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Author: Markus Hummel
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Leonie Swann

Gray

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Leonie Swann

Gray Kriminalroman

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Originalausgabe Der Goldmann Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. »Bad Romance«. Text und Musik von Stefani Germanotta und Nadir Khayat. Originalverlag: House Of Gaga Publishing. Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2017 by Leonie Swann Copyright © dieser Ausgabe Mai 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-442-31443-0 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

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Erstes Vorspiel: oben

Er ist dem Himmel so nah, und der Himmel ist wunderbar, satt und samtig und schwarz wie ein Tintenfass. Darunter treiben Wolken wie faule Seekühe, golden erleuchtet vom Schein der Stadt unter ihm. Cambridge. Zitadelle der Wissenschaft. Licht im Dunkel. Ein Fluss. Eine Stadt. Ein paar Kühe. Viele Akademiker. Ein Labyrinth von Colleges. Ein Labyrinth von Wissen und Unwissen. So viel Vergangenheit. So viel Zukunft – wenn man ihrer nur habhaft werden könnte. Momentan ist es um die Zukunft eher schlecht bestellt. Er steht im Nichts, vierzig Meter über dem Erdboden gegen einen Kirchturm gepresst, die Füße in einen lächerlich schmalen Vorsprung gekeilt, die Arme ausgebreitet wie ein Kreuz. Seine Hände umklammern zwei steinerne Rosen. Die rechte Wange berührt rauen Stein. So kühl. So alt. So unbeteiligt. Seine Mission war erfolgreich. Doch was jetzt? Was von unten noch unkompliziert ausgesehen hat, erweist sich auf den zweiten Blick als technisch anspruchsvoll. Es gilt, ein Stück blanken Stein zu überwinden, um dann darunter ein schmales Sims zu erreichen. Er spannt 5

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sich zwischen den beiden Steinrosen auf und tastet vorsichtig mit dem linken Fuß. Zum ersten Mal wird ihm klar, wie hoch über dem Erdboden er hier klettert. Sterbenshoch. Seine Hände sind feucht vor Schweiß. Er wirft noch einen Blick hinunter zum Vorplatz der Kapelle und über die Colleges und Gärten. Dahinter, in der Ferne, der Fluss, ein schimmerndes Band. So weit. So tief. So klein wie Spielzeug. Ein Lufthauch streichelt seine Wange wie ein Kuss. Fast da! Es ist ja gar nicht weit! Ein Dehnen, ein Griff – das ist alles. Doch zuerst muss er den Halt an einer der steinernen Rosen aufgeben, sich durch nackte Luft strecken und alles einer einzigen Steinnase, einer einzigen Hand anvertrauen. Ein unangenehmer Geruch erreicht seine Nase. Ein Hauch von Verwesung. Er hat gehört, dass manchmal Tauben in die Hohlräume der Türme geraten, dort sterben und zerfallen. Ein Taubenfriedhof der Extraklasse, vielleicht nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt hinter dem alten, gelben Stein. Tod und Verfall. Generationen grauer Federn. Generationen feiner, bleicher Knochen. Er hat keine Lust, einer der Knochen zu werden. Er muss zurück ins Leben! Er streckt die Hand aus, weiter und weiter, und kann den rettenden Vorsprung doch nicht erreichen. Vorsichtig lockert er auch den Griff der linken Hand. Dies gibt ihm ein wenig mehr Spielraum, und endlich fühlt er dort drüben Stein unter den Fingern, erst nur dessen Kühle, dann auch Feuchte und Textur. Wie Krötenhaut. 6

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Gesichert durch diesen neuen Halt, kann er sich strecken und mit dem linken Fuß … Doch dann … Leere! Ein Fuß gleitet von dem Vorsprung. Seine linke Hand rudert im Nichts. Seine Rechte schnellt verzweifelt nach vorne  – und greift ins Leere. »Mörder!«, wettert eine Stimme wie in weiter Ferne. »Mörder! Mörder! Mörder …«

Zweites Vorspiel: unten Der junge Mann sah aus wie ein Engel, heiter, gelassen und irgendwie unirdisch. Weißblonde Haare hatten sich aufgefächert wie ein Heiligenschein, graue Augen starrten mit einer gewissen Entschlossenheit gen Himmel. Auf den Lippen ein Lächeln, halb erstaunt, halb spöttisch. Eine schlanke Hand ruhte über dem Herzen, bleich und kräftig und selbst im Tode anmutig. Das war die eine Seite. Die andere Seite sah weniger gut aus. Roh und offen. Unförmig. Blut und spitze weiße Stückchen. Eine zähe Flüssigkeit tropfte aus einem halben Ohr. Gefallen. Der Porter blickte kurz hinauf zu den elfenbeinfarben aufragenden Zinnen der Kapelle. Die Zigarette fiel ihm aus der Hand, zu Boden. Er merkte es kaum. Dann rannte er los, um einen Notarzt zu rufen. Rannte, obwohl es zu spät war. 7

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1. Bad Romance

Dr. Augustus Huff, Fellow und Anthropologe, saß in seinem Sessel und versuchte, irgendwie den Mut für Seite acht seiner Abhandlung aufzubringen. Acht: zweimal die Vier. Vier: zweimal die Zwei. Keine gute Zahl, geradezu miserabel. Eine der schlimmsten! Die Zwei allein war schon riskant, die Vier vage bedrohlich, zusammen jagten sie Augustus Schauer über den Rücken. Aber Abhandlungen hatten nun einmal Seiten, und wenn er den sicheren Hafen von Seite neun erreichen wollte, musste er sich … Es klopfte. Huff blinzelte, halb erleichtert, halb irritiert. Kein schönes Geräusch, das Klopfen. Fordernd. Harsch. Gar nicht respektvoll. Sicher schon wieder ein Student! Das war der Nachteil, wenn man so eng mit ihnen zusammenlebte! Augustus Huff seufzte und sank etwas tiefer in seinen grünen Denksessel. Fast sein ganzes Leben hatte er davon geträumt, in einem der altehrwürdigen Colleges von Cambridge zu leben und zu arbeiten, und nun, endlich hier, waren seine Gefühle durchaus gemischt. Oh, er liebte sein Fach und den geistigen Austausch mit Kollegen und sogar die Studenten, solange sie aufmerksam in Tutorien saßen und auf ihren Stiften herumkauten, aber … 9

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Es klopfte erneut. Augustus berührte nervös die linke Sessellehne. Einmal. Zweimal. Beim dritten Klopfen würde er öffnen müssen. Doch dann klickte einfach die Klinke nach unten, und eine Frau steckte ihre etwas unordentliche Frisur und ein gerötetes Gesicht ins Zimmer. Höchst unerfreulich. Wer war das denn? Etwas zu alt für eine Studentin. Zu unbekannt für eine Kollegin. Trotzdem kam ihm die Frau vage vertraut vor, etwa wie ein Möbelstück, an dem man Tag für Tag vorbeiläuft, ohne es groß zu beachten. Dann hatte er es: Frau … äh, jedenfalls eine der Damen, die die Zimmer von Studenten und Professoren in Ordnung hielten. Die Bettenmacherin. »Ich wollte Sie wirklich nicht stören, Professor, aber … da drüben …« Ihre Stimme überschlug sich. Augustus Huff winkte ab. Schon gestört. Zu spät. Viel zu spät. Außerdem war er noch gar kein richtiger Professor. Er klappte sein Buch zu, stand auf und ging hinüber zur Tür, um zu sehen, wo genau der fordernd ausgestreckte Finger der Frau hinzeigte. »Ich habe gerade das Zimmer saubergemacht, Sie wissen schon, sein Zimmer, und dann …« Die Frau bekreuzigte sich und murmelte etwas, das für Huffs geübte Ohren wie ein slawischer Fluch klang. Eine interessante Kombination. Er hätte sich gerne eine Notiz gemacht, aber dafür war jetzt natürlich keine Zeit. Stattdessen äugte er am nun wieder ausgestreckten Frauenarm entlang aus seinem Apartment den langen Gang hinunter, wo in der Ferne eine Tür offen stand. Die dritte Tür von rechts … 10

