Leseprobe aus: Das Brett

Leseprobe aus: Das Brett Elf Jahre waren bereits vergangen. Elf lange Jahre. Ab einer gewissen Zeit begannen die Einwohner im Dorf tatsächlich die Ja...
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Leseprobe aus: Das Brett

Elf Jahre waren bereits vergangen. Elf lange Jahre. Ab einer gewissen Zeit begannen die Einwohner im Dorf tatsächlich die Jahre nachzurechnen. Elf Jahre, erinnerten sie sich. Oder sie zählten die Jahre im Kopf oder mit den Fingern nach. Und wer sich nicht mehr an die jeweiligen Jahreszahlen erinnern konnte, erkundigte sich bei denen, die in solchen Angelegenheiten ein gutes Gedächtnis besassen. Tatsächlich elf Jahre, seit dem plötzlichen Tod Johann Babtist Alders, dem ältesten Sohn einer damals noch jungen Familie aus dem Appenzell-Innerrhodischen Schlatt. Und noch immer hing sein kleines, vom umliegenden wettergegerbten Holz kaum noch zu unterscheidendes Totenbrett an der Wand des Alderhauses. Von weitem war es kaum noch zu erkennen, hatte es doch über all die Jahre die gleiche fahle Farbe angenommen wie die umliegenden bräunlichgrauen, verwitterten Holzschindeln. Hoch oben unter dem Dachgiebel hing es. Dort, wo zu jener Zeit an fast allen Häusern in der Gegend ein oder mehrere solcher Bretter hingen. Niemand verstand, warum das kleine Alderbrett nach so langer Zeit immer noch nicht heruntergefallen war, wo sich doch kaum je ein Brett länger

als fünf, sechs, sieben, allerhöchstens acht Jahre obenhielt. Allen, die darüber nachdachten, war klar, dass dieses Kinderbrett schon längst hätte herunterfallen müssen. Die meisten dachten darüber nach, und jeder, der es tat, dachte dabei das Seine. Das Jeweilige unterschied sich dabei höchstens in der Ausformung und Färbung des möglichen Grundes für diese aussergewöhnlich lange Hängedauer. Die Urteile und Schlussfolgerungen, die sie von diesen mannigfachen Überlegungen ableiteten, glichen sich jedoch so sehr, dass die Vermutung so abwegig nicht sein konnte, jeder einzelne orientiere sich an einer einzigen, übergeordneten, höheren Wahrheit. Das kleine Alderbrett hing, wie das damals üblich war, an der Wetterseite des Wohnhauses. Dort, wo das Brett am stärksten Wind und Wetter ausgesetzt war. Elf strenge Winter, mit Schneetreiben und monatelanger Eiseskälte, elf endlose Sommer mit wildesten Stürmen, mit Hagel und wuchtigen, tobenden Gewittern, mit wochenlanger, gnadenloser Hitze oder trostlosem, dampfendem Dauerregen. Elf lange Jahre der Kälte, der Hitze, der Trockenheit, des Wassers und des Windes hätten bei weitem ausreichen müssen, um ein solch kleines, verlottertes Brettchen von den längst durchgerosteten, dünnen, brüchigen Nägeln zu lösen. Aber es blieb oben, trotzig, und so, als wäre es nach und nach in die Wand eingewachsen, als würde das Haus selbst es nicht mehr hergeben wollen, oder als klammerten sich unsichtbare, aus dem Brett greifende Hände an der Hausmauer fest. Oder vielleicht war es auch umgekehrt. Als drückten an langen Armen ausgestreckte Hände das Brett unablässig an die Wand, um es vor dem Herunterfallen, dem endgültigen Entgleiten und Verschwinden zu bewahren. … Es war allen klar, dass diese Opfer nicht die letzten sein würden.

