Liebe Freunde und Verwandte, Liebe Spender und Interessierte

Erster Rundbrief aus Rumänien FW: Tom Hollander Einsatzstelle: Casa Buna, Sibiu/Hermannstadt Liebe Freunde und Verwandte, Liebe Spender und Interessi...
Author: Meta Bayer
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Erster Rundbrief aus Rumänien FW: Tom Hollander Einsatzstelle: Casa Buna, Sibiu/Hermannstadt

Liebe Freunde und Verwandte, Liebe Spender und Interessierte Am 14. August erschien in der Neuen Westfälischen ein Artikel betreffend die Ausreise eines Gymnasiasten aus Espelkamp in das europäische Ausland, genauer, zum Antritt eines Friedensdienstes in Hermannstadt, auf Rumänisch Sibiu genannt. Es war ein Artikel unter vielen anderen mit ähnlichem Inhalt, desshalb freut es mich aufrichtig, dass ihr ausgerechnet meiner Auslandstätigkeit eure Aufmerksamkeit schenkt. So lasst mich denn im Folgenden ein wenig von dem Leben hier berichten, vom Wo und Wie, Wer und vielleicht auch ein bisschen Warum. 1 Küche, Bad und Esszimmer sind in dieser jahrhunderte alten Wohnung im ersten Stock in einem Zimmer untergebracht. Nebenbei ist dasselbe auch mein Schlafzimmer und, wie zu sehen, manchmal auch Werkstatt.

Ich wohne mittlerweile zusammen mit Sara, einer Mitfreiwilligen, direkt im Stadtzentrum. Aus unserer ersten Wohnung waren wir in beiderseitigem Einverständnis zwischen Mietern und Vermieterin herausgeschmissen worden, weil wir dort keinen Besuch empfangen durften. Jetzt ist unsere Wohnung kleiner, dunkler, aber dafür sind die Decken höher. Die Wohnung liegt fast in direkter Nachbarschaft mit einigen anderen Freiwilligen in Sibiu, woher sich erklären lässt, wieso wir bisher noch recht wenige rumänische Bekanntschaften gemacht haben. Obwohl klein, hält der Haushalt stets etwas Arbeit bereit - aber wem sage ich das. Unsere Vorgänger zum Beispiel pflegten äußerst selten zu kochen. Allein schon aus Kostengründen, vorwiegend aber um des Lernens willen kochen wir viel und gerne. Der durchschlagende Erfolg bleibt bei so manch einem Versuch bisher noch aus. Vor allem sämtliche Gebäcke der ersten zwei Monate sind entweder verbrannt (Pizza, Apfelkuchen) oder wären unter Ceaucescu wegen illegalem Waffenbesitzes bestraft worden (steinhartes Brot). Hingegen rechne ich es meiner Küche zur Ehre an, dass Sara schon fünf Kilo zugenommen hat. Es fließt ein Fluss durch diese Stadt, mit Silberfischen drin

die singen Walgesänge und mögen keine Fahrradfahrer Soll ich ein bisschen schön malen? Wie in der Renaissance in Italien: Da setzte man - nach jahrelanger touristischer Ächtung der alpinen Höhen - spezielle Brillen auf, welche die Berglandschaften in den Farbtönen der Gemälde berühmter Maler vor dem Auge des Betrachters ausrollten. Setzen wir einmal eine solche Brille mit leichtem Melancholiestich auf, ein bisschen Nationalstolz und Architekturverliebtheit kann auch nicht schaden, und ja, Rustikalität vor allem, und gehen durch die Gassen und Straßen Sibius: In der Innenstadt drängt sich alles, was das Herz begehrt, prächtige Fassaden, große Kirchen, kleine Plätze, kulturelles Leben, - man feiert jährlich oppulente Theaterfeste - und das Leben spielt sich in Hinterhöfen ab. Dort macht man Geschäfte, dort wohnt allerhand Volk, im Erdgeschoss reihen sich Uhrläden an Schnickschnacktrödler. Einige Straßen weiter, im ältesten Teil der sächsischen Hochburg Hermannstadt (historische Erläuterungen im nächsten Brief) bezaubert nicht nur den gemeinen deutschen Touristen, der etwa gefühlte hundert Prozent der nicht einheimischen Bevölkerung stellt, der Charme der engen Gässchen und Treppchen. Alles vor der Kulisse der mächtig und stolz in den klirrend blauen Oktoberhimmel ragenden Kathedrale. In der die Gottesdienste immer noch auf Deutsch abgehalten werden. Denn nach jahrzehntelanger Benachteiligung erfreuen sich die sächsischen Gemeinden des Genusses, ihr eigenes Aussterben gebührend zelebrieren zu dürfen.

2 Der Piata Mare, Prachtplatz in der Hermannstädter Innenstadt. Hier finden jedes Wochenende vielfältige Kulturelle Veranstaltungen statt.