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Elliots Tür. Ach so. Natürlich. »Ah. Tragischer Unfall«, murmelte er. »Aber was will man … Ich weiß wirklich nicht …« »Er wurde ermordet«, zischte die Frau. »Und jetzt geht da sein Geist um! Und ich soll es saubermachen!« »Er wurde nicht ermordet. Er ist gestürzt.« Absurdes Gewäsch. »Gestürzt! Ha!« Die Dame verschränkte die Arme und blickte ihn mit auffallend hübschen dunklen Augen an. »Das sagt man natürlich so. Aber Sie, Professor, wissen es besser, nicht wahr?« Langsam dämmerte Augustus, was hier los war. Wenn ein Student so plötzlich und so theatralisch das Zeitliche segnete, lagen die Nerven blank. Und zu wem kamen sie? Natürlich zu ihm, dem Hexendoktor! Wie in aller Welt war es dazu gekommen, dass er bei allen am College als der Mann fürs Übernatürliche galt? Dabei glaubte er noch nicht einmal an Geister. Ganz im Gegenteil! Er erforschte … Zusammenhänge. Aberglauben. Magisches Denken. Und vielleicht – sehr vielleicht – würde er dabei irgendwann auch herausfinden, warum Links besser war als Rechts und was die Acht zu einer so schrecklichen Zahl machte. Das war natürlich mehr, als er dem Reinigungspersonal erklären konnte. Huff ergriff die Flucht nach vorn. »Na gut. Ich seh mir die Sache an!« Er trat über die Schwelle, den linken Fuß zuerst. So weit, so gut. Er schloss seine Tür, sperrte ab und prüfte dreimal, 11

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ob auch wirklich gut abgeschlossen war. Die Reinigungsfrau warf ihm einen seltsamen Blick zu. Augustus kannte diesen Blick, er war ihm schon allzu oft begegnet. »Nicht normal«, sagte der Blick. Er lächelte verlegen, dann ging er mit festen Schritten auf Elliots Zimmer zu und trat beherzt ein. Wow. Er hatte eine dieser schrecklichen Studentenhöhlen erwartet, mit abgetretenen Teppichen, unordentlichen Bücherstapeln und hässlichen Postern an der Wand. Von wegen! Sonnenlicht und altes Holz. Über dem Kamin hing ein vergoldeter Spiegel. 18. Jahrhundert? Augustus hätte es fast zu wetten gewagt. An der gegenüberliegenden Wand prangte ein mannshoher Gobelin. Ein Edelmann ritt durch leuchtende Blautöne mit seinem Falken zur Jagd, zu seinen Füßen Wildblumen und Windhunde, im Hintergrund Zinnen und wehende Fahnen. Wunderschöne Details. Augustus trat näher. Er wagte nicht einmal zu spekulieren, wie alt der Wandbehang war. Vielleicht so alt wie das College. Vielleicht sogar noch älter. Schwindelerregend. Der Edelmann blickte nach oben, hinauf zu einem Stern, der Vogel hingegen … Auf einmal kam es Augustus so vor, als würde ihn der Falke mit kaltem, kalkulierendem Raubvogelblick mustern. Er trat einen Schritt zurück und besann sich auf den angeblichen Geist. Hier, zwischen Mittelalter und Aufklärung, steckte er jedenfalls nicht. Auch der Rest des Zimmers schien dem Übernatürlichen nicht viel Raum zu bieten. Elliot hatte sich für ein Hochbett entschieden, vermutlich, um Platz für den imposanten Schreibtisch zu schaffen. Alles blank, 12

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ordentlich und vollkommen gespensterfrei. Elliot hatte sich oft über die beengten Wohnverhältnisse hier im College beschwert, zu Unrecht, wie Augustus fand. Aber wenn man ein Fairbanks war, hatte man da vermutlich andere Maßstäbe. Vom Schreibtisch aus konnte man den Cam bei seinen gemessenen Fließbewegungen beobachten und den Kühen auf dem Common beim Grasen zusehen. Friedlich. Perfekt. Trotzdem war irgendetwas nicht in Ordnung. Aber was? In der Mitte des Raums stand, profan und einiger maßen fehl am Platz, ein großer brauner Staubsauger, vermutlich in der Hast von der Bettenmacherin zurückgelassen, und auf einmal wusste Augustus, was nicht stimmte: Der Staubsauger war aus, nicht einmal eingesteckt, und trotzdem hörte er leise, aber deutlich ein Staubsaugergeräusch – hier im Raum, ganz nah. Komisch war das schon. Er sah sich erneut um. Vielleicht war dies alles doch mehr als nur überreizte Putzfrauenfantasie. Wieder so ein geschmackloser Studentenstreich! Wahrscheinlich saß irgendwo jemand und zeichnete alles mit einem dieser verdammten Smartphones auf. Huff straffte sich, um auf YouTube eine gute Figur abzugeben. »Ein Geist«, sagte er laut und vielleicht etwas lehrerhaft. »Und er saugt. So, so. Überaus originell. Wo er wohl steckt?« »Auf dem Hochbett!«, tönte es aus dem Gang. Die Reinigungsdame war ihm gefolgt und umklammerte draußen zweifelnd ihren Besenstiel. Elena. Jetzt erinnerte er sich. 13

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Sie hieß Elena. Ein Luftzug fuhr durch das halb geöffnete Fenster in den Raum. Huff sah noch einen Moment lang Elenas erschrockenes Gesicht, dann knallte die Tür vor ihrer Nase zu, und Augustus war allein mit den auserlesenen Hinterlassenschaften des toten Studenten. Das Staubsaugergeräusch verstummte. Eine einzelne graue Feder schwebte zu Boden. Er blickte nach oben, dann – absurderweise – hinüber zu dem Falken auf dem Gobelin. Nichts. Natürlich nicht. »Doof!«, näselte deutlich erkennbar die Stimme von Elliot Fairbanks auf ihn herab. Augustus merkte, wie er blass wurde. Eine Aufzeichnung, natürlich eine Aufzeichnung, aber wer tat so etwas Makabres – und warum? Er ging in die Knie, um zu sehen, ob vielleicht ein Sendegerät unter dem Schreibtisch verborgen war. »Knapp daneben ist auch vorbei!«, spottete Elliot. »Kalt. Ganz kalt. Die Trauben kannst du dir abschminken!« Elena hatte recht: Die Stimme kam eindeutig vom Bett herab. Augustus stellte sich auf irgendeine Art von unerfreulicher Entdeckung ein und setzte seinen linken Fuß auf die Hochbettleiter. Zwei Sprossen weiter oben konnte er endlich ins Bett sehen. Was er dort erblickte, jagte ihm Schauer über den Rücken: ungemacht. Offensichtlich war Elena ihren Bettmachpflichten hier noch nicht nachgekommen. Augustus’ Hände kribbelten unangenehm. Immerhin lag hier oben keiner  – nicht Elliot, wie er 14

