Ich war erleichtert. Vielleicht würde es ja doch nur halb so schlimm. Vielleicht war er ganz nett, wenn man ihn näher kannte. Hoffentlich hatte er mehr Ahnung von dem Ganzen als ich. Aber ich würde mich überraschen lassen. *** Gott sei Dank, noch zwei freie Stunden. Da konnte ich mit Leichtigkeit noch eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Aber wie konnte es sein, dass ich schon wieder leichten Hunger verspürte? Lag es am Sonnenlicht? Oder an ihrem fantastischem Geruch? Oder war es die Kombination aus beidem? Ich musste das wissen, um den Grund für den Hunger minimieren zu können. Wie hatte sie eigentlich bei dreihundert Leuten den perfekten Raum ergattern können? Naja, möglich dass sie in der Schlange ganz vorne stand. Also war sie pünktlich. Und

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©lisabethal würde das dann wahrscheinlich auch von mir verlangen. Ich würde mich beeilen müssen. *** Der Raum war leicht zu finden, klein und minimalitisch eingerichtet. Vier Stühle, zwei Tische, ein Waschbecken, zwei Steckdosen, weiße Wände, weißes Becken, grauer Teppich, graue Möbel. Eine Seite Fensterfront. Und in diesem grauen Kasten sollte man kreativ sei? Ich war immer zu früh und um nicht draußen auf dem Gang zu stehen, setzte ich mich bereits in den leeren Raum und begann damit Bögen zu zeichnen. War damit aber nicht besonders zufrieden. „Das wird lustig“, dachte ich und sah meine Felle für mein Studium schon davon schwimmen. Mein Kopf rauchte, sich die Vokabeln für die verschiedenen Bögen in den Kopf zu hämmern, war wirklich nicht leicht. Ich hätte wohl besser doch sowas wie Informatik in L.A. studiert. Aus diesem wenig erfreulichen Gedanken riss mich dann ein leises Klopfen an der Tür. Wieder einmal verblüfft von meiner eigenen Schlagfertigkeit und der guten Laune in meiner Stimme rief ich: „Es ist offen!“ Ein Kopf mit wunderschönem Gesicht und Haaren, die aussahen wie vom Wind zerzaust, wurde durch die sich öffnende Tür gestreckt. Das Gesicht war dabei für einen kurzen Augenblick ausnahmsweise nicht abweisend, aber das änderte sich schnell. Doch der Schaden war schon angerichtet. Ich hatte gesehen wie er aussah, wenn er nicht die harten Züge von Abneigung und Bitterkeit um den Mund hatte. Und dieses dann engelsgleiche Gesicht brannte sich in mein Gehirn wie ein glühendes Eisen. So, genauso, wollte ich ihn sehen und zwar so oft wie möglich. Egal was ich dafür tun 65

©lisabethal müsste. Er trat ein, ging gerade so durch den Türrahmen, legte seine Tasche auf den zweiten Tisch und öffnete das Fenster. Es schien, als würde er tief Luft holen, bevor er sich zu mir umdrehte. „Bonjour, Monsieur!“ „Bonjour!“ „Wollen wir gleich anfangen?“ „Gern.“, meinte er und zog einige Blätter aus seiner Tasche. Bestürzt erkannte ich perfekte Bleistiftzeichnungen von so vielen verschiedenen Bögen, dass ich bereits bei der Hälfte nicht mehr wusste, wie sie hießen. „Sie waren aber fleißig.“ War das Zucken um seine Mundwinkel in der einen Millisekunde wirklich ein Lächeln? Nein, zu viel der Ehre! Wahrscheinlich ein Wunschtraum und ich hatte nicht geirrt. „Unterschreiben müssten Sie noch, Miss Archer.“, meinte er und reichte mir den Stapel Blätter. Ich betrachtete das erste und stellte zwei Dinge fest: erstens würde ich ihm zeichnerisch nie das Wasser reichen können, das hier ging über Perfektion hinaus; zweitens war ich allerdings bestürzt über seine Schrift, sie war sehr hakig, ruckartig und ziemlich wackelig. Die Schrift eines Grundschülers ohne jede Lust. Das passte überhaupt nicht zusammen. Das konnte er unmöglich so abgeben wollen. Gott sei Dank, war es nur Bleistift. Er bemerkte mein Zögern. „Was ist?“, fragte er barsch. Wie nur schaffte ich es am diplomatischsten ihm klar zu machen, dass ich nicht vorhatte das so abzugeben? „Äh, Monsieur, denke,es wäre unfair, Sie die ganze Arbeit machen zu lassen. Da Ihre Zeichnungen aber so perfekt sind, wollte ich den schriftlichen Teil übernehmen.“

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©lisabethal „Welcher aber bereits erledigt ist!“, war seine knappe Antwort und sie klang nicht so als wollte er mit sich diskutieren lassen. Aber er musste doch selbst einsehen, dass seine Schrift das Gesamtbild total nach unten zog. Ich musste mir was einfallen lassen. „Ich fürchte nur die jetzige Beschriftung ist nicht“, ein leichtes Zögern trat ein, da ich das Wort nicht gleich parat hatte, „dokumentenecht. Es wäre zu schade, wenn uns jemand beim Korrigieren daraus einen Strick drehen würde.“ *** Ich nickte; sie hatte ja recht. Es würde an Dummheit grenzen, Punktabzug zu riskieren, nur weil sich jemand an der Wahl des Schreibmittels störte. „Macht es Ihnen jetzt etwas aus, wenn ich die Beschriftungen mache, Monsieur?“ Ich schüttelte nur kurz den Kopf. Meine Hoffnung, rasch aus diesem Zimmer zu kommen verflog. Das geöffnete Fenster leistete aber gute Dienste. Ich würde nicht so schnell in Versuchung kommen. Das war gut. Vielleicht hatte dieses Teamwork doch noch eine Zukunft. Sie schien ja recht vernüftig. „Ich übernehme Ihren Wortlaut, wenn es Ihnen recht ist.“, holte sie mich aus meinen Gedanken. „Nur zu.“ Ich beobachtete von der anderen Seite des Raumes aus, wie sie Zeile für Zeile meine Beschriftung wegradierte und mit ihrer klaren, geschwungenen, sehr hübschen Schrift dieselben Worte in Tinte wieder auf das Papier setzte. Neidlos musste ich zugeben, dass ihre Schrift die Zeichnungen durchaus aufwertete. Vielleicht konnte man diese Arbeitsaufteilung auch für später so beibehalten. Es wäre nicht das 67

©lisabethal Schlechteste gewesen, denn obwohl ihre Buchstaben nahe an Druckreife gingen, schrieb sie mit einem für Menschen sehr hohem Tempo. Irgendwo in der Mitte von Seite 6 hielt sie inne. „Pardon, Monsieur! Dürfte ich kurz etwas fragen?“ Ich versteifte mich, auf das Schlimmste gefasst. Würde ich meine Lüge jetzt schon benutzen müssen? Hatte mein so schnell gezeigtes Vorwissen, sie vielleicht schon stutzig gemacht? „Oui.“ „Monsieur, das Wort hier“, Sie schob das Blatt in meine Richtung mit dem Finger an der besagten Stelle. „Könnten Sie mir vielleicht erklären, was es bedeutet? Mein Französisch reicht leider nicht so weit.“ Ich atmete auf. Eine reine Sachfrage, sehr höflich formuliert. Nur eine Bitte um Wissenserweiterung. Nichts Persönliches. „Natürlich. Es handelt sich hierbei um den Hauptteil eines Sakralbaus. Ich glaube der deutsche Ausdruck dafür ist „Kirchenschiff“.“ *** Wunder über Wunder! Der Mann konnte sogar Deutsch. Das wurde ja immer besser. Und, ich konnte mich auch irren, aber der Mann schien ganz, ganz leicht aufzutauen. Seine Haltung wirkte nicht mehr gar so angespannt, wie zu Anfang. Bei seiner Antwort hatte ich ihm ins Gesicht geschaut und gesehen, dass seine Augen durchaus nicht so dunkel waren, wie sie am Freitag gewirkt hatten. Sie waren eher dunkelbraun, wie dunkle Schokolade, aber bei bestimmtem eLichteinfall mit Einschlägen ins Mahagonifarbene. Anders als sein Gesicht hatten sie etwas leicht

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©lisabethal Warmes an sich, aber das konnte auch nur die angenehme Farbe bewirken. Ich versuchte mir die Vokabel einzuprägen und schrieb dann weiter. Nach weiteren zwanzig Minuten war ich fertig und reichte ihm die Blätter zur Unterschrift. „Haben wir eigentlich etwas um die Blätter abzugeben?“, fragte ich ihn, als er gerade seine letzte Unterschrift beendete. Verständnislos blickte er mich an. „Naja, ich meine eine Mappe, oder vielleicht eine Klarsichthülle oder sowas.“ „Oh.“ Ganz kurz sah ich einen verblüfften Ausdruck auf seinem Gesicht bei diesem Laut. „Ähm, nein, ich fürchte, ich habe nichts dergleichen, Miss.“ Ich spähte auf die Uhr an meinem Handgelenk. Erst vier. „Ich könnte noch kurz eine Mappe besorgen und dann alles gleich abgeben, wenn Ihnen das Recht ist, Monsieur.“ „Vielen Dank“, nickte er. „Das wäre sehr passend für mich. Würden Sie mich dann gleich wieder entschuldigen, Mademoiselle?“ „Natürlich! Einen schönen Abend noch!“ „Ihnen auch!“ Und schon war seine Tasche gepackt und eine Zehntelsekunde später hörte man nur noch die Tür zufallen. Wirklich ein sehr seltsamer Mann. Aber ich hatte mir dieses erste Treffen der Arbeitsgruppe wirklich schlimmer vorgestellt. Wahrscheinlich wäre es auch schlimmer geworden, wenn er mit mir hätte diskutieren müssen. So hatte sein Genie schon mal die ersten Punkte für mein Studium gesichert. Aber man merkte deutlich bei ihm, wie nah Genie und Wahnsinn manchmal beieinander lagen. Warum benahm er sich nur so seltsam. Warum war er, wenn er mit mir redete entweder barsch und abweisend oder ausgesucht höflich, ja sogar hilfsbereit? Lag es an mir? Warum kam es mir so vor, 69

©lisabethal als fliehe er ständig vor mir? Oder vielleicht ja gar nicht vor mir? Es blieben nur Fragen.

Kapitel 7: Wie der Ausschlag eines Pendels Ich besorgte einen Schnellhefter mit Kartondeckel und Klarsichthüllen, heftete alles ein und beschriftete dann in bester Sonntagsschrift den Deckel. Durch Glück war die Sekretärin noch da und ich konnte meine Mappe gleich abgeben. Was mich die blöd ansah, total platt, dass wir schon abgaben. Beinah hätte ich schon gesagt, wer kann, der kann, aber ich ließ es dann doch, überrascht über meine eigene Schlagfertigkeit. Warum nur fehlte mir diese Schlagfertigkeit, wenn es sich um Ms de Boscherville handelte? Das war mir Zuhause noch nie bei einem Mann passiert. Da gab ich sonst zu allem meinen Senf dazu. Was verschlug mir nur bei ihm die Sprache? Sein tolles Aussehen? Seine respekteinflößende Art? Sein seltsames Verhalten? Warum verhielt er sich so? er musste doch einen Grund haben. *** Ich hatte eigentlich nicht derartig offensichtlich fliehen wollen. Ich hatte eigentlich bleiben und ihre Argwöhnungen mit leichter Konversation vertreiben wollen. Jedenfalls bis etwa zehn Minuten vor Schluss. Dann hatte sich die seltsame Frage nach der Beschaffenheit ihrer Haare und ihrer Haut in meinem Kopf eingenistet und war schnell zu einer fixen Idee geworden, die ich nicht mehr los wurde. Um ein solch unberechenbares Risiko zu minimieren war mir als ultima ratio nur die Flucht geblieben. Möglicherweise würde eine Nacht schlaf – wie seltsam in der Nacht zu schlafen – die 70

©lisabethal Idee wieder verschwinden zu lassen, bevor sie sich zur Besessenheit ausweitete. Was, wie ich meinen geistigen Zustand einschätzte, durchaus der Fall sein könnte. Aber ihr konnte ich für mein Fehlverhalten wirklich keine Schuld zuweisen. Sie hatte sich hervorragend benommen, hatte nichts Persönliches gefragt, meine Unfreundlichkeit hingenommen, ohne mir deswegen offensichtlich beleidigt zu sein, mir diplomatisch und gut gelaunt geantwortet. Sie war arbeitsam, konzentriert und nicht neugierig. Sie trennte Arbeit und Privates und würde mir auch nicht mit ihrem Leben auf die Nerven fallen. Ich konnte Gott nur für dieses perfekte Beispiel deutscher Arbeitsmoral danken. Mit einer Französin hätte das durchaus schlimmer enden können. Wenn nur dieses Verlangen nach Berührung nicht gewesen wäre. Das letzte Mal, als ich es empfand, endete es damit, dass ich mich vom Dach der Oper stürzte. Wie lange das schon her war. Mehr als ein Menschenleben. Und noch immer verkraftete ich es nicht, darüber nachzudenken. In der jetzigen Situation schon gar nicht. Hoffentlich konnte ich es bis morgen abstreifen, diesen Drang sie zu berühren, herauszufinden, ob ihre Haare so seidig waren, wie sie aussahen, ob ihre Haut sich wie teurer Samt enthüllte, ob ihre – Nein, Schluss! Das muss aufhören, das geht zu weit! Es würde in einer Katastrophe enden, wie schon einmal. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen. *** Wieder Zuhause angekommen, nahm ich mir meine Bücher und las mir alles noch einmal in Ruhe durch. Ich wollte wenigstens in der Theorie Ahnung haben, wenn ich beim Zeichnen schon nie über Mittelmaß hinauskommen würde. Dabei fiel mir dann auf, dass Ms de Boscherville einige Bö71

©lisabethal gen verwendet hatte, die schon Richtung Exotik neigten. Kein Wunder, dass ich sie nicht gekannt hatte. Ich versuchte dann, die von uns abgegebenen Bögen an meinem Programm nachzustellen, musste dabei aber feststellen wie schwierig es war, die genauen Neigungswinkel herauszubekommen. Es war kurz nach sieben, als ich fertig wurde. Und es regnete nicht. Ich konnte mein Glück vor dem L’hotel Delibes versuchen und vielleicht noch ein kleines Privatkonzert abstauben. Das Glück blieb mir hold. Ich kann zwar mitten während der „Vorstellung“, aber das machte nichts, es war ja nur ich anwesend und mein Pianist spielte eben auch ohne mich. Sein Stil hatte sich während meiner Abwesenheit verändert, er klang leidenschaftlicher, weniger nur melancholisch. Etwas Lebendigeres lag darin. Etwas, das einen aufspringen und in das Zimmer rennen lassen wollte, um ihn in die Arme zu nehmen. Dieser Drang wurde so stark, dass ich, kaum dass der letzte Akkord verklungen war, wie von der Tarantel gestochen aufsprang und in totaler Verwirrung über mein Gefühlschaos nach Hause rannte. Erst in meiner Wohnung hatte ich wieder einen klaren Kopf. Und eine Menge Ideen. Offenbar tat es meiner Inspiration gut an der frischen Luft Bewegung zu haben. Ich packte meinen Skizzenblock und meine Farbstifte aus und entwarf die schönsten, aufwendigsten, extravagantesten, gewagtesten Abendkleider meines bisherigen Lebens. Rote Spitze, blutroter Satin, tiefer Rückenausschnitt mit einem Netz aus roten Edelsteinen, bodenlang. Moosgrüner Taft, dunkelgrüner Tüll, dunkelgrünes Spitzenmieder, Plisseevolant am asymmetrischen Saum. Erst nach acht Kleidern ebbte die Ideenwelle ab. Im Stillen dankte ich meinem Klavierspieler und spähte auf die Uhr. Eine halbe Stunde vor Mitternacht. Ich gehörte ins Bett und zwar schnell. 72

©lisabethal Der nächste Morgen begann trist und grau. Eine dicke Wolkendecke lag über der Stadt und es regnete in feinen Schnüren kontinuierlich und nerv tötend. Gestern Abend hatte ich noch einen Rock anziehen wollen, aber heute war kein Wetter für einen Rock, heute war Jeanswetter. Ich zog zu den Jeans einen grauen Kapuzenpulli an und holte anstatt der Chucks graue flache Halbschuhe aus dem Schuhregal. Make-up legte ich nur das Mindeste auf, schnappte meine Jacke, die ebenfalls grau war – also auch zum Wetter passte – und eine graue Steppweste mit Kapuze und räumte alles von der einen Tasche in eine aus Neopren. Ich mochte das Material so sehr, dass ich nicht nur einen Blouson daraus hatte, sondern auch dieses innen mit wasserdichter Folie gefütterte Monstrum von einer Tasche. Ein Blick auf den Stundenplan zeigte mir noch, dass heute so etwas wie Materialkunde dran war. Etwas Theoretisches, Gott sei Dank. Der Weg, den ich im Freien zurücklegen musste war nicht weit. Trotzdem war ich nachher klatschnass. Vor dem Vorlesungssaal, diesmal ein anderer als die letzten Male, versuchte ich noch die Ärmel meiner tropfenden Jacke auszuwinden und schwor mir, beim nächsten Regen gleich die Neoprenjacke anzuziehen, auch wenn die im trockenen Zustand etwas steif war. Wenigstens ging es allen anderen auch nicht besser. Der Wind, der durch die Häuserschluchten pfiff, trieb den Regen auch unter Schirme und Fahrradüberwürfe und die wenigsten Studenten hatten ein Auto, geschweige denn einen Parkplatz in der Nähe. Ich sah aus wie ein begossener Pudel, als ich den Raum betrat. Er war ähnlich groß, aber anders proportioniert als der Hörsaal gestern, eher breit als lang – und wahnsinnig schlecht geheizt. Mir klapperten die Zähne.

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©lisabethal Erik de Boscherville saß bereits wieder im hinteren Drittel ganz außen links. Ein Mantel hing neben ihm auf einem Stuhl und er trug zu schwarzer Hose und schwarzem Hemd eine – wie anders – schwarze Strickjacke. Sein Haar war nass, sah aber immer noch toll aus. Neidisch musste ich zugeben, dass er einfach aufspringen und draußen trällernd herumlaufen könnte und alle Leute würden ihn für einen Filmstar halten, der die Szene „Singing in the rain“ dreht. „Guten Morgen“, schlotterte ich, als ich an ihm vorbeiging. Wieder klang das gut gelaunt, weiß der Geier warum. Er sah von seinem Buch auf und mich an. „Guten Morgen.“ Er musterte mich. Gestern hätte er mich die ganze Zeit anschauen können, es hätte mich nicht gestört. Aber in diesem halbaufgelösten Zustand mit nasser Weste, nasser Jacke und nassen Pulloverärmeln und feuchte Jeans, mit von Wind und Regen aufgelösten Haaren, die in Strähnen an Gesicht und Hals klebten, und von der Kälte rotem Gesicht, kam ich mir überhaupt nicht schön genug vor um jemandem wie ihm unter die Augen zu treten. Er sah von meinen leicht bläulichen Händen – die Kälte hatte ihren Dienst getan – zu meinen zitternden Schultern und meinen klatschnassen Ärmeln und schließlich in mein Gesicht mit dem selbstständig gewordenen Unterkiefer. „Ist Ihnen kalt, Mademoiselle?“ Dumme Frage, dachte ich. Nach was sieht’s denn aus, 40 Grad im Schatten? Bei dem verkniffenen Sarkasmus hätte ich beinah die Besorgnis in seiner sonst so harschen Stimme überhört. Ich nickte nur stumm, weil meine Zähne immer heftiger aufeinanderschlugen. „Haben Sie etwas zum abtrocknen dabei?“

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©lisabethal Kopfschütteln von meiner Seite, hinter mir drängte sich jemand zu den vorderen Sitzen. Kurz trat ein grüblerischer Ausdruck auf sein Gesicht und löste den bitteren Zug ab. Das Frieren und das ruinierte Aussehen hatte sich schon allein dafür gelohnt. Mit seiner Antwort hatte ich dann allerdings nicht gerechnet. „Haben Sie unter dem Pullover noch etwas an?“ Kurz überlegte ich, ob ich ihm nicht eine patzige Antwort geben sollte. Aber ich ließ es dann doch. Die Frage klang nur sachlich und nicht so, als wäre er an meiner Unterwäsche interessiert. Kopfnicken. Zwischen zweimal Zähneklappern zwängte ich dann noch hinein: „Aber nur was Ärmelloses.“ Noch mal ein kurzes Grübeln, das über sein Gesicht flog und ich vergaß die Kälte und Nässe und meine klappernden Zähne. Bei seiner Erwiderung zog es mir allerdings fast die Füße weg. „Bon. Dann ziehen Sie jetzt ihren Pullover aus und trocknen sich damit ab, bevor Sie sich den Tod holen, Miss Archer. Und ich leihe Ihnen dann meine Weste zum Überziehen, bis Ihre Sachen wieder halbwegs trocken sind.“ Ich war platt. Knapp und sachlich vorgetragen war das hier das Ritterlichste, das jemals zu mir gesagt wurde. Er dachte nicht daran, dass ich sein Eigentum auslieh und es möglicherweise von meinen Haaren nass werden könnte. Er machte sich nur Sorgen um meine Gesundheit, wie ein guter Arzt. Das war sowas von… wow. Wie hatte ich ihm je schlechte Manieren vorwerfen können. Der Mann war ein Ritter in schwarzen Klamotten und strahlender Rüstung. Gern hätte ich ihn zum Held des Tages ausrufen lassen. Ich stammelte einen Dank und zog meine tropfenden Sachen bis auf das trockene, ärmellose schwarze Top aus.

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©lisabethal *** Was mich ritt, ihr den Vorschlag wirklich zu unterbreiten, wusste ich nicht. Wie so oft bei ihr, ging mein Mundwerk mit mir durch. Ich war das Bedürfnis nach Nähe den ganzen Abend nicht losgeworden und hatte es mir schließlich von der Seele gespielt – bis Florence mich von hinten umarmt hatte. Da wusste ich, dass ich es übertrieben hatte, oder sie zumindest vor meiner Musik hätte warnen sollen. Ich gab darin viel zu viel von meinen Gefühlen preis. Und jeder, der ihr lauschte, empfand dann dasselbe. Dabei wollte ich es meistens gar nicht, aber sie drang in das Unterbewusstsein der Zuhörer ein und zwang sie fast, mir zu geben was ich haben wollte. Auf diese Weise hatte ich früher die Leute manipuliert, aber das tat ich seit meiner „Wiederauferstehung“ nicht mehr. Es beschämte mich also zutiefst, dass ich mich gestern so hatte gehen lassen. So wie ich mich jetzt auch schämte, die Gänsehaut auf ihren nackten Armen zu berühren und glatt streichen zu wollen. Erst ihr heftiges Zähneklappern riss mich aus der Versunkenheit. Ich zog meine Strickjacke aus und reichte sie ihr, darauf bedacht nicht aus Versehen ihre Finger zu berühren. Natürlich waren ihr die Ärmel viel zu lang. Es schien sie aber nicht weiter zu stören. Mit einem äußerst dankbaren Lächeln kuschelte sie sich in den weichen Stoff. Mein Herz zog sich zu einem Klumpen zusammen. Wie gerne hätte ich sie mit dieser Jacke umarmt und ihr Wärme gespendet – soweit ich das eben konnte. Ich wollte das so sehr, so sehr, dass es mir Angst machte. Angst um sie. Sie setzte sich wieder direkt vor mich. Keine gute Idee von ihr, sie hätte mich meiden sollen. Noch immer lächelnd drehte sie sich zu mir um, während sie ihre nassen Klei76

©lisabethal dungsstücke auf den Stühlen neben sich zum Trocknen aufhängte. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Monsieur. Sie haben mich bestimmt vor einem grausigen Erfrierungstod bewahrt. Das hätte hier nicht jeder getan.“ Ich winkte einfach nur ab. Ich war nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Nicht wenn ich nur meinen Arm ein wenig zu bewegen bräuchte um ihren Nacken zu berühren. Das Einzige, was ich wollte, war, sie möglichst nah bei mir zu spüren, sie zu umarmen, sie ----Genug! Es reicht! Los Erik, schlag dir das aus dem Kopf! Ich werde eine Katastrophe heraufbeschwören, wenn ich nachgebe. Ich bin ein Monster, war es immer. Also muss ich sie mir aus dem Kopf schlagen. Irgendwie. Trotz ihres Lächelns, trotz der Freundlichkeit, die ich nicht verdiene. Der Klumpen in meiner Brust krampfte sich erneut zusammen. Es fühlte sich an wie bei einem Herzinfarkt. Oder wie Entzugserscheinungen. Beides kannte ich. Und gegen keines hatte ich ein Mittel. Ich weiß, ich hätte etwas Bescheidenes oder Lässiges oder Ernstes sagen sollen, aber mein Kopf war wie leergefegt. Ihr Geruch machte es nicht besser. Er verstärkte nur die Versuchung. Einer Versuchung, der ich nicht würde standhalten können. Ich zog die Arme vom Tisch und verschränkte sie fest vor der Brust und hoffte, dass es half. Dabei vergaß ich aber etwas Wichtiges. Dass sie mich immer noch ansah. Dass sie die Qual in meinem Gesicht vielleicht sah. Dass sie die Geste vielleicht erschreckte. „Monsieur?“, fragte sie vorsichtig, besorgt. „Monsieur, geht es Ihnen nicht gut? Ist Ihnen kalt? Ich geben Ihnen Ihre Jacke zurück, warten Sie.“ Gott im Himmel, sie sorgte sich um mich. Warum nur tat das gut? Etwas in mir, das lange geschlafen hatte, erwachte 77

©lisabethal und flüsterte in meinem Kopf: „Ja, gib mir die Jacke wieder, setz dich auf meinen Schoß und lass mich dich wärmen.“ Bisher hatte ich in Bezug auf dieses Mädchen nichts Sexuelles haben wollen, bisher. Sie war wunderschön und sie war freundlich zu mir, ohne, dass ich sie zu irgendetwas zwingen musste. Ich presste die Arme noch enger an mich. Das wurde immer schlimmer. Ich konnte kaum den Blick heben. Gerade hatte sie die Strickjacke geöffnet und wollte aus einem Ärmel. „Nein!“, stieß ich hervor. Sie würde sich erkälten. Ich nicht. Verblüfft sah sie mich an. „Aber –“ „Mir ist nicht kalt.“, unterbrach ich sie. „Mir“, ich zögerte. Ja, was? Mir raubt die Sehnsucht nach dir fast den Verstand und die Gier nach deinem Geruch mein bewusstes Denken. Das konnte ich ihr ja wohl kaum sagen, obwohl es die Wahrheit war. „Mir ist nur schlecht.“, brachte ich irgendwie heraus. Und setzte nach ein paar Sekunden und einem sehr besorgten Blick hinzu: „Es geht gleich wieder.“ Himmel! Sie machte sich wirklich Sorgen. Und ich genoss es. Es war abartig. Aber wann hatte sich eine junge Frau ohne Vorbehalte sich ganz einfach nur Sorgen um mich gemacht? Wann hatte eine Frau sich genug mit mir angefreundet, um sich Sorgen zu machen? *** Große Qual hatte in seinem Gesicht gestanden, als er die Arme vor seiner Brust verschlang. Und sie dauerte länger als sie mir lieb sein konnte. „Monsieur?“

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©lisabethal „Gleich“, würgte er hervor. Dann schien er tief Luft zu holen, verzog den Mund und zog noch einmal Luft ein. Langsam entkrampfte sich seine Haltung. Wirkte weniger gepeinigt. Er atmete noch ein paar Mal tief durch den Mund. Dann schien es vorbei zu sein. „Ça va?“ „Oui, oui, ça va. Keine Angst.“ Er winkte ab und sah dabei wenig begeistert aus. Erst jetzt bemerkte ich, wie Domenic und Anita neben meinem Sitz standen und durchgelassen werden wollten. Schnell sprang ich auf. Als Domenic jedoch an mir vorbeiging, warf er mir einen sehr wütenden Blick zu. War er etwa eifersüchtig? Typisch Mann. Nun gut, ich trug die Strickjacke eines fremden Mannes und er hatte von vorn herein Interesse bekundet. Nur blöd, dass ich nichts von ihm wollte. Aber, wollte ich denn was von Erik de Boscherville? Wollen und Kriegen sind zwei verschiedene Paar Schuhe, flüsterte es in meinem Kopf. Außerdem war Ms de Boscherville auch einfach schneller bei der Hand gewesen mit seiner Ritterlichkeit. Und um ehrlich zu sein, Domenic sah auch nicht besser aus als ich vorher. Domenic setzte sich neben Anita und missachtete völlig meine Versuche mit ihm zu reden. Na, er würde sich hoffentlich schon wieder abregen. „Wo hast du die Jacke her?“, flüsterte Anita mir ins Ohr. Ich antwortete ohne einen Laut von mir zu geben, indem ich kurz nach hinten nickte. Ihr klappte der Unterkiefer runter. Ich konnte es ihr auch nicht verdenken, schließlich hatte ich genauso reagiert. Anita schwieg darauf hin eine Weile, offenbar musste sie das erst verdauen. So hatte ich Zeit mich mehr auf meine Leihgabe zu konzentrieren. Die Jacke war aus sehr weichem, glattem, hochwertigem Strickstoff – vielleicht mit einer Winzigkeit Angora – in jedem Fall aber extrem teuer. Das sagte mir jedenfalls das Gefühl des Stoffs auf 79