Von einem Bergmassiv umschlossen, regnet es in Sibiu selten. Nicht zuletzt zur Freude der Marktleute. Täglich wird die hungrige Stadt von regionalen und sogar überregionalen Bauern

versorgt, die ihre Ware zu Preisen anbieten, die man nicht in Euro umrechnen darf. Kürzlich erstand ich einen Sack Kartoffeln a zehn Kilogramm für fünf Ron. Umgerechnet etwa einen Euro zwanzig. Gerne würde ich noch weiter schön malen. Es gibt wirklich viele Unterschiede, Kuriositäten und kulturelle Besonderheiten, die im nächsten Brief auch zu ihrem Recht kommen sollen, aber dazu muss ich erst einmal vertraut werden mit diesem Land: Rumänien. Rumänien, das scheint das Land zu sein, welches ich durch mein Fenster betrachte. Das scheint ein Land zu sein mit Hirten und Fabrikruinen, Auen, Bergen, und mächtiger Natur, und kleinen Klosterburgen mit handgejäteten Kräutergärten und wilden Mülldeponien. Und das, all das sehe ich durch Fensterglas und bin mir durchaus unschlüssig, ob hier von Harmonie zu sprechen angebracht ist. Die Leute, ja was soll ich euch sagen, die sprechen gar Rumänisch. schimpfen auf Rumänisch, nörgeln und resignieren auf Rumänisch und versuchen Frauen zu imponieren. Das ist überhaupt bisher das Einzige, was mich wirklich stört, das Balzritual. Rücksichtsvoll ausgedrückt ist es dominant wie dominierend. Ansonsten ist Rumänien wie Deutschland. Nur anders. Nur nicht so reich. 3 Übersetzung des Graffitis oben rechts im Bild: „In einem normalen Land werden Frauen nicht auf offener Straße begrabscht.“

Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie es war, nach der Schule das erste Mal in einem Angestelltenverhältnis zu arbeiten? Für mich ist das neu. Und durchaus nicht immer angenehm. Zum Angenehmen zählt, dass die Arbeitszeiten in der Casa Buna recht flexibel sind, so etwa wie mit einem Arbeitszeitkonto. Es stört nicht, komme ich einmal eine halbe Stunde nach Schichtbeginn, Hauptsache die Arbeit wird erledigt. Wäre mein Freiwilligendienst ein Praktikum, würde es mir bereits dazu gedient haben herauszufinden, dass die Sozialarbeit so gar nicht mein bevorzugtes Aufgabenfeld ist. Sie erfüllt einfach nicht meine intellektuellen Ansprüche an Arbeit als solche. Aber vielleicht sollte ich erst einmal darstellen, worin diese meine Arbeit überhaupt besteht. Wie ich den meisten von euch schon berichtet habe ist es der Ansatz des Obdachlosenheimes „Das Gute Haus“, Obdachlosen eine Art zuhause zu bieten, um ihnen so den Wiedereinstieg in ein geregeltes Leben zu ermöglichen. Um dieses Prinzip zu verstehen, muss man wissen, dass Obdachlosigkeit in Rumänien ganz andere Gründe und Ursachen hat als in Deutschland, und dadurch bedingt auch andere Ausmaße. Laut meiner Exchefin sind die wenigsten Obdachlosen in Rumänien nicht für ihre Situation verantwortlich. Allerdings werden Menschen hier wesentlich leichter Obdachlos. Als Beispiel die Geschichte eines unserer Klienten: Geboren in Sibiu lernte er Kellner und später einen Beruf im Metallbereich, hatte lange Zeit eine Anstellung, aus der er, laut eigenen Angaben, aufgrund eines Missgünstigen Personalers praktisch herausgemobbt wurde (durch mehrmalige Versetzung und Rangdegradierung). Das war im Jahr 2000, er war 48 Jahre alt. Er erlernte Reiky, eine traditionelle Japanische Heilmethode und arbeitete die nächsten Jahre als freiberuflicher Heiler. Als er sich damit nicht mehr über Wasser halten konnte, wurde er arbeitslos, danach