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widersinnigerweise befürchtet hatte, und auch sonst niemand. »Hallo?«, fragte er und kam sich blöd vor. »Hallo Stinker!«, antwortete Elliots Stimme aus dem zerwühlten Bett, fast zärtlich, jeder Vokal perfekt geformt. Arroganter Schnösel! Niemand konnte einem besser das Gefühl geben, ein hoffnungsloser Prolet zu sein, als Elliot. »Rah-rah-ah-ah-aah! Ga-ga-uhh-la-laa«, sang es plötzlich zwischen den Laken hervor. Eindeutig nicht Elliot. Augustus kannte den Song. »I want your love and I want your revenge! You and me! Ohh-la-laa!« Dazu bewegte sich etwas unter der Bettdecke. Nichts allzu Großes  – etwa Kaninchengröße. Eine Ratte? Eine singende Ratte? »Ga-ga-uh-la-laaa!«, grölte die Beule unter der Bettdecke und wippte rhythmisch mit. »Want your bad romance!« Dann ertönte wieder das Staubsaugergeräusch. Jetzt wurde es doch zu bunt! Augustus fasste sich ein Herz und zog die Decke weg. Im selben Moment ertönte ein schriller Schrei. Nicht menschlich, und auch sonst hatte Augustus noch nie so einen Schrei gehört, nicht einmal bei seiner Amazonas-Expedition vor fünf Jahren. Fast wäre er von der Leiter gefallen, dann starrte er einfach nur fassungslos auf das kleine graue Etwas, das ihn mit angelegten Federn von der Matratze aus ankreischte. »Fuck me! Fuck me! Die Bude brennt! Monster! Mörder! Mörder!« 15

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Selbst jetzt klang der Vogel nach Elliot. Der Papagei hatte sich in die hinterste Ecke des Bettes zurückgezogen, hielt die Flügel leicht abgespreizt und beobachtete Augustus Huff mit überraschend intelligentem Blick, nicht so kritisch wie der Falke, aber womöglich noch feindseliger. Der Flaum auf seiner Brust hob und senkte sich rasend schnell. War das etwa der Herzschlag? War das normal? Augustus beugte sich etwas weiter vor. »Die Trauben kannst du dir abschminken!«, drohte der Papagei. Plötzlich musste Augustus lachen, nicht ohne eine gehörige Portion Erleichterung. Bloß der Vogel! Ach so! Elliot hatte im zweiten Semester die Erlaubnis bekommen, einen Graupapagei zu halten, angeblich für Verhaltens- und Sprachstudien – in Augustus’ Augen, weil Elliot jede Extrawurst haben musste, die er kriegen konnte. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass der Papagei wirklich so gut sprechen konnte. Manchmal hatte man den Studenten mit dem Vogel auf der Schulter durch die Gänge des Colleges laufen sehen, aber sonst hatte Augustus von dem ungewöhnlichen Haustier bisher kaum Notiz genommen. Im ersten Schreck nach dem Unfall hatte natürlich niemand an das arme Vieh gedacht, und jetzt saß es hier schon den zweiten Tag mutterseelenallein im Zimmer. Hatte es Wasser? Hatte es Futter? Augustus merkte, dass der Papagei mitlachte, eine perfekte Imitation Augustus’ eigenen, etwas hysterischen Gelächters. Die Federn sahen jetzt flaumiger aus, der Vogel reckte den Hals und flappte mit den Flügeln. »Okay, Vogel«, sagte Augustus. »Okay. Keine Angst. Ich hole jemanden, der sich mit dir auskennt.« 16

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»Auskennt!«, wiederholte der Papagei zweifelnd. »Auskennt? Auskennt!« Er legte den Kopf schräg, schüttelte sich und musterte Augustus mit seinen verständigen hellen Papageienaugen. Dann schien er einen Entschluss zu fassen und hüpfflatterte aus der Ecke heraus auf Augustus zu. Augustus zog instinktiv den Kopf ein und kniff die Augen zu, aber natürlich half das nichts. Im nächsten Moment spürte er, wie sich spitze Vogelkrallen durch seine Strickjacke bohrten. An seinem Ohr fühlte es sich auf einmal warm und überraschend weich an. »He!«, protestierte er, die Augen noch immer fest geschlossen. Hier oben auf der Hochbettleiter konnte er keine scheuchenden Armbewegungen machen. Also trat er hastig den Rückzug an, die Leiter hinunter, den rechten Fuß voran. Schlecht. Ganz schlecht. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wagte er es endlich, die Augen zu öffnen, zuerst nur einen Spalt. Er schielte nach seiner linken Schulter. Das Erste, was er sah, war ein scharfer schwarzer Schnabel, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Augustus wedelte halbherzig mit den Händen Richtung Papagei. »Geh weg!«, flüsterte er. »Want your bad romance!«, erklärte der Vogel. »Na toll!«, murmelte Augustus. Er sah sich hilfesuchend um. Wie sollte er das Vieh jetzt wieder von der Schulter bekommen? »Professor! Professor!«, tönte es bang aus dem Gang. »Professor! Ist alles in Ordnung?« Huff öffnete die Tür. »Wie man’s nimmt!« 17

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Er hatte erwartet, dass Elena auch lachen würde, vermutlich über ihn, aber beim Anblick des Papageis verfinsterte sich ihr Gesicht. »Der Vogel! Schon wieder der blöde Vogel! Er muss in seinem Käfig bleiben, das haben wir ihm schon hundert Mal gesagt!« »Er spricht!«, sagte Augustus. »Nicht mit mir!« Elena schritt an ihm vorbei durch den Raum und öffnete links eine diskrete schmale Tür. »Da hinein!« Sie traten in ein sonniges kleines Erkerzimmer, leer bis auf einen geräumigen Vogelkäfig, eine frei stehende Sitzstange und ein Regal voller kleiner bunter Dinge, vermutlich Papageienspielzeug. Vielfarbige Würfel, Bälle, Plüschtiere, Holzplättchen, Kordeln und Papiergebilde. Ein Luxuspapageienzimmer der Extraklasse. Augustus spürte, wie der Vogel beim Anblick des Käfigs still und steif wurde und seine Krallen noch tiefer in die Strickjacke senkte. »In den Käfig!« Elena machte Anstalten, nach dem Vogel zu greifen, zog aber angesichts des wehrhaften Papageienschnabels die Hände im letzten Augenblick zurück. »Sollen wir es mal mit Futter versuchen?« Sie griff in den Käfig und holte einen Futternapf heraus, in dem noch ein paar Nüsse lagen. Der Vogel machte den Hals lang, aber Elena hielt das Futter außer Reichweite. Dann stellte sie den Napf zurück in den Käfig und machte dazu einladende Schmatzgeräusche. Augustus sah aus dem Augenwinkel, wie der Papagei den Kopf schräg legte und den Inhalt des Futternapfes be18

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äugte, nicht ohne eine gewisse Sehnsucht. Aber er bewegte sich nicht vom Fleck. »Vielleicht ist es ja das falsche Futter«, murmelte Augustus. »Er hat was von Trauben gesagt!« Elena sah ihn mitleidig an. »Mal sehen, ob er auf so eine Stange geht!« Sie löste eine der Sitzstangen aus dem Käfig und versuchte, sie unter die Füße des Papageis zu schieben. Augustus spürte einen Schmerz am Ohr. Wohldosiert, fast vorsichtig. Ein Warnbiss! »Aua!« »Stellen Sie sich nicht so an! Kommen Sie her! Wie soll ich denn da rankommen?« Augustus, der viel größer war als die Reinigungsfrau, beugte sich hilfsbereit vor und fand sich auf einmal Aug in Aug mit zwei wohlgerundeten Brüsten, appetitlich verpackt in einer weißen Bluse mit V-Ausschnitt. Der Papagei gab einen anerkennenden Pfiff von sich, dann hörte Augustus ironische Schmatzgeräusche. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, und richtete sich schwitzend auf. »Das … äh, das war der Vogel. Ich glaube, das bringt so nichts, er frisst mir sonst noch das Ohr ab!« Elena biss sich auf die Unterlippe und nickte. Sie war rot im Gesicht, wenn auch vermutlich nicht so rot wie Augustus. Der Vogel saß jetzt wieder stumm und wohlerzogen da und schien sie beide mit diskreter Missbilligung zu mustern. Auf einmal war es Huff in dem kleinen Erkerzimmer zu warm und zu eng. Es hatte schon seine Gründe ge19