©lisabethal meinen Armen. Ich schloss die Augen und sog verstohlen die Luft ein. Falls die Jacke irgendwas von Aftershave oder Parfum von ihm abgekriegt haben sollte, wollte ich das unbedingt riechen. Wann ich die nächste Gelegenheit für soviel Nähe – auch wenn sie nur indirekt war – bekommen würde, wusste ich ja nicht und würde deshalb diese Zeit so gut ich nur konnte nutzen. Und es war gut, dass ich es tat, denn der Duft war phänomenal. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Gutes gerochen. Und ich kannte auch keinen Duft mit dem ich es hätte vergleichen können. Kein Gewürz, keine Frucht, keine Blüte oder anderer Geruch, den ich kannte, kam dem auch nur annähernd gleich. Und das seltsame war, es roch absolut homogen, man konnte keine Nuance in eine Richtung oder einen Teilduft ausmachen. Ein Gedanke schlich sich in meinen Kopf. Der Duft und seine Stimme passten genau zu einander. Beides war seltsam perfekt. Was, wenn das sein eigentlicher Geruch war und kein perfektes Parfum? Diese Überlegung machte mich irgendwie schwindelig, denn ich wollte ihr Ende gar nicht wissen und so schob ich sie beiseite. Gerade rechtzeitig, denn ein Mann mittleren Alters kam zu Tür herein und zückte einen USB-Stick. Die folgende Vorlesung bestand nun vor allem aus viel Physik und Chemie, ein wenig Biologie und Geologie und Einsprengseln aus Mathe, Geographie, Geschichte, Wirtschaft und der allgegenwärtigen Kunst. Wir bekamen einen Überblick, was wir über die verschiedenen Baumaterialien lernen würden. Aufgabe des Tages: im Internet recherchieren womit sich besonders beleuchtungsfreundlich und kostengünstig bauen ließ. Nach vier interessanten aber auch sehr anstrengenden Stunden war dieser Vormittag beendet. Der Dozent hatte es geschafft ohne größere Pause und mit nur wenigen Atemzü80

©lisabethal gen durch zureden. Jedenfalls waren meine Sachen jetzt halbwegs trocken und die Heizung lief. So zog ich die Leihgabe wieder aus, wenn auch mit schwerem Herzen. Wann würde ich wieder von meinem Arbeitspartner so viel Freundlichkeit bekommen? Aber andererseits wollte ich diese auch nicht überstrapazieren. „Haben Sie vielen Dank, Monsieur. Wirklich, merci beaucoup!“ Wieder winkte er nur ab, nahm aber auch seine Jacke mit der gleichen Handbewegung entgegen. Dann fiel mir noch etwas wegen der Aufgabe ein. „Äh, Monsieur, Sie haben nicht zufällig ihren Computer dabei?“ Er sah mich erstaunt mit großen Augen an. Offensichtlich hatte ihn meine Frage komplett überfahren. „Ähm, non, non. Habe ich nicht.“ „Soll ich dann vielleicht meinen von zu Hause holen? Oder wollen wir versuchen einen der Rechner in der Bibliothek zu ergattern?“ Die Bibliothek war im zweiten Stock und die Computer standen an den südlichen Fenstern. Und das schien er zu wissen. Oder vielleicht mochte er auch nur die Bibliothek nicht. „Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn Sie Ihren Computer holen würden?“ *** Dass sie ihre Rechenmaschine noch holen musste, verschaffte mir noch Zeit wieder etwas zu mir zu nehmen. Nicht genug um den schlimmer werdenden Hunger ganz los zu werden, aber genug um ihn im Griff zu haben. Hoffte ich jedenfalls. Die Rechenmaschinen, die ich früher selbst entworfen hatte, behagten mir bei weitem mehr, aber sie waren definitiv nicht mit diesem Datennetzwerk kompatibel, das wir für die 81

©lisabethal Aufgabe anzapfen sollten. Die Technik dafür war ineffizient, energieverschwendend, fehlerbehaftet und unästhetisch. Ich weigerte mich, sie zu benutzen. Außerdem hatte es zu regnen aufgehört und sie würde nicht noch einmal derartig nass werden. Beim Gedanken daran zog ich den Geruch ein, den die Jacke verströmte. Ihr Duft hing noch daran. Vielleicht würden Charles und Florence verstehen, wenn sie ihn selbst rochen. Wenn sie ihn denn überhaupt wahr nahmen. Wir hatten uns wieder für drei Uhr verabredet. Nicht die beste Zeit wie jemanden wie mich – jedenfalls nicht drei Uhr nachmittags. Aber es war besser als gleich nach der Vorlesung. Möglicherweise kam sie ja auch ein wenig später und ich konnte dem Hunger etwas mehr Abhilfe schaffen. Aber riskieren wollte ich es nicht, auch wenn meine Landsleute nicht für ihre Pünktlichkeit berühmt waren. Also beeilte ich mich. Hinaus aus dem Gebäude, weg vom Campus, irgendwo in die Untergründe der Stadt. Das Wetter meinte es gut mit mir, es blieb bewölkt. *** Ich schoss nach Hause. Rannte zum Bus, blieb gleich im Gang stehen und hätte den Busfahrer am liebsten sogar noch zu mehr Eile angetrieben, obwohl er bereits lebensgefährlich schnell durch den dichten Verkehr der Stadt raste. Es ging mir immer noch zu langsam. Rote Ampeln wohin das Auge reichte, Leute, die ganz gemütlich ein- und ausstiegen. „Schneller! Schneller! Los! Beeilung! Hop-Hop!“, hätte ich sie am liebsten angebrüllt, so aufgebracht war ich. Alle Art von Computertechnik war mein Reich, endlich bekam ich etwas zu tun, das ich wirklich gut konnte. Und ich wollte brillieren, wollte mich beweisen. Ich rannte an Tom 82

©lisabethal vorbei die Treppe hoch. Oben packte ich den Laptop in seine Hülle, warf mein Ladekabel der Vorsicht halber hinterher in die große Tasche. Ich erinnerte mich noch an die grauen Wolken am Himmel, aber eigentlich war es mir egal, ob ich noch einmal durchnässt wurde und so stürmte ich ungebremst zur Tür hinaus und die Treppe wieder runter an Tom vorbei. Der schüttelte über meine fast schon panische Hektik den Kopf und meinte, eher zu sich selbst als zu mir: „Entweder es ist ein Mann im Spiel oder der Weltuntergang steht bevor.“ Ich ließ ihn einfach stehen, obwohl mich doch interessiert hätte, was er als schlimmer ansah. Zurück an der Uni schlang ich in der Mensa mein Mittagessen so schnell hinunter, dass ich es kaum schmeckte und sofort danach hatte ich auch schon wieder vergessen, was es war. Erst vor unserem Raum sah ich auf die Uhr. Ich war eine Stunde zu früh. Na, vielleicht konnte ich heute mal vorarbeiten und er musste nur noch unterschreiben. Ein angenehmer Gedanke mit ihm gleichziehen zu können. Der Raum war bereits frei. Welch ein Glück. Ich hatte zwar nicht viel Ahnung von Baumaterial, aber Wikipedia half durchaus weiter. Ich googelte mehrere Firmen, von denen ich wusste, dass sie Baumaterial herstellten oder handelten um die Preise vergleichen zu können. Für mich selbst kam ich zu dem Schluss, dass Holz und verschiedene Kunststoffe wahrscheinlich am kostengünstigsten derzeit waren. Ich schickte per Drahtlosnetzwerk einige Seiten zum Drucker unten in der Bibliothek um die Zahlen im Original schwarz auf weiß zu haben und wollte gerade hinuntereilen um die Seiten zu holen, als ich in der Tür beinah mit Erik zusammenstieß. „Pardon!“ „Pardon!“ Das war gleichzeitig. Er fing sich aber schneller wieder. 83

©lisabethal „Sie wollen mich bereits verlassen, nachdem ich gerade erst gekommen bin?“ Ich musste halluzinieren, der machte ja Scherze. Zwar flog kein Lächeln über sein Gesicht und in seiner Stimme lag noch immer Bitterkeit, aber dennoch hörte ich einen Funken Humor heraus. „Ich… äh…“, stotterte ich. Beinah so als hätte er mich ertappt… in was eigentlich. „Ich wollte nur gerade ein paar Ausdrucke aus der Bibliothek holen. Bin gleich wieder da.“ Warum, in Gottes Namen, grinste ich eigentlich so blöde? Mein Benehmen war ja schon fast kindisch. Ich musste mich wirklich mehr zusammenreißen. Schnell zwängte ich mich zwischen ihm und dem Türrahmen hindurch, in dem er immer noch stand und rannte zur Bibliothek. Schließlich wollte ich mein Versprechen halten und möglichst schnell wieder zurück sein. Wer wusste schon wie lange die relativ gute Laune von Ms de Boscherville anhielt. Und ich wollte so viel wie möglich davon abbekommen. Allerdings wurden meine Pläne in der Bibliothek jäh durchkreuzt. Von Domenic. „Salut, Nellie.“, sagte er. Wenigstens redete er wieder mit mir. „Salut! Commant ça va?“ „Besser als heut Morgen.“ Ich warf ihm nur einen fragenden Blick zu, so als wüsste ich nicht, was genau er meinte. „Warum hektikst du eigentlich so?“, fragte er mich, als er neben mir her zum Drucker lief und ich beinah rannte. „Es hat doch jetzt nicht schon wieder mit der schwarzen Bohnenstange zu tun?“ Fast hätte ich Domenic eine sehr patzige Antwort gegeben, dass ihn sowas gar nichts anginge, aber dann fand ich, es wäre klüger, Erik de Boscherville am besten gar nicht zu 84

©lisabethal erwähnen um ihn nicht noch eifersüchtiger – denn das war er allerdings – zu machen. „Ich will nur ein Paar Preislisten aus dem Internet holen, die ich ausgedruckt hab. Und mein Laptop steht mutterseelenallein da oben. Nicht, dass noch wer meint er gehöre zum Allgemeingut.“ „Oh.“ Offensichtlich war ihm seine Unterstellung jetzt peinlich. Und mich hatte erschreckt, wie nah er der Wahrheit gekommen war. Einer Wahrheit, die ich mir selbst kaum eingestehen wollte. *** Sie schob sich schnell an mir vorbei aus der Tür. Und das war ein kolossaler Fehler. Sie war mir dabei so nah, dass ich ihre Körperwärme fühlte und ein heftiger Schwall ihres Geruchs mir in die Nase stieg. Ihr Pullover streifte mein Hemd. Nur Millimeter, eine kaum merkliche Bewegung und ich hätte sie packen, ganz an mich ziehen und ----. Nein, gar nicht auszudenken, was ich hätte tun können. Aber ihre Nähe, ihre Wärme, ihr Lächeln, das löste in mir etwas wie einen leichten Rausch aus. Nachdem sie weg war, konnte ich mich erst wieder bewegen. Ich stürzte zum Fenster und riss es weit auf um dem Gestank der Stadt die Möglichkeit zu geben ihren gefährlichen Duft zu verdrängen. Und dennoch bekam ich mich kaum in den Griff. Wenn sie, wie versprochen, schnell wieder zurück war, sähe sie mich heute schon zum zweiten Mal so – nun nennen wir es labil. Was würde sie denken? Über mich? Da! Sie kam zurück. Und ich setzte eine möglichst steinerne Miene auf. ***

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©lisabethal Als ich wieder in unserem Raum zurückkam, bemerkte ich auf den ersten Blick zwei Dinge. Erstens hatte sich der Bildschirm meines Laptops noch nicht in Standby geschalten, was hieß ich hatte keine fünf Minuten gebraucht. Eine Tatsache, für die ich mir schon fast eine Goldmedaille im Sprint gewünscht hätte. Zweitens war der Anflug von Humor oder jeder sonstigen Freundlichkeit von Erik de Boschervilles Gesicht schneller verflogen, als meine Beine mich tragen konnten. Das gab meiner seltsamen Hochstimmung einen deutlichen Dämpfer. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Also zurück zur Arbeit. „Das hier“, ich hielt ihm meine Ausdrucke hin, „sind Preislisten der derzeit kostengünstigsten Stoffe für den Bau von Büro- oder Wohngebäuden.“ Etwas kleinlaut setzte ich noch hinzu: „Mit Fabrikhallen hab ich mich allerdings nicht befasst.“ Er nickte und nahm die Blätter nur am aller äußersten anderen Rand. So als wäre ich giftig, schoss es mir durch den Kopf. Aber dann hätte er mir doch bestimmt nicht seine Strickjacke geliehen. Ich wurde einfach nicht schlau aus dem Kerl. „So wie ich das jetzt überblicke“, fuhr ich fort, „wären Beton, Holz und verschiedene Kunststoffe derzeit sehr günstig.“ Er sah konzentriert meine Ausdrucke durch, ob er auf mich achtete, wusste ich nicht. Also machte ich eine kleine Pause um es zu testen. Und er bestand, oder auch nicht. Jedenfalls antwortete er. „Ich sehe hier nichts für Fenster anberaumt, kein Glas.“ „Naja, wozu?“, fragte ich zurück. Mit skeptischem Erstaunen sah er auf.

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©lisabethal „Ich meine, wenn man mit lichtdurchlässigen Duraplasten auch mal eine ganze Wand bauen kann – samt Dämmwirkung, wozu dann Geld für die teuren Fenster ausgeben. Oder man kann im Dachgeschoss diese dicken Plexiglasziegel mit Holzschindeln kombinieren, wenn man da Licht braucht.“, versuchte ich mich zu erklären. Ich hatte diese Möglichkeit einmal im Fernsehen gesehen und benutzte jetzt dieses Wissen gekoppelt mit dem aus dem Internet und meiner chemischen Vorbildung. Er sah immer noch sehr skeptisch aus. „Na, für die Ewigkeit wird das aber nicht halten.“, meinte er schon fast beleidigt. „Hat ja auch niemand behauptet, dass es muss – oder?“, gab ich zurück. „Sie hegen also nicht den Anspruch, etwas bauen zu wollen, das Sie verewigt?“ „Ich hege den Anspruch“, zitierte ich ihn, „dieses Semester zu bestehen. Und wir sollten die günstigsten – ich betone – günstigsten Materialien suchen. Niemand hat behauptet es muss lange halten oder besonders schön werden.“ Mir war leicht der Kragen geplatzt. Warum musste er eine einfache Aufgabenstellung derartig verkomplizieren? Offensichtlich hatte ihm mein kleiner Ausbruch etwas aus der Bahn geworfen, denn er schwieg jetzt. Er schwieg für meinen Geschmack sogar zu lange. „Ich möchte ich bei Ihnen entschuldigen, Ms de Boscherville. Ich wollte nicht so ruppig werden gerade.“ Mir war sehr unbehaglich zumute, wie er weiter auf meine Blätter starrte. „Und falls ich Sie vorher durch mein schnelles Verschwinden gekränkt haben sollte, tut es mir ebenfalls sehr leid.“, setzte ich noch unsicher und schüchtern hinzu. Er schaute bei diesen Worten zu mir her und in seinem Blick lag für den Bruchteil einer Sekunde nichts als pures 87

©lisabethal Erstaunen. Keine Bitterkeit, kein Schmerz, keine distanzierte Kälte. Nur Verwunderung. Dann huschten so schnell mehrere Emotionen hintereinander darüber, dass ich sie nicht einordnen konnte. Schließlich lag wieder die distanzierte Maske über seinen Zügen. Als er dann aber sprach, lag – so glaubte ich jedenfalls – etwas ganz leicht Weiches in seiner Stimme. „Sie müssen sich durchaus nicht bei mir entschuldigen, Miss Archer. Sie haben mir hier schließlich einiges an Arbeit abgenommen und wollten mich nur auf die Aufgabenstellung hinweisen, als ich mich verrannt hatte.“ Die Wogen waren wieder geglättet. Wir standen wieder bei null. „Offensichtlich haben Sie recht“, begann er dann wieder, „Kunststoffe sind wirklich günstiger als das meiste.“ Er reichte mir die Blätter wieder. „Also einigen wir uns auf die verschiedenen Kunststoffe, Holz und Beton? Kann ich das so aufschreiben?“ „Ja.“ Er war wieder zu alter Einsilbigkeit zurückgekehrt. Ich war enttäuscht. Wie gerne hätte ich erlebt, dass er noch ein bisschen länger wie heute Vormittag oder beim Betreten des Raumes gewesen wäre. Ich schrieb die günstigsten Stoffe auf, legte meine Preislisten mit markierten Preisen bei und heftete alles in einem weiteren Schnellhefter. Ich unterschrieb und trat dann beiseite um Ms de Boscherville dasselbe tun zu lassen. Der hatte inzwischen seine Tasche schon wieder auf der Schulter hängen. „Ich gebe es gleich ab, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Gestern haben Sie das ja erledigt.“, meinte er in meine Richtung gewandt während ich gerade meinen Laptop zu klappte. 88

©lisabethal „Äh, ja, vielen Dank.“ „Au revoire. Bis morgen.“ Und schon war er weg. Und ich so verwirrt wie zuvor. Die Launen dieses Mannes schienen ebenso oft zu wechseln wie ein Pendel die Richtung. Wenn ich nur den Umkehrpunkt kennen würde. ***

Kapitel 8: Fragen und Antworten Ich hatte diese Frau als Arbeitspartnerin gar nicht verdient. Sie war arbeitsam, fleißig, genau, pünktlich. Sie versuchte ein einigermaßen gutes Arbeitsklima zu schaffen. Sie war höflich. Und sie – ich weiß nicht – irgendwie mochte sie mich. Gott weiß warum. Ich hatte ihr keinen Grund dafür gegeben. Sie hatte sich bei mir sogar entschuldigt, weil sie dachte, sie hätte meine Gefühle verletzt. Wann war das zum letzten Mal passiert? War das überhaupt schon einmal passiert? Ja, doch. Nadir hatte das in Arabien getan. Sich bei mir bedankt, sich entschuldigt. Über meine Gefühle nachgedacht. Das war jetzt allerdings eine Ewigkeit her. Vielleicht sogar mehr als das. Ich gab die Mappe bei der Sekretärin ab, die mir eigentlich schon die Tür vor der Nase zuschlagen wollte. Nur ein leises Wort von mir genügte allerdings um ihre Meinung zu ändern. Danach ging ich nach Hause. Besser gesagt, ich rannte so schnell mich meine Beine trugen. Und nichts in der Welt wollte ich heute Abend noch einmal auf Eleanoer Archers Fährte stoßen, denn ich war mir sicher, ich würde mich nicht mehr bremsen können, wenn ich sie einmal tangierte. 89

©lisabethal Endlich angekommen, gab ich Florence, die als einzig noch da war, den guten Rat, für die nächsten zwei Stunden irgendetwas außerhalb des Hauses zu erledigen. Ich wollte nämlich mal wieder meine Seele auf dem Klavier bereinigen. Und dabei nicht den gleichen Fehler wie am Abend zuvor machen. Kaum dass ich die Tür unten schlagen hörte, spielte ich los und verlor mich schon bald in der Musik. Die Töne, die meine Finger auf der Tastatur erzeugten, malten Bilder in meinen Kopf. Tagträume, so heftig, sehnsüchtig, so real, das der leise Hauch ihrer Körperwärme in meiner Erinnerung, den Rausch von heute Nachmittag wieder mit sich brachte. Ich wusste bald nicht mehr, ob die Bilder die Musik gebaren oder die Musik die Bilder hervorrief. Ihr Geruch, der immer noch meiner Jacke anhaftete, machte diese Träumerei nur umso schlimmer und realer. Nach nicht allzu langer Zeit liefen meine gebändigten Instinkte und Wünsche Amok. In Gedanken berührte ich sie; ihre Haare, ihr Gesicht, ihre Wangen, ihre Lippen, ihr Kinn, ihren Hals, ihre Schultern, ihre Arme. Ich küsste sie auf die Stirn, die Wange, die Lippen. Das letzte Bild war noch nicht ganz fertig in mir aufgestiegen, da riss ich die Finger von der Tastatur, als hätte ich mich an einer glühenden Herdplatte verbrannt. Ich stürzte zum Fenster und öffnete es weit. Es regnete wieder in Strömen und ich hielt meinen Kopf aus dem Fenster, um das Wasser die letzten Reste meiner Träumerei fortspülen zu lassen. Dieses letzte Bild schmerzte viel zu sehr, denn mir war klar, soweit würde es nie kommen. Mit etwas klarerem Kopf stieß ich dann wieder auf ein Problem, das nichts mit meiner Gefühlsduselei zu tun hatte. Wie erklärte ich ihr, dass ich am Freitag unausstehlich sein wür90

©lisabethal de? Denn ich wusste, der bis dahin gesteigerte, unterdrückte Hunger würde mich sehr quälen. Und ich konnte unmöglich nicht erscheinen. Eine leise Stimme sagte zu meinem ganzen Rest, du willst sie ja auch sehen. Es war zwar die Stimme der Wahrheit. Aber ich war noch nicht bereit, auf sie zu hören. Was nur konnte ich tun, damit ich nicht jedes Mal so stark auf sie reagierte? Das Atmen einstellen? Zu auffällig, außerdem machte das den Wunsch auf Nähe nicht wett. Und genau der war das Problem. Vielleicht konnte ich die dazu bringen von sich aus etwas mehr Abstand zu mir zu wahren? Ich musste mir dafür etwas überlegen. Noch so einen Streifer wie heute Nachmittag würde sie wahrscheinlich nicht überleben. Aber andererseits hatte diese Nähe so wahnsinnig gut getan. Der Rausch, dieses leichte Entrücktsein in Koppelung mit einem Hauch Wärme und Geborgenheit, war so angenehm gewesen, das ich eigentlich gar keine Lust hatte, mir über mehr Abstand zu ihr den Kopf zu zerbrechen. Was aber noch wichtiger war; wie wurde sie nicht misstrauisch oder besser noch misstrauischer wegen meines Benehemens? Ich musste ihr Erklärungen liefern und das wahrscheinlich bald. Sehr bald. *** Es regnete. Also kein Konzert vor dem Hotel Delibes für mich. Schade, sehr schade. So sehr mich meine eigene Reaktion das letzte Mal auch erschreckt hatte, so sehr liebte ich die Musik dieses Mannes. Woher ich wusste, dass ein Mann spielte? Nun nennen wir es Intuition. Meine Skizzen für die Woche waren fertig und lagen schon bei Henry auf dem 91

©lisabethal Schreibtisch, also blieb mir an sich nichts mehr zu tun. Was meine Gedanken ständig wieder zu meinem seltsamen Arbeitspartner lenkte. Ein sehr hübscher – ja wunderschöner – und doch sehr seltsamer Vogel, dieser Ms de Boscherville. Sollte ich mal versuchen ihn diskret ein bisschen auszuhorchen? Nein, schrie alles in mir gleich empört auf. Er würde mir schon sagen, wenn ich etwas über ihn wissen sollte. Aber diese Anfälle von Übelkeit und die ständig sperrangelweit offenen Fenster, obwohl es draußen durchaus kühl bis kalt war? Was hatte das zu bedeuten? War er gesundheitlich angeschlagen? Verhielt er sich deshalb so komisch? Was sollte ich tun, wenn es schlimmer wurde und er Schmerzen litt oder mir zusammenbrach? Das musste er mir sagen, das betraf auch mich. Danach würde ich ihn fragen und nach sonst nichts. Wenn er mir nicht antwortete, würde ich einfach tun, was ich für richtig hielt. Mit diesem Gedanken im Kopf schlief ich ein, einen Plan bereits geschmiedet und meine Frage bereits formuliert. Der nächste Tag begann wieder unter einer bleiernen Wolkendecke, aber ohne Regen. Ich war allerdings vorsichtiger geworden und zog zu Jeans und Poloshirt und Pulli die Neoprenjacke an. Wie ich feststellte, schadete die Vorsicht gar nicht, denn kaum stieg ich aus dem Bus, schon begann der Regen wieder. An diesem Morgen war ich allgemein sehr vorsichtig, zu meinem normalen Schreibzeug gesellte sich nämlich noch mein Laptop in der Tasche. Egal welche Aufgabe, ich konnte sie sofort angehen.

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©lisabethal Heute stand das Zeichnen von Plänen auf dem Programm. Und das bis zwei Uhr nachmittags. Dieses Mal war ich die erste im Raum, diesmal ein schöner, alter, sehr steiler Hörsaal mit hohen Fenstern nach Osten. Um auch genug mitzukriegen, setzte ich mich zu den Fenstern rechts neben mir nach ganz vorne. Dort packte ich meine Sachen aus und spähte auf meinen Stundenplan für den Namen des Dozenten. Ein Prof. Michael Carter. Könnte Englisch sein, fuhr es mir durch den Kopf. Musste aber nicht. Domenic und Baptiste kamen ebenfalls sehr früh heute und so konnte ich mich einigermaßen mit ihnen unterhalten. Ich versuchte Domenic zu erklären, was gestern Morgen los gewesen war und ihm klar zu machen, dass zwischen mir und Ms de Boscherville rein gar nichts lief. Allerdings lobte ich seine ritterliche Geste, was Domenic angewidert den Mund verziehen ließ. Baptiste fand aber nichts dabei und zog Domenic dann damit auf, dass er zu solchen Heldentaten nicht einmal in der Lage gewesen wäre. Langsam füllte sich der Raum. Wie sonst üblich besetzten sich die Plätze weiter hinten schneller als die vorne. Erik de Boscherville kam relativ spät. Wenig begeistert betrachtete er die Fenster. Dann bemerkte er, dass ich ihn ansah – eigentlich eher anstarrte, mal wieder – und hob ganz leicht die Hand zum Gruß. Ich erwiderte es mit einem freundlichen Lächeln. Noch ein Blick aus seinen dunklen Augen zu mir herunter und dann setzte er sich wieder ganz hinten links ins Eck. Sehr merkwürdig. Er scheuchte dafür sogar eine ganze Reihe Leute auf, die von ihren Klappstühlen aufspringen musste um ihn durchzulassen. Mit mürrischem, leicht gequältem Gesicht ließ er sich auf seinen Platz fallen. Was war nur los mit dem Kerl? 93

©lisabethal Domenics Gesicht war allerdings fast ebenso wenig begeistert. Es gefiel ihm offensichtlich gar nicht, dass ich Ms de Boscherville so beobachtete. „Der Typ ist doch echt komisch?“, gab ich an ihn und Baptiste zu bedenken. „Du musst’s ja wissen. Ich hab mit dem noch kein Wort gewechselt und auch sonst seh ich den kaum.“, meinte Baptiste. „Doch, du hast schon recht.“, pflichtete mir Domenic bei. „Irgendwas ist faul an dem. Wenn ich du wäre, würde ich den echt meiden. Der ist nicht geheuer. Sieht aus wie Gevatter Tod. Lass am besten die Finger von dem, Nellie!“ Keine sehr aufbauende Antwort von Domenic, aber wenigstens wurde ich nicht paranoid und es fiel auch noch jemand anderen auf, dass mit meinem Arbeitspartner was nicht stimmte. Die nächsten Diskussionen wurden dann allerdings vom Eintreffen des Dozenten unterbrochen. Die Vorlesung wurde in zweimal drei Stunden aufgeteilt mit einer kleinen Pause dazwischen, die übrigens auch sehr notwendig war. Pläne zeichnen lief bei mir bei weitem besser als Bögen zu skizzieren und machte mir auch bei weitem mehr Spaß. Trotzdem war es ziemlich anstrengend. Der Dozent war übrigens wirklich Engländer und hatte eine sehr angenehme Redegeschwindigkeit und eine ansonsten recht sympathische Art, ein älterer, leicht exzentrischer Landlord. Jedenfalls von seinem ganzen Auftreten. Ich mochte ihn. Die Aufgabe: die eigene Wohnung möglichst genau skizzieren, also mit genauen Maßen, maßstabsgetreu und und und. Einfach. Und die einzige Aufgabe, die ich nicht gleich hier erledigen konnte. Die ganze Vorausplanung war damit also zum Teufel. Ich seufzte. 94

©lisabethal In der Pause scheuchte Ms de Boscherville wieder die ganze Reihe auf und verließ so fluchtartig den Raum, dass man hätte meinen können, der Tod höchst selbst sei ihm auf den Fersen. Domenic und Baptiste diskutierten die ganze Pause mit mir darüber, warum dieser Mann jedes Mal so davon stürzte, während wir auf unseren belegten Broten herum kauten. „Vielleicht ist er ein extrem süchtiger Raucher.“, schlug Domenic zur Problemlösung vor. „Oder ein extremer Asthmatiker, der schnell Frischluft braucht.“, wandte Baptiste ein. „Aber dann würde er sich doch nicht so weit vom Ausgang wegsetzen, oder?“, mutmaßte ich. So ging das die ganze Zeit, bis uns der Dozent aufforderte langsam wieder zum eigentlichen Thema der Vorlesung zurückzukommen. Wie auf Befehl stand Erik de Boscherville wieder vor seiner Reihe und wollte durchgelassen werden. *** Der Raum war die reinste Hölle. Die Morgensonne brannte ungehindert durch die hohen Ostfenster in den Raum. Die Reihen waren eng gehalten und erlaubten kaum ein Durchkommen, geschweige denn ein schnelles Entkommen. Schon bald brannten meine Hände und mein Gesicht teuflisch und ich musste mehr als einmal die Zähne fest zusammenbeißen um nicht bei einer Handbewegung vor Schmerz laut aufzuschreien. Mit dem Schmerz wuchs der Hunger. Nahrung würde helfen, aber es blieb nicht genug Zeit um welche zu besorgen. Und der ganze Raum roch so gut. So gut nach ihr. 95

©lisabethal Nur gut, dass sie so weit weg saß. Morgen noch eine Veranstaltung und ich würde ihr keine Erklärung mehr liefern können. Also heute oder nie. Aber ich musste etwas zu mir nehmen, sonst kam sie heute nicht heil aus dem Arbeitsraum. Im Moment wäre ich auch wirklich nicht wählerisch, das Erste, das mir über den Weg lief, würde dran glauben müssen. Die Zeit zog sich ewig. Kaum war die Unterbrechung angekündigt, floh ich an einen dunklen Fleck. Aber diese fünf Minuten konnten kaum den Schmerz und den Hunger vertreiben. Noch eine kleine Ewigkeit, die nicht mehr ganz so schlimm wurde, dadurch, dass die Sonne weiterzog. Ich beeilte mich nach der Vorlesung in den künstlich beleuchteten Gang zu kommen. Dort wartete ich auf sie um mit ihr en Treffen für drei Uhr zu vereinbaren. Und zwar bevor mir der Mut schwand. *** Erik de Boscherville stand nach Ende der Veranstaltung im Gang gegenüber der Tür und wartete offenbar auf mich. Was konnte er wollen? „Miss Archer?“ „Ja?“ „Mir ist die Aufgabenstellung für heute durchaus bewusst, aber könnte ich Sie um drei Uhr noch einmal sprechen?“ Ich war mehr als nur verblüfft. „Äh… natürlich.“, mehr bekam ich nicht heraus. „Vielen Dank.“ Und damit drehte er sich um und war verschwunden noch bevor ich ein „Gern geschehen“ herausbringen konnte.

