Leon Wurmser: Die Maske der Scham

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Leon Wurmser: Die Maske der Scham

Springer

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Leon Wurmser

Die Maske der Scham Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten

Geleitwort von Andre Haynal Dritte, erweiterte Auflage

,

Springer

Leon Wurrnser, M.D., P.A. 904 Crestwick Road, Towson, MD 21 286, USA

ISBN -13: 978-3-642-80458-8

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wunnser, Uon: Die Maske der Scham : die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten / Uon Wurmser. Ubers. aus dem Engl. von Ursula Dallmeyer. - 3., erw. Auf!. - Berlin; Heidelberg; New York ; Barcelona; Budapest; Hongkong ; London ; Mailand ; Paris ; Santa Clara; Singapur ; Tokio: Springer, 1997 Einheitssacht.: The mask of shame e-ISBN -13: 978-3-642-80457-1 ISBN -13: 978-3-642-80458-8 DOl: 10.1007/978-3-642-80457-1 Dieses Werk ist urheberrechtIich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilrnung oder der Vervielfiiltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung vorbehalten. Eine Vervielfiitigung dieses Werkes oder von Teilen dieses werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zuliissig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspflichtig. Zuwiederhandlungen unterleigen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1990, 1993, 1998 Softcover reprint of the hardcover 3rd edition 1998 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen; Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung aIs frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden diirften. Umschlaggestaltung: de'blik, Konzept und Gestaltung, Berlin Satz: Appl, Wemding

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"Wie konnte etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrtume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur Tiiuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit?" "Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen HaB auf Bild und Gleichnis. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einherginge?" (Nietzsche, /enseits von Gut und Bose 2, S. 8; 40, S.50)

i1'~1l' Xil1Yt.:l '~t,) i1.ry ~"11 i1'J"T:l (Demiitigung ist schlimmer als korperlicher Schmerz.) (Talmud, Sota 8 b)

tJ't.:l, .,~W 1?'X::l tJ':li:l 1i:ln lJ~ P:l?t.:li1 ?::l (Jemanden offentlich beschiimen ist wie BIut vergieBen.) (Talmud, Baba Metzia 58 b)

Geleitwort

Die wichtigsten psychoanalytischen Entdeckungen wurden aufgrund von "Selbstanalysen durch Fremde" (Freud an Fliess) gemacht. Dieses Vorgehen impliziert die Vberwindung personlicher Widerstande einerseits und "Originalitat" im Sinne von Empfanglichkeit fUr neue Probleme und Perspektiven andererseits. Deswegen sind ja auch wirkliche Neuigkeiten 'in der Psychoanalyse so selten; muB doch das Neue in einer Form dargestellt werden, die den Leser anzieht und ihn die Bedeutung der dargestellten Gedankengange so erfassen laBt, daB er dabei eigene Widerstande iiberwindet. Das vorliegende Buch von U~on Wurmser ist ein solches Dokument. Es ist dem Autor gelungen, die Bedeutung eines archaischen Affekts - der Scham - im Alltagsleben, in der Pathologie, in der Politik, in der Literatur und in anderen Bereichen umfassend darzuleg en. Trotz straffer Argumentation tut er dies in einem poetischen Stil. Wenn diese Schrift in erster Linie ein klinischer Beitrag ist, so erfaBt sie doch weit mehr als nur die Extreme der Klinik. Aufgrund seiner therapeutischen Erfahrung und seiner bewundernswert universellen Bildung ist der Autor imstande, unverhoffte Aspekte unserer Denkweisen, GefiihlsauBerungen und sozialen Verhaltensweisen zu beleuchten. Leon Wurmser wirkt iiberzeugend durch die Feinheit und die Scharfe seiner Beobachtungen, die Besonnenheit seiner Methodologie und die Reflektiertheit seiner Epistemologie. Man kann dieses Buch nicht aus der Hand legen, ohne durch die Lektiire verandert worden zu sein. Das Studium dieses Werkes - eines beispielhaften Beitrags der modernen Psychoanalyse - bringt eine seltene Bereicherung mit sich. Gent, im Januar 1993

Andre Haynal

Vorwort zur 3. Auflage

Fur diese Neuauflage entschlossen wir uns, der Verlag und ich, fUr zwei groBere HinzufUgungen: eine Ubersicht uber einige neuerschienene Werke zum Thema dieses Buches, die ich in diesem Vorwort vorlege, und einem zusatzlichen Kapitel, das mehrere, im urspriinglichen Text ungenugend vertretene Zusammenhange darlegen solI, v. a. mit Hilfe von literarischen Texten. Ich mochte wiederum meine tiefe Dankbarkeit fUr den weiten Leserkreis, der sich fUr meine Arbeiten interessiert, und fUr die Zusammenarbeit mit Frau Dr. Heike Berger yom Springer-Verlag ausdriicken. Nun zur Aufgabe der Ubersicht. In den letzten 20 Jahren ist das Interesse am Affekt der Scham, den damit verbundenen Charakterzugen und Konflikten, den zugrundeliegenden unbewuBten, psychodynamisch relevanten Verbindungen, den kulturellen und philosophischen Bezugen und schlieBlich den praktischen Folgerungen daraus fUr die Behandlung ganz massiv gestiegen. Dies wird von einer sHindig wachsenden Reihe wertvoller Bucher bezeugt. Die Ubersicht kann notwendigerweise nur bruchstuckhaft sein und beriicksichtigt lediglich mehrere Werke der letzten paar Jahre, die mich besonders angesprochen haben oder mir zur Rezension vorgelegt wurden. Wichtige andere Bucher, wie die von Michael Lewis oder Donald Nathanson, muBten vorerst, entweder aus Zeitgriinden oder da sie fUr die hier bedeutsamen Zusammenhange weniger wichtig erschienen, beiseite gelegt werden. Vielleicht den nachhaltigsten Eindruck auf mein eigenes Denken hat das 1991 erschienene Werk von Francis Broucek, Shame and the Self (Guilford, New York) ausgeubt. Ich habe daraus einige Kemsatze in Das Riitsel des Masochismus zitiert: "Das Thema, das wie ein roter Faden dieses Buch durchzieht, ist die Beziehung zwischen Scham und mannigfachen Vergegenstiindlichungen".l Mit "Vergegenstandlichung", "Verdinglichung" oder "Objektivierung" versteht er die Erfahrung, "wenn der eigene Status als Subjekt ignoriert, miBachtet, verleugnet oder vemeint wird".2 Er schlagt vor, "die friiheste QueUe des SchamgefUhls bestehe in friihkindlichen Erlebthe theme that runs like a thread throughout this book is the connection between shame and objectifications of various kinds" (S.lsl). " ••• shame as a response to objectification, that is, as a response to having one's status as a subject ignored, disregarded, denied, or negated. Such ob-

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Vorwort zur 3. Auflage

nissen der eigenen Wirkungslosigkeit, namentlich solchen im Umgang mit anderen, der Erfahrung des scheiternden Versuchs, wirkungsvoll gegenseitig befriedigende Intersubjektivitiit und gemeinsames BewuRtsein einzuleiten und aufrechtzuerhalten. Die zweite Quelle in der Entwicklung ist die Selbstobjektivierung [oder Selbstverdinglichung], ein Vorgang, der eine Art der Selbstentfremdung und primaren Dissoziierung herbeifiihrt... Eine dritte Quelle ist die episodische oder chronische Erfahrung, von wichtigen anderen, v. a. von den Eltern, ungeliebt, verworfen oder als Sundenbock behandelt zu werden. 1m Verlauf der Entwicklung fiihren diese Quellen der Scham zu einer iiberbesetzung des idealisierten Selbstbildes und einer Entwertung des tatsachlichen Selbst. .. ".3 Der NarziRt behandelt den anderen nicht als Subjekt, sondern eben als Ding, als Gegenstand lediglich fur seine eigenen Zwecke, nicht, im Kantschen Sinne als Selbstzweck.4 Man sieht den Anderen nicht nur als Instrument, sondern als Bild. So sei die Kamera das Hauptrnittel der Verdinglichung, ein wirkliches Emblem der Moderne; gerade indem die Photographie objektiv ist, luge sie.5 Diese zentrale Bedeutung der "objektiven Selbstwahrnehmung objective self awareness" fiir die Entwicklung des Selbst- und Identitiitsgefiihls, der Notwendigkeit des Schamgefiihls in dieser Entwicklung und der Entgleisung des Vorganges der objektiven Selbstwahrnehmung bei exzessiver Objektifizierung, in dem, was wir im klinischen Zusammenhang als "Seelenblindheit" und, im Extremfall, als "Seelenmord" kennen, wird auch in beiden folgenden Werken be-