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habt, dass früher nur unattraktive Frauen mittleren Alters als Bettenmacherinnen zugelassen gewesen waren! Heute hingegen … Jedenfalls war es Zeit, den Rückzug anzutreten, Papagei hin oder her! »So wird das nichts! Ich … ich lasse ihn einfach erst einmal auf meiner Schulter. Eigentlich … eigentlich stört er gar nicht so. Ich gehe zurück in meine Wohnung, und dann äh … wird ihm schon irgendwann langweilig werden. Und wenn er erst einmal unten ist, dann … dann fange ich ihn ein!« Es war das Beste, was ihm auf die Schnelle einfiel. Ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Zimmer und den Gang entlang und fummelte mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss. Der Papagei auf seiner Schulter hatte auch zu zittern begonnen. Er zitterte, während Augustus seine Tür aufsperrte und beim Eintreten dreimal an den Türrahmen klopfte, und er zitterte noch immer, als Augustus schließlich im Badezimmer vor dem Spiegel stand und den Schaden beäugte. Sein Ohr schien in Ordnung, gerötet, aber intakt, der Papagei daneben war kleiner, als er es sich ausgemalt hatte, die Federn eng angelegt, die Vogelaugen starr, ein graues Häufchen Elend. »Bad romance!«, beschwerte er sich. »Das kannst du laut sagen!« Augustus wusch sich die Hände, einmal, zweimal und dann zur Sicherheit noch ein drittes Mal. Er bemerkte, wie der Vogel wieder den Kopf schief legte und sehnsüchtig nach dem Waschbecken schielte. Wasser! Natürlich! Vielleicht konnte er ihn so von der Schulter bekommen! Huff füllte seinen Zahnputzbecher 20

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und hielt ihn dem Papagei hin. Der Vogel stieß einen aufgeregten Pfiff aus und reckte den Hals. Augustus zog die Hand zurück und stellte den Becher gut erreichbar auf den Waschbeckenrand. Wasser interessierte das kleine Vieh ganz eindeutig. Es machte den Hals erstaunlich lang und kletterte sogar ein Stück den Arm hinunter. Augustus hielt den Atem an. Doch dann, kurz vor dem Ellenbogen, verlor der Vogel den Mut und zog sich widerwillig auf die Schulter zurück. »Bad romance!«, erklärte er. Augustus sah sich die Szene im Spiegel an: er im grauen Cardigan, der Vogel im Federkleid mit korallenroten Schwanzfedern und entschlossen gesenkten Krallen, beide mit frustriertem Gesichtsausdruck. Nichts als einen scharfen Schnabel und ein paar graue Zellen, um sich gegen die Welt da draußen zu verteidigen. Auf einmal bewunderte er den kleinen Papagei. Er wog so gut wie nichts, aber er hatte eindeutig einen Plan, und er würde die Stellung halten, komme, was wolle. Elliots Tod musste seine Routine vollkommen durcheinandergebracht haben, und jetzt hatte er sich Augustus’ Schulter ausgesucht, um der Welt von dort aus die Stirn zu bieten. Vielleicht hatte Elliot ja eine ähnliche Strickjacke besessen? Zum ersten Mal betrachtete Augustus den Vogel mit so etwas wie Sympathie. Er nahm den Becher vom Waschtisch und hielt ihn wieder hoch, diesmal in Reichweite. Der Papagei trank mit delikaten kleinen Bewegungen, hob und senkte den Kopf, wetzte dann und wann den Schnabel an der Strickjacke. Ab und zu musste Augustus nachfüllen, weil sich der Vogel nicht traute, den Kopf zu tief in den Becher zu stecken. 21

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Schließlich schien es genug zu sein. Der Papagei plusterte sich und gab kleine zufriedene Quietschlaute von sich. »Danke«, sagte er höflich. »Gern geschehen«, entgegnete Augustus überrascht. Damit war der Etikette Genüge getan. Augustus Huff ging zurück in den Wohnraum und überlegte, was er mit dem Rest des gründlich vermasselten Tages anfangen sollte. Seite acht konnte er unter diesen Umständen natürlich vergessen, und mit dem Vogel auf der Schulter traute er sich nicht in die Öffentlichkeit. Er ordnete die Stifte und Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch, dann verzehrte er einen Müsliriegel, nicht ohne vorher ein paar Nüsse abzubrechen und an den Papagei zu verfüttern. Das klappte überraschend gut, auch wenn ihm der Vogel in der Aufregung beinahe ein paar Finger abfraß. Anschließend machte Augustus sich Notizen für seine Vorlesung im nächsten Semester, ordnete Stifte und Briefbeschwerer und korrigierte ein paar Essays. Es ging besser als erwartet. Der Vogel saß still, die Augen zu Schlitzen verengt, vermutlich erschöpft vom Stress der vergangenen Stunden, und murmelte nur manchmal Unverständliches in Augustus’ Ohr. Als er mit der Arbeit fertig war, ordnete Augustus zur Vorsicht noch einmal Stifte und Briefbeschwerer und zog sich dann in seinen Denksessel zurück. Das Anlehnen mit Papagei war etwas schwierig, aber schließlich fanden sie eine Position, die für sie beide angenehm schien. Der Vogel döste. Eigentlich hätte Augustus die Stille nutzen sollen, um einen Plan auszuhecken, wie er den Papagei endlich von der Schulter bekam. Stattdessen machte er 22

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sich Sorgen: War sein Schreibtisch wirklich aufgeräumt? Er hätte gerne nachgesehen, wollte aber den Vogel nicht wecken. Er nahm ein Buch zur Hand, um sich abzulenken, aber seine Gedanken glitten an den Zeilen ab. Er dachte an den wundervollen Gobelin, den er gerade gesehen hatte. Elliot! Dieser kalte Schnösel hatte so etwas Schönes nicht verdient! Dann erinnerte er sich daran, dass Elliot jetzt irgendwo bleich und zerbrochen in einem Leichenschauhaus lag. Das hatte er vermutlich auch nicht gerade verdient – oder etwa doch? »Ermordet«, hatte Elena gesagt. Das war natürlich Quatsch, aber … Elliot war ein berüchtigter Fassadenkletterer gewesen. Im ersten Semester wäre er fast von der Uni geflogen, nachdem er eine nackte Sexpuppe mit Fahrrad auf dem Dach des Senats zur Schau gestellt hatte  – und er, Augustus, hatte ihn als sein Tutor unter dem Druck der Familie aus dem Schlamassel boxen müssen. Danach war es mit der Kletterei angeblich vorbei gewesen, aber Huff wusste es besser: Er hatte Elliot noch vor kurzem nachts die Fassade der Bibliothek hinaufklettern sehen, ein Schatten mit unverkennbar weißblond leuchtendem Schopf, anmutig und präzise, mit vollendetem Selbstvertrauen. Huff hatte selbst ein wenig Klettererfahrung und verstand genug davon, um zu sehen, dass hier ein Meister am Werk war. Je länger er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihm vor, dass Elliot so einfach abgestürzt sein sollte, kurz vor Ende des Semesters, in einer windstillen, trockenen, mondhellen Nacht. So was passierte vielleicht norma23