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©lisabethal Leicht frustriert ging ich mir etwas zu essen besorgen. Von so viel geistiger Arbeit knurrte mir der Magen. Mein Schokocroissant war dann auch schnell vertilgt. Mir blieb nicht viel anderes übrig als auf ihn in unserem Raum zu warten. Es war bereits nach drei als die Tür aufging und Erik de Boscherville hereinkam, dem man ansah, das er fest die Zähne zusammenbiss. Kommentarlos ging er zum Fenster und öffnete es. Dann lehnte er sich hinaus und sog tief die Luft ein. Lange blieb er so stehen. Ich stellte mich neben ihn an das Fensterbrett, wortlos und gespannt wie eine Bogensehne beobachtete ich sein Profil. Den Mann schien definitiv etwas zu quälen. Zwar wirkte sein Unterkiefer etwas lockerer, aber auf seinem Gesicht spiegelte sich der Schmerz. „Monsieur?“, fragte ich leise und besorgt, bekam aber keine Reaktion. Vielleicht ging es ihm so schlecht, dass er mich gar nicht wahr nahm. Also versuchte ich es noch einmal: „Monsieur?“ Seine Augen flackerten zu mir herüber, deswegen redete ich weiter. „Es geht Ihnen nicht gut, oder? Kann ich irgend---“ „Geben Sie mir nur ein bisschen Zeit und frische Luft. Dann sollte es soweit gehen.“ „Soweit gehen“ klang nicht sehr aufbauend, aber ich wollte bei seinem Zustand nicht weiter auf ihn dringen. Ich grübelte gerade noch ein bisschen über ihn weiter, als mich seine Stimme, sehr leise und bitter und traurig – aber dabei war ich mir nicht sicher – hochschrecken ließ. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mademoiselle.“ Verblüfft zog ich die Augenbrauen hoch. „Ich sollte Ihnen eigentlich nicht zumuten, mich in einem so schlechten Zustand aushalten zu müssen.“

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©lisabethal Er schwieg kurz, starrte weiter aus dem offenen Fenster und fuhr dann nach einer Weile fort. „Ich denke allerdings auch, dass es wichtig für unser Arbeitsverhältnis ist, wenn Sie verstehen, warum ich mich manchmal abweisender verhalte als es eigentlich höflich wäre.“ Noch immer starrte er aus dem Fenster. „Dem kann ich durchaus nur zustimmen, Monsieur.“ Ein kurzes Schweigen entstand, in dem er immer noch sehr gezwungen tief ein- und ausatmete. Dann sprach er weiter. „Sie haben ja schon bemerkt, dass mein gesundheitlicher Zustand momentan nicht besonders gut ist. Ich mache Sie gleich darauf aufmerksam – und bitte merken Sie sich das gut -, dass Sie nichts, absolut gar nichts für mich in diesem Zustand aktiv tun können. Das Einzige was Sie mir angedeihen lassen können, ist Geduld und Nachsicht und frische Luft.“ Er machte eine kleine Pause, so als hätte ihn dieser kurze Vortrag erschöpft, um dann sehr eindringlich weiter zu sprechen, wobei er endlich sein Gesicht zu mir wandte und mir direkt in die Augen blickte. Und ich in seine. In seine beinah ganz schwarzen. „Ich muss Sie bitten, mich in diesem Zustand unter keinen – absolut keinen – Umständen zu berühren. Verwirrt blickte ich ihn an, mit schiefen Augenbrauen und gerunzelter Stirn. „Es würde meine Schmerzen nur verschlimmern“, erklärte er. „Bitte verstehen Sie auch, dass ich zeitweise der Schmerzen oder Übelkeit wegen sehr, ähm, nun sagen wir unleidlich werden kann. Das hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun. Ich werde versuchen, es sie nicht zu sehr merken zu lassen. Falls ich dennoch sehr unhöflich werde, sehen Sie es mir bitte nach.“ 98

©lisabethal Auf meinem Gesicht malten Verwirrung, Mitleid und Skepsis ein Bild, von dem ich mir nicht sicher war, ob er es würde deuten können. Er schien erschöpft, also ließ ich ihm ein bisschen Zeit, bevor ich ihn fragte. „Macht es Ihnen etwas aus, mir zu sagen, was die Ursache für solch extreme Symptome ist?“ Die Andeutung eines Lächelns flog über sein Gesicht, so schnell, dass ich beinah an eine Halluzination glaubte. „Ich hatte sowieso vor es Ihnen zu sagen, Mademoiselle. Vielleicht verstehen Sie mich und meine Bitten dann besser.“ Er machte eine kleine Pause, holte noch einmal Luft und fuhr dann mit leiser Stimme fort. „Ich leide an einer sehr extremen, sehr seltenen Form von Porphyrie.“ „Eine genetische Stoffwechselerkrankung, die den Blutaufbau hemmt. Halt nein, ein Defekt bei der Bildung des roten Blutfarbstoffs.“ „Richtig.“ Wieder sein fliegendes Lächeln. „Dabei greift ein entstehender Stoff der nicht weiterverarbeitet werden kann, den gesundheitlichen Zustand stark an.“ Wieder eine kleine Pause. „Ich vertrage beispielsweise kein normales Essen.“ Ich riss die Augen auf. „Sonnenlicht verursacht mir große Schmerzen auf der Haut und in den Augen. Das gleiche gilt für Wärme und Druck. Deswegen musste ich Sie bitten mich nicht zu berühren. Körperwärme und Gegendruck würde meine Haut im Moment nicht vertragen.“ Je mehr ich hörte, umso mehr tat er mir leid. Aber ich hörte auch etwas, dass mir einen kleinen Hoffnungsschimmer durch die Seele schweifen ließ. „Sie sagten, „im Moment“. Ändert sich das denn?“ 99

©lisabethal Lange sah er mir in die Augen. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum und stürzte ganz in die leicht warme, dunkle Tiefe, die in seinen Augen lag. Unbewusst mussten wir einander näher gekommen sein, denn plötzlich verzog er das Gesicht, wandte sich ab und trat gleichzeitig einen Schritt zur Seite – von mir weg. *** Gnade Gottes! Was war ich für ein Narr! Niemals hätte ich mich so gehen lassen dürfen – und das mitten im Gespräch. Aber es war so einfach in ihr Gesicht zu blicken und sich in den hellen Ozeanen ihrer Augen zu verlieren, einfach darin einzutauchen und darin zu versinken. Erst als ihr Geruch mir viel zu deutlich in die Nase drang, ich ihren frenetischen Herzschlag hörte und die Wärme durch ihre Kleidung spüren konnte, kam ich wieder zu mir. Und trat einen eiligen Schritt beiseite – weg von der Versuchung. „Pardon, Monsieur. Bitte entschuldigen Sie vielmals, das war wirklich keine Absicht.“ Sie war ehrlich zerknirscht. Aber was mich beinah so viel mehr wie meine Vertiefung erschreckte war die kurze Enttäuschung, von der ich dachte, ich hätte sie über ihr Gesicht huschen sehen. Aber vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung, die Wahnvorstellung eines Wunschtraums. Wer sollte denn mir schon nahe kommen wollen und enttäuscht sein, wenn ich zurückweiche? Ich lehnte mich mit dem Rücken an Fenster und Fensterbrett. „Ahhm. Verzeihung, Mademoiselle! Wo waren wir?“ „Ich wollte wissen, ob ihr Zustand sich verändert. Sie machten eine Bemerkung in die Richtung.“

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©lisabethal „Oh, ja.“ Ich war noch ganz durcheinander, richtig gehend befangen. „Ja, das ändert sich ständig. Es geht immer auf und ab. Abhängig allerdings von verschiedenen Faktoren.“ Ich wusste vorher schon, dass das zu allgemein war um ihre Neugier zu befriedigen. „Welche zum Beispiel? Ich möchte es nur wissen, damit ich nichts falsch mache. Ich würde Ihnen niemals aus Unwissenheit schaden wollen.“ Ihre Sorge um mich war sooo angenehm. Ich hasste mich regelrecht für diesen Genuss. „Es schwankt schon während der Woche“, begann ich zu erklären. „Normalerweise geht es mir am Anfang der Woche besser, da ich am Wochenende meine Medikamentierung erhalte. Apropos, die ist so stark, dass sie mich bis Sonntagabend komplett lahmlegt. Mich an Wochenenden erreichen zu wollen, ist also so gut wie unmöglich.“ Ein kurzes Nicken, ein gespannter Blick. Ich hatte ihre volle Aufmerksamkeit. „Während der Woche nimmt dann die Wirkung der Medikamente ab. Das bedeutet ich bin montags noch ganz erträglich. Morgen allerdings ist mit mir nicht gut Kirschen essen. Das kann ich Ihnen jetzt schon prophezeien. Mir war heute schon fast zuviel.“ „Ach, wie herrlich herzzerreißend mitleidig ihr Blick war. Ich tat ihr jetzt wirklich leid. Und ich Monster genoss es, kostete es regelrecht aus. Was war ich nur abartig. Mir grauste vor mir selbst. Doch dann änderte sich der Ausdruck in ihren Augen. Sprang um auf Neugier. Und bei mir begannen alle Alarmglocken zu klingeln. Ich musste mich gleich auf alles einstellen. Ich brauchte eine Lüge für jede mögliche Frage – und das sofort. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen, ganz das schüchterne Schulmädchen. 101

©lisabethal „Ähm, würden Sie mir noch eine Frage erlauben, Monsieur?“ Ich zwang mich zu äußerer Ruhe. „Natürlich.“ „Es betrifft Ihre Augen.“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was mochte da kommen? „Mir ist aufgefallen, dass Sie am Montag etwa schokoladenbraune Augen hatten, aber je weiter die Woche voranschritt, desto dunkler wurden sie. Ich habe mich gefragt, woher das kommt.“ Verflucht! Das Mädchen war viel aufmerksamer als ich annahm. Wenn ihr solche Kleinigkeiten schon auffielen, was kam dann noch? Ich versuchte mich soweit als möglich an der Wahrheit zu orientieren und hoffte, dass sie nicht allzu viel Ahnung in Verhaltensbiologie hatte. „Das liegt ebenfalls an den Medikamenten. Je mehr Schmerzen ich ertragen muss, desto mehr schaltet mein Körper – nun sagen wir – auf Notfallplan. Meine Pupillen erweitern sich, langsam zwar, aber im Laufe der Woche dann doch sichtbar. Deshalb kommt es Ihnen so vor als würden meine Augen dunkler. Liegt an dem Adrenalin, das mein Körper der Schmerzen halber ausschüttet.“ Noch ein furchtbar einfühlsamer Blick. Das Meer in ihren Augen sah jetzt aus als verhingen es graue Wolken. Wieder war ich kurz davor mich einfach darin zu versenken. Ich musste hier raus, weg – weg von ihr. Aber sie würde noch mehr wissen wollen. *** Der arme Kerl war wirklich gestraft mit so einer Krankheit. Und ich war nur umso mehr fasziniert. Ich war wirklich abartig. Vielleicht war es eine Verteidigung von mir selbst, 102

©lisabethal jetzt wenigstens zu wissen, dass er nicht nur so seltsam war, sondern einen sehr triftigen Grund hatte. Aber es war zugegen eine sehr schwache Verteidigung. Vor allem in Anbetracht dessen, dass ich immer weiter und weiter über ihn grübelte und immer mehr über ihn wissen wollte. Und schwupp, da rutschte mir auch schon die nächste Frage heraus. „Was gibt es noch für Faktoren, die es verschlimmern?“ Er sah jetzt schon sehr, sehr gequält aus. Ich hätte mich für meine Neugier ohrfeigen können. Wie konnte mein Hirn nur derartig ausschalten? „Sonnenlicht, ist noch einer“, erklärte er weiter. „Egal ob von Fenstern gefiltert oder direkt.“ Oh Gott, der Arme musste heute Morgen ja direkt die Wände hochgegangen sein bei der Einstrahlung. Kein Wunder, dass er sich ganz hinten verkrümelt hatte. Hätte ich in dem Moment ja auch. Reines Vermeidungsverhalten. „Von normalem Essen wird mir heftig übel.“ Ich nickte. Also nie ein Date in einem Restaurant. Himmel! Wie kam ich bloß auf einen so abstrusen Gedanken? Gott sei Dank redete er schnell weiter. „Überheizte Räume sind fast genauso schlimm wie Licht.“ Ich nickte wieder. Ihn nur nicht in seinem Redefluss unterbrechen. Dafür schenkte er mir wieder eines seiner Lächeln, die so schnell vorüberhuschten, dass man glauben konnte, sie wären nie da gewesen. „Räume mit schlechter Sauerstoffversorgung sind übrigens auch sehr übel. Zum einen wegen des erhöhten Bedarfs durch das permanente Adrenalin, zum anderen wegen der verminderten Blutbildung. Ich habe schlicht und ergreifend nicht genug Trägerzeller, die den Sauerstoff binden können. Wenn dann noch sehr verbrauchte Luft dazukommt, wird mir sehr leicht übel oder schwindlig.“ 103

©lisabethal Das verstand ich. „Deswegen reißen Sie hier jedes Mal die Fenster auf, wenn Sie herein kommen. Und aus dem gleichen Grund verschwinden Sie auch so schnell aus den Lesungssälen.“ Er nickte stumm. Das hier war der längste Vortrag, den er mir bisher je gehalten hatte und er erschöpfte ihn sichtlich. Beinah sah es so aus, als wolle er mir am liebsten gegen die Wand sinken und dann nie mehr aufstehen. Damit er sich nicht bemüßigt fühlte weiterzureden, fuhr ich fort. „Ich verstehe Ihre Situation und Ihr Verhalten jetzt sehr wohl, Monsieur. Wenn ich Ihnen mit irgendetwas noch entgegenkommen kann, um Ihnen das Leben zu erleichtern, müssen Sie es nur sagen. Ansonsten werde ich, wie Sie mich gebeten haben, Ihnen viel Geduld, Nachsicht und frische Luft zukommen lassen. Ich möchte Ihnen auch für Ihr Vertrauen danken, das Sie mir mit Ihrer Erklärung vorgeschossen haben. Ich hoffe, meine zukünftigen Handlungen werden Ihnen beweisen, dass Sie es nicht umsonst getan haben.“ Wieder sah er mich lange an und ich starrte zurück. Dann schien er sich wieder zu erinnern, wo er war. „Haben Sie vielen Dank für Ihre Toleranz, Miss Archer. Sie waren in den letzten Tagen wirklich zuvorkommend. Solange dies so bleibt – und ich hege keinen Zweifel daran – sollten wir beide sehr gut zusammenarbeiten können.“ Ok. Der Tonfall war eindeutig. Ende der Gefühlsduselei, weiter mit dem Geschäft. Naja, er hatte ja recht, ich hatte da am Ende auch wirklich übertrieben. Ich schämte mich regelrecht. „Sie sagten, es ginge Ihnen morgen sehr schlecht“, stürzte ich mich also auf den Arbeitsteil der Unterhaltung. „Das heißt, wir könnten die Aufgaben von heute und morgen erst am Montag fertig machen. Sehe ich das richtig, Monsieur?“ 104

©lisabethal Er seufzte. Ein schöner Laut, auch wenn er immer noch gequält klang. „Ich fürchte, ja, Miss. Allerdings habe ich durchaus vor, bereits abzuarbeiten, was ich schaffe. Ihre Aufgabe wäre dann hauptsächlich, es leserlich zu gestalten. Und für die Aufgaben am Montag mache ich mir auch keine Gedanken, Mathematik war schon immer eine Stärke von mir. Der Arbeitsaufwand für Sie sollte sich also in Grenzen halten.“ Am Anfang dieses Redeschwalls hätte ich noch genickt. Der letzte Satz rief bei mir aber nur heftige Empörung hervor. Ich überlegte allerdings noch, in welcher Form ich dieser am angebrachtesten Luft machen sollte. Für mich klang es so, als nehme er an, ich würde ihn die ganze Arbeit allein machen lassen und dann nur abpinseln. Und das lief mir sehr gegen die Ehre. „Das ist bestimmt sehr fürsorglich von Ihnen gemeint“, entgegnete ich und hoffte, dass ich nicht zu eingeschnappt klang. „Aber ich habe bestimmt nicht vor mich auf Ihren Lorbeeren auszuruhen.“ Verblüfft und ein wenig betreten sah er mich an. „Verzeihung, Mademoiselle, so war es nicht…“ Er brach ab, schüttelte leicht den Kopf, schloss die Augen und als er sie öffnete und meinen Blick traf, setzte er noch einmal an. „Ich wollte Ihnen keine schlechte Absicht unterstellen. Bitte entschuldigen Sie.“ Eine kurze Pause. Ein eindringlicher Blick. „Ich..“ Sein Blick fing an zu flackern. Sein Mund zog sich zu einem Strich zusammen und er lehnte sich leicht von mir weg. Es ging ihm sichtlich nicht gut. „Ich glaube, Monsieur de Boscherville, Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen. Ich will Sie auch gar nicht 105

©lisabethal weiter anstrengen und nehme Ihnen die Äußerung von vorher wirklich nicht krumm.“ Bei diesen Worten nickte ich mit dem Kopf Richtung Tür um Regel 1 (nicht berühren) zu befolgen. Dann fuhr ich fort: „Es tut mir leid, falls ich Ihnen zu viel zugemutet habe. Falls Sie morgen nicht in die Universität kommen, schreibe ich für Sie mit und bearbeite die Aufgabe alleine. Sie müssen sich also nicht deswegen herquälen.“ Er lächelte, schwach, traurig, ohne Humor, aber lang genug um es als wirkliches Lächeln wahrzunehmen, und dankbar. Dann nahm er seine Tasche und verschwand aus dem Raum. Nun hatte ich also meine Antworten bekommen. Aber ich blieb ratlos. Wie genau sollte ich mich nun ihm gegenüber verhalten. ***

Kapitel 9: Das Eis bricht Sie hat es geglaubt. Sie war auf meine Lüge eingegangen. Wenn ich Glück hatte und sie sich weiterhin so verhielt, konnten wir beide dieses Studium zu einem guten Ende bringen. Wenn ich nicht zu oft diesen seltsamen Launen nachgab. Wenn ich nicht zu oft in ihre Augen starrte. Oder mich zu sehr nach dem Rausch sehnte, den ihre Körperwärme bei mir auslöste. Sie war jetzt nicht mehr das unberechenbare Element, ihre sichtbare (Für-)Sorge machte sie vorhersehbar. Jetzt musste, oder besser gesagt, konnte ich mich voll darauf konzentrieren, mich selbst als Gefahrenfaktor zu entschärfen. Das heute war auch sehr nahe am Rand der Erträglichkeit gewesen. Das verfluchte Sonnenlicht am Morgen hatte mich sehr geschwächt. Der nächste Tag würde die Hölle, das 106

©lisabethal wusste ich schon. Ich ertrug ihn, keine Ahnung wie. Ich sah sie kurz an, als ich in den Raum kam und versuchte ansonsten auszublenden, was sich um mich herum abspielte. Dann rannte ich nach Hause um möglichst bald, genau wie letztes Wochenende meinen Zustand aufzubessern. *** Der Vorlesungssaal heute war extrem groß, es gab mehr als genug Plätze. Ich war gewohnheitsmäßig früh dran und setzte mich relativ links vorne. Erik de Boscherville kam relativ spät. Er sah noch schlechter aus als gestern. Nun – soweit an dem Mann irgendetwas schlecht aussehen konnte. Aber er litt sichtlich. Jetzt da ich wusste woran, glaubte ich, es toleranter behandeln zu können. Ich hatte am letzten Abend noch mein ganzes Zimmer vermessen. Kaum das ich zuhause war, hatte ich bei Francois geklingelt und ihn um Zollstock, Maßband und Winkelmesser gebeten und dafür einen sehr verwirrten, wenn auch gutmütigen Blick geerntet. Ich musste ihm erst erklären, wofür ich die Sachen brauchte, ehe er sie auch herausrückte. Zusätzlich kam er dann auch noch mit einer Leiter an. Was bewies, dass er manchmal mehr mitdachte als ich, ein absoluter Praktiker eben. „Wenn du mal ein fertiger Architekt bist, hoffe ich, dass du nicht diese furchtbaren, wellenförmigen Häuser entwirfst. Da was reparieren zu müssen ist so umständlich.“, scherzte er. Und ich schwor es ihm auf die Bibel, allerdings genauso scherzhaft. Dann machte ich mir eine Liste mit allen möglichen Strecken meiner Wohnung und begann zu messen, wobei ich einmal bei der Vermessung einer Gaube fast von 107

©lisabethal der Leiter gefallen wäre. Niemals hätte ich gedacht, dass allein das Messen so lange dauern würde. Nach getaner Arbeit brachte ich Francois sein Werkzeug zurück und überlegte gerade, was ich mit dem sehr angebrochenen Abend noch anfangen sollte, als mir auffiel, dass im Atelier noch Licht brannte und bei Tom und Henry nicht. Sie saßen also noch über ihrer Kollektion. Ich wurde von leichter Einsamkeit ergriffen und hatte mit einmal gar keine große Lust mehr allein in meinem Wohnzimmer zu sitzen und zu lesen oder fernzusehen. Deshalb marschierte ich also ins Atelier hinüber nur um nicht allein sein zu müssen. Dort saßen Henry, Tom und Chantalle mit einer Flasche Rotwein und einer Menge Entwürfen für Abendkleider, unter denen ich auch meine hervor blitzen sah. „Schön, dass du auch kommst, Mädel“, lachte Henry. „Wir können heute Abend noch einen kreativen Kopf mehr brauchen. Der Stylist von Mme C*** hat angerufen, sie will, beziehungsweise er will, für die Preisverleihung in Cannes ein oder am besten zwei Kleider von uns für den roten Teppich.“ Mme C*** ist eine sehr bekannte Schauspielerin in Frankreich. Und sehr gut bezahlt. Was sie trägt macht hier Mode. Es sollte also etwas Exklusives werden. Etwas für eine große, schlanke, brünette Dame mit leicht aggressiver Nase und grünen Augen. Kein Wunder, dass Henry dafür Nachtschichten schieben ließ. „Steht schon irgendwas zur engeren Auswahl?“, fragte ich. „Bis jetzt noch nicht. Aber du kannst gern mitdiskutieren.“, antwortete Tom. Das sah ich als große Ehre an. Das Gespräch bis lang in die Nacht und endete mit der Auswahl

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©lisabethal von sechs sehr atemberaubenden Kleidern, unter anderem meinem Roten. Die Vorlesung war interessant. Die Aufgabe von lösbarer Schwierigkeit, denn hier handelte es sich um etwas, das man mit Proportionslehre ganz gut beschreiben konnte. Domenic nahm mich während aller Pausen ständig in Beschlag. Wir redeten über Gott und die Welt und kamen auf unsere Pläne fürs Wochenende. Da ich außer der möglichst korrekten Erfüllung meiner Hausaufgaben nichts vor hatte, Ms de Boscherville nicht erreichbar sein würde und mir das beklemmende Gefühl von gestern Abend noch zu gut in Erinnerung war, sagte ich ihm zu, etwas mit ihm zu unternehmen. Er schien hoch erfreut darüber und war von da an bester Laune. Selbst meine Bedingung, ich wolle zuerst meinen Plan für meine Wohnung noch fertig haben, konnte seiner Hochstimmung keinen Dämpfer verpassen. Nach der Vorlesung verabredeten wir uns für Samstagabend für eine kleine Clubtour und er entließ mich mit dem Kommentar: „Ach und zieh irgendsowas wie die Sachen vom Montag an. In den Clubs kann es echt warm werden.“ Ich ersparte ihm und mir eine patzige Antwort über sexistische Franzosen. Baptiste war bei der ganzen Planung außen vor, denn er hatte gleich gesagt, er müsse dieses Wochenende zu einer Familienfeier nach Marseille. Ich kam also Freitag früher nach Hause und machte mich gleich an die Arbeit. Mit deutscher Kleinlichkeit versteht sich. Der Plan wurde erst mit Bleistift vorgezeichnet und dann mit schwarzem Fineliner nachgezogen. Als ich damit fertig war, kam mir die Idee, mit meinem Animationsprogramm noch ein I-tüpfelchen draufzusetzen.

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©lisabethal Wie sich herausstellte, war das allerdings ein nicht halb so aufwendiger Zeitvertreib wie angenommen. Ich brannte eine kleine virtuelle Wohnungsbesichtigung aus der EgoShooter-Perspektive und drehbare Modelle von innen und außen auf eine CD. Schade, dass ich nichts von Ms de Boschervilles Wohnung weiß, dann hätte ich die auch noch digitalisiert, dachte ich in meinem Arbeitseifer. Aber es war erst vier Uhr nachmittags als ich mit den Hausaufgaben für diesen und den letzten Tag fertig war. Und mir wurde sehr schnell langweilig. Ich ging in die Boutique hinunter, sah, dass ausnahmsweise wirklich gar nichts los war und schlenderte zum Atelier. Schon vor der Tür hörte ich Henry und Tom heftig diskutieren. Leise öffnete ich die Tür um mich zwar dazuzugesellen aber nicht gleich mit eingebunden zu werden. Die beiden bemerkten mich wirklich nicht, aber ich sah, dass sich sowohl Annette als auch Chantalle an die hintere Wand verdrückt hatten und dort ebenfalls keinen Mucks von sich gaben. Sie nickten mir zu und ich drückte mich an der Wand entlang in ihre Richtung um nicht in den gefährlichen Disput der beiden Männer in der Raummitte zu geraten, die sich gerade über die Tragbarkeit irgendeiner Musterung, die ich nicht erkennen konnte, lautstark stritten. Ich fragte Chantalle mit den Augen, um was es ging. Sie bewegte ihre Finger auf dem roten Stoff ihrer Bluse wie zwei Beine. Oha, Mme C***‘s Abendgarderobe also. As konnte wohl dauern. Die beiden Frauen schienen es ähnlich zu sehen. Mir war immer noch langweilig. Das hier auszusitzen ohne mitstreiten zu müssen, war nicht besonders produktiv. Da kam mir ein Problem in den Sinn, dass ich schnell lösen musste und genau die richtigen Leute zur Bewältigung ne110

©lisabethal ben mir hatte. Ich tippte Annette und Chantalle auf die Schulter und nickte in Richtung Tür. Draußen angekommen, fragte ich sie dann: „Habt ihr Zeit?“ „Sieht so aus“, antwortete Annette. „Würdet ihr mir bei was helfen?“ „Klar!“, kam es im Chor. „Ich hab mich nämlich mit einem Kommilitonen am Samstagabend zu einer Clubtour verabredet und jetzt nicht wirklich Ahnung, was ich da jetzt genau anziehen soll.“ Die beiden blickten sich verschwörerisch an, dann grinsten sie. „Aber sicher“, lachten sie. „Komm nur mit.“ Und schon zerrten sie mich in Richtung Lagerraum. Was dann dabei herauskam, war so ziemlich das gewagteste und auf reizendste, das ich so im Schrank würde hängen haben. Ein Korsett aus rot-goldenem Brokat mit einem sehr großzügigen Herzausschnitt und so hauteng, dass ich meine sonstige Bauchatmung einstellen und auf Brustatmung umsteigen musste. Es bedurfte nicht einmal vieler Änderungen. Dann drückte Chantalle mir einen schwarzen festeren Strech-Jersey und einen 38er Konfektionsschnitt für eine Röhrenhose in die Hand. Genug Arbeit also für den Rest des Tages und in den Details auch für morgen. Mir schwebte für den Bund und die Taschen der Hose nämlich schon eine Goldstickerei vor, die ich allerdings so gut würde erarbeiten müssen, dass die Stickmaschine, diese auch wie gewünscht wiedergab. Das computergestützte Ding war nämlich wahnsinnig kleinlich. Dann kam mir noch, dass ich ein Täschchen für den Abend brauchen würde und ich fragte Annette nach einer Anleitung für eine Clutch. Schlussendlich war am Samstagnachmittag alles fertig und ich machte mich noch ans Geldausgeben, denn ich hatte alle möglichen Schuhe nur keine passenden Highheels. Die wa111

©lisabethal ren nach zwei Stunden zu einem annehmbaren Preis auch gefunden. Fünf vor neun war ich dann fertig und fuhr mit der Metro zum abgemachten Treffpunkt. Mit perfekter Pünktlichkeit kam ich dort an. Domenic kam fünf Minuten später, ganz profan in Jeans und schwarzem Hemd. Ich selbst hatte über das Korsett noch eine schwarze Sergant-Pepper-Jacke mit Goldknöpfen geworfen. Noch eines der Teile, die ich in Deutschland genäht hatte. Bewundernd pfiff Domenic durch die Zähne. „Du siehst umwerfend aus, Nell!“, konstatierte er. „Na dann. Bevor du in Komplimenten versinkst, sollten wir lieber los.“, feixte ich. Wir zogen an diesem Abend/Nacht durch fünf Clubs und ich überraschte Domenic damit, dass mir der lauteste und rockigste der Läden am besten gefiel. Was ihn allerdings ärgerte, war, dass ich am ganzen Abend nur zwei Drinks mit Alkohol bestellte, diese dann sehr vorsichtig trank und mich ansonsten an Cola hielt. Noch mehr brachte ihn auf die Palme, dass ich mir von ihm nichts zahlen ließ, gar nichts. Nicht den Eintritt und kein einziges Getränk. Dass ich permanent nach meinem Ausweis gefragt wurde, ärgerte dann wiederum mich und Domenic fand es zum Schreien komisch. Zwei der Clubs waren furchtbar, total überfüllte Hip-HopSchuppen für kleine Möchtegern-Gangster. Einer spielte französische Popmusik, war ansonsten recht gemütlich, aber gar nicht tanzbar. Fazit für den: zum Rumhängen nett, zum flirten nicht. Die anderen beiden waren echt in Ordnung, einer spielte House, Techno und Dancefloor und machte mit seiner riesigen Tanzfläche echt Spaß. Der andere würde mein Lieblingsladen. Ein bisschen düster, gemütlich, nicht zu überfüllt und sehr Rock, Metall, Punk lastig. 112