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jectifications sever what Kaufman (1985) has called ,the interpersonal bridge'" (8.8). ,,1 propose that the earliest source of shame is the infant's experiences of inefficacy, particularly interpersonal inefficacy, the experience of failure to competently initiate and sustain mutually gratifying intersubjectivity or shared consciousness. The second source of shame, developmentally speaking, is self-objectification, a process that brings about a kind of selfalienation or primary dissociation ... A third source of shame is the episodic or chronic experience of being unloved, rejected, or scapegoated by important others (parents, primarily). In the course of development these sources of shame bring about the selfs overinvestment in the idealized self-image and a devaluation ofthe actual self... " (8.24). "Respect for the true ,otherness' of the other is obviously a developmental achievement and not something we are born with. The other as 8UBJECfobject does not exist for the pathological narcissist. He can only treat the other as object, or subject-OBJECf at best. It is not only the other whom the narcissist objectifies, it is himself as well. His own subjectivity is sacrificed to this object self" (8.53). " ••• the camera is the leading symbol of the triumph of objectification in the modern era. . . ,It used to be said that the camera cannot lie. But in fact it always does lie' ... " (8.117).

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tont, einem, das ausgesprochen philosophisch orientiert ist und dem zweiten, das aus tiefer klinisch-psychoanalytischer Erfahrung schopft. Das erste ist G. Seidler's Der Blick des Anderen - Eine Analyse der Scham (Verlag Intemationale Psychoanalyse, Stuttgart, 1995). Was ich seinerzeit im Vorwort zum Buch geschrieben habe, fasse ich hier zusammen: Der Schritt von psychoanalytischer Theorie des inneren Konflikts und der "Objektbeziehungstheorie" zu der von Seidler vorgeschlagenen "Alteritatstheorie", zu einem dreistufigen Modell von "BewuBtsein", "Riickbeziiglichkeit" und "Verinnerlichung", mit ihrem griechisch-mythologischen Pendant von NarziB, Teiresias und Odipus, und alles abgehandelt an der Wandlung des Affektes der Scham, verlangt ein Umdenken und Hinterfragen, das anspruchsvoll, doch lohnend ist. Was Seidler iiber die positive, Identitat und Innerlichkeit schaffende Bedeutung des Schamaffektes schreibt und zur negativen, Verurteilung ausdriickenden hinzufUgt, scheint mir sehr wichtig zu sein: "Der Scham scheint aber als affektiver Widerschein der Unterscheidung von vertraut und fremd eine zentrale Position zuzukommen bei der Herausbildung des Wissens vom eigenen Selbst als Gewissen und als SelbstbewuBtheit" (loc. cit. S. 88). Ich versuchte es seinerzeit in der Unterscheidung von depressivem Schamaffekt und Schamangst gegeniiber der schiitzenden Schamhaltung, der dritten Form der Scham, auszudriicken; jener depressive oder angstliche Affekt der Scham erschien mir nahezu antithetisch zur dritten Form zu sein. Diese drei Formen als negativ und positiv zu unterscheiden, erscheint mir sehr zutreffend. Eine viel groBere Bedeutung dieser dritten Form beizumessen, als ich es seinerzeit getan habe, ist durchaus einleuchtend. Wie Seidler richtig betont, stellt sich diese Akzentverschiebung dann ein, wenn wir von einem vorwiegend klinischen zu einem viel allgemeineren, das Kulturelle wie Normalpsychologische starker mit-beriicksichtigenden Gesichtspunkt voranschreiten. Dasselbe gilt fUr die von Seidler ganz ins Zentrum des Betrachtens geriickten Begriffe des "objektivierenden" und des "subjektivierenden" Blickes. Seidler stimmt mit Broucek darin iiberein, daB einer solchen teilweisen, momentanen Objektivierung und "Objektifizierung" (eben Vergegenstandlichung) wahrend der Entwicklung an sich eine positive Wertung zukommt, da sie die Identitat konstituiert. Es ist die Entdeckung des fremden Standpunkts, und damit auch die Erkennung und Anerkennung des Fremden. 1m Extremen wird es zum radikalen Verwerfen des Fremden, des Anderen, damit des als beschamend-verachtet Erlebten im Selbst und im Anderen. Wir haben eine lange Geschichte, die sich auch jetzt von neuem drohend zusammenballt, wie das Fremde als bose, feindselig und teuflisch er-

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lebt wird und vemichtet werden muG. Es verbindet sich aber auch mit dem alten Begriff der "Idolatrie", der volligen Verwerfung des Anbetens anderer Gotter oder auch nur der als falsch angesehenen Verehrungsweise des gleichen Gottes. Das Befremdende und das Beschamende gehoren innig zusammen. Die von Seidler herausgearbeitete ontogenetische, vielleicht auch psychodynamisch weiterwirkende Sequenz von drei Stufen laBt sich in seinen Worten so zusammenfassen (loc. cit. S.256-258): Die als erste beschriebene "Position NarziB" ist hinsichtlich des Gegenubers durch die zuniichst stabil ausgearbeitete "epistemologische UnbewuBtheit des sexuell differenten Gegenubers" gekennzeichnet. Damit ist verdichtend zum Ausdruck gebracht, daB eine Differenzierung der eigenen Person von anderen Personen uber die Wahrnehmung von Differenzen im Prinzip im Ansatz zuniichst moglich ist. Die Wahrnehmung der eigenen Person geschieht aber nicht auf Grundlage einer internen reflexiven Schleife, sondern das Gegenuber ist Substitut der Selbstwahrnehmung.

Bei der zweiten Position, der des Teiresias, sind Subjekt- und Objektrepriisentanz ... gegeneinander austauschbar. Die intentionale Ausrichtung ist auf der ganzen priiodipalen Spanne durch die Suche nach einem "Ursprung", einer "causa" auBerhalb der eigenen Person gekennzeichnet. Klinisch entspricht dem das Phiinomen der Schuldexternalisierung. Da das Gegenuber zuniichst Substitut der eigenen, extern lokalisierten Wahrnehmung des eigenen Selbstes ist, ist es plausibel, wenn der Schamaffekt hier, auf der Objekt-Seite, erlebt wird. Der Mythos driickt es im Bilde der Blendung des Teiresias durch Hera aus ....