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len Leuten, aber nicht Elliot Reginald Fitzroy, dem künftigen Lord Fairbanks. Es war ein dummer Unfall gewesen, und Elliot war alles andere als dumm. War er bei seiner Klettertour allein gewesen? Damals an der Bibliothek war Elliot ein zweiter Schatten gefolgt, dunkler, unbeholfener. Wer war der zweite Kletterer? War Alkohol im Spiel gewesen? Unwahrscheinlich. Elliot war so gut wie der einzige Student, den Huff noch nie betrunken gesehen hatte, nicht bei College Dinners und auch sonst nicht. Mehr als einmal war Augustus in den Gassen von Cambridge einer Horde grölender Studenten begegnet, sturzbetrunken, alle bis auf Elliot, der einige Schritte hinter den anderen ging, schlank und aufrecht, die Hände in den Hosentaschen, einen spöttischen Ausdruck in den Augen. Wer waren die anderen gewesen? Langbeinige Mädchen. Studenten mit teuren Schuhen und schlechter Haut. Hatte Elliot Freunde? Vielleicht sollte er mit ihnen sprechen, herausfinden, ob Elliot Sorgen gehabt hatte, Probleme? Ein bisschen spät, sicher, aber Augustus fühlte sich seltsam verantwortlich. Selbstmord? Bei einem seiner Studenten? Vor seiner Nase? Hatte Elliot genug emotionale Tiefe für Selbstmord besessen? Jedenfalls war er nicht der Typ gewesen, der einfach so von Dächern fiel – eher schon der Typ, der andere schubste … Augustus Huff gähnte. Er dachte an Ritter und Falken, dann plötzlich an die Ifriten des Morgenlands, Dämonen in menschlicher Gestalt, die sich das Vertrauen irgendeines arglosen Dummkopfes erschlichen und ihn dann, wenn er einwilligte, sie auf seiner Schulter zu tragen, langsam zu Tode ritten. 24

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Er dachte an Mädchen mit langen Beinen. Er dachte an vergoldete Spiegel. Er spürte noch im Halbschlaf, wie sich etwas Weiches an sein Ohr schmiegte. * Es klopfte, aber Augustus wollte nicht aufwachen, und öffnen wollte er schon gar nicht. Er wusste genau, was dann passieren würde: Elena würde ihn zwingen, in Elliots Zimmer zu gehen, und dann würde er mit einem Papagei auf der Schulter enden und – noch schlimmer – mit Zweifeln an Dingen, an denen man besser nicht zweifeln sollte. Nichts da! »Herein!«, sagte überraschend eine vornehm näselnde Stimme auf seiner Schulter. Sein Unterbewusstsein? Sein Über-Ich? Die Tür öffnete sich. Augustus schnellte aus seinem Sessel und versuchte noch im Aufspringen, sich die Haare zu glätten. Er kam sich fürchterlich unaufgeräumt und zerknittert vor. Niemand sollte ihn so sehen, schon gar nicht Professor Sybil Vogel mit den seidigen Haaren und fröhlichen Augen, mit der er fast so etwas wie eine Beziehung hatte. Unverständlich, aus Augustus’ Sicht, aber wenn man unter dreißig war und am College lehrte, hatte das vermutlich einen gewissen Sex-Appeal. »Hey Huff!«, sagte sie freundschaftlich. »Hey Huff!«, wiederholte der Papagei. »Hey Huff! Heyhuff! Huffhuffhuff!« Die Laute schienen ihm zu gefallen. 25

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»Ach, du kümmerst dich jetzt um Gray! Ich hab mich schon gefragt, was wohl jetzt aus ihm wird. Ich habe es mir auch überlegt, weißt du, aber ganz ehrlich, der Krach und der ganze Dreck … Das ist echt anständig von dir, Huff!« Krach? Dreck? »Huff!«, sagte der Vogel anerkennend. »Ich …« Augustus wollte ihr erklären, dass der Papagei auf seiner Schulter ein Versehen war, beinahe so etwas wie ein Unfall, dass der Vogel ihn ins Ohr gebissen hatte, dass er ihn einfach nicht mehr losbekam – aber er traute sich nicht. Es war erstaunlich genug, dass Sybil manchmal abends seidig und glatt in sein Zimmer glitt, da wollte er die junge Beziehung nicht durch Demonstration völliger Hilflosigkeit angesichts eines Fünfunddreißig-ZentimeterVogels belasten. »Äh …« Was hatte Sybil gesagt? »Gray?« »Gray«, bestätigte der Vogel. Sybil war schon wieder halb aus der Tür. »Ich wollte dir nur schnell den Aufsatz vorbeibringen, über den wir gestern gesprochen haben, bin gespannt, was du sagst, und dann habe ich eine Sitzung mit diesem schrecklichen Klops und dann – wir sehen uns heute Abend beim Dinner, ja? Huff? Alles in Ordnung, Huff?« Natürlich war nicht alles in Ordnung. Augustus stellte sich vor, mit Papagei an den High Table zu treten, vor all die grauen Eminenzen des Colleges, den Master, den Dean, den heutigen Ehrengast, einen nobelpreisgekrönten Physiker, während der Vogel auf seiner Schulter »Ga-gaauh-la-laa« grölte. Undenkbar. »Ich … ich glaube nicht, dass ich kommen kann. Erkäl26

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tung, äh, Kopfweh.« Das mit dem Kopfweh war noch nicht einmal gelogen. Er hatte das furchtbare Gefühl, dass der Schreibtisch hinter ihm in einer schrecklichen Unordnung war, aufgeräumt werden musste, sofort, aber er hatte gelernt, diese Impulse unter Kontrolle zu halten, zumindest in Gegenwart Dritter und vor allem gegenüber Sybil; Sybil, die aus unerfindlichen Gründen noch immer dachte, dass er nett und normal sei, trotz täglicher Gegenbeweise. »Oh, schade! Na, bis morgen dann!« Sybil ließ den Aufsatz einfach zu Boden flattern. Die Seiten fächerten sich trotz Heftklammer unordentlich auf. Augustus schluckte. Er wollte nicht, dass sie schon wieder ging. Mit ihr als Publikum konnte er sich vormachen, dass dies ein ganz normaler Tag war, keine große Sache, sogar der Vogel. Ordentlich. Geplant. Ein Tag unter Kontrolle. Er versuchte, sie aufzuhalten, irgendwas zu sagen, das sie interessieren würde. »Glaubst du, Elliot war depressiv?« Es rutschte ihm einfach so heraus. Sybil erstarrte mitten in der Bewegung und sah ihn einen Moment lang mit seltsamem Gesichtsausdruck an. Dann lachte sie trocken. »Wer, Elliot? Der hätte meiner Meinung nach ruhig ein bisschen depressiver sein können.« Sie lächelte verlegen. »Versteh mich nicht falsch – natürlich ist es schrecklich, was da passiert ist … Warte mal, du denkst, Selbstmord, stimmt’s?« Schnell wie ein Pfeil, Sybil. Sie schüttelte ihr Seidenhaar. »Nee, nee, nicht Elliot. Er war mein Student, und mir blutet das Herz, wenn ich 27

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an die brillante Doktorarbeit denke, die er eines Tages geschrieben hätte, aber ganz ehrlich … auf menschlicher Ebene …« Sie ließ den Rest ungesagt, aber Augustus wusste genau, was sie meinte: Auf menschlicher Ebene hätte es keinen Besseren treffen können. »Hm, tschüs dann. Der Klops wartet! Ich hoffe, dein Kopfweh wird besser.« Weg war sie, und Augustus, der sein Angstgefühl nicht länger unterdrücken konnte, wirbelte herum. Der Schreibtisch war in einer schrecklichen Unordnung. »O mein Gott, das ist … o mein Gott!« Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Ein Bleistift war angefressen und entzweigeknickt, ein Füllfederhalter lag in einer Tintenlache. Zwei Briefbeschwerer waren zu Boden gefallen, ein dritter – ein schmiedeeiserner Frosch – lag umgedreht da, Bauch nach oben. Die Essays zeigten Bissspuren, Papierschnipsel bedeckten den Tisch. Nichts, aber auch gar nichts war da, wo es hingehörte. Augustus’ Herz klopfte bis zum Hals. »Das ist … das ist …« Er rang nach Worten, die dem Papagei das Ausmaß der Katastrophe klarmachen würden. »Bad romance!«, sagte er schließlich. »Bad bad romance!« Dabei war das Chaos noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass der Vogel ganz offensichtlich seine Schulter verlassen hatte, und er, Augustus, hatte es verpennt! Er hätte heulen können. Stattdessen machte er sich mit zitternden Händen daran, den Schreibtisch halbwegs unter Kontrolle zu bekommen, Stapel zu ordnen, Vogelkacke wegzukratzen. 28