©lisabethal Domenic und ich lachten viel, auch wenn die Unterhaltung eigentlich sehr seicht war. Mehr als einmal ertappte ich ihn, wie er mich anstarrte, aber ich sagte nichts. Irgendwann gegen vier Uhr früh kam ich dann nach Hause mit schmerzenden Füßen und noch die Musik im Ohr. Und kaum war ich ausgezogen, da schlief ich auch schon. *** Wieder war ich mit Charles und Florence in Silvane. Und wie schon am Wochenende zuvor grenzte mein Verhalten an Völlerei. Aber weder Charles noch die sonst so leicht besorgte Florence sagten etwas Kritisches. Dann kam ich nach Hause, so übervoll, dass mir richtig gehend schlecht war und bearbeitete die gestellten Aufgaben. Alles Kleinigkeiten. Noch während ich arbeitete ergriff mich eine seltsame Vorfreude für den nächsten Tag, obwohl ich nicht genau hätte definieren können oder wollen worauf ich mich freute. In diesem Überschwang setzte ich mich ans Klavier und spielte drauf los. Erst später, nachdem ich geendet hatte, wurde mir klar, dass ich einen sehr spritzigen Walzer auf die Tasten gebracht hatte und verblüfft sah ich, wie Charles und Florence noch immer im Walzertakt und das sehr schnell durch die große Halle tanzten. Als sie mich erblickten, blieben sie stehen. „Warum spielst du nicht weiter?“, fragte Florence und der Schalk blitzte aus ihren sonst so ruhigen Augen. Beinah hätte ich gesagt „Deswegen“, aber ich schwieg. Irgendetwas in mir sang noch immer im Dreivierteltakt von Übermut und Vorfreude. Ich tat diese Nacht kaum ein Auge zu, aber das schien meiner seltsamen Hochstimmung keinen Dämpfer zu geben. Es

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©lisabethal regnete als mein Wecker klingelte aus bleigrauen Wolken und ich freute mich darüber. Ich sang sogar vor mich hin. An diesem Tag, glaubte ich, mich wirklich wie ein ganz normaler junger Mann benehmen zu können. Ich würde scherzen und mit ihr Lachen und ihr zeigen, dass ich eine gute Gesellschaft sein konnte. Ich tat sogar etwas, das ich sonst gänzlich mied. Ich stellte mich vor einen mannshohen Ankleidespiegel und lächelte mein schwarz gekleidetes Spiegelbild an. Und nicht das Schreckgespenst meiner Jugend lächelte mir mit entstellten Lippen entgegen, sondern ein junger Mann mit einem klassisch schönen Gesicht, mit gerader Nase und dunkelbraunen Augen, die nicht eingesunken und ungleichmäßig in ihren Höhlen lagen, sondern frisch und lebendig wie das blühende Leben strahlten. Was war nur mit mir los? Nein, ich wusste, was los war. Ich kannte das Gefühl, jedenfalls in seinen Ansätzen, aber wirklich wahr haben wollte ich es nicht. Ich kannte die Folgen. Und diese waren immer katastrophal gewesen. Also würde ich einfach weitermachen wie bisher und so tun, als hätte ich keine Ahnung und das Gefühl genießen. *** Ich stand am Montag pünktlich auf, die Clubtour hatte, Gott sei Dank, keine längeren Nachwirkungen. Allerdings kribbelte etwas in mir, als ich mich vor den Spiegel stellte. Es war eine seltsame Vorfreude und eine gewisse Art von Stolz. Domenics Clubtour hatte mir nämlich mehr gebracht als nur einen netten Abend und etwas Lokalorientierung im Pariser Nachtleben. All die bewundernden Blicke der Männer und manchmal auch Frauen waren mir durchaus aufgefallen, auch wenn ich sie nicht extra kommentierte. Aber 114

©lisabethal diese Art von Blicken gab einem wahnsinnig Selbstvertrauen. Es zeigte jemanden, der sich sonst eher selbst als graue Maus sah, dass er wirklich schön sein konnte. Und es kribbelte meinen ganzen Körper entlang, weil ich es auch Ms de Boscherville beweisen wollte, dass ich schön sein konnte. Allerdings lief es mir zuwider das gleiche Outfit wie am Samstag zu tragen. Es würde hier nicht passen, käme mir fast schon nuttig vor. Und diesen Eindruck wollte ich definitiv nicht machen. Was also anziehen? Klein-MädchenSchuluniform-Stil mit Faltenmini? Zu kalt. Es regnete und der Wind pfiff um die Häuser. Selbst mit Strumpfhose noch zu kühl. Meine engste Jeans, ziemlich dunkelblau und wirklich sehr hauteng, eine lange aber ebenfalls relativ figurbetonte Bluse, aufgeknöpft bis aufs Dekolleté und eine dunkelblaue Strickweste, auch modisch länger geschnitten und darüber meine Neoprenjacke. Ich hatte aus meinem Fehler gelernt. Allerdings zog ich dazu Stöckelschuhe an, nicht diese extrem hohen vom Samstag, bei denen schon einfaches Laufen zur balancetechnischen Höchstleistung wurde, sondern 6cm-Pumps aus grauen Kunstleder und ringsum geschlossen, passend zum Wetter. Zwar waren Neopren und klassischer Frauenschuh eine zugebenermaßen seltsame Kombination, aber hier in Paris würde sich niemand daran stören. Meine Aufgaben waren gemacht und mussten nur noch unterschrieben werden. Ich hatte am Sonntag in einer Art kleinen Paranoia alles nochmal durchgesehen, nachgerechnet und die Zeichnungen nachgemessen. Alles war penibel schön geschrieben und kein Blatt hatte ein Eselsohr. Ich wollte, dass Ms de Boscherville sah, dass ich arbeitswillig war und sich freute, dass ich mit ihm arbeitete und ich wollte auf keinen Fall sehen müssen, dass er so litt wie donnerstags oder freitags. 115

©lisabethal Ich war – dank deutscher Überpünktlichkeit und mittlerweile etwas Erfahrung mit dem hiesigen Nahverkehrssystem – zwar tropfnass (verflixter Regen) aber wenigstens die erste im Raum. Der war sogar schon geheizt und ich hängte meine Jacke zum Trocknen über einen der Heizkörper und setzte mich hinten links. *** Regen hatte mich noch nie gestört, außer er wurde auf einer Baustelle so stark, dass man die Arbeit einstellen musste. Und so störte es mich auch heute nicht, dass ich ohne Schirm zu Fuß unterwegs war. Mein Mantel war schwer vom Wasser, als ich das Unigebäude betrat. Und sofort registrierte ich auch, dass sie bereits da war. Ein Schwall an glücklicher Erregung schoss durch mich hindurch. Ich lächelte. Ich lächelte auch immer noch, als ich den Raum betrat und nur sie dort vorfand. Sie wandte sich um, als sie die Tür hörte. Sie lächelte. Nicht als Reaktion auf meines, glaube ich, sondern einfach, weil ich es war, der da durch die Tür trat. Gott! Was für eine unrealistische Vorstellung? Wie kam ich nur auf sowas? Ich musste ja noch regelrecht betrunken sein. Sie war nur normal freundlich zu mir, weiter nichts. Und es gehörte eben heute zum normalen Repertoire jemanden anzulächeln, wenn dieser den Raum betrat. Oder? Ich überlegte. Nein, sie lächelte nicht jeden gleich an, den sie kannte, manche bekamen nur ein Nicken oder einen Blick. Durfte ich mir also jetzt darauf etwas einbilden? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber das Kribbeln in meinen Adern blieb. Das Hochgefühl – Glück wollte ich es noch nicht nennen, denn jemand wie 116

©lisabethal ich verdiente eigentlich kein Glück – bestand weiterhin und machte mich leichtsinnig. Ich setzte mich genau neben sie, keine halbe Armlänge von ihr entfernt. Ein kleiner, vernuftbegabter Teil von mir fragte mich eindringlich und nervtötend penetrant, ob ich verrückt geworden war. Und ich antwortete mit voller Überzeugung: „Ja, aber es ist mir gleichgültig.“ Denn sie lächelte, nein, strahlte mich immer noch an; und ich? Ich strahlte zurück, zu berauscht um etwas anderes tun zu können. *** Er setzte sich neben mich und lächelte immer noch. Es ging ihm wirklich sehr viel besser als vor dem Wochenende. Unter seinem Lächeln begann mein Herz zu klopfen, erst in normalen Maß, dann als wolle es meinen Brustkorb sprengen. Der Mann war viel zu schön um erlaubt zu sein, vor allem wenn er wie jetzt lächelte. Erzengel können bestimmt nicht besser aussehen. Ohne all die Bitterkeit und den Schmerz wirkte er regelrecht übermenschlich. Und ich wurde neben ihm immer nervöser, da ich mich fragte, ob jemand so schönes neben sich überhaupt etwas anderes als schön würde gelten lassen. Ob ihm wohl das Gleiche auffiel, wie den Männern in den Clubs. Irgendwie bezweifelte ich das. Und dieser Gedanke brach dann den Bann seines Lächelns, der mich wie einen Idioten hatte sprachlos dasitzen lassen. „Guten Morgen! Schön zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht!“ „Oh, ähm“, er schien überrascht, fast so als wäre auch er ein bisschen gebannt gewesen. „Guten Morgen! Vielen Dank! 117

©lisabethal Wie war Ihr Wochenende?“ Das klang ernsthaft interessiert. „Ziemlich in Ordnung“, antwortete ich. „Ich hab meine Lokalorientierung noch ein bisschen verbessert. Und ich hab alle Aufgaben fertig und abgabebereit, Sie müssen nur noch unterschreiben. Naja, mit Ausnahme Ihres Wohnungsplans natürlich.“, setzte ich noch hinzu. Sein Lächeln wurde breiter. „Den kann ich dafür vorlegen. Kamen Sie denn mit allem zurecht?“ Das klang immer noch ehrlich interessiert und auch nicht herablassend. Seine gute Laune war klasse. Wie nur hatte ich den Mann je nicht mögen können? „Sie meinen, ob ich die Aufgaben schwierig fand? Nein, an sich nicht. Eher lebensgefährlich.“ Verblüfft sah er mich an, mit hochgezogenen Augenbrauen und aufgerissenen dunkelbraunen Augen. „Ich wäre beim Ausmessen einer meiner Gauben fast von der Leiter gefallen.“, grinste ich ihn an. Nur damit ich sicher ging, dass er verstanden hatte, dass es ein Scherz war. „Dann sollten Sie beim nächsten Mal für solch hochriskante Aufgaben lieber Hilfe einholen.“, lachte er zurück. Es war ein sehr angenehmes Gefühl neben diesem Mann zu sitzen und ihn mit seinem himmlischen Gesicht auf mich herab lachen zu sehen. Trotzdem schlug mein Herz immer noch wie ein Schmiedehammer. Ich fragte mich, ob ich mich wohl auf Mathe würde konzentrieren können, wenn er so neben mir saß. Wir schwiegen beide etwa eine Minute und jeder von uns schien eigenen Gedanken nachzuhängen. Es war kein unangenehmes Schweigen. Seltsamerweise war ich jetzt davon überzeugt, dass wir uns auch ohne Worte verstanden. Das Eis war gebrochen. Und ich würde alles dafür tun damit es so blieb.

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©lisabethal *** Ich saß bei ihr, sog ihren Geruch ein, der sich im Raum verteilte und lachte mit ihr. Ich war bestimmt verrückt, das hier zu machen, aber es war zu angenehm um damit aufzuhören. Wärme flutete durch mich, stieg mir zu Kopf wie zu viel Wein und machte mich trunken und leichtsinnig. Aber es war ein so schönes Gefühl, dass ich es nicht mehr missen wollte. Es war fantastisch mit ihr allein in einem Raum zu sein und nichts weiter wahrnehmen zu müssen als sie. So oft wie möglich, schwor ich mir. So oft wie möglich wollte ich so bei ihr sein. *** „Sie scheinen keine so lebensgefährliche Wohnung zu haben, Monsieur. Oder liegt das an meinem mangelnden Gleichgewichtssinn?“, scherzte ich. „Ich habe wirklich keine Gauben in der Wohnung, falls Sie das meinen. Allerdings sind bei mir alle Räume fast vier Meter hoch.“ „Mon Dieu!“, entfuhr es mir. Der Kerl wohnte also in einem dieser absolut unbezahlbaren Altbauten. „Dann müssen Sie mir unbedingt ihr Geheimnis verraten.“, lachte ich, aber er sah mich so erschrocken an, dass ich schnell zur Erklärung hinzusetzte: „Wie man es schafft nicht von einer so hohen Leiter zu fallen.“ Es schien fast so, als wäre er über meinen Zusatz sehr erleichtert. Aber ich sagte dazu nichts weiter. Er lachte auf und auch das klang ehrlich. „Um ehrlich zu sein, hatte ich jemanden der die Leiter gehalten hat.“

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©lisabethal „Aha, externe Hilfe und Arbeitsteilung, das Ah und Oh jeden Prozesses.“, scherzte ich zurück. „Stimmt!“ Es war ein wenig schwierig die Konversation am Laufen zu halten; es schien, als sei er es nicht gewöhnt, dass sich jemand länger mit ihm unterhalten wollte. „Sie haben letzte Woche gesagt, Sie seien gut in Mathematik.“ Er nickte. „Wie gut?“ Das überraschte ihn jetzt. „Wie meinen Sie das?“ „Naja, wie fanden Sie denn zum Beispiel die Aufgaben letzte Woche in der Vorlesung?“ „Die paar –“ , ich nehme mal an das Wort, das jetzt kam hieß so etwas wie Kinkerlitzchen, „Die waren ja noch nicht mal eine Aufwärmübung. Das war doch alles mehr als offensichtlich.“ Er meinte es ernst, ohne jede Angeberei. Das konnte man aus Stimme und Gesicht ablesen. „Ui, klasse“, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte hier also ein waschechtes Genie sitzen. Das würde, so dachte ich ironisch, den Umgang sehr erleichtern. „Wunderbar, dann können Sie mir das Kauderwelsch des Herrn übersetzen. Ich hatte zum Teil wirklich Probleme mit seiner Aussprache. Da war das eigentliche Mathematische Nebensache, bis ich verstanden habe, was er da vorne brabbelt.“ Erik lachte. „Kein Problem, in welche Sprache hätten Sie es denn gerne übersetzt? Russisch, Arabisch, Italienisch?“, scherzte er. „Verständliches Französisch würde mir ehrlich gestanden reichen.“, lachte ich zurück. „Aber jetzt ernsthaft, Sie sprechen nicht all diese Sprachen so gut um dieses Mathe hier mit zu übersetzen, oder?“ Ich sollte nie erfahren, ob er sie wirklich sprach. Domenic war hereingeschneit und unterbrach uns rüde. 120

©lisabethal „Höre ich da gerade, der Monsieur kann Mathe übersetzen? Bon, dann kann er es eigentlich gleich der ganzen Reihe zukommen lassen.“, gab er mit einem nicht ganz echtem Lächeln von sich als er zu unserer Reihe marschierte. Vor uns angekommen fuhr er fort: „Aber ich hätte nicht gedacht, dass du Hilfe in Mathe brauchst, petite cherie. Du scheinst es ja noch am besten zu verstehen.“ Sonst war ich ein höflicher Mensch. Aber mich vor Erik de Boscherville „petite cherie“ zu nennen und das ohne jede Grundlage meinerseits war zu viel. Und das sagte ich ihm auch. „Ich weiß ja nicht, ob du deinen Rausch vom Samstag noch nicht auskuriert hast, Domenic. Aber für „petite cherie“ reicht einen Abend mit mir um die Häuser zu ziehen nicht. Verstanden?“ Domenic sah aus als hätte ich ihm ohne Vorwarnung eine Ohrfeige verpasst. Falls die Verteilung von solchen Kosenamen nach einer Woche Bekanntschaft hier so üblich war, tat es mir leid. Aber in Deutschland hätte mich auch niemand „Schatzi“ nach einer Woche gerufen. Und bei Tom und Henry wusste ich, dass alle weiblichen Mitarbeiter mit „ma chère“ angeredet wurden, wenn gerade was besonders gut lief. Aber davor hatte mich Tom vorgewarnt, ich solle es nicht übel nehmen. Und so wenig begeistert über Domenics Ausspruch wie ich, schien auch Ms de Boscherville. „Gut, ich dachte schon, der Monsieur hätte mehr Pluspunkte sammeln können als ich, dass er Ihnen gar so nahe stünde.“, sagte er mit eisiger Stimme und einem sehr säuerlichen Lächeln Richtung Domenic. Und mit einem Mal, war ich mir sicher, Ms de Boscherville hätte Domenic mal ganz beiläufig für seine unüberlegte Rede erwürgt, wäre ich nicht dazwischen gesessen. 121

©lisabethal Allerdings klang in dem, was er gesagt hatte, auch ein Vorwurf an mich durch, wie ich fand. Und das war unfair. Ich hatte ja gar nichts getan. Ich… Halt! Wenn Ms de Boscherville sauer war, dann hieß das doch – Meine Gedanken überschlugen sich. Dann hieß das, dass er eifersüchtig auf Domenic war. Und eifersüchtig konnte man nur sein, wenn jemand Bedeutung für einen hatte. Schlussfolgerung: Ich bedeutete meinem Arbeitspartner genug, dass er eifersüchtig darauf reagierte, wenn jemand ebenfalls Anspruch auf meine Zuneigung erhob und ihn dann dabei überflügelte. Egal ob gerechtfertigt oder nicht. Domenic sah gleichzeitig betreten und triumphierend drein. Mal sehen, ob ich letzteres von seinem Gesicht fegen konnte. Mit diesem Ziel wandte ich mich an Erik de Boscherville. „Ich kann mich wirklich nur über Domenic wundern und mich für ihn entschuldigen. Offensichtlich hat ihm die Verzweiflung über sein Unverständnis der einfachsten mathematischen Zusammenhänge so sehr den Verstand vernebelt, dass er glaubt, sich mit Anmaßungen profilieren zu müssen.“ Allen Sarkasmus und alle Böswilligkeit legte ich dabei in meine Stimme. Es wirkte, Domenic war am Boden zerstört. Erik de Boscherville schien aber immer noch angefressen. Die Bitterkeit der letzten Woche kehrte in seine Züge zurück. Ein so wundervoller Anfang total zerstört. ***

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Kapitel 10: Der Wiederaufbau von Ruinen Ich hätte nicht gedacht, dass so ein impertinenter kleiner Wurm, wie dieser Domenic, meine wundervolle – wenn auch gefährliche – Hochstimmung so mit ein paar Worten zerschlagen konnte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach so langer Zeit noch zu so etwas wie Eifersucht fähig war. Aber ich war es. Ich war verletzbar und es reichte so eine Kleinigkeit, damit ich es war. Sie hatte mit diesem Jungen Zeit verbracht. Auch wenn sie jetzt von ihm wegrutschte und ihn böse ansah – was ich ihm sehr gönnte -, sie hatte mit ihm mehr Zeit verbracht als mit mir. Sie war mit ihm tanzen gewesen. Tanzen! Nie würde ich einer Frau zumuten mit mir tanzen zu gehen. Mich den ganzen Abend dicht an dicht mit ihr zu bewegen. Nein, zum Wohle der Frau, nein! Aber allein, dass er es konnte, machte mich neidisch. Dass er es getan – wirklich getan hatte – nach nur einer Woche flüchtiger Bekanntschaft, machte mich rasend. Wenn ich in diesem Zustand war, waren schon Leute durch meine Hand gestorben. Allein dass sie dazwischen saß, rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Zu meinem noch größerem Ärger sah ich dann, wie sie sich zu ihm hinüberlehnte, nein eigentlich eher er zu ihr. Ich spitzte die Ohren. Er flüsterte: „Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ Sie zurück: „Das gleiche wollte ich dich fragen. Wie kommst du dazu mich „petite cherie“ zu nennen?“ Er, etwas betreten: „Mir war halt so danach. Außerdem was ist dabei?“ Sie zurück, ärgerlich: „Du hast genau gewusst, wie er reagieren würde, oder jedenfalls hat du’s gehofft. Du wolltest, dass er von mir abrückt. Das hast du ja jetzt geschafft. Eine

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©lisabethal ganze Woche Arbeit am guten Arbeitsklima ist für die Katz, du Vollidiot.“ Er zurück, im Echo: „ „Gutes Arbeitsklima“?“ Sie: „Ja, was sonst. Endlich wär er mal aufgetaut, da zerschießt du alles. Endlich hätte er mehr als nur das allernötigste mit mir geredet, da ruinierst du jede Vertrauensbasis. Denkst du etwa, du hättest irgendein Anrecht? Falls ja, dann hast du dich geschnitten. Und Mathe erkläre ich dir hinterher auch nicht mehr. Dank dir hab ich genug zu tun die Ansätze und Terme aus dem unverständlichen Gebrabbel da vorne herauszufiltern.“ Sie drehte sich mit Schwung von ihm weg, soweit sie eben konnte ohne an mich anzustoßen. Selbst wenn sie ärgerlich war, dachte sie noch an meine Bitte. Ich saß hier buchstäblich in der Falle, emotional gesehen. Einerseits wusste ich, dass ich ihr genug Abstand geben musste, damit ich für sie keine Gefahr darstellte, andererseits aber hätte ich diesen kleinen Menschenwurm am liebsten langsam und genüsslich erwürgt. Immer wieder blitzte in meinem Kopf das Bild auf, wie ich kurz den Arm um ihre Schulter legte, um an ihn heranzukommen und ihn dann mit einer kurzen Handbewegung das Genick brach. Nadir hätte nie mehr ein Wort mit mir geredet, hätte er es gesehen. Also blieb es bei der Vorstellung. Aber noch etwas anderes nagte an mir: die Frage, ob sie wirklich nichts für ihn empfand. Sie hatte ihn gemaßregelt, ja. Aber sie war auch mit ihm tanzen gewesen. Was sollte ich jetzt glauben, ihre Ablehnung oder ihre Zuneigung? Oder war es heute normal für junge Mädchen mit einem jungen Mann tanzen zu gehen, ohne irgendwelche Hintergedanken? *** 124

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Die Situation war total außer Kontrolle geraten. Jetzt schmollten nämlich beide. Baptiste und Anita kamen, sahen das beide Männer neben mir wütend waren und warteten offenbar auf eine Erklärung von mir, als sie sich in die Reihe vor uns setzten um sich besser mit mir unterhalten zu können. „Was ist denn los, Nellie?“, fragte Baptiste. „Außer dass Domenic sein Vokabular an Kosenamen nicht an mir ausprobieren sollte, gar nichts.“, gab ich zurück. „Oh, Mann. Hast du mal wieder versucht zu flirten, Alter? Du weißt doch, dass es immer nach hinten losgeht, Alter. Lern’s doch endlich mal!“ Anita warf einen fragenden Blick in Richtung meines anderen Nachbarn, aber ich zuckte lediglich mit den Schultern. Daraufhin nickte sie verstehend, zwinkerte mir zu und beließ es dabei. Ich warf Erik de Boscherville einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu und sah, dass sich Verbitterung, Qual und eine seltsame Art Unsicherheit in seinem Gesicht abzeichneten. Nur noch Ruinen seiner vorherigen guten Laune. Ich plauderte mit Baptiste und blendete Domenic demonstrativ aus. Irgendwie glaubte ich, dass Erik meinem Gequatsche genau zuhörte, aber er ließ keine Reaktion auf meine Aussagen aufblitzen. Innerlich seufzte ich und verfluchte Domenic. Wie sollte ich jetzt mit Erik umgehen? Versuchen ihn ins Gespräch einzubeziehen? Oder ihn einfach in Ruhe lassen? Hilflos sah ich zu Anita. Und die quirlige Österreicherin sprang ein. Gott sei Dank! „Monsieur de Boscherville?“ Verblüfft sah Erik auf. „Haben Sie den Professor letzte Woche verstanden?“

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©lisabethal Er zog eine Augenbraue hoch, schien offenbar nicht ganz glauben zu können, ob sie sich jetzt wirklich mit ihm unterhalten wollte. „Ja.“ Weiter antwortete er nicht. Anita war mir einen verzweifelten Blick zu. Diesmal sprang ich ihr bei. „Naja, Anita. Es können halt nicht alle Geburtsfranzosen sein. Das wäre hier dann so ähnlich, wie wenn wir in Kiel bei einer Vorlesung unseren Dialekt reden würden.“ „Dialekt?“, echote Baptiste. „Cool. Redet mal! Ich hatte mal Deutsch in der Schule. Mal sehen, wie viel ich verstehe.“ Ich wusste Erik sprach Deutsch. Jedenfalls hatte er mir Indizien für diesen Schluss gegeben. Und ich glaubte, er konnte es besser als Baptiste. Ich erinnerte mich an „Kirchenschiff“. Neugierig sah mich Anita an und begann in schönstem Wienerisch. „Iatz, sog! Wos hodda ong’steyd, da Domi?“ Ich zurück in tiefstem Niederbayrisch: „Der hod an andern extra eifasüchtig g’mocht. Hod mi dea Depp ned aggrat „Schaztl“ gnennt. Und des grod, wei a mid mia furt woa. Und iatz si ma da ander a eigschnappt. Aba do wa nix. Außa dass i an Domi mit einem mords Surri in a Daxi bugsiert hob, hob i den di ganze Tour net amoi o’glangt.“ „Na gehst, na herst! Sowos! Und na redt der so an Blempfe zam. Oba mei, des sand hoid d’Franzos’n.“ „I woas ned recht. Es geht ja anders a.“, schloss ich mit einem Nicken in Baptistes und Eriks Richtung. „Scho, scho.“, stimmte mir Anita zu. Baptiste hatte offensichtlich kaum ein Wort verstanden. „Und das soll Deutsch gewesen sein?“, fragte er uns. „Das klang eher nach Russisch oder Chinesisch aber niemals war das Deutsch.“

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©lisabethal „So jetzt weißt du, wie es uns mit dem Matheprof geht.“, versetzte Anita. Domenic sah mich etwas schuldbewusst an, sagte aber nichts. „Zu deiner Info, du wurdes gerade für dein sehr höfliches Betragen gelobt.“, schmunzelte ich. Dann warf ich Ms de Boscherville einen kurzen Blick zu. Er schien nicht mehr ganz so angefressen zu sein. Wenigstens etwas. *** Offensichtlich war sie wirklich empört über Domenics Betragen. „Depp“ war ja jetzt nicht gerade eine sehr feine Bezeichnung. Also konnte ihre Zuneigung nicht so weit reichen. Und anscheinend war ich wirklich sehr überholt in meinem Vorstellungsbereich, was sich für junge Mädchen geziemte. Es schien wirklich ganz normal mit einem Bekannten tanzen zu gehen. Auch wenn dieser männlich war und keine Anstandsdame dabei. Das schien offenbar für niemanden Grund zur Sorge zu geben. Außerdem war das letzte Mal, als ich eifersüchtig wurde eine Katastrophe passiert. Das durfte sich nicht wiederholen. Ich atmete durch. Wahrscheinlich hatte ich schlichtweg überreagiert. Der Raum füllte sich. Zuviele Leute auf kaum genug Platz. Meine Wut begann abzuklingen. Aber das brachte einen anderen Impuls zutage. Meine Sehnsucht nach Nähe, nach Berührung. Gar nicht gut. Als dann der Dozent eintrat, stellte sie ihre Unterhaltung mit Anita ein. Dieser begann ohne große Umschweife dort, wo er letzte Stunde beendet hatte und langweilte mich damit tödlich. Immer wieder sah ich zu ihr hinüber, ich hatte ja sonst so gut wie nichts zu tun. Am Anfang sah es so aus, als hätte sie gar nicht so schlimme Probleme. Aber der Mann 127

©lisabethal redete wirklich undeutlich und ließ den beiden Deutschsprachigen kaum Zeit sich zusammen zu konstruieren, was er da von sich gab. Zudem schrieb er wenig an die durchaus vorhandene Tafel. Kurz spechtete ich auf ihre Aufzeichnungen und sah prompt, wie sie ansetzte einen mathematisch gravierenden Fehler zu schreiben. Und ich Vollidiot hielt mich nicht auf. Ich hätte es ihr auch im Nachhinein im Arbeitszimmer sagen können, aber ich gab hier gleich dem Berührungsdrang nach. Sanft stupste meine linke Zeigefingerkuppe gegen ihren rechten Handrücken. Elektrizität und Hitze fuhren durch mich durch. Aber es war unglaublich schön. Glück flutete mich. Keine Droge auf der Welt hätte so schnell eine solche Wirkung haben können, wie diese Berührung. Aber ich hatte nicht genug Zeit den Rausch ganz auszukosten oder mich zu fassen. Sie drehte sich zu mir, mit dem verblüfftesten Gesichtsausdruck. Offensichtlich überrascht, dass ich meine eigene Regel brach. Mit meinem Stift deutete ich auf die besagte Stelle, schüttelte den Kopf und wies dann auf meine fertige Form der Gleichung. *** Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass er mich berührte. Sein Finger war angenehm kühl und es fühlte sich ein bisschen wie ein elektrischer Schlag an. Was konnte so wichtig sein, dass er seine eigene Regel brach? Ich drehte mich zu ihm um. Er deutete mit seinem Kugelschreiber auf mein Blatt, wo ich gerade eine Gleichung aufschreiben wollte, so wie ich glaubte sie aus dem Kauder128