Erst die Position des Odipus bringt eine Eindeutigkeit hinsichtlich der Identifizierbarkeit des Subjektes. Sie wird dadurch gewonnen, daB das Kind uber die Wahrnehmung einer ganz-personalen Beziehung der Eltern untereinander seinerseits aus der Urszene ausgeschlossen wird und damit zum Fremden, Storenden fiir die idealisierte Elternbeziehung wird. Es hat damit die Moglichkeit, sich seinerseits ganz-personal zum Objekt zu nehmen, wobei diese Passage durch die ,odipale Umschlagfalte' als Selbstentfremdung zur Fiihigkeit von Leibesscham fiihrt .... 1m Akt des Erkennens blendet er [Odipus] sich. In diesem Akt eroffnet er sich gleichzeitig seinen eigenen seelischen Binnenraum, der ihm die affektive Fiihigkeit zur Schuld verleiht. (S.253)

AbschlieBend (im zusammenfassenden Passus auf S. 258) bemerkt Seidler: Wiihrend die klassische 'lli.ebtheorie sehr gut geeignet war, in ihrer objektivierenden Wahrnehmungseinstellung die von ihr immer wieder herausgestellten odipalen Konfigurationen zu erkennen, gelang es der herkommlichen Objektbeziehungstheorie, subjektivierend den Standpunkt des jeweiligen Subjektes einnehmend, insbesondere solche Beziehungsepisoden zu erfassen, die durch einen alternierenden Subjekt-Objekt-

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Standpunkt gekennzeichnet sind. Die hier vorgelegte Alteritatstheorie scheint es zu ennogiichen, Wechselseitigkeiten und Riickbeziiglichkeiten zu konzeptualisieren, ohne indes in systemtheoretische Regelkreisfiguren zu geraten. Das zweite Werk, das ich im Zusammenhang mit der "objektiven Selbstwahmehmung" erwahnen mochte, ist Susan B. Millers "Shame in Context" (Analytic Press, Hillsdale, 1996). Sein Vorteil liegt in den ausfiihrlichen Fallbeispielen, deren tiefgehende Analysen tibersichtlich geschildert werden. Der groBe Spielraum von Schamvarianten wird umfaBt von den Wesensmerkmalen des "verminderten oder gestorten Selbst - diminished or disordered self' und des "Selbst, das man vor anderen verbergen mochte - the self one would wish to hide from others" (loc.cit. S.4). Dynamisch definiert sie den Schamaffekt als "eine sich entwickelnde Gruppe von Erfahrungen, die ihren Ursprung in When Absttirzen des Selbstvertrauens hat und nach dem Auftreten von objektiver Selbstwahmehmung ... bestimmte negative Ideen tiber das Selbst in Bezug auf Standards, Regeln und Ziele beinhaltet" (loc. cit. S.30). "Defekt" ist dabei ein Kemerleben: "... Bei Individuen, die reif genug sind fiir Selbstreflexion, tritt Scham ein, wenn man sich als mangelhaft erlebt. Weniger als ideal zu sein ist nicht dasselbe" (loc. cit. S.98).6 "Man erlebt Scham, wenn man nicht gut genug ist, wenn man sich als defektiv empfindet" (loc. cit. S.124).7 "Scham ist das Gefiihl der Mangelhaftigkeit - Shame then is the sense of deficiency" (loc. cit. S.125, meine Betonung). In Kontrast zu Morrison (1989) postuliert sie damit, daB die Diskrepanz zwischen idealem und realem Selbst, obzwar wichtig, weder hinreichend (spezifisch genug) noch immer notwendig sei (loc. cit. S.99, 105); namentlich werde dabei die interpersonelle Form der Schamverursachung ausgelassen (loc. cit. S.107). Ich pflichte ihr beL Sie kritisiert eingangs die v. a. von Tomkins und Nathanson vertretene Theorie von den Grundaffekten. Diese gebe ein zu sehr vereinfachtes Bild und zu mechanistisches Himmodell, urn dem vollen Umfang des menschlichen Gefiihlslebens Rechnung tragen zu konnen (loc. cit. S.16). Vielmehr sei Scham wie die anderen Affekte eine Kategorie von Erfahrungen, die sich stets fortentwickle und -wandIe, nicht "hardwired basic emotions". Das Wichtige dabei sei genau der Zusammenhang, "the context". So wichtig diese Emotion auch sei, bestehe sie kaum fiir sich und als einzige Ursache der Psyin the individual mature enough for self-reflection, shame occurs when a person feels deficient. To be less than ideal is not the same as being deficient." "Shame is felt when one is not good enough, when one is deficient."

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chopathologie; unvermeidlich handle es sich urn eine Konstellation problematischer Emotionen, die von Trauma und Konflikt gestaltet werden und Abwehr- und Anpassungsversuche darstellen (loc. cit. S. 36). Entsprechend wamt Miller in eloquenter Weise gegen die Einseitigkeit und Ubervereinfachung des dynamischen Verstehens. 8 Ebenso wird, in Anlehnung an Andrew Morrison, die enge Auffassung des Schamaffekts durch Kohut kritisiert: "Kohut sieht im iiberflutenden Exhibitionismus die einzige Ursache der Scham" (loc. cit. S.93). Wie von Broucek wird auch von Susan Miller besonders das Erlebnis der "Objektifizierung" betont; sie zitiert ihn: "Wenn man versucht, als Subjekt mit dem anderen in Beziehung zu sein, doch sich dabei als Objekt behandelt fiihlt, ist es wahrscheinlich, daB man Scham empfindet" (Broucek 1991, S.47).9 Der Vorgang solcher "objektiven Selbstwahmehmung" (objective self-awareness, OSA) und damit das Erleben der Scham ist, wie gesagt, von entscheidender Wichtigkeit fiir die Entwicklung der Selbstreflektion, also an sich durchaus nicht pathogen (Miller 1996, S.27). Der gr6Bte Teil des Buches von Miller ist drei Themen gewidmet: der eingehenden theoretischen und klinischen Stu die der Scham bei zwanghaften, bei narziBtischen und bei masochistischen Pers6nlichkeiten. Sie zollt besondere Aufmerksamkeit, namentlich bei Zwangskranken, Konflikten zwischen gegensatzlichen Ich-Idealen und gegensatzlichen inneren Uber-Ich-Gestalten, also intrasystemischen Konflikten. Die Scham damber, Kontrolle iiber die eigenen Gefiihle zu verlieren, die Schamangst vor der Affektregression, ist namentlich bei Zwangskrankheiten sehr ausgesprochen. Bei narziBtischen Pers6nlichkeiten ist es die Empfindung des Defektes, dem perfektionistischen Selbstbild nicht zu entsprechen, die zur Verleugnung jedes Mangels und zu iibersteigerten Demonstrationen der eigenen Macht oder Wichtigkeit fiihren, oft altemierend mit schmerzhaftem Gewahrwerden des eigenen Makels (loc. cit. S.88). In Kontrast zu den Zwangskranken liege mehr Gewicht auf der Kon8

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"As is often the case when a phenomenon comes under increased scrutiny, the explosion of attention to shame has led in some quarters to an overvaluing of shame experience as the root of almost all psychic pain and dysfunction. . . particularly problematic is the removal of shame from the more complex fabrics of psychological organization (thus, my emphasis on contexts) and its positioning, instead, as the ,underlying' cause of most psychopathology. Lost is the understanding of shame's interweaving with other emotions, except insofar as shame, as the supposed root cause, has generated other emotions for defensive cover." "It is when one is trying to relate to the other as a subject but feels objectified that one is apt to experience shame."