In jenem Jahr, in jenem todbringenden Winter, wütete die Grippe besonders unerbittlich und hatte allein schon bis zur Mitte des Monats Dezember zahlreiche Opfer gefordert. Nicht nur in der kleinen Gemeinde Schlatt, sondern allerorts im ganzen Land. Jeder fürchtete insgeheim um sein Leben und um dasjenige seiner Nächsten. Aber niemand sprach darüber und niemand liess eine Wut zu, die verständlich gewesen wäre. Eine Wut, die dennoch niemandem zustand. Wie sie glaubten. Eine Wut auch, die einem dicken, aus drei Strängen geflochtenen Zopf ähnelte und an Länge und Dicke wuchs und wuchs, je länger jener unvergessliche Winter 1851/52 dauerte. Der erste Strang glich dem blanken Entsetzen vor dem Verlust der Nächsten und die Trauer um sie. Der zweite wusste um die schiere, abgrundtiefe Angst vor dem eigenen Tod. Und der dritte spiegelte die Furcht vor dem himmlischen Gericht und die Hoffnung um eine Erlösung im Tod und um ein gnadenvolles letztes Urteil. Jeder einzelne Strang war von unsichtbarer Hand unentwirrbar mit den beiden anderen verwoben und an ihren Enden für immer zusammenverknotet. Einzig Gottes Wille entschied, ob man verschont blieb oder abtreten musste. „Gottes Ratschluss ist unergründlich“ flüsterten die Menschen einander in den dunkelsten, verzweifeltsten Momenten zu und ergaben sich in ihr unvorhersehbares Schicksal. Sie beteten täglich, besuchten jede zusätzlich gehaltene Fürbittmesse und versuchten, sündenlos, demütig, fleissig und dem Herrgott gefällig zu leben. … Schon seit Stunden wartete die Familie Alder auf das Eintreffen der beiden Totenbrettboten. Mit kräftigen Schaufelhüben befreite Vater Alder den Weg von der Strasse zum Haus vom hohen Schnee der letzten Tage. Er pfadete auch einen kleine knietiefe Spur um

den Stall herum zur Wetterseite des Hauses. Abwechslungsweise blickten nun die Mutter oder der Vater immer wieder zum kleinen Stubenfenster hinaus. Als Schreiner Dörig und Pfarrer Inauen schliesslich auf das Haus zutraten, öffnete sich die Tür wie von selbst und ohne dass sie zuvor hätten anklopfen müssen. Die beiden begrüssten die Familie mit leiser, teilnahmsvoller Stimme und einem kurzen Segensspruch. Um keine Zeit zu verlieren, erkundigte sich Schreiner Dörig sogleich nach der hohen Leiter. Er habe sie schon herausgestellt und an die Wetterwand angelehnt, antwortete Vater Alder. Dörig nickte respektvoll. Eiligst wurden Rosam und Anna in ihre Mäntelchen gepackt und ihnen Kappe und Stiefelchen angezogen, bevor sich auch die Eltern in ihre warmen Mäntel einhüllten. Dies alles geschah, ohne dass jemand auch nur ein einziges Wort gesprochen hätte. Sie schlossen die Türe hinter sich und schritten in einer Reihe hintereinander gehend auf dem schmalen Pfad um den Stall. Der Pfarrer bildete das letzte Glied, nun Gebete murmelnd und das dampfende Weihrauchthuribulum ruhig und bedeutungsschwer schwenkend. Sie erreichten die Rückseite des Hauses und stellten sich in einem Halbkreis auf dem kleinen Vorplatz auf. Wie es der Kirchenbrauch verlangte, mussten Totenbretter ausnahmslos an die dem Wind und jedem Wetter gnadenlos ausgesetzte, in der Regel rückseitige Wand des Hauses genagelt werden. Schreiner Dörig stieg mit dem kleinen Brett unter dem Arm die hohe, schmale Leiter hinauf bis unters Hausdach, bekreuzigte sich mehrmals und befestigte es mit mehreren dicken Nägeln und gezielten, sicheren Hammerschlägen senkrecht, also himmelwärts ausgerichtet an die Wand. Im ganzen Dorf war das Hämmern, das „Todeshämmern“, zu hören. Ein grausamer, viel zu häufig gehörter Lärm. Erst ein spitzer, knalllauter, dann ein sich in die Weite verbreiternder, in die Ferne sich dehnender Schall. Jeder einzelne Schlag, jedes Knallen vervielfältigte sich in mehreren Echowiederholungen und strahlte