©lisabethal welsch des Professors herausgehört zu haben, und schüttelte dann kurz aber vehement den Kopf. Dann wies er auf seine. Mein Fehler sprang mir sofort ins Auge und ich korrigierte ihn schnell. Daneben schrieb ich ein „Merci“ an den Rand. Außerdem warf ich ihm einen kurzen Blick zu, um seine Reaktion beobachten zu können. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Der Aufbau der Grundmauer hatte also begonnen. Und er schien fortzuschreiten, denn immer wieder tippte er mir mit dem Stift gegen den Handrücken, wenn ich etwas falsch verstanden hatte. Und ich bedankte mich auf immer die gleiche Weise. Kurz vor Ende der Vorlesung bei einem recht schwerwiegenden Missverständnis schrieb ich dann: „Merci! Wenn ich wüsste, dass Sie Kaffee trinken können würde ich Ihnen einen spendieren. Oder sonst etwas. Ohne Sie wäre ich aufgeschmissen.“ Ich wandte den Kopf um seine Reaktion zu sehen. Er lächelte breit und schrieb nun seinerseits, mit seiner seltsam krakeligen Schrift: „Leider kein Kaffee. Aber ich verstehe durchaus, was Sie meinen. Merci“ Ich strahlte ihn an, ehe ich mich wieder auf die Mathematik konzentrierte. *** Während der anschließenden Übung, in meinen Augen verschwendete Zeit, summte sie etwas, das Anklänge von Swing in sich trug. Allerdings war ich mit diesen neuartigen Musiktypen zu wenig vertraut, als dass ich ein Lied hätte ausmachen können. Ich würde sie also danach fragen müssen. Unser kleines Schreibgespräch verlief sich allerdings im Sande, da sie jetzt, da es der Assistent des Professors erklärte, alles wieder vollkommen im Griff hatte. 129

©lisabethal Diesmal war ich der erste im Arbeitsraum, die Aufgaben für die Mathematik alle kleinschrittigst bearbeitet und abgabebereit. Ihr Lächeln, als sie den Raum betrat, war wie Sonnenschein für mich. Und ich lächelte schüchtern zurück. „Und? Jetzt bin ich aber auf ihre Wohnung gespannt.“, lachte sie mit neugierigem Schalk in den Augen. „Ich auch.“, grinste ich zurück. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich ein solches Grinsen im Repertoire hatte. „Vor allem, weil sie ja gar so lebensgefährlich scheint.“ Sie lachte. Und ich verging regelrecht. Was war nur mit dem Mädchen los, dass es meine so sorgsam um mich herum aufgestellten Mauern einfach einriss, sie einfach weglächelte? Vielleicht lag es daran, dass sie in meiner Gegenwart lächelte. Und ihre Freundlichkeit wie radioaktive Strahlung wirkte, die alles durchdrang. *** Er lächelte. Montags war anscheinend wirklich ein guter Tag. Ich reichte ihm meine Pläne. Er nickte und gab sie mir wieder. „Sehr gefährlich,“ grinste er. „Ganz viele furchtbare Gauben mit Absturzgefahr.“ „Ja“, grinste ich zurück. Eigentlich hatte ich noch etwas Scherzhaftes hinzufügen wollen, aber ich kannte - mal wieder – das französische Wort dafür nicht. „Und Ihre?“, setzte ich also notgedrungen hinzu. Er reichte mir ein großes Papier. „Mon Dieu. Das ist ja ein halber Palast.“, entfuhr es mir da und er lächelte wieder. 130

©lisabethal „Mit Nichten. Aber etwas größer als Ihre schon.“ „Sie scherzen.“, gab ich zurück, während ich einen Schnellhefter für die Aufgabe beschriftete. Und dann erschreckte er mich derart, dass ich fast die Beschriftung ruiniert hätte. „Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.“, sagte er sehr kleinlaut – flüsterte es fast. Ich sah überrascht auf. „Ich hätte nicht wegen einer solchen Kleinigkeit an dahingesagten Worten so überreagieren dürfen.“ Ich wollte ihm gerade sagen, dass es schon lange verziehen war, da redete er weiter und ich unterließ meine Antwort. „Es hat mich nur geärgert, von Dingen zu hören, die ich sehr gerne tun würde und niemals werde tun können. Das war sehr frustrierend. Bitte verzeihen Sie mir meinen Ärger!“ Er sah ehrlich zerknirscht aus. Wie süß! Ich schmolz dahin. „Schon verziehen.“, lächelte ich. „Ist ja durchaus verständlich.“ *** Ich war verblüfft, wie leicht sie mir verzieh, obwohl meine Wut sie in eine unangenehme Situation gebracht hatte. Es war faszinierend. Sie schien sich durch kaum etwas, das ich tat oder sagte, aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie war wütend auf den Jungen gewesen, aber nicht auf mich. Sehr seltsam. Sehr verwirrend. Sehr … angenehm. Wer hatte mich je schon einfach so genommen, wie ich war? „Wie gefällt Ihnen Ihre Wohnung?“, fragte ich. Gott, wie eingerostet ich in leichter Konversation war.

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©lisabethal „Gut.“, antwortete sie beinah sofort. „Aber um ehrlich zu sein, fehlt mir ein bisschen die Muse um sie schön einzurichten. Es wirkt alles sehr spartanisch.“ Ich hob ein wenig fragend die Augenbrauen, damit sie weiterredete. „Nun ja,“ fuhr sie fort. „Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, was für Gardinen in meine Schlafzimmerfenster sollen. Mir gefällt nichts, es ist zu teuer oder sie passen nicht zum Rest der Einrichtung. „Ahja. Das Leid des guten Geschmacks aber der wenigen Mittel.“, erwiderte ich. Sie lachte. „Stimmt.“ „Wo wohnen Sie eigentlich?“, fragte ich weiter. „Ihre Wohnung könnte ja in der halben Altstadt liegen.“ Erst nachher, nachdem mein verräterischer Mund die Frage gestellt hatte, wurde mir klar, in welche Gefahr ich sie dadurch brachte. Ich würde ihren ungefähren Aufenthaltsort kennen. Das und meine gute Nase reichten um sie zu finden. Nicht auszudenken, wenn ich einmal über mich selbst die Kontrolle verlor. Schnell versuchte ich zurück zu rudern. „Entschuldigen Sie bitte, Miss Archer! Das war eine zu aufdringliche Frage. Es geht mich ja gar nichts an.“ „Nein, nein. War schon in Ordnung.“ Irgendwie schien sie enttäuscht zu sein, dass ich die Frage zurückzog. Sie schrieb weiter die mathematischen Aufgaben ab. Dann sah sie auf. In ihrem Blick lag zugleich Neugier und Scheu. Untrügliche Zeichen dafür, dass sie vorhatte etwas zu fragen, von dem sie nicht sicher war, ob es durch gesellschaftliche Konventionen legitimiert war. Sofort schaltete ich auf Vorsicht. „Kann ich Sie etwas fragen, Monsieur?“ Sehr schüchtern klang sie dabei.

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©lisabethal „So Sie nicht zwingend eine Antwort erwarten.“, entgegnete ich alarmiert. Ihr Gesicht zeigte mir deutlich, dass sie meine Reaktion sowohl verwirrte als auch bestätigte. Dann trat eine Entschlossenheit dazu, die mich überraschte. Was konnte sie so umtreiben, dass sie mich direkt fragte? *** „Warum haben Sie mich in der Vorlesung berührt?“ Er schien überrumpelt. Antwortete nicht. „Ich meine, Sie haben ja jegliche Be…“ Gedankenverloren unterbrach er mich, so als hätte er meinen Nachsatz gar nicht wahrgenommen. „Ich weiß nicht genau. Als Grund kann ich nichts anderes angeben als: mir war danach.“ Nun war es an mir, ihn verblüfft anzustarren. Gott sei Dank, erklärte er weiter. „Sie haben recht, normalerweise bereitet mir jede Berührung Schmerzen. Aber manchmal komme auch ich nicht ganz ohne aus, rein emotional gesehen. Ich will dann nicht so weit von den anderen entfernt sein. Und heute ist einer der wenigen Tage, an denen ich es mir ohne größeren Schaden erlauben kann.“ Das reichte mir als Antwort völlig. Diesmal war es an mir, mich für meine Neugier zu entschuldigen. Er lächelte nur schwach und machte eine wegwerfende Handbewegung. Ich schrieb und wir verfielen beide wieder in Schweigen. Dann fiel mir etwas ein, das ich beinah vergessen hätte. „Entschuldigung, Monsieur! Hätten Sie noch kurz Zeit?“ „Natürlich.“, kam als knappe Antwort. „Ich hatte mir die Mühe gemacht, meine Wohnung auf dem Computer 3-D zu animieren. Möchten Sie es sich vielleicht 133

©lisabethal einmal anschauen. Vielleicht gibt es ja Bonuspunkte, wenn ich es mit abgebe.“ „Nur zu. Zeigen Sie her!“, nickte er nachdrücklich. Ob es wirklich Begeisterung war, die da bei ihm mitschwang, konnte ich nicht sagen. Also klappte ich meinen Laptop auf, und ließ das Video der virtuellen Besichtigung ablaufen. Verblüfft sah er mich an. „Das haben Sie selbst gemacht?“ „Natürlich.“, gab ich fast schon beleidigt zurück. „Ich habe das Programm selber geschrieben. Wenn ich sicher wäre, dass der Korrektor das Ausgabeformat der Animation wirklich wiedergeben könnte, würde ich ihm die ganze virtuelle Umgebung als Map geben. Aber ich glaube, das einfache Video ist benutzerfreundlicher.“ Etwa zehn Sekunden starrte er noch auf den Bildschirm mit dem animierten Treppenhaus. „Wie lange dauerte es, sowas zu erstellen?“, fragte er dann sichtlich beeindruckt. „Kommt auf die Größe des Gebäudes und die strukturelle Komplexität an. Und ob ich alle Daten für Winkel und das alles habe. Das,“ ich deutete auf den Bildschirm, „hat knapp eine Stunde gedauert. Aber da war die Zeit, bis ich es geschafft habe ein Video zu konvertieren mitgerechnet.“ „Für meine Wohnung?“, präzisierte er sein Anliegen. „Puh!“, entfuhr es mir. „Äh… vielleicht zwei Stunden. Ihre Wohnung ist sehr groß und sehr komplex. Außerdem kenne ich die Lage der Wohnung im Resthaus nicht.“ Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen, wie ein Brennen. Ein Ausdruck, den ich nie zuvor an jemandem wahrgenommen hatte. Interesse, Leidenschaft, grenzend an Besessenheit – Passion nannte man sowas wohl. „Zwei Stunden sagen Sie? Solang halte ich heute noch durch.“ 134

©lisabethal Er sah mich mit diesen brennenden Augen an. Purer Wissensdurst, wie Blutgier bei Raubtieren, spiegelte sich darin. „Erklären Sie mir, wie das funktioniert, Madmoiselle!“ Das war Bitte, Frage und Befehl zugleich. Und es duldete keine Absage. „Wenn Sie meinen,“ seufzte ich ergeben und begann mein Werk. Während er genau hinter mir stand und mir alle Werte diktierte, saß ich dort und tippte und erklärte. Welche Parameter was beeinflussen würden, wie man Objekte platzierte, sie versetzte, sie veränderte. Immer wieder tippte er mir auf die Schulter, was einen leichten Stromstoß durch mich schickte. Dann hakte er für gewöhnlich bei der Funktion eines Parameters nach oder korrigierte eine bestimmte Struktur, die ihm zu grob bemessen erschien. Nach zweieinhalb Stunden stand dann alles zu seiner Zufriedenheit. Etwas anderes als Perfektion ließ er wohl nicht gelten. Also legten wir das Video fest. Es war faszinierend und angenehm, jemand so in derselben Materie versunken zu sehen. Nachdem der letzte Kamerawinkel für das Video stand, beugte er sich vor. Soweit, dass fast sein Gesicht auf meiner Schulter lag. Mit der anderen Hand stützte er sich an der Tischkante ab, so dass er auch hier beinah meinen Rücken und die andere Schulter berührte. Ich holte tief Luft und drückte die Enter-Taste um das Video zu starten. Hoffentlich ging alles reibungslos. Und wirklich, alles lief wie am Schnürchen. Doch kaum war das Video vorbei, da sprang er regelrecht von meinem Stuhl zurück und riss das Fenster auf. ***

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©lisabethal Völlig versunken in den Möglichkeiten der modernen Technik, war ich ihr viel zu lange viel zu nah gekommen. Und nun da es mir bewusst wurde, musste ich schnell von ihr fort, bevor das Raubtier in mir wieder durchschlug. Erst auf dem Nachhauseweg dämmerte mir, dass genau diese Versunkenheit ihre und meine Rettung sein konnte. Sie war sicher vor mir, solange nur Technik in meinem Kopf war und ich konnte ihr so relativ bedenkenlos nahe kommen. Wie seltsam die Welt doch war. Das meine Leidenschaft für Elektronik es mir einmal ermöglichen würde jemanden in meiner Nähe zu haben. Und dass sie Elektrotechnik genauso faszinierend fand wie ich, war vielleicht eine gute Wendung des Schicksals, das es anscheinend darauf angelegt hatte, mich mit diesem Mädchen zusammen zu bringen. ***

Kapitel 11: Blut und Eis Ich erwachte am nächsten Morgen mit Kopf- und Bauchschmerzen. Oh, großartig, jeden Monat wieder. Und Männer beschweren sich, weil sie sich rasieren müssen… Ich tappte also missmutig ins Bad und verließ, trotz der offensichtlichen Erfolge mit Monsieur de Boscherville, genauso schlecht gelaunt meine Wohnung. Domenic redete und redete, ohne auch nur einmal einen Gang runter zu schalten. Monsieur de Boscherville kam wie immer recht spät. Er betrat den Raum, verzog gequält das Gesicht und setzte sich so weit weg von mir, wie er nur konnte. Na welch ein großartiger Tag!

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©lisabethal Auch in der Übung und beim Aufgabenbearbeiten war er sehr einsilbig und schlecht gelaunt. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte ich einmal vorsichtig nach. „Wie Sie ja sehen.“, brummte er mürrisch vom geöffneten Fenster her. Schließlich hielt ihn nichts mehr. Er gab mir eine Blankounterschrift und verschwand nach Hause. Vielleicht war das besser für ihn. Und für meine Nerven an dem Tag wahrscheinlich auch. *** Was zum Teufel war heute nur los? Es war als hätte sie ihren göttlichen Geruch tausendfach intensiviert. Es war kaum auszuhalten. Lag es an mir? War ich irgendwie übersensitiv dafür geworden? Hatte sich solchen Hunger? Eher im Gegenteil, eigentlich fühlte ich mich außerhalb ihrer Nähe mehr als satt. Oh es ist frustrierend! Ich weiß nicht, woher es kommt. Un ich hasse es, unfreundlich zu ihr zu sein. Obwohl ich eigentlich weiß, dass es für uns beide besser wäre, ich wäre wirklich immer unfreundlich zu ihr. Aber sogar ich bin nicht Monster genug, um gegen ihr herzliches Lächeln nur Kälte zu setzen. Aber ich muss zugeben, der heutige Tag hat mich grauenhaft verunsichert. *** Wieder ein furchtbarer Tag mit Blut und einem nach Möglichkeit noch schlechter gelaunten Erik de Boscherville. 137

©lisabethal Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte gesagt, es hinge mit meiner Regelblutung zusammen, dass er so schlecht drauf war. Aber das war doch Unsinn? Es gab doch dafür keinen logischen, erklärbaren Grund. Er konnte doch das gar nicht wahrnehmen. Oder? Roch ich vielleicht komisch jetzt? Naja, das ließe sich austesten. Tampons anstatt Binden, auch wenn ich die Dinger nie so recht mochte. Und ich würde mich in Parfüm und sonstigen Hygieneprodukten mit möglichst viel Duftstoff ertränken, wenn es nötig war. Mit diesem Vorsatz ging ich am Donnerstag in die Vorlesung. Wahrscheinlich roch ich wie ein Obstsalat auf Beinen. *** Was auch immer sie getan hatte, an diesem Tag roch sie nur ganz leicht nach dieser unglaublichen Versuchung. Vielmehr verströmte sie jetzt den Geruch von verschiedenen Chemikalien. Aromastoffe wohl. Das hätte ich als Verbesserung empfinden sollen, aber eigentlich stieß mich dieses geruchliche Scharadespiel eher ab. Warum hatte sie sich derart mit Duftstoffen zugeschüttet? Hatte sie etwa…? Ich verlor alles Leben in mir, so sehr erschreckte mich der Gedanke. Hatte sie herausbekommen, dass ich auf ihren Geruch reagierte? Dass ich ein Raubtier war? Etwas vor dem man sich fürchten sollte? Ich versank auf meinem Platz in der Reihe hinter ihr immer mehr in selbstzerstörerische Grübeleien und soweit ich konnte in meinen Sitz. 138

©lisabethal *** Wie genau ich auf die Annahme gekommen war, es könnte daran liegen, dass er mein Blut gerochen hatte, weiß ich nicht mehr. Aber die Gegenmaßnahmen schienen genauso wenig zu fruchten. Vielleicht hatte er einfach einen schlechten Tag oder zwei. Vielleicht lag es ja an einer Medikamentenumstellung. Ich versuchte es jedenfalls nicht persönlich zu nehmen, dass er nicht viel mit mir redete und auch sonst recht wenig kooperativ war. Nur gut, dass für den Nachmittag nicht viel anstand. Denn brummig wenn er war, mein Monsieur de Boscherville, dann machte das Arbeiten mit ihm gar keinen Spaß. Dafür machte die Arbeit bei meinem Onkel umso mehr Spaß. Gerade waren nämlich neue Stoffe angekommen und saß dort und skizzierte drauf los. Zum draußen Sitzen war es zu kalt geworden, weshalb ich mir dann einen Besuch bei meiner Bank für ein Pianokonzert aus dem Kopf schlug. *** Ich spielte mir meinen Selbsthass von der Seele, vertrieb aber damit Charles und Florence aus dem Haus. Dann reiste ich ihnen hinterher nach Chateau Silvane. Danach ging es mir besser. Auch weil Charles mir gründlich den Kopf gewaschen hatte und meine Annahme, sie könnte mich durchschaut haben, mit logischen Argumenten in alle Winde zerstreuen konnte. Ich hatte schlicht überreagiert. Mal wieder. Das Wochenende war vorbei. Die neue Woche konnte starten. 139

©lisabethal „Auf in eine neue Runde!“, sagte ich mir. „Diesmal gehst du‘s lockerer an.“ *** Als ich am Montag aus dem Fenster sehen wollte, hatte der erste heftige Frost des Jahres Eisblumen an meine Scheibe gezaubert. Eigentlich ein schönes Muster. Unwillkürlich musste ich an mein Gespräch mit Erik de Boscherville über meine nicht vorhandenen Vorhänge im Schlafzimmer denken. Welche mit dem Muster in einem sanften Pastell-Blau wären toll, schoss es mir durch den Kopf. Es war Montag. Also könnte er ja heute etwas besser drauf sein, als in der letzten Woche. Nur Gott allein wusste, warum der so zickig gewesen war. Ich hoffte inständig, er hätte diese Phase hinter sich. Ich entschloss mich dem Wetter entsprechend anzuziehen und holte einen schwarzen Rollkragenpullover aus super weichem und vor allem warmem schwarzen Strickstoff mit auffälligem Zopfmuster heraus. Unter meine Jeans zog ich eine schwarze Strumpfhose, ich hasste kalte Beine. Und da ich kalte Füße noch mehr hasste, nahm ich auch meine Boots mit Kunstfellfutter heraus. Ganz hinten im Schrank suchte ich mir noch meine Mütze und Strickhandschuhe. So gerüstet tappte ich auf dem noch nicht gestreuten und mit einer gefährlichen Eisschicht überzogenen Gehweg. Die Straße war in keinem besseren Zustand, wie ich bei meinem Fußmarsch zur Bushaltestelle feststellte. Die Stadtverwaltung war wohl noch nicht auf Wintereinbruch Anfang November eingestellt gewesen. An der Haltestelle angekommen erfuhr ich dann allerdings von einem durchgefrorenen aber höflichen Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs, dass die direkte Buslinie zur Uni140

©lisabethal versität wegen eines schweren Verkehrsunfalls mit Personenschaden die nächsten Stunden nicht fahren würde. Allerdings hielte eine andere Linie, für die ich nur einmal umsteigen müsste, nur wenige hundert Meter entfernt. Ich bedankte mich, nahm den anderen, völlig überfüllten Bus und musste feststellen, dass Pariser Busfahrer durch ihr sonst so zügiges Tempo hier zu einer Gefährdung für sich und andere wurden. Der Bus, in dem ich stand, kam nämlich mehr als einmal übel ins Rutschen. Hatte der vielleicht noch Sommerreifen aufgezogen? Gut möglich. Das während meiner Fahrt nichts passierte, weder den Passagieren noch den Passanten, war ein Wunder. Froh an der richtigen Stelle heil aus dem Bus zu kommen, stieg ich an der besagten Haltestelle aus und machte mich auf den rutschigen Weg zu meiner Vorlesung. Gut, dass ich viel Zeit eingeplant hatte, denn ich brauchte sie wegen des schlechten Untergrunds wirklich. So überlegte ich nach den ersten unsicheren Schritten auf dem ebenfalls eisbedeckten Gehweg zur Universität. Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da erschreckte mich das Geräusch von blockierenden Rädern und ein seltsam schleifenden Geräusch, das auf mich zukam. Ich fuhr herum und mir wurde bewusst, dass weniger als 30 Meter von mir entfernt ein Bus des öffentlichen Nahverkehrs auf mich zuschlitterte. Wie ein Reh den Scheinwerfer starrte ich den Busfahrer an, in dessen Gesicht sich ebensolche Panik wie in meinem spiegelte. Gleich würde ich sterben. Ich würde nie rechtzeitig auf dem vereisten Gehweg aus dem Gefahrenradius des Buses kommen. Meine Tage waren gezählt. Ich wartete auf den Aufprall. *** 141

©lisabethal Kälte oder Frost hatten mir noch nie etwas ausgemacht. Auch die noch nicht präparierten Gehwege störten mich nicht auf meinem Weg zur Universität. Ich fand es sogar amüsant, wie verblüfft mir die Leute nachstarrten, wenn ich sie schwungvollen Schrittes umrundete. Einen gewissen Vorteil musste meine Existenz ja auch haben. Kurz vor der Universität nahm ich dann ihren Geruch wieder wahr und folgte ihm aus reinem Instinkt. Und erschrak zutiefst. Der Bus würde sie erfassen. Wenn ich nicht einschritt. Meine Füße waren aber schneller als meine bewusste Moral. Sie eilten, so schnell sie konnten, bereits über die Straße, so schnell wie eine Gewehrkugel. Noch bevor ich mit meinen Gedanken hinterherkommen konnte. *** Etwas traf mich an beiden Schultern mit ziemlich viel Schwung und ich kniff die Augen zu, während ich, wie mir schien, mehrere Meter durch die Luft segelte und mich dann mit dem, was auch immer es war, mehrmals überschlug. Bei einem der Überschläge knallte mein Kopf aufs Pflaster, aber ich spürte keinen Schmerz. Ich war zu benommen. Der Aufprall und die Überschläge hatten keine Sekunde gedauert, glaubte ich jedenfalls, und gleichzeitig fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. *** Ich hatte sie angesprungen, wie ein Tiger seine Beute, und sie nach hinten umgestoßen. Durch meine extreme Geschwindigkeit und die Tatsache, dass ich sie immer noch an den Schultern gepackt hielt, flogen wir beide mehrere Meter 142

©lisabethal weit nach hinten durch die Luft. Im Fallen versuchte ich meinen Schwerpunkt so zu verlagern, dass ich den ersten Aufprall abbekommen würde. Alles andere hätte sie womöglich sonst trotz meiner Bemühung umgebracht. Ich knallte auf den Boden, aber unser gemeinsamer Reflex des Abrollens ließ uns mit mehreren Überschlägen übereinander noch mehrere Meter weiterrollen. Vorne, an der Stelle, an der sie gestanden hatte, touchierte der Bus hörbar einen Laternenpfahl und krachte dann mit dem unsäglichen Lärm von zerdrücktem Metall und zerstörtem Kunststoff an eine Hauswand, die hörbar ächzte. Nach unseren Überschlägen blieb sie mit geschlossenen Augen unter mir liegen. Und auch ich war zu benommen um sofort aufzuspringen. Auch wenn mir rein körperlich nichts fehlte. Ganz im Gegenteil. *** Vorsichtig öffnete ich die Augen. Seltsam, dass ich nicht verschwommen sah. Aber ich musste mir den Kopf doch viel stärker angeschlagen haben, als ich annahm. Oder ich war doch gestorben – und im Himmel. Über mir erkannte ich nämlich das wunderschöne und ebenfalls ziemlich desorientierte Gesicht von Erik de Boscherville. Und das nur vielleicht 20cm von meiner Nasenspitze entfernt. Ich blinzelte, um die vermeintliche Halluzination zu verscheuchen. Aber sein Gesicht blieb über mir. Und langsam wurde ich des festen Griffs seiner Hände auf meinen Schultern gewahr. Mit aufgerissenen Augen starrte ich in seine wunderschönen, schokoladenbraunen und ein angenehmes, wohliges 143

©lisabethal Gefühl von Geborgenheit und Zuhause stieg dabei in mir auf. Was war denn das? Und dann dämmerte mir, dass der Mann mir gerade aus heiterem Himmel das Leben gerettet hatte. Er musste mich mit aus der Bahn des Buses gerissen haben und mit mir dann über den Asphalt gekugelt sein. Aber, wo war er so schnell hergekommen? Man konnte ihn doch eigentlich gar nicht übersehen. War ich so von der Panik vor dem heranrauschenden Bus ergriffen gewesen, dass ich ihn gar nicht gesehen hatte? So musste es gewesen sein. Und ich verdankte ihm mein Leben. Aus diesem Gefühlswirrwarr heraus brachte ich nur ein einziges Wort für das alles heraus, aber das traf es ziemlich gut. „Merci!“, flüsterte ich aus den Tiefen meiner Seele. *** Ich genoss das warme Gefühl ihres Körpers unter mir. Genoss, wie ich ihren Herzschlag, beschleunigt durch den Vorfall aber sonst recht gleichmäßig, durch den Stadtlärm hören konnte. Genoss es, sie zu berühren, wenn auch nicht Haut auf Haut. Genoss die Tatsache, dass ich auf ihr war. Genoss, dass sie nicht gequält aussah oder Angst hatte. Mir war selbst warm. Weil ich sie berührte. Weil sie lebte. Weil ich sie retten konnte. Weil ich bei ihr war. Weil ihr Geruch mich einhüllte und das gute Gefühl aus den glücklichsten Kindheitstagen mit sich zurückbrachte. Ich war glücklich, wie ich so auf ihr lag und auf sie herab sah. Ich hätte ewig so liegen können und wäre es zufrieden gewesen. Und genau dieser Gedanke traf mich mit der Wucht eines Faustschlags, wie nur jemand wie Charles ihn würde austeilen können – härter als der Bus es jemals gekonnt hätte. 144

©lisabethal Ich war zufrieden in ihrer Gegenwart. Ich wollte nicht mehr als das. Die Versuchung, vor der ich so viel Angst gehabt hatte, stellte sich im Moment als absolut belanglos dar. Obwohl sie ausgeliefert da unter mir feststeckte, hatte ich nicht das leiseste Bedürfnis mehr zu wollen. Natürlich, sie roch großartig. Aber das war nur angenehm im Moment. Ich wollte sie am Leben sehen, in meiner Nähe. Und solange dieser Gedanke in mir absolute Oberhand hatte, wäre sie sicher vor mir. Hoffnung keimte in mir auf. Hoffnung darauf, eines Tages etwas wie eine wenigstens gut freundschaftliche Beziehung haben zu können. Mehr wagte ich nicht zu hoffen. Mehr war bisher immer furchtbar katastrophal geendet. Sie schlug die herrlich blauen Augen auf, blinzelte als müsse sie etwas wie Schwindel oder Unschärfe verscheuchen. Und dann sahen wir uns wieder tief in die Augen. Und wie bereits einmal versank ich regelrecht in ihrem unendlichen Ozeanblau. Tauchte ein und ertrank direkt darin. Die Wärme in mir verstärkte sich, ergriff Herz und Gehirn, schaltete meine Gedanken völlig ab. Erst das leise aber unglaublich eindringliche Wort, das sie herausbrachte, zog mich wie ein Rettungsring wieder aus den Tiefen ihrer Augen und zurück in die Realität. In der ich immer noch auf ihr lag, mich mit zu viel von meinem Gewicht auf ihre Schultern stützte und sie auf dem eiskalten Boden liegen ließ. Schnell, aber wie ich hoffte nicht zu schnell für einen normalen Menschen, stand ich auf. ***