obdachlos. In seinem Leben gab es immer wieder Chancen, die er nicht ergriffen hat: Nach Deutschland zu ziehen, sich ein Haus zu kaufen, also Dinge, die die Überwindung geringer Widerstände erfordert hätten, die er aber nicht umsetzen konnte. Am verhängnisvollsten war wohl, dass er mit seiner Familie so hart umgesprungen sein muss, dass ihn seine Frau schließlich vor die Tür setzte. Und das, im Namen seines unerschütterlichen, christlichen Glaubens Wer einmal obdachlos ist, kann sich aus dieser Situation aus eigener Kraft fast unmöglich befreien. Es wird ihm (oder ihr) an allen Voraussetzungen fehlen, die die Aufnahme einer geregelten Tätigkeit ermöglichen, an Hygiene, an Geld, an einer Adresse, im schlimmsten Fall verliert er seinen Ausweis. Dann kann er nicht einmal mehr die sowieso viel zu mickrige Sozialhilfe in Anspruch nehmen, die der Rumänische Staat noch gewährt. An diesem Punkt setzt die Casa Buna an. Dort können einsichtige Klienten wieder einen geregelten Tagesablauf annehmen, erhalten Unterstützung für Arztbesuche, bei der Arbeitssuche, warmes Essen, ein Dach über dem Kopf. Im Vergleich zur Wohnsituation vieler anderer Menschen in Rumänien ist dieses Dach sogar sehr komfortabel, das Haus ist groß, die Aufgaben sind die eines Jeden, der einen Haushalt zu versorgen hat. Besonders dieser Umstand, der hohe Lebensstandard in unserer Einrichtung, macht mir die Arbeit bisweilen schwer. Viele wollen nämlich gar nicht mehr fort von uns. Und entwickeln sehr subtile Methoden, die ein Außenstehender oder Freiwilliger ohne Vorbildung nur langsam zu durchschauen vermag. Diese Motivation zu schaffen, aus einer gemütlichen Abhängigkeit in Selbstverantwortung überzuwechseln und auch die äußeren Gegebenheiten zu schaffen, das ist die Aufgabe des Guten Hauses. Cluj nicht, Brasov nicht, Bukarest Nicht Donau, Nicht Delta, Nicht der Rest Haben mich bisher gesehen. Herbst bringt HeimFrühling Ferne- wehen. Ce sa mai zic, was soll ich sagen, gut läuft es mit dem Rumänischen. Und ich bin zuversichtlich, bald auch in die schwierigeren Bereiche dieser Sprache vorzudringen. Damit bin ich unwesentlich schneller als meine Mitfreiwilligen in der Lage, über das Wichtigste zu kommunizieren, wobei mein Hörverständnis die Fähigkeit zum freien Sprechen bislang noch weit übertrifft. Das Aufschlussreichste und Erfreulichste an diesem Zwischenerfolg ist, dass ich nun mit gutem Gewissen beispielsweise auch nach Spanien oder Portugal gehen könnte, ja sogar in fast alle Länder der Welt, immer in der Gewissheit, mich binnen weniger Monate gut zurechtfinden zu können. WERBEBLOCK "EIRENE" ist griechisch und heißt Frieden. EIRENE ist ein ökumenischer, internationaler Friedens- und Entwicklungsdienst, der als gemeinnütziger Verein in Deutschland, als Träger des Entwicklungsdienstes und des sogenannten "Anderen Dienstes im Ausland" (anstelle des Zivildienstes in Deutschland) anerkannt ist. 1957 wurde EIRENE von Christen verschiedener Konfessionen gegründet, die sich der Idee der Gewaltfreiheit verpflichtet fühlten und ein Zeichen gegen die Wiederaufrüstung und für

das friedliche Zusammenleben setzen wollten. Zu den Gründern gehören die historischen Friedenskirchen der Mennoniten und der Church of the Brethren ("Brüderkirche"), die noch heute mit dem Versöhnungsbund und den EIRENE-Zweigen in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden zu den EIRENE-Mitgliedern zählen. Jährlich leben und arbeiten circa 100 EIRENE-Freiwillige (darunter verstehen wir die Friedensdienstleistenden und die EntwicklungshelferInnen) in verschiedenen Projekten und Ländern, um ihre Solidarität mit Menschen in Not zum Ausdruck zu bringen. Diese Freiwilligen haben die Erfahrung gemacht, daß die klassische Entwicklungshilfe ebensowenig wie die Sozialarbeit in Europa ausreichende Mittel sind, um ungerechte Strukturen in unserer Welt an ihrer Wurzel zu packen. Darum geht es heute nicht mehr nur vorrangig um Projektunterstützung, sondern um die Unterstützung von Partnergruppen, die sich in ihrem Umfeld - in der Zwei-Drittel-Welt ebenso wie in der nördlichen Erdhälfte - für gerechtere Strukturen einsetzen. Ich darf Goethe zitieren, jedenfalls sinngemäß, der für eines seiner Epen sich nicht zu schade war, bei einem offensichtlich begabten Kollegen zu kopieren: „Warum sollte ich etwas Neues schreiben, wenn doch seine Verse so sehr passend das sagten, was die meinen nicht besser hätten ausdrücken können?!“ Obigen Text habe auch ich von der Internetseite www.eirene.org kopiert. Ich habe bisher sehr gute Erfahrungen mit diesem Friedensdienst gemacht und kann nur die vertiefende Lektüre „Quo Vadis, Eirene“ zum besseren Verständnis der tatsächlich umgesetzten Unternehmensphilosophie empfehlen. Damit sind wir auch schon am Ende dieses kleinen Spazierganges im Geiste angekommen, der Veranstalter bedankt sich für eure Reise mit der Teutschen Bahn und ich lasse bald mal wieder von mir hören. Wenn auch ihr ein bisschen Zeit habt, mir zu schreiben oder anzurufen freue ich mich. Schließlich geht die Zeit in Deutschland wahrscheinlich fast so schnell voran wie hier, außer dass ihr uns eine Stunde hinterher seid. Also, macht es derweil gut, viele Grüße auch an alle die diesen Brief nicht erhalten haben. Bis die Tage. Tom Hollander Voluntar

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