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trolle der Umwelt als auf Selbsteinengung und Selbstkontrolle. Scham werde dabei als traumatischer Affekt gefUrchtet (loc. cit.). Das Sich-Anklammem an eine auBerst idealisierte (grandiose) Version des Selbst sei eine Kompensierung fUr die intensivierte fruhe Scham bei extremen Formen der objektivierenden Selbstwahmehmung, wenn die Mutter (care taker) besonders wenig antwortfahig (unresponsive) ist (loc. cit. S.107). Damit ist Grandiositat die von NarziBten bevorzugte Lasung fUr iiberwaltigende, traumatische Scham (loc.cit. S.I11ff.). Mit der dabei notwendigen Vorherrschaft von Verleugnung kommt es zur Zweiteilung von Selbst und Welt, zur Doppelheit des Erlebens (loc. cit. S.118), und zur traumatogenen Entfremdung vom innersten, dem "einwohnenden" Selbst (loc. cit. S.160).1O In Bezug auf die Behandlung der Zentralphiinomene des NarziBmus widerspricht die Autorin Morrison (1989), der im Sinne Kohuts, die Spiegelung von GraBen- und Vollkommenheitsanspruch des Patienten empfiehlt, urn "die Integrierung der empathisch gespiegelten infantilen Grandiositat und Vollkommenheit ins Idealselbst" zu bewirken (Miller, S. 129; Morrison, S.80): "Was fUr das Wachstum des Patienten wichtig ist, ist nicht die Spiegelung von GraBenanspruch, sondem die Ermutigung und Annahme von Freude und Aktivitat im Selbst und Freude an der Maglichkeit, daB das Selbst sinnvoll in der Welt handle" (Miller 1996, S.130). Es ist wiederum mehr die Abwehrbedeutung dieser Phantasien, als die des entwicklungsmaBigen Defekts, urn die es geht (loc. cit. S.132). Dies entspricht sehr meiner eigenen Erfahrung von therapeutischer Wirksamkeit. 1m Masochismus wird Scham aktiv benutzt, urn die Umwelt und damit die eigene Hilflosigkeit zu beherrschen (loc. cit. S.153). Der Patient beansprucht Scham fUr sich als unaustilgbare Kemerfahrung, im Gegensatz zum NarziBten, der die Scham leugnet (loc. cit. S. 155). Die komplexen Wechselwirkungen von Masochismus und Scham werden in eindrucklicher Weise entwickelt und vertiefen damit die hervorragende Analyse der masochistischen Organisation durch die Novicks (Fearful Symmetry. The Development and Treatment of Sadomasochism. Jason Aronson, Northvale, 1996). Hier ein Zitat aus einem klinischen Beispiel, das faszinierende Zusammenhange in neuem Licht zeigt: "Es liegt in der Natur der Scham, daB sie im Gegensatz steht zum Erleben eines intakten Selbst und ein wirres, disorganisiertes, entwertetes Selbst begiinstigt;" diese Selbstverwirrung muB dem Schutz gegen die Wirklichkeit des Traumas dienen (loc. cit. S.183). Anderswo heiBt es, "das schambeladene und leidende Selbst bedeute eine Verleugnung von Sadismus" (loc. cit. S.192). collapses that bring about profund alienation from the lively, indwelling self, as well as from the human milieu."

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Das in der Vielfalt der Beziige von Konflikt und Trauma, von Scham und Schuld, von Abwehr und Defekt sichtbare dialektische Verstandnis entspricht meinem eigenen. Das Sch6pferische, das Schenkenk6nnen wird in einem poetischen Schlu8kapitel als Transzendenz der Scham beschrieben. "Shame in Context" ist ein sch6nes und klinisch, theoretisch, sogar philosophisch reiches Buch. Andrew P. Morrisons Buch "The Culture of Shame" (Ballantine Books, New York, 1996) ist eine popular gehaltene und doch oft in sehr literarischer Weise geschriebene Fortsetzung, ja Vertiefung und Erweiterung seines 1989 ver6ffentlichten Werkes "Shame - The Underside of Narcissism" (Analytic Press), des sen Hauptthesen so zusammengefa8t werden k6nnen: "Scham ist die zentrale Antwort auf Versagen in Hinblick auf das Ideal, auf Mangel in der Selbsterfahrung" (Morrison 1989, S.20) und "Scham widerspiegelt v.a. das entleerte (depleted) Selbst, dem es mi8lungen ist, Antwort vom idealisierten Selbstobjekt zu erhalten" (loc. cit. S.83). Schuld motiviere den Patienten zum Bekenntnis, Scham zum Verhiillen (loc. cit. S.82). Fiir Schuld bestehe das Antidot in der Verzeihung; bei der Scham sei die heilende Antwort die Annahme des Selbst, seinen Schwachen, Defekten und Versagen zum Trotz (loc. cit.). 1m neuen Werk beschreibt er mit sehr vie len klinischen und autobiographischen Vignetten, die oft packend geschrieben und immer mit gr08er Sensitivitat und viel Takt erfa8t sind, die Phanomenologie und Verhiillungen der Scham, die friihkindlichen Vorlaufer, die Beziehung pathologischer Scham auf inflexible Ideale und die psychodynamischen Quellen. In leicht fa81icher Sprache geht er auf die M6glichkeit von Verfahren der Selbsthilfe bei Schamproblemen und selbstanalytischem Vorgehen, die Probleme der Behandlung und die Rolle der Scham bei Psychosen und Suizid ein. Aus der Fiille des im neuen Werk Gebotenen m6chte ich einen besonderen Zusammenhang herausgreifen, dessen Darstellung mir besonders gegliickt erscheint; es ist das, was ich selbst als die Kausalverkniipfung von "Seelenblindheit" mit chronischer Scham beobachtet habe: Ein Kind vermag nicht in der Niihe zur kompetenten und ressourcenreichen Mutter Stiirke zu gewinnen, wenn sie zu beschiiftigt (busy) oder innerlich in Beschlag genommen (preoccupied) ist, auf ihn zu antworten, oder wenn ihre Aufmerksamkeit auf ein bevorzugtes Geschwister gerichtet ist. So1che Kindheitssituationen fiihren zu personlichen Gefiihlen des Unwertes und der Defektivitiit, da das Kind sich zu erkliiren versucht, warum die idealisierte Eltemgestalt so unzugiinglich (unavailable) ist. Tatsiichlich ist die Abwesenheit einer idealisierbaren Eltemfigur wiihrend entscheidenden Abschnitten in der Entwicklung ein Teil dessen, was zur Schamsensitivitiit fiihrt und kann die dringliche Suche nach einer miichtigen, oft schiid-

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lichen Gestalt auslOsen - in der Adoleszenz die nach einem Bandenfiihrer (gang leader), im Erwachsenenalter die nach dem Fiihrer in einem Kult. Scham und Schamsensitivitiit sind das unvermeidliche Vermiichtnis von wiihrend der Kindheit nicht antwortfiihigen oder abwesenden Eltern, die idealisiert werden konnten 11 (meine Betonung). Scham folgt auf das vergebliche Sichsehnen des Kindes nach Verbundenheit und kann sich auf das Bedilrfnis (need) selbst ausdehnen. Das Kind kommt unbewuBt zum SchluB: Es ist bose, jemanden zu benotigen (it is bad to need anybody). Eine "starke" Person sollte v611ig selbstgeniigsam sein. Wir haben auch beobachtet, daB das Kind, das die Verbindung zu einem idealisierten Elternteil entbehren muBte, idealhungrig wird und unabliissig nach einer Person oder Gruppe sucht, der er sich anschlieBen k6nnte, urn sich selbst vollstiindig fiihlen zu k6nnen und ganz besonders, urn die Gefiihle des Sichschiimens untertauchen zu lassen ... Scham scheint dann im warm en Nest der Zugehorigkeit (the comforting cradle of belonging) zu verschwinden und taucht erst dann wieder auf, wenn die idealisierte Gruppe, Club, Institution oder Person nicht die Ideale des Suchenden erfiillt. Dann bricht die Scham erneut ein und die Suche nach einem neuen Heiden beginnt von neuem" (S. 77/78; Betonung durch Autor).

Dieses Sichschamen fUr Bediirfnisse iiberhaupt habe ich immer wieder klinisch angetroffen, unter Umstanden, die im vorstehenden Abschnitt gut umschrieben werden. Entsprechend seinem theoretischen Schwerpunkt schenkt Morrison hauptsachlich Aufmerksamkeit den Problemen der Diskrepanz von Idealen oder Standards und realem Dasein, oder der Gegenwart idealisierter Selbstobjekte und deren Versagen. Das Schwergewicht liegt in beiden Biichern auf dem Defizit in dem, was das Kind bekommen hat, und dem resultierenden inneren Defekt oder dem GefUhl davon. Konflikte spielen eine eher untergeordnete Rolle. Auch habe ich nicht die Riickwendung der auf einen Elternteil gerichteten Verachtung auf das Selbst als wichtiger Schamquelle gefunden. Trotzdem sind beide sehr wertvolle Biicher und das neue gerade auch der Laienperson zu empfehlen. Ais weiteres Werk sei Micha Hilgers "Scham. Gesichter eines Affekts" (Vandenhoek & Ruprecht, 1996) kurz besprochen. Seine Erfahrungen beziehen sich nicht nur auf die individuellen Therapien, sondern sehr oft auf die Arbeit in Gruppen, auf die Interaktion zwischen hospitalisierten oder sonstwie institutionalisierten Patienten und dem Behandlungspersonal, sowie auf Familiendynamik, - eben mit besonderer Beachtung der "narziBtischen" Probleme von Stolz und Scham, von Krankbarkeit und gegenseitiger Krankung, und damit der durchgangigen Komplementaritat von Trauma und Konflikt. EntwicklungsmaBig seien "Scham und Stolz. . . im eigentlichen Sinn Affekte des wachsenden und sich abgrenzenden Selbst" (loc. 11

"Shame and shame sensitivity are inevitable legacies of unresponsive or absent idealizable parents during childhood" (S.77).