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©lisabethal In einer einzigen eleganten Bewegung kam Erik wieder auf die Füße. So als hätte ihm der Sturz und die Überschläge nicht das Geringste ausgemacht. Ja sogar seine Kleidung saß noch immer ziemlich genau an ihm, auch wenn der schwarze Wollmantel ein paar Eiskristalle noch an sich hängen hatte. Verblüfft und noch immer total fassungslos starrte ich ihn an. Jedenfalls so lange, bis mir die Kälte vom Boden her in die Knochen stieg. Vorsichtig und unbeholfen versuchte ich mich aufzurappeln. Erik warf mir einen sehr besorgten Blick zu, kniete sich neben mich und drückte mich wieder runter. „Bleiben Sie bitte liegen. Nicht, dass Sie sich noch eine Gehirnerschütterung zugezogen haben, Miss Archer. Mit sowas ist nicht zu spaßen!“, erklärte er mit wunderbar warmen, sorgenvollem Nachdruck. „Ich weiß… ich weiß nicht wie ich Ihnen danken soll.“, stotterte ich ganz verwirrt heraus. „Das haben Sie schon.“, gab er ganz bescheiden und kleinlaut zurück, was ich ihm charakterlich hoch anrechnete. „Der Bus?“, fragte ich dann nach und erntete von ihm nur einen überraschten Blick. War er wirklich nur auf mich konzentriert gewesen? Wow! „Die Insassen sind bestimmt verletzt!“, erklärte ich deswegen weiter. „Oh, ahm, möglich.“, kam von ihm nur als Antwort. „Wir müssen die Notfallstelle informieren. Haben Sie ein Mobiltelefon?“, setzte ich nach. „Oh, nein, ich habe keines.“ „In meiner Tasche müsste eines sein.“ Wieder versuchte ich mich hochzurappeln und mich nach meiner Tasche umzuschauen. Ich sah den Bus, der in unglaublichem Winkel an einer Häuserwand stand. Er musste nahezu frontal hineingerauscht sein. 146

©lisabethal Gott im Himmel! „Mon Dieu!“, entfuhr es mir. Erik schien der Bus samt Insassen ziemlich egal zu sein. Als ich wieder versuchte mich aufzurappeln, wurde ich mit unglaublich kräftigem Griff wieder nach unten gedrückt. „Wir müssen die Notfallstelle informieren!“, kam es noch einmal mit mehr Nachdruck aber auch etwas schriller von mir. Beinah widerstrebend erhob sich Erik aus seiner neben mir knienden Position und holte meine Tasche. Halb aufgesetzt zog ich es aus seinem Fach und wählte die 112. Der freundlichen und sehr ruhigen Dame im Notrufzentrum erklärte ich stockend. so gut ich konnte, die Situation. Auf die Frage der Anzahl der Verletzten konnte ich keine Antwort geben. Sie versprach schnell Hilfe zu schicken und erkundigte sich dann noch nach meinem eigenen Befinden. Ich erklärte, mir selbst ginge es soweit gut, nur mein Retter mache sich Sorgen wegen einer Gehirnerschütterung, weil ich mit dem Kopf auf den Boden geprallt war. Sie lobte Erik, hieß mich liegenbleiben und verabschiedete sich. Mein Soll war erfüllt. „Sie sind sehr pflichtbewusst Ihren Mitmenschen gegenüber.“, stellte Erik de Boscherville neben mir trocken fest. „Sie doch auch. Sonst wäre ich wohl nicht mehr am Leben.“, konterte ich sein Lob. „Finden Sie… ich sah mich bisher eher als Egoisten. Ich muss zugeben, an etwas wie Notruf hätte nicht gleich vordringlich gedacht.“, gab er offen zu. Diese Offenheit mochte ich. Er verbarg keine Fehler. Das war angenehm. Nur dieses ewige „Sie“ nervte. „Sie haben mir gerade das Leben gerettet. Da finde ich, dass ich so tief in Ihrer Schuld stehe, dass Sie mich auch mit einem Du anreden können. Das ist das Mindeste, was ich Ihnen anbieten kann.“ 147

©lisabethal Lange blickten herrlich dunkle warme Augen unter leicht gerunzelten Augenbrauen auf mich herab. Gerade so als könne er sich nicht ganz entscheiden, wie er dieses Angebot von mir einordnen sollte. Dann erschien ein leicht schiefes, aber sehr angetanes Lächeln auf seinem Gesicht. Eines, das mein Herz zum Schmelzen brachte. „Danke, Eleanor.“ So wie er meinen Namen aussprach, klang es wie pure Poesie oder Gesang. Ich lächelte zurück. Und er fuhr fort: „Aber es wäre ein unangebrachter Unterschied, wenn du mich immer noch mit Sie anreden würdest. Bleiben wir doch gegenseitig beim Du!“ Ich strahlte ihn regelrecht an. „Danke, Erik!“ Ein Großaufgebot an Polizei, Krankenwagen, Notärzten und Feuerwehr kam bald darauf angefahren. Ich lag so exponiert, dass einer der Notärzte gleich kurz bei mir vorbeischaute, sicherstellte, dass mir nichts fehlte, außer einer kleinen Beule und mich dann zur Personalienfeststellung an einen jungen Polizisten übergab. Der schrieb dann meine Personalien von meinem Ausweis und tat dann das Gleiche bei Eriks. Außerdem fragte er Erik, wie das mit der Rettung abgelaufen war, für eine Rekonstruktion. Der erzählte dann ruhig und einprägsam, dass er aus der entgegenkommenden Richtung angelangt war und mich als guter Studienkollege vom Bus abholen wollte. Als er dann sah, wo ich ausstieg und dass der andere Bus offenbar nicht unter Kontrolle war, sei er losgerannt so schnell er konnte und hätte versucht mich aus der Gefahrenzone zu reißen. Auch vom Polizisten bekam Erik ein großes Lob für seinen Heldenmut. Er zuckte aber lediglich recht nonchalant die Achseln, so als wäre es völlig alltäglich. 148

©lisabethal Auf dem Weg zur Universität löcherte ich ihn, wie ich auch einmal für ihn etwas tun konnte. Nach mehreren Ablehnungen gab er dann leicht genervt nach und versicherte mir, er werde sich etwas überlegen. ***

Kapitel 12: Süchtig Ich war high. Ich gebe es unumwunden zu. Seit mir klargeworden war, dass Eleanor und ich uns nicht zwangsweise gegenseitig in den Abgrund reißen mussten, lief ich wie auf Wolken. Ich hatte ihr vom Boden aufgeholfen, als der Arzt Entwarnung gegeben hatte. Eigentlich hätte ich es auch selbst feststellen können, aber das hätte vielleicht zu viele Fragen ihrerseits bedeutet. Mir war egal, dass ich ihr einmal eingeschärft hatte, mich nicht zu berühren. Mir war so sehr nach Berührung, dass ich sie am liebsten die ganze Zeit bei der Hand genommen hätte, auch wenn ich es aus Vorsicht dann doch unterließ. Im Vorlesungssaal angekommen warteten schon alle auf uns, wie es schien. Der Junge, der Baptiste hieß, fragte nach dem Grund für die Verspätung. Eleanor erklärte dann die Situation und stellte mich als den schillerndsten Retter dar. Egal wie sehr ich versuchte sie zu bremsen. Vielleicht war auch sie vom Adrenalin noch ein bisschen high. Der Raum war meiner Meinung nach total überheizt, so dass ich schnell meinen Mantel und meine Weste loswurde. Auch Eleanor zog Jacke, Handschuhe und Mütze aus. Als sie die Mütze ablegte, fragte sie mich dann mit Schalk in den Augen: „Und wer hat gewonnen? Mütze oder Frisur?“ „Ich fürchte die Mütze.“, gab ich lachend zurück. Und was mich dann ritt, wusste ich selbst nicht, als ich kurz die Hand 149

©lisabethal ausstreckte und durch die völlig zerdrückten, blonden Haare wuschelte. So, wie es vielleicht ein jahrelanger guter Freund durfte. Wie gesagt, ich war high. High vor Glück. Und ich war schon jetzt süchtig danach. Ich wusste es. Ich war lang genug nach anderen Dingen süchtig gewesen. Gott weiß, ich schäme mich noch heute dafür. Aber so wusste ich, wann die Sucht begann. *** Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen starrte ich in das lächelnde, hinreißende Gesicht von Erik. Er hatte mir doch gerade wirklich die Haare zerwuschelt. Ich war sprachlos. Was hatte ihn die sonst so kühle Distanz gekostet. Oder war er von der ganzen Rettungsaktion noch auf Adrenalin und es war ihm egal, ob er Schmerzen hatte. Na gut, es war Montag, vielleicht ging es deshalb besser. Aber so gut. Himmel! Wenn es nur immer so sein könnte! In meinem Bauch machten sich Schmetterlinge breit und in meinem Hirn ein Vakuum. Wir hatten nur noch Randplätze ganz hinten zur Verfügung. Anita hatte sie uns aufgehoben. Auch ihr musste ich die ganze Rettungsaktion nochmal auf Deutsch erzählen. Im Dialekt konnte man da auch viel treffendere Wörter finden. Auch Anita lobte Erik über den grünen Klee, indem sie einfach um mich herum redete. Der schien wie immer etwas überrascht zu sein, dass jemand ihn ansprach. Und als Anita in ihrem Überschwang ins Deutsche abrutschte, weil ihr die französischen Wörter fehlten, da antwortete er auch einfach auf Deutsch, es sei natür-

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©lisabethal lich eine Selbstverständlichkeit gewesen, mir das Leben zu retten. Anita war baff. Auch der Professor kam zu spät, entschuldigte sich, gab als Grund das herrschende Verkehrschaos an und begann dann ohne längere Umschweife mit Mathematik. Ich versuchte mich auf dessen noch immer unverständliches Gebrabbel zu konzentrieren und mich nicht zu sehr von Eriks Anwesenheit auf meiner einen Seite ablenken zu lassen. Immer wieder schielte ich allerdings auf seine Aufzeichnungen. Oftmals, so stellte ich fest, war er sogar schneller mit einer Formel bei der Hand, als der Professor. Zudem übersprang er Schritte, oder machte sie scheinbar im Kopf. Wenn nur diese furchtbare Schrift nicht gewesen wäre. Anita auf meiner anderen Seite schrieb brav von meinen Aufzeichnungen ab. Der Professor hatte aber einen guten Tag, denn offensichtlich hatte er den Overheadprojektor für sich entdeckt und schrieb Folie um Folie voll, ohne auch nur einmal in seinem Redefluss zu bremsen. So hatte man wenigstens die richtigen Anhaltspunkte, wenn man etwas nicht verstand. So durfte das Semester weitergehen. Ein Professor, der immer verständlicher wurde, Anita auf meiner einen Seite und einen so gut gelaunten Erik de Boscherville auf der anderen. Immer wieder ertappte ich mich, dass ich wie Erik schneller war, als der Professor, der mit seinen Erklärungen dazwischen und der ihm noch nicht ganz vertrauten Technik kämpfte. Zumal er versuchte, die zunehmenden Zwischenfragen aus den ersten Reihen zu beantworten. So machte es Spaß. So durfte es bleiben. „Gut, dass du Linkshänder bist.“, flüsterte ich einmal Erik zu, als auch ich schneller war, als der Professor. Er warf mir

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©lisabethal einen verdutzten Blick zu. „So lässt sich viel leichter bei dir schauen, ob ich richtig liege.“, schmunzelte ich. Er warf mir erst ein schiefes Lächeln zu, das dann irgendwie doch gerade rutschte und so richtig ehrlich aussah. „Du bist die erste, die es gut findet, dass ich Linkshänder bin.“ Er lächelte noch immer. Nach dem Lächeln konnte man glatt süchtig werden. Genauso wie nach der guten Laune, die ihn heute so besonders menschlich, so angenehm freundlich und so wenig distanziert wirken ließ. Es war ansteckend und es machte mich regelrecht berauscht, wenn er so war. Mit dem Strahlen in den Augen, mit der Wärme in dem dunklen Braun, mit dem leichten Schalk, der herausblitze. Nur zu gerne würde ich mich von ihm jeden Tag necken lassen. Mir die Haare verwuscheln. Ja, ich war süchtig nach seiner guten Laune. Ich war schlicht verknallt in Erik de Boscherville. In der Pause zwischen der Vorlesung und der Übung entschuldigte sich Erik zum ersten Mal in meinem Leben bei mir, er müsse kurz frische Luft schnappen. Und ich strahlte ihn an wie geisteskrank und brachte nur heraus: „Klar, kein Problem!“ Wie immer huschte er sehr schnell von dannen. Und dieses Mal plapperte ich mit Anita auf Deutsch los. Nur um sicher zu sein, dass sonst niemand mithörte. Domenic zum Beispiel. Wir redeten, wie toll sich Erik gewandelt hatte, dass er mir das Du auch angeboten hatte, dass er heute zum Scherzen aufgelegt war, dass er ja sooo gut aussah, dass er hinreißend war, wenn er so wie heute drauf war. Anita meinte, heute wirke er fast gar nicht mehr einschüchternd und sie verstehe mich total, dass ich ein bisschen in ihn verliebt war. 152

©lisabethal Zur Übung war Erik wieder da. Allerdings bemerkte ich, dass er sie überhaupt nicht ernst nahm. Offensichtlich war es ihm zu leicht, denn er bearbeitete nebenher die abzugebenden Aufgaben. Zum anderen machte er nur sehr grobe Notizen, wenn überhaupt, übersprang manchmal 3 oder mehr Umwandlungen der Gleichung oder Formel und verdrehte einmal bei einer besonders genauen, da für uns Normalsterbliche durchaus komplexen, Erklärung genervt die Augen. „Zu leicht?“, witzelte ich daraufhin im Flüsterton. „Allerdings.“, gab Erik leise zurück. „Weck mich, wenn er fertig ist. Die Aufgaben hab ich schon durch.“ Anita und ich kicherten, was uns einen irritierten Blick des Assistenten vorne einhandelte, was uns nur noch mehr zum Kichern brachte. *** Die Einladung der jungen Österreicherin mit ihnen zu Mittag zu essen, schlug ich höflich aber mit Nachdruck aus. Eleanor erklärte ihr dann, als sie mich außer Hörweite wähnte, dass ich aus gesundheitlichen Gründen nie etwas zu Mittag aß und sie nicht gekränkt sein sollte. Ich seufzte wohlig in mich hinein, als ich sie mich verteidigen hörte. Wegen des morgendlichen Verkehrsunfalls wurde sie dann auch noch gelöchert und ich verschwand außer Hörweite. Im Sekretariat holte ich dann unsere Aufgabenmappen ab, suchte mir im Bois de Boulonge eine freie Bank und blätterte sie durch. Überall volle Punktzahl. Zumeist sogar extra Lob für die sorgfältige Ausarbeitung und für die schöne äußere Form. Der Korrektor für die Pläne war hin und weg wegen der Videos. Zufrieden lächelte ich in mich hinein. Wir waren ein gutes Team. 153

©lisabethal Wir könnten wahrscheinlich auch nach dem Studium noch gut ein eigenes Büro aufmachen und wir würden hervorragend verdienen. Sie konnte bestimmt gut mit den Kunden und ich wäre für die Zeichenarbeit zuständig und für den Bau. Ja, eine rosige Zukunft, die ich mir ausmalte. Mit einem Problem. Aber warum heute darüber nachdenken. Es war sowieso alles zu schön, um wahr zu sein. Als ich vor der abgemachten Zeit das Arbeitszimmer betrat und es leer vorfand, breitete ich unsere Arbeitsmappen mit den Punktezahlen nach oben aus und lehnte mich ans Fensterbrett, um auf sie zu warten. Zwischenzeitlich fiel mir noch ein, dass ich versprochen hatte, über eine Wiedergutmachung nachzudenken. Und zu meiner Verblüffung hatte ich sehr schnell etwas, das sie für mich tun könnte. ***

Kapitel 13: Neue Technik… Heute war wirklich Tag der Ausnahmen. Erik wartete schon auf mich im Arbeitszimmer und präsentierte mir stolz unsere gesammelten Werke. Alle mit voller Punktzahl und hervorragenden Kommentaren. Sein Lächeln von heute Vormittag war geblieben. „Wir geben ein gutes Gespann ab.“, grinste er mich an. „Allerdings.“, konnte ich nur benommen antworten. Von so viel guter Laune in einem so schönen Gesicht konnte einem direkt schwindlig werden. „Ist das mit der Arbeitsteilung für dich noch so in Ordnung?“, wollte Erik sich wohl noch einmal rückversichern. Und ich hätte im Moment wohl zu allem „Ja“ gesagt.

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©lisabethal „Natürlich, wo doch unsere bisherige Arbeitsweise so gut ankam.“, strahlte ich also zurück. Es war nahezu unmöglich, den Mann mit seiner guten Stimmung nicht anzulächeln. Er reichte mir daraufhin die wie immer fertigen Aufgaben und ich schrieb sie feinst säuberlichst auf kariertes Papier ab. Wir setzten beide noch unsere Unterschrift darunter und ich heftete sie in den passenden Schnellhefter. „Eleanor?“ Mir rann immer noch ein wohliger Schauer über den Rücken bei der Art und Weise wie diese nahezu überirdisch schöne Stimme meinen Namen wie Engelsgesang klingen ließ. „Ja.“, drehte ich mich zu ihm um. „Du hast letztens in der Vorlesung doch etwas gesummt. Mich würde interessieren, was es war.“ Oha. Da musste ich überlegen. Was war das noch gleich? Ach ja. „Das war ‚Let’s misbehave‘ von Cole Porter.“ Sein fragender Blick verlangte eine weitere Erklärung. „Geschrieben wurde es in den 1920ern, 27 glaube ich. Musst du also nicht mehr kennen.“ Kurz runzelte er die Stirn. „Ich fürchte, bei mir kommt eher zum Tragen, dass ich es noch nicht kenne. Mein komplettes Musik- und auch Geschichtswissen hört mit ungefähr 1900 auf.“, gab er mit sehr düsterem Gesichtsausdruck und ziemlich kleinlaut zu. „Wie geht denn das?“, entfuhr es mir. Am liebsten hätte ich mir gleich danach auf die Zunge gebissen, denn ich wusste, dass das echt unhöflich gewesen war. „Ich hatte die meiste Zeit ein sehr abgeschottetes Leben.“, antwortete er immer noch ziemlich leise und gedrückt. Dann atmete er tief durch, so als müsse er sich zu etwas durchrin155

©lisabethal gen und wisse noch nicht so recht wie. Schließlich rückte er doch damit heraus. Mit durchgedrücktem Rücken und Sorge in den Augen. „Ich sollte mir doch einen Gefallen überlegen, den du für mich tun könntest. Hier wäre er: Bring mir alles über moderne Musik bei, am besten auch noch über passable Technik dafür. Wir haben nämlich zwar einen alten Radio im Haus und ein bestimmt noch älteres Telefon aber dann hört in meinem Haus auch schon die Technik auf.“ „Ihr habt keinen Computer im ganzen Haus? Keiner hat ein Mobiltelefon? Oder auch nur einen CD-Player?!“, rief ich beinahe fassungslos. „Wie gesagt, ich hatte bisher ein sehr abgeschottetes Leben, auch was moderne Technik anbelangt. Jetzt brauche ich sie und du scheinst echt Ahnung davon zu haben.“, gab er zu bedenken. „Puh!“, machte ich. „Wie mache ich das am besten.“ Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich Musik, Geschichte und Technik unter einen Hut brachte und kam dann auf eine ungefähre Möglichkeit. „Ich würde jetzt folgendes vorschlagen: Ich versuche mal herauszubekommen, wo es brauchbare und bezahlbare MP3-Player gibt.“ Fragend, aber mich nicht wörtlich unterbrechend kam sein mimischer Kommentar. Also erklärte ich das eigentlich Klare: „Ein Mp3-Player ist ein kleines Gerät, das mit Hilfe von kleinen Lautsprechern in Kopfhörern Musik wiedergibt. Die Musik ist hier in einem gewissen Programmformat mit Namen mp3 gespeichert und das Gerät beherrscht dessen Decodierung in Klänge.“ „Ah, es wandelt also in magnetischen Kleinstbereichen festgehaltene Muster in über elektrische Verstärker in hörbare Signale um.“ 156

©lisabethal „Ja.“, bestätigte ich seine ziemlich komplizierte, aber treffende Grundsatzdarstellung. „Ich hätte jetzt also folgenden Vorschlag für dich: Wir legen uns beide so ein Gerät zu, ich kann dir dann von den Musikdateien, die ich auf dem Computer habe, und das sind ne Menge, auf deinen immer wieder Kopien aufspielen. Allerdings sollte ich das offizieller Weise als Sicherungskopien titulieren, denn es ist eigentlich nicht ganz legal. Das hat was mit dem Urheberrecht zu tun. So könnte ich z.B. immer etwas Musik einer ganz bestimmten Richtung oder einer ganz bestimmten Zeit zusammenstellen und dir nebenher was dazu erklären. Wenn du willst. Und wenn das dann klappt, kann ich ja mal sehen, ob es derzeit brauchbare Laptops auf dem Markt gibt, und dann kümmern wir uns um den Umgang damit. Wenn es dir recht ist.“ „Absolut!“, stimmte er begeistert zu. Offensichtlich war er froh, dass ich zugestimmt hatte. „Eine Sache noch“, fügte er dann hinzu. „Gibt es eine Möglichkeit, wie ich Musik, sagen wir vom Klavier, auf so ein MP3-Ding bekomme.“ „Über das Gerät normalerweise nicht. Da bräuchtest du einen Computer mit Mikrofon oder ein Mobiltelefon mit einem entsprechenden Aufnahmeprogramm.“ „Mhm!“, machte er dann nachdenklich. „Wenn es dein Budget hergibt, können wir auch gleich nach dem einen oder anderen Ausschau halten, wenn wir die MP3-Player kaufen gehen.“, schlug ich vor. Er grinste breit, was ich gar nicht erwartete, aber so spitzbübisch aussah, dass es mich total verblüffte. „Am Budget,“ lachte er, „hat es bei mir noch nie gescheitert.“ Ich versprach also, mich bis morgen über Mp3-Player schlau zu machen und verabschiedete mich dann, wenn auch 157

©lisabethal ungern. Es war einfach großartig, so mit Erik zusammen zu sein. Zuhause warf ich dann mein Heiligtum an und stöberte stundenlang durch die Seiten der verschiedenen Elektronikhändler der Stadt. Als ich dann nach einigem Gesuche und der Abwägung mehrerer Möglichkeiten auf ein passendes Angebot gestoßen war, notierte ich mir die Adresse des Händlers und die technischen Daten des Geräts – nur zu erfreut, dass es auch in meinem Budget lag und doch so viel Speicherplatz bot. Auf etwagige Spielereien konnte ich getrost verzichten, Erik zuliebe. Dann stattete ich dem Atelier noch einen Besuch ab, in dem sich Henry und Tom mal wieder einen fachlichen Diskurs zu Madame C***s Abendkleid. Ich bekam dann auch noch einen Zeichenauftrag für historisch angehauchte Kleidung, was mich sehr freute. Offensichtlich versuchte Henry darüber die „Schlacht“ für sich zu gewinnen. Anette stöhnte bei dem Zeichenauftrag hörbar, sie ahnte schon, dass, sollte auch nur eine Zeichnung in der Richtung es in die Boutique schaffen, es Schnitte mit mehr Schikanen erforderte, und so sah sie von vorne herein schwarz – wie immer Anette-paspossible. Passend zum historisch angehauchten machte ich mich dann im Internet auf die Suche nach Fotos von 1900 bis 1920. Passend dazu suchte ich mir die Musikstücke zusammen und packte diese auch noch gleich auf meinen Laptop. Manches davon waren noch digitalisierte Originalschallplatten aus der Sammlung meiner amerikanischen Großeltern gewesen Mein Vater hatte diese noch in Dateien für den Computer mit einem selbstgebastelten Ding umgewandelt um sie der Nachwelt zu erhalten. Jetzt war ich froh drum. So kamen Ragtime-Stücke von Scott Joplin und damals geschriebene Märsche darauf. Außerdem kam noch eine komplette 158

©lisabethal Schallplatte mit Stücken von Eubie Blake dazu, die mochte ich persönlich auch sehr gern. Weniger begeistert war ich von Debussy, Strawinsky, Hindemith und Co. Aber auch die packte ich mit jeweils einem sehr bekannten Stück darauf. Ravels Bolero war mir da mehr recht. Auch Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ landeten mit darauf – mitsamt der sehr coolen Synthesizer-Variation eines japanischen Künstlers. Mit lauter Ragtime-Musik aus meinen Kopfhörern setzte ich mich dann zum Zeichnen an den Tisch. Und so entstanden unter meinen Händen die Entwürfe für mehr als knöchellange Samtröcke mit leichtem Schwung unten kombiniert mit einer Bluse mit Rüschenstehkragen und einer Brokatkurzjacke, für Spitzenkleider mit Stehkragen und ebenfalls ausgestelltem langem Rock über die ich ein farblich passendes Korsett zeichnete. Für Kleider mit hervorblitzendem Unterrock mit Tüll, Rüschen und Spitzen wählte ich ein Altrosa oder auch helles Petrol. Dazu kamen Jacken mit großen Silberknöpfen und Schößchen oder High-Low-Mäntel mit Bubikragen und Bortenverzierung. Ich zeichnete und zeichnete und wünschte mir immer, alles würde wenigstens einmal gemacht, damit ich es irgendwann abstauben und für mich umändern konnte. Henry hatte nicht wissen können, dass er hier bei mir einen Nerv getroffen hatte, denn ich liebte die Mode so um 1900, egal was andere Leute von Korsetts und langen Röcken halten mochten. Und so ließ ich meiner Fantasie freien Lauf, bis ich schließlich auf die Uhr meines Computers schaute und ungläubig dort halb zwei Uhr früh stehen sah. Ich gehörte dringend ins Bett. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass Anette mich verfluchen würde. *** 159

©lisabethal Auf dem Nachhauseweg von der Universität wurde mir erst richtig bewusst, wie viel ich eigentlich versäumt hatte. Und wie viel Charles und Florence nicht an sich herangelassen hatten. Und die technische Entwicklung machte keine Pause, nein, sie raste mit stetig steigender Beschleunigung fort. Wenn ich jetzt nicht schnellstens die Kurve bekäme, sie mir zu eigen zu machen, dann war es zu spät, auch für mich, der ich immer begabt in solchen Dingen war. So sinnierte ich dahin über die versäumten hundert Jahre, über Technik und Lebensweise und über Eleanor. Hauptsächlich über Eleanor wie mir auffiel, als ich fast angekommen war. Über Eleanor, wie sie unter mir lag, wie sie sich da angefühlt hatte, wie sie mit mir scherzte, wie sie über mein Unwissen erstaunt war, wie sie mich anlächelte, wie ich in ihre Augen eingetaucht war. All diese Bilder und Eindrücke wirbelten in einem nicht greifbaren Kaleidoskop durch meinen Kopf. Ich summte dazu irgendwas vor mich hin. Bis mir klar wurde, dass es eine Variation des Stücks war, dass sie vor einiger Zeit gesummt hatte. Im Haus begegnete ich Charles, der von mir wissen wollte, warum ich denn heute gar so gut gelaunt war. Also erzählte ich ihm, wie ein aufgekratzter Schuljunge, alles, einfach alles. Dass ich sie vor dem Bus gerettet hatte, dass mir klar geworden war, dass ich keine direkte Gefahr für sie sein musste, dass ich sie gebeten hatte mir neuere Musik und vor allem die neueste Technik zu zeigen. Und je begeisterte ich erzählte, umso düsterer und wütender wurde Charles. „Bist du völlig von Sinnen?“, herrschte er mich dann an. „Du kannst doch nicht ein sterbliches Mädchen so mir nix dir nix aus heiterem Himmel von einem solchen Verkehrsunfall wegreißen. Da werden doch viel zu viele Fragen gestellt.“

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©lisabethal „Hätte ich dann den Aufprall abwarten sollen und bei dem Geruch ihres Blutes, das überall verteilt gewesen wäre, total den Kopf verlieren. Da war das das kontrolliertere Risiko.“ „Aber du bist immer noch eine Gefahr für sie. Etwas anderes brauchst du dir gar nicht einreden.“, versuchte Charles mich einzubremsen. „Und sie ist auch eine Gefahr für uns, wenn sie mehr über uns herausfindet als unbedingt notwendig. Schlag sie dir aus dem Kopf! Du kannst mit dem Mädchen nicht befreundet sein, du gefährdest uns alle dadurch!“ „Lass sie sich nur mal den kleinen Finger ritzen, oder aus irgendeinem dummen Grund Nasenbluten bekommen.“, gab Florence zu bedenken. „Ich hatte sie auf vielleicht 15 Zentimeter unter mir und absolut hilflos. Ich konnte das Blut durch ihre Adern rauschen hören und ich hab ihr nichts getan. Ihr wird nichts passieren. Und ich glaube, sie wird nicht weiter über jemand anderen als mich nachhaken. Sie scheint keineswegs neugierig zu sein, sie ist da sehr höflich.“, versuchte ich sowohl Eleanor zu verteidigen, als auch meine Freundschaft zu ihr zu legitimieren. „War ich euch nicht sonst auch die letzten sieben Jahre zu schwermütig? Habt ihr nicht selbst immer gesagt, so würde ich keine Ewigkeit aushalten? Nun bin ich gut gelaunt wie nie in meinem Leben zuvor und jetzt ist es auch nicht recht.“ Ich klang jetzt zwar wie ein trotziger Teenager, aber ich fand, ich hatte wirklich einmal in meinem Leben Freundschaft um der Freundschaft willen verdient. Da wollte ich gewiss jetzt nicht klein bei geben. „Und du denkst, das mit der neuen Technik ist wirklich notwendig?“, fragte mich Florence unsicher, während Charles vor sich hin brütete. „Mir wurde auf dem Herweg erst klar, wie knapp wir drei eigentlich dran sind, wenn wir es noch verstehen wollen,