weiter über hunderte Meter hinaus über alle Hausdächer bis zu den abgelegensten Höfen. Jedem im Dorf war dieses meist abendliche „Todesknallen“ wohl bekannt und von jedem wurde es bis ins innerste Mark gefürchtet. Niemand konnte vor den nächsten Tagen sicher sein und niemand wusste, ob der laute Schall nicht vielleicht in Kürze schon auch ihm oder seinen Nächsten galt und sich nun noch als letzter warnender Vorbote offenbarte. Dörig musste die Bretter unbedingt ausser Reichweite von jedwelchen angrenzenden Fenstern befestigten. Auch das war vorgeschrieben. Es half den Zurückgebliebenen, nie in Versuchung zu geraten und selbst noch eines Tages von Hand oder mit einem langen Stecken an dem lottrigen Brett zu rütteln und das Herunterfallen früher als durch Gottes Vorsehung herbeizuführen. Oder im gegenteiligen Fall vermochte es, ein frühzeitiges Herunterfallen durch ein eigenhändiges nachträgliches Wiederbefestigen zu verhindern. Als Dörig alle Nägel eingeschlagen hatte und sein letzter Hammerschlag gezielt vollbracht war, hob er sich für einen Augenblick den schweren Filzhut vom Kopf und presste ihn an die hastig atmende Brust. Ein leichter Schneefall hatte eingesetzt. Die kleinen Flocken setzten sich schnell auf Dörigs krausem Haar fest und zuckerten seinen Kopf mit einem weissen Käppchen. Unten begann der Pfarrer ein letztes, ehrendes Gebet zu sprechen. Er las aus der Bibel und schwenkte gleichzeitig das dampfende Thuribulum in kreisenden Bewegungen. Die Eltern Alder flüsterten mit gefalteten Händen die Worte nach und hielten dabei ihre Köpfe gesenkt. Nicht so die Kinder. Anna und Rosam staunten nur, mit offenen Mündern, mit hochgereckten Köpfen und wussten nicht, was dies alles zu bedeuten hatte. Am Ende der Zeremonie überreichte der Pfarrer seine Bibel sowie das rauchende Thuribulum dem Schreiner Dörig und stieg dann ebenfalls die Leiter hoch, mit der einen Hand seinen

dicken, schwarzen Talar leicht anhebend, mit der anderen Hand sich an den Sprossen festhaltend. Oben angekommen, bekreuzigte er sich mehrmals, murmelte wiederum leise Gebetssprüche und schüttete ein Fläschchen gefüllt mit geweihtem Wasser, das er unter seinen unzähligen Falten des Pfarrergewandes hervorzog, an die Hauswand und über das Brett. Gleichzeitig streckte er ein hölzernes Kruzifix, welches er ebenfalls bis dahin im rätselhaften Innern des viellagigen Pfarrertalars verborgen hielt, abwechselnd dem Brette und dem Himmel entgegen. Wie er dabei das Gleichgewicht behalten konnte, ohne dass er sich nicht wenigstens mit einer Hand an der Leiter hätte festhalten müssen, war nur eines von vielen weiteren Rätseln rund um das Totenbrettritual. Von nun an lag Johann Babtist Alders Seelenfrieden ganz in den Händen Gottes und seiner Gnade. Solange das Brett an der Hauswand hing – so versprach es die Kirche und mit ihr der tief verankerte Glaube der Menschen dieser Region – solange war das Haus und alle seine Bewohner vor der unerlösten Seele des verstorbenen Jungen beschützt. Aber erst, wenn es dereinst – und ohne jegliche äussere, das heisst menschliche Einwirkung – von der Hauswand herunterfiele, würde auch die Seele von Johann Babtist endgültig und für alle Zeiten seinen Frieden gefunden haben und für immer ins Reich Gottes eintreten dürfen. Die Gnade oder Ungnade für die Hinterbliebenen lag einzig im richtigen oder falschen Mass der Zeit. … Seit nunmehr elf Jahren begleitete Johann Babtists Totenbrett die Eltern und Geschwister Alder in ihrem Schmerz und den täglichen Gedanken. Das kleine Stück Holz noch immer an der Hauswand zu wissen, war ihnen in den ersten Momenten tiefster Trauer und der Gewissheit, dass die Familie durch den Geist Babtists behütet blie-