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cit. 8.19). Er spezifiziert dies weiter in iibersichtlicher und umfassenderWeise: Zu der Gruppe der Schamaffekte ziihlen Schamempfindungen, die bei abbrechenden Kompetenzerfahrungen entstehen (Kompetenzscham); Scham, die bei Verletzung der Selbst- und Intimitiitsgrenzen wirksam wird, also bei Ubergriffen aller Art; damit zusammenhiingend, jedoch entwicklungspsychologisch spater Scham, die bei aktiver Demiitigung von auBen erlebt wird; Scham, die sich auf die eigene Korperlichkeit oder das (plotzliche) Sichtbarwerden von Selbstanteilen bezieht; Scham, die eine Diskrepanz zwischen Selbst und Ideal anzeigt; Scham, die eigene Abhiingigkeit in Beziehung zu anderen oder umgekehrt das Herausfallen aus Beziehungen, die eigentlich gewiinscht sind, anzeigt; Scham, die sich auf schuldhaftes Handeln bezieht und von Schuldgefiihlen kaum zu trennen ist" (loc. cit.).

Wie sich diese verschiedenen Formen bei psychophobischen, asozialen, depersonalisierten, anankastischen und psychotischen Patienten bezeugen, und zwar sowohl in Erstkontakten, wie im weiteren Verlauf und dem AbschluB der Behandlung, gehort zu den wiederkehrenden Themen, mit denen sich Hilgers eingehend befaBt. Er spricht von der Vemachlassigung dieses Affekts: "Immer wieder verbliifft ja die langjahrige 8chamblindheit vieler Psychoanalytiker wie auch die Tatsache, daB Auseinandersetzungen in der Psychoanalyse hiiufig mit dem Mittel der Beschiimung gefiihrt werden" (loc. cit. 8.53). Er spricht von der "psychoanalytischen Behandlung als dosierter Abfolge maBvoller 8chamerlebnisse": "Psychotherapie kann iiberhaupt nur dort funktionieren, wo maBvolie Schamaffekte Anreiz sind, Konzepte von sich und den anderen zu modifizieren ... Die selbstregulative und sozial bindende Funktion von 8cham und Stolz ist fiir den Erfolg jeder psychotherapeutischen MaBnahme von entscheidender Bedeutung" (loc.cit. 8.63f.). Wie sich das auf Setting und Technik auswirkt, wird dargestellt: bei der Frage, ob der Patient auf der Couch liegen oder dem Therapeuten gegeniiber sitzen solIe, komme es v. a. darauf an, was "ein subjektives Optimum an 8elbstoffnung und 8chutz der 8elbstgrenzen" ermogliche (loc. cit. 8.68). ,,8chweigen seitens des Analytikers auf eine Frage des Patienten lost nahezu immer erhebliche 8cham und das Gefiihl, aktiv gedemiitigt worden zu sein, aus. Auf Fragen nicht zu antworten ist in aller Regel keine analytische Kunst, sondem menschliche Ungehobeltheit, hiiufig aber auch ein technischer Fehler" (loc. cit. 8.76). Prinzipiell stimme ich dem sehr bei, und eine 1995 erschienene Arbeit von Marianne Goldberger (The Couch as Defense and as Potential for Enactment, Psychoanalytic Quarterly 64: 23-42) bestiitigt den ersten, Thoma u. Kiichele in ihrem Lehrbuch (1985) den zweiten Punkt. Meiner Ansicht nach kommt es dabei weniger auf die Regel, sondem auf eine flexible Einstellung auf das Ziel hin an, ein Ma-

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ximum an Bearbeitung inneren, namentlich unbewuBten Konflikts zu ermoglichen, und sehr oft hat jede Starrheit und Regelgebundenheit die Tendenz, die Selbstoffnung durch Scham und daraus folgend auch Wut zu blockieren. 1m Zusammenhang der zuvor zitierten grundlegenden Schamerfahrungen ware vielleicht auch zusatzlich darauf hinzuweisen, welch entscheidende Rolle bei der intensiven psychoanalytischen Behandlung der Neurosen den Rivalitatskonflikten, den Affekten von Eifersucht und Neid, den verschiedenen Dreieckskonstellationen (mithin den odipalen Konflikten und der groBen, doch vielfach tibersehenen Bedeutsamkeit der Urszene) und der Kastrationsproblematik, aber auch den "analen" Macht-, Allmachts- und Ohnmachtserlebnissen gerade fUr die Bearbeitung der Psychodynamik der Scham zukommt. In anderen Worten sehen wir bei intensiver analytischer Behandlung oft, wie stark die Scham dariiber ist, "der (oder die) ausgeschlossene Dritte" zu sein und der standig und zwanghaft wiederholte Umkehrungsversuch, zum ausschlieBenden Ersten zu werden. Oder es ist die Scham tiber die durch die Urszene ausgelosten, miteinander in Konflikt stehenden und tiberwaltigenden Affekte und Affektstiirme. "Kastrationsscham" ist eine nicht unwesentliche Form in dies em Ablauf. Ebenso bedeutsam scheint mir das Schamerleben angesichts der von den Novicks so betonten Allmachts-Ohnmachtspolaritat im ubiquitiiren Masochismus zu sein, gerade als verheerendes Schamerleben, wenn die innere Allmachtsforderung enttauscht und durch das Ohnmachtserleben ersetzt wird. Dabei ist es die Affektregression, die diesen Emotionen eine so zentrale pathogene Bedeutung verleiht. Es ist nicht nur so, daB die SchamgefUhle selbst die Merkmale solcher Regression zeigen: Entdifferenzierung, Entsymbolisierung, Resomatisierung und Sexualisierung, sondem daB ein ungeheuer wichtiger Ursprung der durchdringenden, tiberwaltigenden Scham darin liegt, daB man sich furchtbar dariiber schamt, daB man keine Kontrolle tiber die eigenen GefUhle fast jeglicher Art hat, oder daB diese einem sehr leicht zu entgleiten droht. Hilgers weist durchaus auf diese Problematik in einem Fall hin, wo er sehr zu Recht von "wiederkehrenden Szenen disregulierter Affekte und des Verlustes von Sprache... " (loc. cit. S. 107) spricht; eben so erwahnt er den Schamcharakter bei Aufdeckung und Verhaftung bei Straftaten als einer "Demaskierung ... , die die Allmachtsphantasien entlarvt" (loc. cit. S.145). Auch spricht er wiederholt tiber Scham-Schuld-Konflikte; von meiner Erfahrung aus mochte ich hinzufUgen, daB die Dialektik der eben erwahnten allumfassenden (regressiven) Schamaffekte mit ebenso globalen SchuldgefUhlen, die Ausweglosigkeit dieses SchamSchuld-Dilemmas und die daraus stammende Suizidalitat sich mir als besonders wertvolle Einsichten bei der Behandlung schwerkranker Patienten erwiesen haben.