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©lisabethal bevor die technische Entwicklung komplett abhängt. Wenn nicht jetzt, wann sollten wir das wohl dann noch lernen?“ „Einerlei, die Technik wird in sich zusammenbrechen und alles wird so werden wie es war.“, warf Charles dazwischen. „Das heißt, du willst dich jetzt für die nächsten hundert oder zweihundert Jahre von der Welt abkapseln und ganz Raubtier sein, denn in die Gesellschaft kommst du dann nicht mehr rein.“, gab ich ihm zu bedenken. „Mach, was du willst Junge!“, knurrte er mich gefährlich an. „Nur wag es ja nicht, Gefahr in mein Haus zu bringen!“ Ich seufzte ergeben. *** Am nächsten Morgen kam ich nur schwer aus dem Bett. Die Entwürfe und das Zusammenstellen der Musik hatten lange gedauert. Und ohne ein gewisses Maß an Schlaf fiel es mir besonders schwer, nicht in den furchtbaren Trott zu verfallen, sich immer wieder noch fünf Minuten zu gönnen, nur um dann feststellen zu müssen, dass man sehr spät dran war. So quälte ich mich aus dem Bett und duschte kurz und kalt, um die Lebensgeister zu wecken. Ich stand vor meinem Schrank und stellte mir die immer noch schlaftrunkene Frage, was ich heute wohl anziehen sollte. Eigentlich war mir nach langen Röcken und aufwändigen Blusen, noch ganz im Zeichen der historisierten Zeichnungen. Aber ein Blick aus dem Fenster belehrte mich, meiner Gesundheit zuliebe, eines Besseren. Eine dicke Schicht Raureif lag über allem, wie eine Zuckerglasur. Es musste bitterkalt da draußen sein. Also suchte ich mir warme Wäsche zum Darunterziehen, eine wollene Strumpfhose und ein schwarzes Top. Darüber kamen eine enganliegende Jeans und ein Stehkragenpullover aus elastischer Spitze in 162

©lisabethal antikgoldener Farbe, darüber kamen ein schwarzer Cardigan und eine Kunstpelzweste. Ich packte meinen Laptop ein und frühstückte schnell einen Toast mit Marmelade und eine Tasse Kakao. Mein Mantel und der Rest meiner Kleidung entsprachen dem vom Tag zuvor. Und ich betete zu Gott, dass nicht wieder irgendein Verkehrsteilnehmer nicht dem Wetter angepasst fuhr. Es war beißend kalt und ich wickelte mir den Schal bis kurz unter die Nase und zog mir Mütze und Kapuze über die Ohren. Kalter Wind pfiff durch die Häuserschluchten. Allerdings fuhren die Busfahrer nun entweder mit Winterreifen oder entsprechend langsamer. Zum Glück, denn ich wollte mich nicht noch einmal auf Erik de Boschervilles unglaubliche Reaktionsschnelle verlassen müssen. So kam ich sicher und heil, wenn auch ziemlich durchgefroren, in dem passenden Hörsaal an, nur um festzustellen, dass Erik bereits auf mich wartete und hinten links einen Platz neben sich freigehalten hatte. Ich entledigte mich meines Mantels sowie Schal und Mütze und sah Eriks Schmunzeln, als ich diese abnahm. Vielleicht musste er, wie ich, an gestern denken, als er mir durch die Haare gewuschelt hatte. „Guten Morgen! Ich wette, die Mütze hat schon wieder gewonnen.“ *** Sie sah so unwiderstehlich wie schon gestern aus. Und ehe ich mich auch nur im Ansatz zurückhalten konnte, hatte ich die Hand ausgestreckt und eine vorwitzige Strähne, die die Mütze aus der Frisur gelöst hatte, wieder halbwegs an ihren Platz geschoben. Komplett verwundert stand sie da und

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©lisabethal blickte mich an, so dass ich nur noch verlegen „Entschuldigung“ murmeln konnte. Hatte Charles wirklich Recht, brachte ich durch sie Charles, Florence und mich wirklich in Gefahr? Aber noch bevor ich weiter grübeln konnte, schreckte sie mich mit einem so fröhlichen Tonfall wieder aus meinen Gedanken, dass ich zusammenzuckte und wieder zu ihr aufsah. „Ich hab mich gestern Abend beziehungsweise heute Nacht noch mit unserer Abmachung beschäftigt. Soweit ich herausfinden konnte, gibt es nur 4 Straßen weiter eine Filiale eines Elektronikladens, diese haben zum Glück diese Woche einen sehr bedienfreundlichen und vom PreisLeistungsverhältnis sehr günstigen Mp3-Player im Angebot. Außerdem hab ich meinen Laptop dabei, auf den ich für die Zeit von ungefähr 1900 bis etwa 1918 Musik vorbereitet habe.“, sprudelte sie hervor. „Das klingt großartig. Danke!“, lächelte ich nun scheu zurück. Und sie erwiderte das Lächeln, dass mir warm wurde. Die Vorlesung war langweilig. Es ging um antike Baustoffe und deren Zusammensetzung und Verwendung und heutigen Gebrauch. Nur beim letzten erzählte mir der Mann ein wenig Neues aber auch hier nur drei oder vier Sätze. Die Aufgabe war lachhaft. Wir sollten uns ein bedeutendes Bauwerk in Paris, außer dem Eiffelturm suchen und die verwendeten Materialien herausfinden. „Wir nehmen die Oper.“, flüsterte ich mit Nachdruck in Eleanors Richtung. „Das riesen Ding, allein die Eingangshalle ist doch für so was der blanke Horror.“, gab sie unsicher zu bedenken. Also war sie wirklich schon einmal in der Oper gewesen. „Vertrau mir! Ich weiß wirklich alles über die Bauweise der Oper. Ich hab jahrelang direkt daneben gewohnt und war 164

©lisabethal schon so oft darin, dass sie mir mehr ein Zuhause ist, als meine jetzige Wohnung.“ „D’accord.“, gab sie immer noch nicht ganz überzeugt von sich. Ich entschuldigte mich in der Pause zwischen den Einheiten kurz und atmete draußen tief durch. Nebenher rief ich mir schon mal alle verbauten Materialien ins Gedächtnis. Sie hatte Recht, es war eine Menge, aber ich zweifelte nicht, dass wir es trotzdem in Rekordzeit schaffen würden. Wieder drinnen bemerkte ich schnell, dass ich die Zusammenstellung für die Baumaterialien nebenher tätigen konnte. Denn auch in der Vertiefungseinheit kam nichts explizit für mich neues. Eleanor dagegen war noch zutiefst konzentriert bei den Ausführungen des Dozenten. Und wieder konnte ich meinem Drang nach Berührung nicht Einhalt gebieten und tippte sie leicht an die Schulter. Sofort schossen wieder Wärme und Glück durch mich hindurch. Sie drehte ihren Kopf kurz in meine Richtung. „Fertig mit der Aufgabe!“, lächelte ich sie an. Vor Verblüffung sah ich sie ihre wunderschönen blauen Augen aufreißen. Nach der Einheit fragte sie mich, ob wir gleich losziehen wollten, die Geräte zu besorgen. Und ich sagte zu. Es war ungewohnt und daher auch etwas schwierig für mich mein Tempo dem ihren anpassen zu müssen, obwohl sie für einen Menschen gewiss ziemlich zügig ging. Bisher hatte ich mich außerdem noch nicht in ein solches Geschäft gewagt. Mit der sachkundigen Eleanor im Schlepptau war es allerdings ein Spaß, den ich mir öfter gönnen wollte. Sie steuerte recht zielstrebig auf die Abteilung mit der passenden Aufschrift zu und verscheuchte einen Verkäufer, der sie beraten wollte, mit der Aussage, sie wisse schon genau welches Gerät sie wolle, aber er könne für sie bitte mal 165

©lisabethal nachsehen, ob eine besagte Modellnummer, die sie ihm aus dem Kopf wiedergeben konnte, noch vorhanden war, und wenn ja, in welchen Farben. Der junge Mann wirkte von so viel weiblicher Fachkompetenz total überfahren und zog schnell ab, den Auftrag zu erfüllen. Allerdings kam er auch mit ein paar anderen Modellen zurück, die ihr die Bemerkung entlockten, er müsse sich wohl versehentlich vergriffen haben. Als er dann doch noch versuchte geschäftstüchtigerweise sie von den Vorteilen eines anderen Geräts überzeugen zu wollen, konnte ich direkt sehen, wie sie von freundlich-höflich auf genervt-kühl umschaltete. Sie unterbrach den Jungen dann mit einer durchaus längeren Aufzählung von Nachteilen und verschiedenen negativen Testurteilen und sagte ihm recht deutlich, dass sie nur die Varianten dieser einer besonderen Modellnummer sehen wollte. Zähneknirschend zeigte der Verkäufer dann doch noch das gewünschte. Nebenher erklärte sie mir, warum sie ausgerechnet diese Geräte geordert und die vorherigen abgewiesen hatte, was zum einen mit der Bedienbarkeit, der Energielaufleistung des Akkumulators, der Größe des Speicherplatzes und der notorischen Datensammelsucht der anderen Firma zu tun hatte. Sie fand passende und schnell verständliche Worte. Schlussendlich entschied ich mich für ein solches Gerät mit einem Metallgehäuse wie aus poliertem Blei, Eleanor nahm eines mit rotem Glanzlack. Der Verkäufer brachte das Gewünschte und schien sichtlich erleichtert, als wir uns mit unseren verpackten Gerätschaften in Richtung Kasse aufmachten. Auf dem Weg zur Universität musste ich lachen, als ich noch einmal die Gesichtsausdrücke des jungen Verkäufers Revue passieren ließ.

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©lisabethal „Hast du gesehen, wie dumm der geschaut hat, als du ihm sein tolles Verkaufskonzept um die Ohren gehauen hast.“, japste ich. „Nein“, gab sie unumwunden zu. „Ich war so in Rage, dass der offenbar unbedingt meinte, er müsse mir trotz klarer Aussage etwas anderes andrehen, dass ich nicht darauf geachtet habe.“ „Am Schluss sah er aus wie ein angeschossenes Reh.“, grinste ich schadenfroh. „Der hatte dann echt Respekt vor dir.“ An der Universität verabschiedete sie sich für ein kurzes Mittagessen und ich setzte mich in eine stille Ecke und kontrollierte noch einmal meine sehr lange Materialliste. Nein, ich hatte wirklich nichts vergessen, selbst der Spezialbeton für die unterirdische Auffangwanne, mit der wir einst den unterirdischen Flussarm gefangen hatten, hatte ich angegeben. Ein paar andere Kleinigkeiten, wie die für mein Haus am See oder für die Spiegelkammer fehlten allerdings aus gutem Grund. Im Arbeitsraum angekommen, hatte sie bereits ihre Rechenmaschine ausgepackt. „Schön dich zu sehen.“, strahlte sie mich auf ihre unnachahmliche Art an. „Ich hab mir folgenden Ablauf überlegt. Ich tippe heute die Aufgabe mit dem Computer ab und überspiele derweil auch gleich die Musik auf deinen Mp3Player. Wenn das dann durch ist, kann ich dir zu den einzelnen Stücken oder Musikrichtungen noch was erklären. Und ganz zum Schluss, wenn du noch kannst, kann ich noch so einen groben geschichtlichen Abriss der Zeit geben.“ Glücklich stimmte ich zu, ich würde sie für die nächsten mindestens zwei Stunden ganz für mich alleine haben und konnte so auch noch genießen, schön langsam wieder Teil

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©lisabethal einer Gesellschaft zu werden. Oder vielleicht wurde ich nun zum ersten Mal überhaupt Teil einer richtigen Gesellschaft. Sie packte dann unsere beiden Geräte aus, erläuterte mir die Knöpfe und den Umgang damit – wie man den Akkumulator lud, dass man nur das Steckerteil abziehen musste, um das Kabel an einen Computer anstecken zu können, wo man sah, wie viel Leistung der Akku noch hatte, wie man das Ordnungssystem auf dem Gerät zu verstehen und zu handhaben hatte. All das sog ich, so schnell ich konnte, auf und schaute ihr über die Schulter, als sie an den ersten Dateien demonstrierte, wie diese vom Computer auf das Gerät kopiert wurden. Während des Kopiervorgangs tippte sie auf einem Schreibprogramm meine sehr genaue und detaillierte Materialliste mit einer Geschwindigkeit ab, die mir Bewunderung abnötigte. Offensichtlich war sie es gewohnt schnell und korrekt mit diesem Gerät Texte zu verfassen. Sie war schneller fertig mit der Aufgabenstellung des Professors, als der Computer mit dem Übertragen der Musik. Dann begann der nächste Theorieteil und ich erfuhr etwas über Ragtime, das sie sehr schätzte, über Claude Debussy, über Paul Hindemith, über Zwölftonmusik – scheußliches halbmathematisiertes Geeier in meinen Ohren, nichts dass den Namen Musik verdient hätte – etwas über die damalige Programmmusik und deren heutige Interpretation, die wirklich sehr interessant klang – so ein elektrisches Klavier musste ich auch unbedingt mal haben – etwas über Operette und die Entstehung der Populärmusik. Sie erklärte nebenher immer wieder geschichtliches. Ich hoffte, ich sah nicht zu geschockt aus, als sie vom ersten Weltkrieg und dessen Gräueln berichtete, davon wie Millionen ihr Leben in dieser total sinnlosen Blutwolke aus Tod und überhitztem Patriotismus ließen. Ausgestattet durch die erneuerte Technik mit 168

©lisabethal immer schlimmeren Waffen. Gut, dass keinem von denen auch nur annähernd mein Einfallsreichtum im Töten zur Verfügung stand. Sie erzählte von total verwüsteten Landstrichen entlang der Grenze, von einem Zuviel an Vaterlandstreue und Größenwahn und von der steigenden Spannung unter den Völkern Europas, die der Katastrophe vorausgingen. Mir selbst ging allerdings nicht ganz ein, warum so grausige Zeiten eine so fröhliche Musik hervorbringen konnten, wie diesen Ragtime, auch wenn immer wieder melancholisches durchschien. Ich bedankte mich herzlichst bei ihr nach dieser lehrreichen Zeit, ich hatte nicht auf irgendwelche Uhren geschaut und es waren bestimmt mehr als zwei Stunden herum. Noch ganz mit dieser wunderbar lebhaften Ragtimemusik im Kopf ging ich beschwingt nach Hause, setzte mich ans Klavier und spielte drauf los. Synkopiert mit ungewöhnlichen Rhythmen und einem solchen Glücksgefühl im Herzen, dass ich erst in einer kurzen Pause Florence beschwingt vor sich hin pfeifen hörte. Charles war anscheinend nicht Zuhause. „Was war das denn für tolle Musik?“, wollte Florence wissen, als ich aufgehört hatte zu spielen und sie das Zimmer betrat. Und ich gab alles Wissen, dass ich heute erworben hatte gleich weiter. „Stimmt, sowas hab ich früher öfter gehört. Ich muss zugeben, ich vermisse es ein bisschen. Das war noch schöne Musik.“ Und dann fragte ich, warum mir niemand von dem Krieg erzählt hatte. Davon, dass Deutschland keinen Kaiser mehr hatte und die Grenzen offen waren.

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©lisabethal „Kriege gab es doch immer, und wie lange das ohne Kaiser anhält, wollte Charles erst abwarten.“, erklärte Florence kleinlaut. Als sie mir noch eingestand, dass sie gern noch ein paar Ragtimestücke hören würde, erklärte ich ihr die Bedienung des Mp3-Players, was ihr viel schwerer fiel als mir zu verstehen und so steckte ich ihr einfach einen Knopf der Kopfhörer ins Ohr und ließ sie mithören. Und dann kam nach und nach das Verständnis für den Umgang mit der Technik. ****

Kapitel 14: …in alten Häusern? Die Woche verging fast schon zu schnell. Erik hatte schon nach einem Abend die Funktion des Mp3-Players inne und ich konnte kaum jemals genug Musik zusammenstellen, um seine unbändige Neugier zufriedenzustellen. Schon am nächsten Tag ließ ich ihn die zurechtgemachten Ordner selbst kopieren, damit er den Umgang mit dem Laptop lernte. Kurz dauerte es, bis er bei seinen Doppelklicks den Rechner nicht durch seine Schnelligkeit überforderte, ansonsten verstand er rasend schnell. Es war schon richtig erschreckend. Aber es machte auch Spaß. Denn wo Erik bei allem, was Architektur betraf, einen meilenweiten Vorsprung zu haben schien, konnte ich es mit meinem Technikverständnis noch etwas ausbügeln. Mir fiel allerdings auch auf, dass Erik zu jenen Leuten gehörte, die nie ganz still halten konnten. Es gab keine fünf Minuten, in denen er mir zwar konzentriert zuhörte, aber doch einen recht eingängigen, wenn auch komplexen Rhythmus mit seinen Füßen gegen ein Stuhlbein klopfte.

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©lisabethal Dinge wie Proportionslehre oder ähnliches ließen sich von Erik viel besser lernen, als von irgendeinem Professor. Er erklärte auf Nachfragen alles genau und präzise, ohne je zu viel zu sagen, oder eine Schwäche zu zeigen. Beinah so, als hätte er seit hundert Jahren nichts anderes gemacht als Häuser zu bauen. Und so blieb mir nur eine Möglichkeit ihm zu zeigen, dass ich auch etwas drauf hatte. Ich erklärte ihm die Musik der Neuzeit. Am Tag nach dem Ragtime-lastigen Vortrag kamen der Jazz und der Swing mit dran. Ich versuchte bekannte Jazz-Größen mit einzubauen und zeigte zu Eriks freundlicher Belustigung noch die Tanzschritte für Charleston. „Es ist zum Tanzen eigentlich ganz nett, wenn man zu zweit tanzt.“, gab ich fast schon ein bisschen beleidigt zurück, als er auf mich mit einem Kichern herabsah. Ich hatte Bigband-Musik und Musikstücke und Lieder aus den goldenen Zwanzigern mitgebracht. Zudem hatte ich die paar Stücke, die ich definitiv in Kriegszeiten einordnen konnte mitgenommen. Und so erzählte ich vom Wiederaufbau nach dem Krieg. Von den chaotischen Strukturen und dem Versuch des Aufbau von demokratischen Strukturen. Ich erzählte vom Versailler Vertrag und von der Wirtschaftskrise und der Hyperinflation. Von Armut und Hunger und Verelendung. Vom Umbruch durch Hitler und die Nazis, von deren Gesellschaftssystem und deren Monumentalismus und warum es heute so schwer war, noch Originalmusik aus der Zeit zu finden. Ich erzählte vom zweiten Weltkrieg und den Greueln. Von Konzentrationslagern und deren schlussendlicher Befreiung. Von Fanatismus und Fatalismus. Von blindem Gehorsam und Terrorherrschaft. Als ich endete lag Deutsch171

©lisabethal land in der Vorstellung in Trümmer, zerbombt, aufgeteilt unter den Siegermächten. Erik saß da und hörte zu. Die Augen ins Leere gerichtet, schien er alles auf sich wirken zu lassen, so als wolle er sich die beschriebenen Fakten verbildlichen. Ich hatte Bilder von Hitler und eine seiner Reden im Internet gefunden, ebenso wie Bilder über den Krieg, die Gräueltaten, die Zerstörung. Aber auch banales wie Mode aus den 20er und 30er Jahren. Und ich hatte versucht, den einen oder anderen Architekturstil näher abgebildet zu finden. Manches fand Erik toll, über vieles schüttelte er nur ablehnend den Kopf, vor allem den Bauhausstil bewertete er sehr ambivalent. Zum NS-Monumentalismus gab er nur den Kommentar: „Schrecklich! Plump! Einfallslos! Was für eine Verschandelung!“ Das letzte Wort kannte ich vorher noch nicht auf Französisch und musste es mir von ihm übersetzen lassen. Tags darauf kam ich dann mit den 50ern an und mit einer Menge früher Pop-Musik. Mit Dean Martin und Fred Astaire. Mit frühen Schlagern und Rock’n’Roll. Da ich nur Grundschritte im Rock’n’Roll konnte, zeigte ich ihm Videos und versuchte zu erklären, warum der Tanz der Aufreger der Zeit gewesen war. Was er komischerweise sofort nachvollziehen konnte. Zudem versuchte ich von der Teilung Deutschlands und dem Wiederaufbau und dem Zusammenschluss der 3 Westzonen zu berichten. Von Währungsreform und Wirtschaftswunder und deutsch-französischer Zusammenarbeit und dann auch Freundschaft. Von Not und Armut, von Gefangenen und Befreiten. Von Besatzungsmächten und Amerikanern, die auch mal Kaugummi oder Schokolade an deutsche Kinder verteilten und die in Deutschland vor der Rassentrennung sicher waren. Ich erklärte den Marshall-Plan und die UNO mit ihrem Neubau in New 172

©lisabethal York. Bei dem Foto schüttelte Erik den Kopf und verzog ein wenig angewidert die Lippen. Offenbar war er kein Freund von Stahl-Glas-Konstruktionen. Da verstand ich ihn gut. Von der ganzen Nachkriegsarchitektur überall auf der Welt schien er nicht viel zu halten. Auch da verstand ich ihn. Als er mich nach bekannten Komponisten klassischer Musik fragte, musste ich ihm antworten, dass es für die rein klassische Musik kaum noch bekannte Leute gab. Am bekanntesten waren noch einzelne Komponisten von Musicals oder Operetten, aber nichts von solchem Weltruhm und solcher Meisterschaft wie in den Epochen zuvor. Das einzige wo sich noch gute klassische Komponisten fanden, waren Filmmusiken, die besonders aufwändig gestaltet wurden. Ich versprach verstärkt solche miteinzubinden. Die Aufgabe für den nächsten Tag war allerdings gleichzeitig schön und eine Katastrophe. Entwerfe dein Traumhaus. Einerseits war die Anforderung toll, man konnte sich kreativ ausleben. Auf der anderen Seite wusste ich, dass meine Zeichnerei Erik nie genügen würde. Dann kam mir DIE Idee, wir würden uns die Arbeit teilen, ich würde mir Skizzen machen und das Haus am Computer planen, Erik konnte die Pläne zeichnen. Er stimmte zu. Als wir am Freitag gerade im Gehen begriffen waren, hielt er mich noch einmal auf. „Wäre es zu viel für dich verlangt, wenn du mit deinem technischen Detailwissen nach einem tragbaren Computer für mich Ausschau halten könntest?“, bat er mich, noch zwischen Tür und Angel. „Ahm, sicher kann ich mal da mal umsehen. Soll er irgendwas Besonderes können?“

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©lisabethal „Naja, dein Programm soll darauf laufen und wenn es eine Möglichkeit gibt Musik damit aufzunehmen, wäre es sehr von Vorteil.“ „Das mit der Musik ist so eine Sache.“, erklärte ich ihm. „Für wirklich gute Aufnahmen sind die bereits eingebauten Mikrofone nicht gedacht, aber ich kann ja mal versuchen herauszubekommen, wo es passable Mikrofone mit Aufnahmeprogramm gibt.“ Erik bedankte sich artig und meinte ein wenig leidend aussehend, er sollte jetzt wohl besser nach Hause. Offensichtlich wirkte die verbesserte Medikamentierung bei ihm Wunder, denn noch am ersten Freitag hätte er es nie so lange ausgehalten. Noch viel mehr überraschte mich dann aber noch eine Reaktion von ihm, die ich so niemals erwartet hätte. Wir hatten uns schon verabschiedet und standen beide schon halb in der Tür, da drehte sich Erik noch einmal zu mir um, nahm mich kurz und beinah scheu in den Arm und flüsterte mir ins Ohr: „Danke!“ Und ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen ging er nach Hause. Ich selbst stand da wie ein Ölgötze und musste mich erst fassen, ehe ich mich gedankenverloren auf den Heimweg machen konnte. Erst nach einem passablen Abendessen war ich wieder fähig technisch zu denken. Und so setzte ich mich Zuhause an die Skizzen für mein Haus. Aber als ich wohl den siebten Bogen Papier nach etwa zwei Stunden zerknüllt hatte, wurde mir bewusst, was für eine Herkulesaufgabe man uns da gestellt hatte. Nichts, was mir einfiel, genügte mir selbst als Traumhaus. Zur Inspiration schaltete ich dann meinen Rechner an und surfte auf der Suche nach uralten Baustilen herum.

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©lisabethal Ich stieß auf römisch-pompeijanische Atriumshäuser und hatte meine Inspiration gefunden. Ich übernahm den ungefähren Schnitt und die etwaige Raumaufteilung. Allerdings setzte ich statt schießschartengroßen Fenstern hohe französische in die Seitenwände um die Lichtdurchflutung noch zu steigern. Die Dachkonstruktion sollte mit Glasplatten auf Metallschienen wie ein integrierter Wintergarten abdeckbar sein, so könnte man gesteuert Regen in den Wohnraum lassen und so auch für ein besseres Raumklima, der Zimmerbrunnen war ja so auch eingebaut und es ließ sich leicht lüften. Das Dachgeschoss war für Ateliers oder Lagerräume ebenso vorgesehen, wie es für Schlafzimmer genutzt werden konnte. Das Haus war schön und weitläufig und für einen allein viel zu groß, aber an so was zu denken war nicht Teil der Aufgabe gewesen. Ich zeichnete an der ersten Planskizze zwei Stunden und an denen für die Außenansicht nochmal eineinhalb. Mein Magen knurrte hörbar als ich mich danach streckte. Aber ich war mit mir zufrieden. Einen Mitternachtssnack gönnte ich mir auch noch, soweit zwei reichlich belegte Käsebrote und ein paar Weintrauben als so etwas bezeichnet werden konnten. Anderntags fragte ich Henry, wie ich aushelfen konnte und wurde als zweite Verkäuferin in die Boutique gesteckt. Die Kundin, die so gegen Mittag hereingeschneit kam, trug eine Sonnenbrille, was mich bei der Witterung zwar wunderte, aber Paris ist ja bekanntlich die Stadt der schrillen Vögel. Ich bediente sie nach bestem Wissen und Gewissen, riet von einer Farbe ab, die nicht zu ihrem Hautton passte und von einem Kleid, dessen Dekolletee bei ihr so weit nach unten

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©lisabethal rutschte, dass beinah die Brustwarzen zum Vorschein gekommen wären. Sie kaufte sieben Kleider, drei Tops und 4 Tuniken, dazu zwei Hosen und drei Röcke und bezahlte alles im Vorraus per Kreditkarte. Zudem fragte sie, wann neue Sachen eintreffen würden, denn es gefiele ihr hier sehr gut, es sei eine so familiäre Atmosphäre. Ich meinte lächelnd nur, dass es mich sehr freue, wenn sie sich bei uns so wohl fühle, und erklärte, dass ich nicht vor der Abholung sagen könnte, wann die Designer etwas Neues aus dem Hut zauberten. Sie lachte und verabschiedete sich. Erst später erfuhr ich von Justine, dass dies eine sehr angesagte französische Fernsehschauspielerin war. Und was es für eine Ehre und für ein gutes Geschäft wäre, wenn sie hier einkaufen und sich wohlfühlen würde. Insgeheim ging mir durch den Kopf, dass dadurch, dass ich es nicht wusste, ich diesen familiären Eindruck erwecken konnte, denn ich erstarrte nicht in Ehrfurcht und war auch nicht unterwürfig vorgegangen. Justine lobte mich allerdings wieder mal über den grünen Klee bei Henry. Und als der hörte, was die Dame alles gekauft hatte und bald wieder kommen wollte, stimmte er mit ein. Es wurde mir beinah schon peinlich. Am Nachmittag kam ich dann auch noch auf die Idee meinen Hausentwurf mal Henry oder Tom zu zeigen. Beide waren von der Idee an sich ganz angetan. Henry sogar so sehr, dass er sich gleich danach Stift und Papier nahm und ein Abendkleid im Stil einer römischen Toga entwarf. Ich selbst fand das ein bisschen zu viele Falten und verdrückte mich. Dann suchte ich für Erik einen passenden Laptop.

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©lisabethal Da Erik immer ausgab, Geld spiele keine Rolle, suchte ich einen, der die nächsten Jahre schadlos auch aufwendigere Graphikprogramme oder Spiele bestreiten würde. Das Geschäft, in dem wir waren, hatte so einen mit einem ansehnlichen Bürokomplettpaket auf Lager. Denen würden wir dann am Montag einen Besuch abstatten. Ich notierte mir wieder die genaue Artikelnummer, Vorsicht ging vor. Danach durchforstete ich das Internet nach einem passenden Mikrofon. In einem Musikgeschäft nicht weit vom Jardin du Luxembourg wurde ich fündig. Das wäre allerdings ein ziemlicher Fußweg oder eine Fahrt mit der Metro. Naja, vielleicht ging das nach der Zusammenführung unserer Häuserskizzen. Hoffte ich. Der Sonntag verlief dann mit Hausarbeit und faulenzen bis die Wäsche getrocknet war. *** Was genau mich bewogen hatte, sie in den Arm zu nehmen, kann ich im Nachhinein nicht mehr genau sagen. Zum Teil spielte wohl der Gedanke, dass ich mir beweisen wollte, dass ich im Moment trotz Hunger keine Gefahr für sie darstellte, eine entscheidende Rolle. Der andere Teil war wohl meiner Sucht nach ihrer Nähe zuzuschreiben. Ich rechnete mit einem langen Montag und folgte wie ein braver Schuljunge – der ich selbst niemals gewesen war – Charles und Florence nach Silvane. Ohne über meine Pläne zu reden. Ich hatte keine Ahnung wie sich meine Musik durch Aufnahmetechnik anhörte. Allerdings hoffte ich, dass es ihre Wirkung vielleicht etwas mildern konnte.