be, ein grosser Trost und Halt. Dank des Brettes besassen sie die Gewissheit, dass der Geist ihres kleinen Buben und Bruders noch nicht endgültig Abschied genommen hatte und sie seine Seele weiterhin unter ihnen und in nächster Nähe spüren durften. Johann Babtist begleitete alle Angehörigen in ihrem Alltag und beschützte jeden einzelnen vor weiterem Unheil. Wann immer jemand von ihnen um das Haus zum Stall ging – und in der ersten Zeit nach seinem Tod geschah dies gewiss öfters, als es ihre Arbeit im Stall erfordert hätte – hob derjenige den Blick sofort zur wetterseitigen Hauswand hoch, vergewisserte sich seiner Anwesenheit und sendete Johann Babtist einen stillen Gruss oder begann beim Anblick des Brettes dankbar ein stummes Zwiegespräch mit ihm. Jeder auf seine Weise. … Allmählich nach acht, neun, zehn Jahren seit Johann Babtist Alders tragischem Kindstod begannen sich die Einwohner von Schlatt – zuerst nur vereinzelt, zusehends immer häufiger – auch nach dem Alderhaus umzublicken und sich zu fragen, was denn die Seele des kleinen Alderjungen noch länger an der hiesigen Welt festhalten mochte. Seine Eltern hatten sich nie eine grössere, nennenswerte Sünde zu Schulden kommen lassen. Sie hatten keine offenen Rechnungen mehr. Selbst die teure Arztrechnung vom unglücklichen Winter 1851 hatten sie – zwar über viele Monate hinweg – aber bis zum letzten Rappen von ihren kärglichen Einkünften abgestottert und restlos zurückbezahlt. Sie lebten einfach und bescheiden auf ihrem kleinen Anwesen, taten niemandem Böses, lebten in Frieden und Eintracht mit allen und besuchten auch regelmässig den Gottesdienst. Die Bewohner von Schlatt schätzten sie ausnahmslos und niemand hätte ihnen etwas Übles nachsagen können.

… Wer über die Jahre hinweg sehr geübt und vertraut wurde mit den wahren oder erfundenen Geschichten und den ungeschriebenen Gesetzmässigkeiten rund um den Totenbrettglauben, dem konnte nicht entgehen, dass sich auch allmählich im Umgang mit den Mitgliedern der Alderfamilie etwas veränderte. Zwar grüsste man sie weiterhin. Man tauschte gar ein kurzes Lächeln, wenn sich die Wege kreuzten. Niemand aber suchte mehr von sich aus das Gespräch zu ihnen. Früher öfters von den Nachbarn über diese oder jene Handreichung erbeten, blieben die Alders neuerdings gänzlich unbesucht und gemieden. Ihre Nachbarn behalfen sich nun selbst oder nahmen einen längeren Weg in Kauf, um die benötigte Unterstützung bei weiter entfernten Nachbarn zu erbitten. Rosam, der liebend gerne Schreiner geworden wäre, fand keinen Lehrmeister, der bereit war, ihn auszubilden. Er verblieb auf dem Hof und half seinem Vater im Stall und auf dem Feld. Anna fragte sich, ob sie je würde eine Familie gründen können. Wenn sie und ihre Geschwister im Dorf blieben, würde dieser Wunsch für keinen von ihnen jemals in Erfüllung gehen können. Die Alders bekamen die Isolation, in die sie unverschuldet hineingedrängt wurden, immer deutlicher zu spüren. Sie wurden von allen gemieden. Ohne dass auch nur ein Mensch ihnen eine Erklärung gegeben hätte, wussten sie sehr wohl, warum allmählich niemand mehr mit ihnen sprach.

Michèle Schneider, 2010 - bis März 2011 und 2013

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