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Entsprechend dem Erfahrungsgut, auf dem dieses Werk beruht, stehen naturgemaB andere wichtige dynamische Beziige, wie er sie im eingangs zitierten Register der Schamquellen darstellt, mehr im Mittelpunkt. Auch seine Kritik an der Vernachlassigung von Schamkonflikten in der Ubertragung bei korpertherapeutischen Verfahren ist einleuchtend und eloquent dargestellt. Von besonderem Interesse fand ich die Darstellung von Schamkonflikten im Alter. Die Leugnung der zumeist uneruaglichen Schamquelle hirnorganischer Veranderungen "durch den Patienten fiihrt im Umfeld oft zur tragischen Interpretation dieser Leugnung als weiteres Zeichen der Demenz", und damit zu einem vernichtenden Circulus vitiosus (loc. cit. S. 124). Besonders stimme ich ihm auch bei, wenn er sagt: Eine Schamszene par excellence stellt die in der medizinischen Ausbildung so beliebte Vorlesung mit Patientenvorstellung dar. Die gigantische Leugnung der Schamsituation auf allen Seiten - niimlich durch den Patienten wie den Dozenten und seine Studenten - ermoglicht es, z. B. frische Schlaganfallpatienten mit entsprechenden dramatischen FunktionseinbuBen vorzustellen... Die beschiimende Entwiirdigung des Patienten - und seiner Zuschauer - liegt in der Zurschaustellung seiner Unfiihigkeit und dem gierigen Bestaunen der Skurrilitiit des Symptoms (loc.cit. S.126).

Wichtig ist, wie schon kurz erwahnt, Hilgers auf groBer eigener Erfahrung beruhende Darstellung der Schamdynamik bei Straftaten, also der intimen Beziehung von Kriminalitat zur Abwehr gegen tiefe, oft iibermachtige innere Scham, und die sich daraus ergebenden Circuli vitiosi. Zu Recht spricht Hilgers iiber den "Verbrecher aus Scham", parallel zu Freuds "Verbrecher aus unbewuBtem Schuldgefiihl" und dem sich daraus oft ergebenden Kommunikationsbruch: ". .. der Delinquent agiert auf der Ebene von Scham, verletzten IchGrenzen und destabilisierten Selbstwertgefiihlen, Richter, Staatsanwalte und die Offentlichkeit auf der Ebene von Schuld und verletzten Opfern, Werten und Normen" (loc. cit. S.141). Mirscheint dieses prinzipielle MiBverstandnis, das iibrigens auch auf interkulturelle, politische und internationale Probleme zutrifft, von besonderem Allgemeininteresse zu sein. Dasselbe gilt fiir die Ausfiihrungen zum Zusammenhang zwischen Scham und Gewalt, zwischen Demiitigung, Ressentiment und totalitaren Ideologien, wie sie Hilgers darstellt: "Je unerreichbarer ein wiirdevolles Leben des einzelnen, desto heftiger entwickelt sich der Sog zu totalitaren Erlosungen" (loc. cit. S.173). Von vollig anderer Art ist schlieBlich das faszinierende Werk von Bernard Williams, Shame and Necessity (University of California Press, Berkeley, 1993). Fiir eine Analyse von Scham und Schuld und damit des ethischen BewuBtseins iiberhaupt untersucht er die altgriechische Literatur in einer frappant neuen Weise. Entgegen

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christlichen und kantianischen Vorurteilen sieht er die tiefe Verwandtschaft unseres ethischen BewuBtseins mit dem der Griechen, bis zuriick auf Homer. Er widerspricht denen, die, wie Bruno Snell, der homerischen Auffassung das Konzept von korperlichem und seelischem Selbst absprechen wollen, da diese die Spaltung in Korper und Seele ablehnt. Vielmehr spiele die Person als ganze eine wesentliche und unersetzliche Rolle, die Person, die erwiige, aus Griinden entscheide und handle (loc. cit. S.26, 33). Der explizite, von den vorigen Vorgiingen abgesonderte Willensbegriff sei "die Erfindung einer schlechten Philosophie" (loc.cit. S.36). Das psychologische Verstiindnis, dem wir verhaftet sind, sehe innere Vorgiinge einseitig in moralischen Begriffen. Es gehe von Platon aus, und zwar von dessen Reduktion seelischen Konflikts auf den einen '!Ypus: den Konflikt zwischen rationalen Strebungen, die auf das Gute zielen, und den Trieben oder Begierden (loc. cit. S.42). Dies widerspreche dem iilteren griechischen Selbstverstiindnis: "In dem MaB, in dem wir zwischen psychologischen und ethischen Begriffen unterscheiden und nicht verlangen, daB die grundlegenden Vorgiinge der Seele in unaus16schlich ethischen Begriffen formuliert werden, kehren wir zur homerischen Sicht zuriick" (loc. cit. S. 46)12 - sehr wohl ein Postulat, dem wir in der Psychoanalyse nachzuleben uns bemiihen. In diesem Menschenverstiindnis aber ist die Bedeutung der Scham zentral. "Die Grunderfahrung der Scham ist die, daB man gesehen wird, unangemessen, von den falschen Leuten, unter falschen Umstiinden" (loc. cit. S.78).13 Sie beziehe immer die Idee des Blickes eines anderen mit ein, aber sehr oft "den vorgestellten Blick eines vorgestellten anderen" (loc. cit. S. 82).14 Dieser andere mag sehr wohl intemalisiert sein (loc.cit. S.84).15 Wie Williams es am sophokleischen Ajax zeigt, empfindet man die Notwendigkeit der eigenen Identitiit, in dem Sin-

ne niimlich, daB man unter gewissen sozialen Umstiinden leben konne und nicht unter anderen; was zwischen dem so der inneren Notwendigkeit unterstehenden Selbst und der Welt vermittle, sei das Ge£Uhl der Scham (loc. cit. S.101): "Es sind nicht nur die besonderen und gefiihrlichen Anforderungen des Ehrenkodex, die einen Sinn 12

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"To the extent that we distinguish between psychological and ethical concepts, and do not demand that the basic operations of the mind should be classified in ineliminably ethical terms, to that extent we return to the Homeric condition." "The basic experience connected with shame is that of being seen, inappropriately, by the wrong people, in the wrong condition." " ••. for many of its operations the imagined gaze of an imagined other will do." "The internalised other is indeed abstracted and generalised and idealised, but he is potentially somebody rather than nobody, and somebody other than me."

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von der eigenen Identitat beinhalten. Die Struktur der Scham mag sehr wohl dieselbe sein ohne jene besonderen Werte und Erwartungen. Die von der Scham in der Welt der Alten geleistete ethische Arbeit richtete sich auf gewisse Werte, die wir nicht teilen, und wir erkennen auch die Sonderexistenz der Schuld. Aber Scham wirkt weiterhin fur uns in ganz wesentlicher Weise, wie sie fUr die Griechen wirksam war. Indem sie durch die GefUhle einen Sinn dafiir gibt, was man ist und was man zu sein hofft, vermittelt sie zwischen Handlung, Charakter und Folge, aber auch zwischen ethischen Forderungen und dem Rest des Lebens. Worauf sie sich indes auch immer wirkend bezieht, bedarf sie eines verinnerlichten Anderen, der nicht einfach als ein Repriisentant einer unabhiingig identifizierten Gruppe angesehen wird; die Reaktionen dieser inneren Gestalt werden vom Handelnden respektiert. Zur selben Zeit schrumpft diese Gestalt nicht einfach zu einem Aufhiinger fUr jene Werte zusammen, sondem sie klingt an echte soziale Wirklichkeit an - insbesondere, was es bedeute fUr das eigene Zusammenleben mit anderen, wenn man auf eine gewisse Weise handle und nicht auf eine andere. Dies war im wesentlichen bereits die ethische Psychologie selbst der archaischen Griechen, und sie bestimmt, trotz der modemen Herauslosung des SchuldgefUhls, einen substantiellen Teil unserer eigenen [ethischen Psychologie] (loc. cit. S. 102)" .16 "Die Quelle der Notwendigkeit liegt im Handelnden: [sie ist] ein verinnerlichter Anderer, des sen Anschauung der Handelnde achten kann" (loc. cit. S.103),17 Ihr stehen die "gottliche Notwendigkeit" gegenuber, "notwendiger Zufall, Ungliick - necessary chance, an16

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"But it is not only the particular and perilous demands of the honour code that may involve a sense of one's identity. The structure of shame can be the same without those particular values and expectations. The ethical work that shame did in the ancient world was applied to some values that we do not share, and we also recognize the separate existence of guilt. But shame continues to work for us, as it worked for the Greeks, in essential ways. By giving through the emotions a sense of who one is and of what one hopes to be, it mediates between act, character, and consequence, and also between ethical demands and the rest of life. Whatever it is working on, it requires an internalised other, who is not designated merely as a representative of an independently identified social group, and whose reactions the agent can respect. At the same time, this figure does not merely shrink into a hanger for those same values but embodies intimations of a genuine social reality - in particular, of how it will be for one's life with others if one acts in one way rather than another. This was in substance already the ethical psychology even of the archaic Greeks, and, despite the modern isolation of guilt, it forms a substantial part of our own." "The source of the necessity is in the agent, an internalised other whose view the agent can respect".