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©lisabethal Ich trank in geregelteren Maßen als die letzten Male. Wenn ich ihr am Freitag trotz Sonnenlicht und Hunger nichts angetan hatte, würde ich es wahrscheinlich auch sonst nicht tun. Charles und Florence sahen es gerne so und ich hatte gelernt meinen Mund zu halten. Am Sonntag verkroch ich mich in meine Räume und hörte diese neue Populärmusik… und ich fand das meiste immer noch lahm, konventionell, nach Mustern gestrickt und nur bedingt ansprechend. Ich hätte tausende in einer Woche mit weit besserer Qualität komponieren können. Aber die Möglichkeiten der elektrischen Instrumente waren großartig. Ich brauchte unbedingt ein paar davon. Und am besten noch jemanden, der mir etwas von diesen Verzerrungs- und Zusammensetzungsprogrammen für die Computer erklärte mit der passenden Technik dazu. Mein Gott! Mir wurde schon schwindlig mit dem, was mir für Möglichkeiten und Kompositionsfetzen damit durch den Kopf gingen. Aber immer einen Schritt nach dem anderen. Erst musste ich den allgemeinen Umgang mit dem Computer lernen, dann kam der Rest nach und nach. Und ich war mir jetzt sicher, dass ich ihn doch noch ziemlich einfach lernen konnte. Ich hatte ja eine gute Lehrmeisterin, zum Glück! Montagmorgens kam ich in den Hörsaal und traf auf eine bereits anwesende Eleanor. Sie erklärte mir, dass sie einen passenden Laptop – ich versuchte mir den Fachbegriff für die tragbaren Computer endlich zu merken – für mich in dem Laden gefunden hätte, der auch den Mp3-Player verkauft hatte. Allerdings meinte sie, er sei ziemlich teuer. Ich grinste sie nur an: „Mein Konto gibt das wirklich her!“ Oft hatte ich zwar noch nicht davon gebraucht gemacht, aber Florence‘ Liebe zu teurer Kleidung teilte ich, und so 178

©lisabethal hatte ich schon mehrmals die elektronische Karte meiner Bank benutzt um größere Beträge zu bezahlen. Da waren diese Dinge wirklich praktisch – Bargeld wäre hier eine zeitliche Verzögerung gewesen. Außerdem, so fuhr sie fort, hätte sie ein Geschäft mit großer Auswahl an passenden Mikrofonen gefunden. Allerdings sei dies in der Nähe der Opera Garnier – ich hasste diesen Namen für meine Oper, mein Zuhause, aber ich sagte nichts. Mikrofone seien allerdings nicht ihr Spezialgebiet, gab sie offen zu und gab zu bedenken, dass wir für die Beratung hier Zeit einplanen sollten und es deswegen eher im Anschluss an die normale Arbeit angehen sollten. Dem stimmte ich unumwunden zu. Vielleicht sollte ich danach auch mal wieder in meinem Haus vorbeischauen. Ich vermisste es. *** Erik war an diesem Montag so gut drauf wie noch nie. Er scherzte, lachte, dass die braunen Augen leuchteten und ließ sich auch von der Aussicht auf einen arbeitsreichen Tag nicht schrecken, er schien es regelrecht zu genießen. Nur als ich die Oper erwähnte, huschte so etwas wie ein Schatten über sein Gesicht. Das Geld war ihm wirklich egal. Mathematik war überschaubar schwierig und die Aufgabe so leicht, dass Erik nach bereits 10 Minuten in der Übungsstunde damit nebenher fertig war. Und zwar kleinschrittigst bearbeitet. Da sollte wohl ja keiner meckern. Dem Professor und dem Assistenten verdrehte er immer wieder genervt die Augen, wenn dieser wieder mal etwas ausführlicher erklärte, als er es für unbedingt notwendig hielt.

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©lisabethal Danach würgte ich im Schnellverfahren ein belegtes Baguette im Gehen hinunter und nahm ebenfalls im Marschieren etwas von dem eingekauften Orangensaft zu mir. Erik und ich machten uns auf dem Weg zu dem uns bereits bekannten Elektromarkt. Der Verkäufer – warum nur waren hier nur Männer angestellt bei den Computern – wollte kaum dass ich angefangen hatte nach dem Laptop Ausschau zu halten, anfangen mich vollzulabern. Allerdings kam er nicht weit, ich schnitt ihm mit der höflichen Tatsachenfeststellung, ich hätte gerne jenen besonderen Laptop mit dieserundjener Artikelnummer und eine genaue Beschreibung des mitgelieferten Softwarepaketes, sein Verkaufsgespräch für wenig technikbegeisterte Mädchen ab. Erik grinste mich an, sagte aber nichts. Es schien ihn köstlich zu amüsieren, wie ich mit den verdutzten Verkäufern umsprang. Etwas überrumpelt holte der Verkäufer dann den besagten Laptop und erklärte mir die genaue Zusammensetzung des Softwarepakets, mit dem ich dann leidlich zufrieden war. Erik bekam das verpackte Gerät dann in die Hand gedrückt. Eigentlich hatte ich zur Kasse gehen wollen, da fiel mir etwas ein. Ein Laptop machte nur komplett Sinn, wenn man einen passenden Internetanschluss hatte. Ich schlug die Hacken in den Boden und zog mir Erik kurz zur Seite, dem Verkäufer einen sehr warnenden Blick zuwerfend. Der blieb brav auf Abstand. „Ich nehme an, du hast keinen Internetanschluss im Hause.“ Das war eine halbe Frage von mir. „Nein, durchaus nicht. Ist das wichtig?“ „Ich dachte, wenn wir schon mal hier sind und einen Laptop kaufen, könnten wir vielleicht über eine mobile, funkbetriebene Lösung dafür sehen, denn ein flüssiger Umgang mit dem Internet ist heute ziemlich wichtig. Allein wenn es um 180

©lisabethal Kostenvergleiche, Informationsbeschaffung oder schnelle Kommunikation geht.“ „Ich muss mich da auf dein Urteil verlassen. Du würdest mir also zu so etwas raten?“, kam seine Gegenfrage in nachdenklichem Ton. „Ja, schon. Wir haben zwar in der Universität einen freien Zugang und der ist auch leidlich schnell, aber das Problem ist, dass du dann immer zur Internetnutzung in der Uni sein musst. Der Sinn des Internets ist allerdings auch eine gewisse Mobilität. Man kann damit sehr schnell und unkompliziert kommunizieren. Z.B. könntest du mir ein aufgenommenes Musikstück in Sekundenschnelle zuschicken ohne auch nur das Haus verlassen zu müssen. Oder mir eine elektronische Nachricht schreiben, wenn noch irgendeine Änderung im Arbeitsablauf anfällt, du einen Tag nicht kommst oder ähnliches, ohne auf die Post und deren lange Lieferzeit angewiesen zu sein. Nur Sekunden nachdem du auf Senden geklickt hast, habe ich die Nachricht und kann ebenso schnell antworten.“ „Das klingt wirklich interessant.“ „Die Lösung, die ich vorschlagen würde, da ich denke, dass dein Hausherr keine technischen Umbauten liebt, wäre ein kleines, transportables Gerät, das dich über eine Funkverbindung ins Internet einwählt. Die Kosten daraus kann man über ein Vorkasseguthaben leicht überblicken und meist fallen sie auch nur an, wenn du das Internet wirklich nutzt. Allerdings bin ich mit den derzeitigen Tarifen nicht so ganz firm – schon gar nicht in einem mir noch nicht so vertrauten Land, deutsche Konditionen kenne ich besser.“ „Klingt einleuchtend. Ich denke, ich kann dir zustimmen. Dann quetsch mal den Verkäufer zu den Konditionen dazu aus. Ich höre zu und lerne!“, grinste er mich schief an.

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©lisabethal Und so schnappte ich mir den ziemlich geschockt dreinblickenen Verkäufer noch einmal und interviewte ihn zu den Vertragsbedingungen für die verschiedenen Surfsticks. Da ihm mittlerweile klar geworden war, dass man mit mir nur Gespräche auf absoluter fachlicher Augenhöhe führen konnte, versuchte er erst gar nicht mir irgendwas schön zu reden, sondern schilderte einfach nur die tatsächlichen Tarife, wobei ich immer wieder verschiedenes nachhakte. Nach dem dritten verschiedenen Tarif begann dann Erik die Fragen zu stellen. Und zwar so, dass ich nicht der Verkäufer sein wollte. Mit Erik was zu verhandeln war wirklich kein Zuckerschlecken. Es kam einen vor, als hätte er das Handeln und Verhandeln schon sein ganzes Leben lang gemacht. Und damit brachte er den Verkäufer dann endgültig zu Schweißausbrüchen. Schließlich entschied sich Erik, dem der schon leicht panische Gesichtsausdruck des Verkäufers, als er entlassen war, diebische Freude bereitete. Er bezahlte - mit EC-Karte, ich war überrascht – und wir marschierten wieder Richtung Universität. Auf dem Weg bot ich ihm noch an, über die nächsten Tage eine passende Tasche für das Gerät zu nähen, was er dankend annahm, aber nur unter der Voraussetzung, dass er mir Material und Arbeitszeit bezahlen durfte. Ich seufzte, hatte ja schließlich noch Eriks Verhandlungsgeschick mit dem Verkäufer im Hinterkopf, und fragte nur noch, ob ihm eine Überschlagtasche aus Neopren und Wachstuch in Schwarz genehm war. Er fragte nach, was der Vorteil dieser Materialien war und ich antwortete so sachkundig ich konnte. Wieder an der Uni angekommen nahmen wir unseren Arbeitsraum in Beschlag. Ich arbeitete an zwei Laptops gleichzeitig, während Erik meine Skizzen noch einmal übertrug und noch weit verbesserte. Mit konstruktiver Kritik sparte er 182

©lisabethal nicht, aber es klang nie so, als wäre ich ein total unbegabter Tölpel, sondern eher als hätte ich einfach nur ein gewisses Wissen noch nicht oder ein gewisses Gefühl, was Proportion anging. Ganz im Gegensatz zu ihm. Sein Entwurf war der Hammer. Es hatte etwas von Antonio Gaudi, denn es gab viele abgerundete oder geschwungene Flächen, alles wirkte irgendwie lebendig, dazu kam aber auch ein Hauch von JugendstilGeradheit und ich war mir sicher, dass ich mehr FibonacciFolgen finden würde, als ich bisher jemals gesehen hatte. Das hier war Perfektion in Design und Funktion. Und der blanke Horror es richtig in mein Programm einzutragen. Mehrmals musste ich bei den Winkeln in den Plänen nachfragen oder nebenher Krümmungskurven ausrechnen – sehr anstrengend. Gegen ihn war ich total der plumpe Anfänger. Was mir aber auffiel: wo mein Haus auf ein Maximum an Tageslicht und Offenheit setzte, war seines regelrecht abgeschottet. Die Fenster zum Teil zwar hoch aber sehr schmal und weit weniger, als ich sie eingesetzt hätte. Außerdem waren sie, wie die Türen, oft geschwungen und kaum in der Außenhülle auszumachen. Das Meiste sollten wohl Schiebekonstruktionen sein. Ich startete zudem seinen nigelnagelneuen Laptop und begann nebenher noch diesen gebrauchsfertig einzurichten. Das mit E-Mail-Adresse etc. würde ich ihm erst erklären, wenn wir beide mit der Architektur fertig hatten. Erik war vor mir fertig – welch Wunder. Er hatte noch die eine oder andere kleine Änderung bei meinen Skizzen durchgesetzt, etwa eine andere Treppenkonstruktion oder andere Neigungswinkel für das Dach, aber ansonsten blieb er bei meinem Entwurf. Ich brauchte allerdings fast 3 Stunden bis er mit meiner Animation zufrieden war, dafür konnte man danach eine 183

©lisabethal regelrechte Hausbesichtigung machen. In meiner Animation musste ich nur noch Eriks Änderungen der Pläne anpassen. Wir legten die Videos fest und ich speicherte alles. Mathematik ließ ich mir von ihm zur Abschrift mit nach Hause geben. Dann kam sein Laptop dran. Ich erklärte ihm erst recht theoretisch, wie das mit E-Mails, dem Internet, dem Abspeichern und und und funktionierte. Meistens brauchte es aber auch nicht mehr als das, damit Erik sich zurecht fand. Erst als ich kurz wegen der Erstellung einer E-Mail-Adresse nachdachte, kam mir, dass wir alle von der Universität am Anfang eine über das Campus-Netzwerk bekommen hatten, die sollte für Erik vollkommen ausreichen – erstmal. Dazu konnte ich ihm gleich erklären, wie er mit seinem Laptop in das WLAN-Netzwerk der Universität kam und von dort auf die Standardseite des Campusservers mit der EMail-Adresse. Die war ziemlich einfach gehalten, das Einstiegspasswort war das jeweils angegebene Geburtsdatum. Außerdem erklärte ich Erik wie er es ändern könne, was er auch gleich tat. Der Bequemlichkeit halber machte ich das E-Mail-Programm des Softwarepakets klar, damit das umständliche Einwählen über den Browser ein Ende hatte. Erik dankte es mir. Dann erklärte ich ihm die grundlegenden Funktionen von Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Medienwiedergabe und Bildbearbeitung. Auch das Adressbuch und die Kalenderfunktion riss ich kurz an. Aber über die zuckte er nur die Schultern. Ich kopierte ihm mein Programm auf die Festplatte und starrte dann erschrocken auf die Uhr. „Wir müssen zu dem Musikladen für das Mikrofon, sonst machen die uns noch zu bevor wir ankommen!“, entfuhr es mir erschrocken. Schnell packten wir zusammen, wobei 184

©lisabethal Erik etwas Probleme hatte, den Laptop in seiner Tasche richtig unterzubringen. Und ich war mir sicher, es würde doch noch zu knapp werden. Zu Fuß, denn Erik verweigerte schlicht eine Fahrt mit der Metro, kamen wir kurz vor Ladenschluss um 19 Uhr an und Erik okkupierte noch den ziemlich verdutzten Verkäufer mit seinem Anliegen, wobei ich auch hier nicht der Verkäufer sein wollte. Allerdings war der hier sehr kompetent und vor allem geduldig, was man wahrscheinlich im Umgang mit Künstlern einfach sein musste. Erik entschied sich dann nach mehrmaliger technischer Rücksprache mit mir für ein Gerät, für welches er auch noch gleich eine Tasche kaufte, denn in seine wäre es beim besten Willen wegen des Laptops nicht noch reingegangen. Es war nach halb acht und mein Magen machte sich lautstark bemerkbar. Wie peinlich. *** Dass sie nach einem so langen Tag Hunger hatte, war eigentlich natürlich. Dumm nur, dass ich nicht gleich daran gedacht hatte. „Ich sollte mir wohl etwas zu essen besorgen und dann nach Hause gehen.“, kommentierte sie ziemlich kleinlaut und mit betretenem Gesicht. Meine guten Manieren gekoppelt mit meiner Auffassung von Ritterlichkeit sprangen an. „Kommt überhaupt nicht in Frage, dass du dir noch allein etwas zu essen holst, wenn ich dir schon die ganze Mühe mache und dich von einem vernünftigen Abendessen abhalte. Ich komme mit und bezahle auch.“ Sie wollte protestieren, aber ich fiel ihr ins Wort. „Du hast heute so viel für mich getan und du versuchst mir neben all 185

©lisabethal der sonstigen Arbeit mir noch etwas wichtiges beizubringen, wofür du keine Entlohnung verlangst, da ist es das mindeste, wenn ich für dich einmal ein Essen bezahle. Sieh es bitte einfach als Sold für deine Beratertätigkeit den ganzen Tag an. D’accord?“ Seufzend stimmte sie zu. „Allerdings bin ich was Essen angeht etwas“, ich ließ eine kleine Pause, „unerfahren.“ „Das sollte nicht so schwer sein. Hier im Viertel ist ja eh alles mit kleinen Restaurants zugepflastert. Wir können uns auf dem Rückweg ja nach etwas passendem umsehen. Allerdings ist es mir immer noch ungemütlich bei der Vorstellung, dass du mir beim Essen zuschauen musst.“ Ach, deswegen der Widerstand. Sie war rührend. „Keine Angst.“, scherzte ich zurück. „Ich halte mich an Wasser und den Kellner auf Trab.“ Wir besprachen dann auf dem Heimweg noch dies und das technisches. Sie erklärte mir immer noch verschiedene Funktionen bei der Versendung von E-Mails, als sie unweit der Universität vor einem Restaurant mit italienischer Küche stehen blieb. Kurz studierte sie die ausgewiesene Speisekarte und schaute mich dann fragend an. Mein auffordernder Blick in Richtung Kellner ließ den eiligen Schrittes zu uns treten und uns einen Platz für zwei anbieten. Sie bestellte sich ein Glas Wasser, ebenso wie ich – auch wenn es bei mir um ein reines Alibi ging – und eine Pizza. Ich selbst studierte zwar die Speisekarte bestellte aber natürlich nichts. Zehn Minuten später kam dann ihr Essen, welches sie mit gesundem Appetit und guten Tischmanieren verzehrte, auch wenn sie auf die stumpfen Messer schimpfte. Ich musste mir einen Anfall ungewöhnlicher Heiterkeit verbeißen. Als ihr 186

©lisabethal Glas Wasser zur Neige ging, orderte ich mit einer respektgewohnten Handbewegung den Kellner, der schleunigst ein neues Glas brachte. Sie schluckte ihren Bissen hinunter und sah mich dann schief an. „Wie kommst du auf die Idee, ich könnte noch etwas trinken wollen?“, fragte sie mich in einem Ton, der zwar liebenswürdig aber auch mit einer solchen Spitze versehen war, dass mir klar wurde, einen Fehler begangen zu haben. Aber welchen? „Du kannst unmöglich heute die empfohlene Mindestmenge an zwei Liter Flüssigkeit intus haben.“, versuchte ich mich über die gesundheitliche Ebene aus der Schlinge zu ziehen. Vergeblich. „Ich kann durchaus für mich selbst bestellen, dafür reicht trotz Akzent mein Französisch dann doch noch.“, erklärte sie mir mit einer Spur Sarkasmus und einer hochgezogenen Augenbraue. Oh, ja, richtig. Emanzipierte Zeiten. „Pardonne moi, s’îl te plait. Ich bin wohl über das Ziel hinausgeschossen.“, gab ich unumwunden zu. „Ich bin nicht oft mit anderen Leuten zum Essen aus. Ich wollte nur höflich und zuvorkommend sein, so wie ich eben erzogen wurde.“ Und nun war sie es, die mich entschuldigend ansah. Oh wie süß! So durfte sie mich wirklich öfter anschauen, oder mit dem Lächeln, das sie in letzter Zeit so oft zeigte, oder wenn sie besorgt um mich war. Oder… Langsam wurde mir der Tag zu viel. Sie stieg mir zu Kopf. Offensichtlich hatte sie das wieder gnädig gestimmt. Danach schlug ich vor, uns ein Taxi kommen zu lassen, denn ich muss zugeben, mir war es zuwider die Schachtel des Mikrofons die ganze Zeit zu Fuß mitzuschleppen und ich wollte sie in jedem Fall sicher bei sich zuhause wissen. 187

©lisabethal Schließlich war es mittlerweile schon fast neun Uhr und die Straßen von Paris sind, meiner Ansicht nach, alles andere als besonders sicher für eine junge Frau, egal wie emanzipiert sie ist. Letzteres verkniff ich mir allerdings aber tunlichst laut zu erwähnen. Auch hier kam von ihr der kurze Protest wegen des leidigen Geldes. Aber auch hier ließ ich nicht locker. Und sie gab seufzend nach. Die Taxifahrt war, überraschenderweise, dann doch noch eine Herausforderung der besonderen Art. So nah neben ihr zu sitzen und nicht weg zu können, war schwer auszuhalten. Ständig musste ich mich zusammenreißen, um nicht mehr Berührung zu suchen, als normaler gesellschaftlicher Standard war. Zudem stieß sie durch die sehr zügige Fahrweise des Fahrers ständig an mich, mal mit einem Knie, mal mit der Schulter, einmal sogar mit dem Kopf, als wir viel zu schnell scharf rechts abbogen und sie sich nicht mehr ausbalancieren konnte. Am liebsten wäre mir gewesen, sie hätte ihren Kopf nie mehr von meiner Schulter genommen. Ständig musste ich den Drang unterdrücken, den Arm über die Lehne der Rückbank zu legen und die mir abgewandte Schulter zu fassen und sie zu mir zu ziehen. Mehr als einmal hatte ich die Bewegung dazu schon halb ausgeführt, nur um den Arm wieder nach unten zu holen. Ich wollte so gerne mehr von ihrer Nähe. Ich brauchte im Moment keine Nahrung, ich brauchte eigentlich nur sie. Nie hatte ich wissen wollen, wo sie wohnt. Aber dass ich das jetzt nebenbei erfahren würde, dämmerte mir erst, als wir schon in das Taxi gestiegen waren. Es bleibt nur zu hoffen, dass ich keine ebenso schlimme Obsession für sie entwickle wie jene, die mich schlussendlich schon einmal das Leben kostete. Wobei, ich habe es geschafft mit Drogen und

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©lisabethal dem größten Teil meines Selbsthasses fertig zu werden. Vielleicht bekomme ich das ja auch noch in den Griff. Wir kamen in einer kleinen netten Straße unweit der Innenstadt an. Die Rue des Arbres war noch genau das, was sich ein Tourist unter dem Pariser Flair vorstellte. Die genannte Adresse gehörte zu einem Block, in dem sich eine kleine Boutique fand: Henry Archer. Wohl ein Verwandter, der gute Geschmack lag demnach in der Familie. Sie bedankte sich im Aussteigen noch für den schönen Tag, das Essen und die Heimfahrt und wünschte mir und dem Taxifahrer noch eine gute Nacht. *** Ich kam um kurz vor halb zehn vor der Boutique an, tappte nach hinten, nur um festzustellen, dass Henry und Tom noch werkelten und setzte mich kommentarlos an einen der großen Tische, um Mathematik noch abzuschreiben. Dann suchte ich mir die Sachen für Eriks Tasche zusammen. Ich würde ihr den gleichen Grundschnitt wie meiner eigenen verpassen, allerdings versuchte ich eine zusätzliche Klappentasche daran anzusetzen, damit das Mikrofon besser noch zu verstauen war. Wachstuch und Neopren sind wirklich großartige Materialien, sie erleichtern einem das Arbeiten sehr. Man muss sie nicht versäubern, denn sie fransen nicht. Sie sind stabil und nicht elastisch, so dass nicht zu viel verrutschen oder sich komisch kräuseln kann. Kurz fragte ich Henry, ob ich eine Sonderbestellung meines Kommilitonen noch machen konnte und was ich seiner Meinung nach dafür verlangen sollte, er bekäme den Betrag von mir sicher überreicht. Henry ließ sich dann soviel davon ablenken, dass er den Diskurs über eine passende Handtasche für Madame C*s mittlerweile für 189

©lisabethal dunkelgrünpetrol gehaltenes Spitzen-Samtabendkleid auch an mich weiterreichte und mir nebenher beim Aufstecken des Papierschnitts half. Ich schlug etwas vor, an das beide noch nicht gedacht hatten. „Die Farbe ist doch beinah exakt so in den Schattierungen eines Pfauenauges enthalten. Man könnte ein kleines Täschchen mit einem so hübschen verschnörkelten alten Verschluss machen – aus dem Rest des Samts und auf die Vorderseite mit einer Perlenstickerei das Pfauenauge daraufsetzen. Das ist dann ein Eyecatcher, aber nicht zu sehr Ablenkung von dem Kleid und ein absolutes Einzelstück, das genau zum Ensemble passt.“ „Du meinst so?“, fragte Tom nach und setzte sich an meine andere Seite, zog seine Stifte heran und begann einen recht exakten Entwurf, den Henry mit einem Auge mit beobachtete, während er mir half, den Stoff zuzuschneiden. Und während ich die Teile der Tasche zum Nähen zusammensteckte wurde ich abwechselnd von Tom und Henry zu Erik befragt. Beide schienen da wohl etwas mehr zu wittern als nur arbeitsbedingte Freundschaft. Und ich fragte mich auch immer mehr, ob sie nicht recht haben konnten, ob ich nicht die Augen vor etwas verschloss, das eigentlich für alle sichtbar war. Um Mitternacht – Tom und Henry hatten wirklich meine Version des Abendtäschchens genommen – war auch meine Tasche zu meiner Zufriedenheit fertig und ich schaltete das Licht aus und hängte den Schlüssel an die passende Stelle. Ich fiel in mein Bett. Der Tag war lang genug gewesen. Weitere Nachhilfe für Geschichte würde warten müssen. ***

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©lisabethal Ich kam nach Hause und rannte direkt Charles in die Arme. Wortwörtlich. So vertieft war ich noch in die Gedanken an sie, an den Tag im Allgemeinen und an die Technik, die ich mit mir herumtrug. „Du riechst, nach Mensch, nach menschlicher Nahrung und ich wollte gerade nach dir suchen. Wo warst du?“, knurrte er mich missgelaunt an. „Zum einen: ich habe mich neben meinem Studium her mit der neuesten Technik eingedeckt. Zum anderen: Meine Beraterin war ein recht technikaffines Mädchen, dass so hörbar Magenknurren hatte, dass es eine Schande gewesen wäre, ihr kein Essen zu spendieren und sie bei sich abzuliefern. Wenn jemand weiß, wie gefährlich Pariser Nächte sein können, dann sind das schließlich wir.“, erklärte ich ihm möglichst sachlich. „Du gehst mit einem Menschen essen. Spinnst du? Hattest du wenigstens eine halbwegs passable Geschichte drauf, warum du nichts isst?“ „Natürlich hatte ich die. Ich bin doch kein solcher Idiot. Die hat sie schon aufgetischt bekommen, als ich durch das Studium gezwungen war, mit ihr zusammenzuarbeiten. Und sie glaubt steif und fest daran.“ „Und wie lange, denkst du, wird sie es dir glauben, wenn du ihr irgendwann doch noch einmal dein wahres Ich zeigst. Sie muss sich nur irgendwo kratzen, stoßen oder sonst eine Art von offener Wunde haben und ich möchte wirklich deine Selbstbeherrschung sehen. Auch wenn es jetzt mal kurzzeitig besser ist, weil du was gefunden hast, mit dem du dich ablenken kannst. Je mehr du mit ihr zusammen bist, desto leichter kommt sie dir auf die Schliche und solange du hier bist uns allen.“ „Soll das heißen, ich soll mich in den Schatten verstecken und die Zeit vorbeiziehen sehen? Ich soll mein Talent noch 191

©lisabethal mehr versauern lassen, als ich es als Mensch schon musste. Ich soll mein Leben lang einsam sein, weil du Angst davor hast, jemand könnte Fragen stellen. Denkst du nicht, dass die Leute in unserer direkten Nachbarschaft das schon tun. Es ist doch viel leichter, je normaler wir uns verhalten, je mehr wir Teil der Gesellschaft sind. Dann können sie uns nicht einfach so verfolgen, dann sind wir sicher. Wer würde schon glauben, dass ein geschätzter Architekt, wie ich sicher einer sein werde, ein Raubtier und kein Mensch ist. Je sichtbarer man ist, desto weniger leicht kann man uns heimlich still und leise töten. Wer würde heute noch an unsere Existenz glauben, das haben sie doch zu meiner Zeit als Mensch nur kaum noch. Jetzt sind wir nur noch Bestandteil von Gruselgeschichten und –filmen.“ „Mit der Einstellung bringst du uns alle in Gefahr!“, brüllte Charles mich an. „Nein, deine Einstellung bringt dich und Florence in Gefahr. Sie werden merken, dass ihr euch ausschließt. Und wer sich ausschließt, der wird heute als gefährlich angesehen, denn er hat etwas zu verbergen. Im besten Fall halten sie euch für Spione, im schlechtesten Fall für Terroristen.“ „Du wagst es, mir in meinem eigenen Haus Vorschriften zu machen. Du wagst es mir zu sagen, du, der du gerade die Hälfte meines Alters hast, du würdest die Welt und die Menschen besser kennen, als ich. Du hast nie mitmachen müssen, wie man dich aus deinem Geburtshaus geholt und versucht hat, dich anzuzünden.“ „Du denkst, ich weiß nicht, wie es ist verfolgt zu werden? Ich war noch keine zehn, als ich aus meinem Geburtshaus floh, damit man meine Mutter nicht mit Gewalt strafte, weil sie mich beherbergte. Ich hatte noch nie ein Zuhause, dass jemand anderem als mir zugänglich gewesen wäre. Sag mir

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©lisabethal nicht, ich sei zu sehr Menschenfreund. Ich weiß aus Instinkt schon, was ich tun muss, um in Ruhe gelassen zu werden.“ Charles und ich schrien uns gegenseitig an. Mir wurde klar, dass er in mir einen verliebten Jungen sah, der Dummheiten machte. Und ich sah in ihm den verknöcherten weltfremden Aristokraten. Und wir würden beide unsere Meinung nicht ändern. Aber was nun kam, darauf war ich nicht vorbereitet, auch wenn es eigentlich nur konsequent war. „Erik, du bringst mich und meine Liebste in Gefahr. Und du wirst es weiterhin tun. Verlass mein Haus! Du hast eine Woche um alle deine Sachen zu holen, keinen Tag mehr!“ Das sagte er mit all dem Hochmut und all der Selbstverständlichkeit, die nur jemand aus dem Geburtshochadel haben konnte, der von einer gewissen Gottgleichheit ausging. Und ich hatte diesem Glauben einen herben Dämpfer versetzt, indem ich ihm Widerworte gab. Dennoch trafen mich die Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte ihm einen gewissen Satz an Vertrauen entgegengebracht, ich hatte ihn bis zu einem gewissen Grad als meinen Freund angesehen. Jetzt warf er mir das alles um die Ohren. Florence stand an der Treppe und ließ es einfach geschehen. Sie wagte keinen Widerspruch, auch wenn ich wusste, dass sie mich in rein platonischem Sinn gemocht hatte. Noch einmal starrte ich Charles wütend an, fuhr dann auf dem Absatz herum und stürmte, noch immer bepackt, aus der Tür. Wo sollte ich hin? Die Antwort auf die Frage hatte ich erst, als kurz vor der Oper die Hacken in den Boden rammte. Ich hatte ein Haus, mietfrei und geräumig, ich musste es nur von Grund auf renovieren.

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Kapitel 15: Die Rückkehr zum See Ich bog scharf rechts ab und kam vor dem Eingang zu meinem ehemaligen Refugium zum Stehen. An meinem Schlüsselbund hing sogar noch das magnetisierte Stück Blech, dass ich dereinst so sorgfältig als Schlüssel konstruiert hatte.

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