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»Sorry«, murmelte der Vogel in sein Ohr. »Sorry, sorry, sorry.« Von wem er das wohl gelernt hatte? Jedenfalls nicht von Elliot! Schließlich war wieder so etwas wie Ordnung eingekehrt. Augustus saugte mit Löschpapier die letzten Tintenkleckse auf, polierte die Tischplatte, hauchte und polierte weiter. Seine Briefbeschwerer hatten alle überlebt, die meisten der Stifte auch. Mit ihren zerfressenen Rändern sahen die Papierstapel natürlich nicht mehr so gut aus. Es tat ihm in der Seele weh, aber hier war nichts zu machen, schließlich konnte er die Essays seiner Studenten schlecht durch neue ersetzen. Er stürmte hinüber ins Badezimmer, um sich ein paarmal gründlich die Hände zu waschen. Er fühlte sich grün vor Ärger. Diese Ungerechtigkeit! Womit hatte er das verdient? Dass der Papagei ausgerechnet bei ihm gelandet war, kam ihm wie eine letzte, posthume Gemeinheit Elliots vor. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem angeblichen Unfall. Auch an dieser Unfallgeschichte war irgendetwas … unaufgeräumt. Warum war Elliot gefallen, und warum schien sich niemand wirklich dafür zu interessieren, nicht einmal Sybil? Wie unverblümt sie gesprochen hatte! Normalerweise war sie bereit, in jedem das Beste zu sehen – er selbst war dafür ein gutes Beispiel –, doch vorhin hatte sie fast gehässig geklungen. Es war, als sei Elliots Tod etwas, das sich alle heimlich gewünscht hatten. Doch was sich alle heimlich wünschten, passierte unter normalen Umständen eher selten – es 29

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sei denn, man ließ es passieren. Da waren … Diskrepanzen. Wo es Diskrepanzen gab, wurde es in der Wissenschaft interessant. Diskrepanzen bedeuteten, dass die Wahrheit komplexer war als bisher angenommen. Ermordet? Wer von ihnen hätte den hochnäsigen Flegel nicht gerne dann und wann ein wenig geschubst? Augustus trocknete sich die Hände. Der Sturz war so etwas wie Fleisch gewordenes kollektives Unterbewusstsein. Er passte zu gut. Würde es Ermittlungen geben? Gottesdienste? Ansprachen? Wo waren die Eltern? Wer hatte Elliot eigentlich gefunden? Würden sie eine Autopsie durchführen? Auf Drogen testen? Oder doch lieber alles schnellstmöglich unter den nächsten Teppich kehren? Einer Sache war er sich sicher: Elliot würde nicht so einfach unter dem Teppich bleiben, dazu war die ganze Geschichte zu … unbequem. Es würden Dinge passieren – und er, Augustus Huff, Fellow und Anthropologe, würde da sein, um sie zu beobachten. Er sah schon den Titel seines Aufsatzes vor sich: Das Unheimliche im vertrauten Setting. Primitive Strukturen am Beispiel eines Colleges – oder so. Aber erst einmal zu praktischen Dingen: Wenn er das Dinner meiden wollte, sollte er sich vorher Essen aus der Küche holen. Das bedeutete, dass er mit Papagei hinaus in den Gang musste, drei Treppen hinunter, quer durch einen Hof und ein Tor und dann noch eine Passage entlang. Eine herkulische Aufgabe. Augustus sah auf die Uhr: kurz vor fünf – nicht die beste Zeit, aber auch beileibe keine der schlechtesten. Wenn er Glück hatte, begegnete er unterwegs kaum jemandem. 30

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Er wusch sich zur Sicherheit noch einmal die Hände und warf einen kritischen Blick in den Spiegel. »Benimm dich!«, sagte er – halb zu dem Papagei, halb zu sich selbst, dann trat er aus der Tür, linker Fuß zuerst, sperrte ab, kontrollierte. Kontrollierte. Kontrollierte. Den Gang entlang. Drei Treppen hinab. Hinaus in den Hof, alles mit links. Solange er die Dinge mit links machte, würde alles in Ordnung gehen. Draußen schwitzte er in seiner Strickjacke. Es war ein ungewöhnlich heißer Junitag. Die Sonne füllte den Hof, glänzte auf Dächern, prallte von Fenstern ab und schmiegte sich schmeichelnd um gepflegte Staudenbeete und goldene Kalksteinmauern. Augustus sah kaum hin, sondern steuerte, geblendet vom Licht, quer über den Rasen auf das gegenüberliegende Tor zu. Neben ihm gab Gray kleinlaute Fieptöne von sich. Es war ein Privileg, den Rasen betreten zu dürfen, es war nur Fellows des Colleges erlaubt, und normalerweise empfand Augustus dabei Stolz und Ehrfurcht, fast Rührung. Er war hier! Auf dem Rasen, der die Welt bedeutete! Wer hätte das gedacht? Aber heute pflügte er durch das Gras, weil es eben der kürzeste Weg war. Dutzende von Fenstern guckten auf ihn herab, dahinter womöglich unzählige Augenpaare, die sehen konnten, dass er einen Vogel hatte, und es so schnell nicht vergessen würden. Studenten waren ein grausames Volk. Durch das Tor. In die Passage. 31

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Durch die Tür in die Küche, linker Fuß zuerst. Glücklicherweise war die Küche menschenleer, bis auf einen Steward, der damit beschäftigt war, Hunderte von Tellern mit Petersilie zu garnieren. Augustus winkte kurz, dann machte er sich an die Arbeit: Brot, kalter Braten, Kartoffelsalat. Ein grüner Salat, der Gesundheit wegen. Lemon Tarte zum Nachtisch. Und noch eine zweite Lemon Tarte für die Nerven. Gray hatte beim Anblick des Kühlschranks begonnen, aufgeregt den Kopf zu recken. Augustus griff sich eine Banane, einen Apfel und … hatten sie Trauben? Ja, dort hinten, schön, rot und üppig. Der Vogel war jetzt wirklich aus dem Häuschen. »Professor!«, sagte er eindringlich. »Professor, Professor!« Er musste es von der Bettenmacherin aufgeschnappt haben. »Schsch!«, zischte Augustus. Es war ihm etwas peinlich, weil er streng genommen noch kein Professor war. Er quetschte noch einen Müsliriegel und eine Flasche Rotwein auf sein Tablett, dann war er, bevor der erstaunte Steward etwas zum Thema Tiere in der Küche sagen konnte, wieder draußen, in der Passage. Schritte in der Ferne, gedämpftes Studentenlachen, aber noch immer niemand in Sicht. Mehr Glück als Verstand, und das bedeutete in seinem Fall eine ganze Menge Glück. Der Papagei reckte den Hals nach dem Tablett, länger, als Augustus es je für möglich gehalten hätte. Nochmals respektlos über den Rasen. Eine Treppe hinauf. Gray hing inzwischen fast an seinem Ellenbogen. 32