Vorwort zur 3. Auflage

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angkaia tyche" (loc. cit. S.104, 123), und, z. B. im Fall der Sklaverei, naturgegebene Notwendigkeit, in Form von sozialer und okonomischer Notwendigkeit, welche Erwiigungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auBer Kraft setzen (loc. cit. S.125). Die altgriechische, v. a. homerische und tragische Sicht der Ethik, der Williams zustimmt, widerspricht einer abstrakten Auffassung des Moralgesetzes, und damit "der falschen Konzeption volliger moralischer Autonomie" (loc. cit. S.220), wie sie die modeme Philosophie in ihrer Treue zu Kant und indirekt zu Plato vertritt. Uberblicke ich die in den letzten 10 Jahren erschienene Literatur zu diesem Thema, so will es mir erscheinen, daB ein ganz wichtiges neues Gebiet sich nicht nur dem theoretischen Verstiindnis in der Psychoanalyse erschlossen hat, sondem daB sich unsere technischen Fiihigkeiten und Behandlungsmoglichkeiten dank dieser Erweiterung in beeindruckender Weise veriindert haben (oder sich zu veriindem beginnen): eine viel groBere Beachtung von Takt, die Vermeidung impliziter oder expliziter Urteilssucht ("Richtet nicht, auf daB ihr nicht gerichtet werdet!") und damit mehr und mehr die Arbeit auch mit Patienten, die zuvor als nicht analysierbar gegolten haben. Auch "Die Maske der Scham" soil diesem Zweck dienen. Towson, im Sommer 1997

Leon Wurmser

Vorwort zur 2. Auflage "Der Mensch ist schwer zu entdecken und sich seiber noch am schwersten; oft ltigt der Geist tiber die Seele"l.

Die freundliche Aufnahme besonders dieses Werkes hat die Gesamtausgabe der nun vorliegenden Tetralogie befordert. Dabei beschlossen der Verlag und ich, dieser Neuausgabe ein wesentliches Kapitel, das fur das vierte Buch, "Das Ratsel des Masochismus", geschrieben worden war, doch dessen Umfang zu spreng en drohte, diesem Buch einzuverleiben, und zwar als Anhang. Jenes Kapitel, das sich das Studium der Uber-Ich-analytischen Aspekte der beiden chinesischen Philosophen Konfuzius und Lao Tse zur Aufgabe gesetzt hat, paBt sehr wohl zum Thema dieses den Scham- und Schuldproblemen gewidmeten Buches. Nicht weniger hatte indes das nun als 13. Kapitel im Buch "Das Ratsel des Masochismus" behandelte Problem von Nietzsches "Krieg gegen die Scham" auch hier seinen Platz finden konnen. Doch rechtfertigen andere Zusammenhange seine Einordnung dort. In Dankbarkeit fUr die vielen positiven Reaktionen auf dieses Werk und fur die schone Zusammenarbeit mit dem Verlag, namentlich Frau Heike Berger, ubergebe ich dieses Werk der Neudrucklegung. Towson, im Januar 1993

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Nietzsche, "Zarathustra", "Geist der Schwere", 2, S. 215.

Leon Wurmser

Vorwort zur 1. Auflage "Niemals noch hat sich verwegnen Reisenden und Abenteurem eine tiefere Welt der Einsicht eroffnet: und der Psychologe, welcher dergestalt ,Opfer bringt' - es ist nicht das sacrifizio dell'intelletto, im Gegenteil! - wird zum mindesten darur veriangen diirfen, daB die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die iibrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen" (Nietzsche, lenseits von Gut und Bose, 23, S. 32) "Cet inconscient [mis au jour par Freud] peut alors definir l'originalite d'une nature humaine, opposee au moi historique" ("Dieses [von Freud zutage gefOrderte] UnbewuBte kann also die Originalitat einer der Geschichte entgegengesetzten menschlichen Natur bestimmen" (Camus, "L'homme revolte", S.298; dt. iibers. J. Streller, S.256)

In den knapp 10 Jahren seit der endgiiltigen Niederschrift dieses Werkes hat sich manches sowohl in meiner eigenen Auffassung als auch in der Psychoanalyse tiberhaupt vedindert. Inzwischen ist eine Reihe von Arbeiten tiber die Schamproblematik erschienen, teils aus parallelen Untersuchungen heraus, teils in der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Ausgabe dieses Buches. Dennoch ist es eher erstaunlich, daR dessen Hauptanliegen kaum beachtet oder aufgenommen wurde: auf der einen Seite das konsequente Studium der Konflikte, deren Ergebnis das Erleben der Scham ist und die sich eben gerade auch im Affekt selbst niederschlagen, und damit die Konfliktnatur der komplexen Affekte tiberhaupt, wie sie die psychoanalytische Methode systematisch zu ergriinden untemimmt; auf der anderen Seite die sorgfaltige Beobachtung der Konflikte, die durch das Spektrum der Schamaffekte bewirkt werden. In der Hinsicht hat sich die "Einsamkeit" der folgenden Untersuchungen kaum verringert. Die deutsche Ausgabe hat es mir ermoglicht, groRere Anderungen an dem Buch vorzunehmen. Es war gleichsam eine zweite Chance, den entsprechenden Erfahrungen und Gedankengangen einen neuen, frischen Ausdruck zu geben. Dies war jedoch nur dadurch moglich, daR Frau Ursula Dallmeyer, Psychotherapeutin in Gottingen, sich bereit erklart hat, das urspriingliche Werk zu tibersetzen. Sie hat das mit groRter Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit und unter groRen zeitlichen Opfem getan. Ich bin ihr

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Vorwort zur I.Auflage

zutiefst zu Dank verpflichtet. Ohne ihre gewaltige Arbeit ware dies Werk kaum mehr zustande gekommen. Doch gab mir diese "Vorarbeit", die nattirlich weit mehr als nur das war, die Gelegenheit, manche, auch tiefgreifende Xnderungen und Umarbeitungen am endgiiltigen Manuskript anzubringen. Mit ganz besonderer Dankbarkeit widme ich dieses Buch meinem lieben, treuen Freund Prof. Andre Haynal in Genf, der auf manche Weise mir den Weg zurUck nach Europa geoffnet hat. Wie schon bei der ersten Abfassung war es die Zusammenarbeit mit Dr. Paul Gray, die mir entscheidend viel bei der gedanklichen Erfassung geholfen hat. Ebenso haben die haufigen Gesprache tiber die Grundfragen von Psychoanalyse, Philo sophie und Religion mit meinen beiden Freunden Stephen Vicchio und Albert Dreyfus sehr viel zur Klarung mancher hier neu zur Sprache kommender Probleme beigetragen. Dazu waren es mehrere Freunde in Europa, die diesem Projekt der tlbertragung oder bei der Entwicklung von Hauptgedanken dieser Neubearbeitung behilflich gewesen sind: v. a. Dr. Toni Graf-Baumann, Herr Picht und Frau Renate Schulz vom Springer-Verlag, Frau Dr. Martha Eicke, Herr und Frau Bema in Ztirich sowie Dr. Eickhoff in Ttibingen, ebenso die Professoren Thoma und Kachele in DIm, Prof. G. Benedetti in Basel, Frau Dr. Zimmermann und Prof. Buchheim in Mtinchen, Dr. Seifert in Stuttgart, Dr. Seidler in Gottingen, Prof. Loch in Rottweil und Prof. Cremerius in Freiburg. Ein besonderer Dank gebtihrt auch Frau Dr. Ellen Handler Spitz, deren meisterliche Beschreibung des auf dem Umschlag abgebildeten Gemaldes von Masaccio mich auf des sen Bedeutsamkeit aufmerksam gemacht hat. Aus ihrer schonen Schilderung zitiere ich lediglich dies: "The image is one of utter desolation; the misery it evokes is complete. And, clearly, it is shame that moves us here, not guilt, as in Michelangelo's rendering of the banished couple on the ceiling of the Sistine Chapel nearly a century later. Here, in Masaccio, we are made to feel the horror of the couple's changed sense of themselves, their altered relations to their own bodies. Not the trespass or the sin, but the dissevering of self. "1 1