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»Huff!«, schmeichelte er. »Professor! Professor Huff!« Genau in diesem Moment bog Augustus um eine Ecke und wäre um ein Haar mit der Schatzmeisterin des Colleges kollidiert. Melissa Jennings war eine kleine, solide gebaute, mittelalte Frau, mit der nicht gut Kirschen essen war – oder Trauben oder sonst irgendetwas. Sie blieb stehen und musterte Augustus wie einen besonders unappetitlichen Lebensmittelschädling oder – noch schlimmer – eine falsche Zahl in ihrer Buchhaltung. Die Vier – oder sogar die Acht! Wieder der Blick: nicht normal. Vermutlich dachte sie jetzt, dass Augustus »Professor Huff!« murmelnd durch die Gänge zog – eine Beschwörungsformel in Sachen Beförderung. Und wenn schon! Augen zu und durch! Er nickte ihr knapp zu, hielt sich an seinem Tablett fest und steuerte entschlossen an der Jennings vorbei auf die rettende Tür zur nächsten Treppe zu. Fast hätten sie es geschafft, aber im letzten Moment drehte Gray den Kopf und schleuderte ein vernehmliches »Fuck me!« über Augustus’ Schulter Richtung Schatzmeisterin. Die Jennings fuhr herum wie eine gebissene Bulldogge, in den Augen ein unheilverkündendes Leuchten. »Dr. Huff?« Augustus, der schon dabei war, mit dem freien Ellenbogen die Türklinke herunterzumanövrieren, erstarrte in der Bewegung. »Was ist das da an Ihrem Arm, Dr. Huff?« »Das …«, begann Augustus, kam aber nicht zu Wort. »Schaffen Sie ihn ab, Huff. Sie kennen die Regeln. Wenn wir hier alle einfach immer machen würden, was wir wollen …« 33

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Sie schwang sich zu einer langen Rede auf, aus der hervorging, dass nur der Abschaum der Menschheit auf die Idee kommen konnte, mit Papageien an den Extremitäten durch eine weltweit führende Universität zu laufen, dass sein Platz am College alles andere als gefestigt war, dass dieser Regelverstoß Konsequenzen haben würde, alles, ohne auch nur Luft zu holen. Augustus ließ von der Klinke ab und versuchte das Tablett gerade zu halten, trotz Gray, der sich vorsichtshalber wieder auf die Schulter zurückgezogen hatte und den Ausbruch der Schatzmeisterin inspirierend zu finden schien. »I want your love and I want your revenge! Ga-ga-uhhh-laaa!« Gut gelaunt wippte Gray von einem Fuß auf den anderen. »Hey, Stinker!« Das hatte er eindeutig von Elliot. Die Schatzmeisterin wurde röter und röter und donnerte schließlich davon. »Konsequenzen«, äffte Gray in perfektem Schatzmeisterinnenton. »Nachspiel! Die Trauben kannst du dir abschminken! Monster!« »Schschh«, murmelte Augustus. Innerlich kochte er. Die Jennings war ein Bully, einfach nur eine miese, gemeine Drangsaliererin, die Spaß daran hatte, andere herunterzumachen, und er, der er sich in der College-Hackordnung noch relativ weit unten befand, war ihr wie gerufen gekommen. Gray abschaffen? Nichts da! Der Vogel war wertvolles Forschungsmaterial für Verhaltens- und Sprachstu34

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dien, hochtrainiert, einzigartig, und daran konnte auch die Jennings mit ihrer kleinkarierten Weltsicht nichts ändern! Er stellte sein Tablett auf das nächstliegende Fensterbrett, verdrückte zur Beruhigung schnell eine Lemon Tarte und verfütterte drei Trauben an Gray, dann steuerte er schnurstracks auf das Büro des Masters zu. Er klopfte und wurde hereingebeten. Augustus Huff betrat das Büro des Masters als freier Mann und verließ es als offizieller temporärer Halter und Trainer des afrikanischen Graupapageis und Versuchssubjekts Gray. Er war selbst ein wenig überrascht angesichts der Genugtuung, die er dabei verspürte. »Hey Huff!«, sagte Gray. »Bad romance!« Und das fasste es eigentlich ganz gut zusammen.

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2. Konsequenzen

Sie verzehrten ihr erstes gemeinsames Abendessen an Augustus’ großem Küchentisch, am Fenster, mit Blick auf schiefergedeckte Dächer, verspielte Zinnen und einen rosafarbenen Sonnenuntergang. Kartoffelsalat, Braten, Wein und die zweite Lemon Tarte für Augustus, Banane, Trauben und etwas grünen Salat für Gray. Der Papagei erwies sich als überaus unappetitlicher Tischgenosse. Anschließend räumte Augustus auf, sammelte Bananenfragmente und Salatfetzen von Tischplatte, Fensterbrett, Schoß, Schulter und Fußboden und wusch sich ein paarmal gründlich die Hände. Dann wurde es ernst. Der Erfolg dieser wahnwitzigen Adoption hing wesentlich davon ab, ob er es schaffen würde, Gray ohne großes Drama von seiner Schulter zu bekommen. Er klappte seinen Laptop auf, um mehr über afrikanische Graupapageien herauszufinden. Wissen war normalerweise die beste Verteidigung. Nach ausführlicher Internetrecherche war er sich dessen nicht mehr so sicher: Höhendominanz. Neurosen. Traumata, Futterverweigerung, Federrupfen, Aggression, Langeweile, Lungenkrankheiten – Graupapageien schienen hochkomplizierte Kreaturen zu sein. Gray, der sich anfangs noch für die Bilder anderer Papageien auf dem 36

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Bildschirm begeistern konnte, döste schnell weg. Augustus hielt durch. Einige Stunden Recherche später hatte er so etwas wie einen Plan: Papageien wie Gray fühlten sich offenbar an hohen Standorten am sichersten. Deswegen hatte er sich Augustus’ Schulter ausgesucht, und deswegen konnte es schwierig werden, ihn in den viel niedriger gelegenen Käfig zu bekommen. Eine hohe Sitzstange, wie Augustus sie in Elliots Zimmer gesehen hatte, würde Gray um einiges leichter unterzujubeln sein, vor allem wenn er sie mit Hilfe seiner Jacke attraktiv machte. Augustus’ Plan war sogar, die Strickjacke mit Gray darauf auszuziehen und beide gleichzeitig auf die Stange zu bugsieren. Vogel und Stange würden dann ins Badezimmer kommen, wo der Papagei vermutlich am wenigsten Schaden anrichten konnte. Augustus würde seine Zahnbürste wegsperren, den Boden unter der Stange mit Zeitungen auslegen und das Beste hoffen. So weit, so theoretisch. Erst einmal musste er sich die Vogelstange aus Elliots Räumen besorgen. Händewaschen. Vor die Tür. Absperren. Dreimal kontrollieren. Den Gang hinunter, linker Fuß voran. Alles lag ruhig und dunkel. Die tintenschwarzen Dielen knarzten. Fast unheimlich. Es war Examenszeit. Die meisten Studenten saßen in ihren Zimmern und lernten. Die Lehrenden genossen die Flaute oder waren damit beschäftigt, endlich etwas Publizierbares aufs Papier zu bringen. So gesehen war die Stille 37

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hier draußen keine große Überraschung, doch Augustus kam sich auf einmal sehr allein vor. Der letzte Mensch im College. In Cambridge. Auf der Welt. Allein mit Papagei. Er wurde von Zweifeln geplagt: Hatte er seine Tür wirklich gut verschlossen? Fast wäre er umgekehrt, aber im letzten Moment nahm er sich zusammen. Er wusste, dass er abgeschlossen hatte – nur fühlte er es nicht. Schnell legte er die letzten Schritte zu Elliots Tür zurück und drehte den Knauf. Ein Knarzen und dann ein gedämpftes, klackendes Geräusch. Offen. Zum Glück. Hatte Elena nicht abgesperrt? Zögernd steckte Augustus den Kopf in den Raum. Das letzte Mal war er auf Bitten des Reinigungspersonals hier gewesen, sozusagen als offizieller Vertreter des Lehrkörpers, diesmal fühlte er sich wie ein Dieb in der Nacht. Kein Licht brannte, natürlich nicht, aber Mondlicht fiel durch das große Fenster auf den Holzboden, spielte mit dem Spiegel und warf Flecken an die Wand. Der Gobelin lag dunkel. Der Schreibtisch ruhte in der Nacht wie ein Schiff. Augustus tastete nach dem Lichtschalter. Hell. Das Erste, was ihm auffiel, war die Unordnung. Keine große, auffällige, skandalöse Unordnung wie die vorhin auf seinem Schreibtisch, sondern etwas Vorsichtiges, Verstohlenes: Ein Buch stand etwas zu weit aus dem Regal, eine Schublade war nicht ganz geschlossen, eine Teppichecke umgeklappt, der Spiegel hing schief, etwas Rußstaub schwärzte den Marmor vor dem Kamin. Aha! Augustus, 38

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der sein halbes Leben im Kampf gegen die kleinen Unordnungen des Alltags verbrachte, erkannte die Zeichen sofort. Jemand war hier gewesen, ganz eindeutig, und hatte … etwas gesucht. Im Kamin. In Büchern und Schubladen. Hinter dem Spiegel. Unter dem Perserteppich. Gesucht – und gefunden? »Kalt. Ganz kalt!« Neben ihm begann Gray, vermutlich aufgeschreckt von der Helligkeit, zu plappern. »Was ist gleich? Was ist anders? Spiel das Spiel!« Vielleicht hatte jemand Elliot etwas ausgeliehen und brauchte es unbedingt zurück. Vielleicht war jemand betrunken ins falsche Zimmer geraten – das kam gar nicht so selten vor. Vielleicht … Augustus hörte seinem Herzen beim Klopfen zu. Es gab hundert mögliche Erklärungen für diese kleine Unordnung, aber nur eine wahrscheinliche: Jemand war hier gewesen und hatte etwas gesucht – nicht obwohl Elliot tot war, sondern weil er tot war. Etwas, das mit dem Mord zu tun hatte. Mord. Da war es, das Wort, das sich den ganzen Tag langsam, aber unaufhaltsam an ihn herangeschlichen hatte. Endlich war es da. Augustus ging in die Knie, um systematisch den Ruß vom Marmorsims zu wischen. Mord. Das war es, was er die ganze Zeit halb gedacht hatte, was vielleicht jeder hier am College heimlich dachte. Klammheimlich. Augustus merkte, dass seine Handflächen feucht waren. Rußig und feucht. Er holte ein Taschentuch hervor und säuberte seine Hände, so gut es ging. Ein Mord war eine schlimme Unordnung, die schlimmste überhaupt, 39

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ein Riss im Gefüge der Welt. Ein Mord musste aufgeräumt werden. Er hatte natürlich keine Beweise, nicht den geringsten, aber das machte nichts. Was in der Welt ließ sich schon wirklich beweisen? So gut wie gar nichts! Wichtig war die Theorie, eine Theorie, die elegant und kompetent alle relevanten Fakten zu einem appetitlichen, wohlgeordneten Bündel schnürte! Wer war hier gewesen? Und wann? Was hatte er gesucht? Und was gefunden? Er? Sie? Die Tatsache, dass jemand sowohl im Kamin als auch in Büchern und Schubladen gesucht hatte, bedeutete, dass es nicht um etwas ging, das Elliot einfach so besessen hatte, nein, es ging um etwas, das er versteckt hatte. Etwas Flaches – sonst wäre es unsinnig gewesen, auch unter den Teppich und hinter den Spiegel zu gucken. War der Sucher fündig geworden? Wie lange hatte er Zeit gehabt? Was, wenn er überrascht worden war, bevor er die kleine Unordnung wieder hatte zurechtrücken können? Was, wenn er ihn gerade überrascht hatte? Hatte er vorhin beim Öffnen nicht ein Geräusch gehört? War es vielleicht aus Elliots Räumen gekommen? Die unscheinbare Tür zum Erkerzimmer kam ihm auf einmal finster und ominös vor. Versteckte sich dort drinnen jemand? Ein plötzlicher Windhauch ließ Augustus zusammenfahren. Gray hatte angefangen, mit den Flügeln zu schlagen. »Konsequenzen, Professor! Konsequenzen!« Dann hob der Papagei ab und landete etwas unbeholfen auf dem Teppich. »Die Trauben kannst du dir abschminken!« Na wunderbar! Jetzt, wo er offizieller temporärer Halter war, ließ Gray ihn auf einmal im Stich! Augustus’ Schulter 40

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fühlte sich schlagartig zu leicht und zu kühl an. Der Papagei dagegen schien sich in der vertrauten Umgebung wohl zu fühlen und spazierte selbstbewusst auf dem Fußboden herum. »Hau ab!«, sagte er gut gelaunt. »Stinker!« Von wegen! So schnell ließ sich Augustus nicht abschütteln! Es galt eine Theorie zu verteidigen – und die Ordnung der Welt! Oder war es die Welt der Ordnung? Wenigstens hatte er jetzt volle Bewegungsfreiheit, wenn er den Inhalt des Erkerzimmers in Augenschein nahm. Er schob sich die Strickjackenärmel bis zum Ellenbogen, holte tief Luft und bewegte sich so leise wie möglich auf die Erkerzimmertür zu. Wenn dort drinnen wirklich jemand saß, würde es bestenfalls peinlich werden, schlimmstenfalls … Er drückte die Klinke herunter und riss die Tür auf. Dann kam er sich albern vor. Käfig. Regal. Sitzstange. Sonst nichts, natürlich nicht. Hatte er wirklich geglaubt, dass hier irgendwo ein Eindringling lauerte? Er knipste das Licht an. Da war sie also, die Papageiensitzstange, hoch und handlich, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte. Mal sehen … Ein kalter Wind flüsterte über seine Haut, und Augustus konnte beobachten, wie sich auf seinem nackten Unterarm eine Gänsehaut bildete. Das Fenster stand offen. Er würde es schließen müssen, bevor Gray, der auf einmal ungewohnt unternehmungslustig schien, auf die Idee kam, sich draußen auf den Dächern zu vergnügen. Die Juninächte in Cambridge konnten kühl sein, zu kalt für einen kleinen grauen Afrikaner  – nach allem, was er bei der Internetrecherche gelernt hatte. 41

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Leonie Swann Gray Kriminalroman ORIGINALAUSGABE Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 13,5 x 21,5 cm

ISBN: 978-3-442-31443-0 Goldmann Erscheinungstermin: Mai 2017

Dr. Augustus Huff, Dozent an der berühmten Universität von Cambridge, hat plötzlich ein Problem: einer seiner Studenten ist in den Tod gestürzt. Nur ein tragischer Unfall oder Mord? Augustus vermutet Letzteres, denn das Opfer war alles andere als ein Engel. Ein Mörder im Elfenbeinturm – das darf nicht sein, und so macht sich Augustus, unterstützt von Gray, dem Graupapageien des Verstorbenen, auf die Suche nach dem Täter. Der Vogel erweist sich aber als vorlautes Federvieh, und zuerst stolpert Augustus von einem Fettnäpfchen in das nächste. Doch schon bald ist es Gray, der die richtigen Fragen stellt und Augustus begreift: nur gemeinsam können sie es schaffen, diese harte Nuss von einem Fall zu knacken.