"Das Bild spricht von auBerster Trostlosigkeit; das von ihm hervorgerufene Elend ist durchdringend. Und offensichtlich ist es die Scham, die uns hier erschiittert, nicht die Schuld, wie es bei Michelangelos Darstellung des ausgestoBenen Paares nahezu ein Jahrhundert spater an der Decke der Sixtinischen Kapelle der Fall ist. Hier, bei Masaccio, verspiiren wir das Entsetzen des Paares iiber das veranderte Selbstgefiihl, iiber ihre verwandelten Beziehungen zu ihrem eigenen Korper. Es handelt sich nicht urn die Dbertretung oder die Siinde, sondem urn die Aufspaltung ihres Selbst" (Ellen Handler Spitz [1988]: "The artistic image and the inward gaze: toward a merging of perspectives", Psychoanalytic Review 75: 111-128). Ich mochte darauf hin-

Vorwort zur l.Auflage

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Psychoanalyse ist ein Gruppenphanomen. Einerseits entstehen die Einsichten im Dialog, nicht nur zwischen Analytiker und Patient, sondem zwischen dem Analytiker und seinen Kollegen, mit denen er in stetem, lebhaftem Austausch steht. " ... aus haufiger intimer Aussprache (synousias) gerade iiber dies en Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben (syzen) entsteht plotzlich in der Seele [die Einsicht], einem Lichte gleich, das von einem iiberspringenden Feuerfunken entziindet wird und in ihr sich dann an sich selbst weiter nahrt", schreibt Platon im 7. Brief. Dies ist jedoch ein Ideal, das nur unter eher ungewohnlichen Umstanden gilt - und auch dann nur als Annaherung. Was andererseits viel mehr der Fall zu sein scheint, ist das Gegenbild der Gruppe: daB sich ein Ideal herausbildet, mit dem man im Einklang zu leben sich verpflichtet fiihlt, urn Mitglied der Gruppe bleiben zu konnen. Wer die Normen verletzt - durch Fragen, durch ungewohnliche Akzentsetzung, durch Abanderung der Technik -, setzt sich selbst der Vereinzelung und damit friiher oder spater auch einer Form des Schamgefiihls aus. Auch in diesem hochrevolutionaren Untemehmen der Psychoanalyse stellten sich von Anfang Forderungen der Konformitat und der Schamsanktionen, wenn diese nicht erfiillt wurden. So sind und bleiben neue Einsichten und neue Wege Sache eher des Einzelgangers, der abseits der Gruppe voranschreitet, wenn nicht zu Zeiten gar im Widerspruch zu ihr. Die beiden Bewegungen verhalten sich zueinander komplementar: auf der einen Seite die Zugehorigkeit zur Gruppe und die enorme Bereicherung durch diesen Austausch, auf der anderen Seite das unerschrockene Einzelgangertum, das sich, ungeachtet jener Sanktionen, die oft die Einsamkeit mit sich bringt, auf die Wahrheitssuche begibt. Ich glaube, das ist die Natur jedes wissenschaftlichen oder philosophischen Untemehmens. Die Geschichte der Psychoanalyse lebt von der Dialektik dieser Polaritat. Dies ist bestimmt auch wahr fur die klinischen und theoretischen Erfahrungen, die diesem Buche zugrundeliegen, sowohl in seiner urspriinglichen Form wie auch in dieser stark iiberarbeiteten, betrachtlich erweiterten Fassung. Es obliegt mir, wenigstens kurz, von einigen hauptsachlichen Xnderungen Rechenschaft abzulegen: 1m Laufe der Jahre hat sich fur mich die Unterscheidung von dem, was bloB beschreibend ist, von dem, was relevante ErkIarung, namlich Zuriickfiihrung auf die wesentlichen Ursachen ist, immer scharfer herausgebildet. Ich habe dariiber eingehend in meinen beiweisen, dag jener von Dr. Handler Spitz erwahnte Ausschnitt aus Michelangelos GemaJde fiir den Umschlag des ersten der drei nun in Sequenz erschienenen Biicher, "Die Flucht vor dem Gewissen", gewahlt wurde.

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Vorwort zur l.Auflage

den anderen, zuerst auf deutsch erschienenen Bucher geschrieben: daB es namlich v. a. und im wesentlichsten die unbewuBten inneren Konflikte sind, die das der Psychoanalyse eigentumliche Kausalverstandnis ausmachen. Diese Ansicht war in der urspriinglichen Ausgabe der Mask of shame implizit vorhanden. Sie scharfer herauszuarbeiten, war eine der Aufgaben, die bei dieser Revision moglich war. Etwas Ahnliches gilt fUr die Eigenstandigkeit der Affekte. Ein Buch uber den Affekt der Scham zu schreiben, war bestimmt durch einen EntschluB, der nur auf der Anerkennung der Wurde und des theoretischen Wertes eines Einzelaffekts beruhen konnte. Wie revolutionar dies im Grunde war, in Anbetracht der Abwesenheit einer eigentlichen, von den Trieben unabhangigen Affekttheorie in der Psychoanalyse, war mir damals nicht bewuBt. Seither haben die Erfahrungen der Friihkindheitsforschung viel dazu beigetragen, der Untersuchung der Affekte sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu zollen und die traditionelle liiebtheorie zumindest in Frage zu steHen. Dies steHte mich vor die Herausforderung, die alten Formulierungen durch die neuen theoretischen Auffassungen von den "Motivationssystemen" (Lichtenberg 1989: Psychoanalysis and motivation. Analytic Press, Hillsdale) zu ersetzen. Da sich aber bis jetzt nichts Gesichertes und mich wirklich Dberzeugendes herausgebildet hat, verzichtete ich auf die radikalen Neuformulierungen, mochte aber ausdriicklich auf die flieBende Natur der hier benutzten Triebbegriffe hinweisen, auf ihren provisorischen, undogmatischen und ausschlieBlich pragmatischen Charakter im Sinne von Biindeln wiederkehrender Wtinsche, nicht von biologisch festgelegten Wesenheiten. Fur sie gilt heute vielleicht noch mehr als damals von Freud 1932/33 niedergeschrieben der Satz: "Die Triebe sind mythische Wesen, groBartig in ihrer Unbestimmtheit" (GW 15, S.101). 1m Laufe der Jahre ist es mir auch noch klarer geworden, zu welchern AusmaB gerade die diesem Werk zugrundegelegte sorgtaltige Uber-Ich-Analyse, das Studium besonders auch der Dber-Ich-Dbertragung und der Dber-Ich-Phanomene in der Gegenubertragung und der Handhabung der Technik uberhaupt, viele klinische Erscheinungen in einem ganz anderen Licht sehen lassen als wir es von manchen neueren Entwicklungen in der psychoanalytischen Theorie gewohnt sind. Viele Konzeptualisierungen der NarziBmustheorie und Selbstpsychologie sowie der Objektbeziehungspsychologie werden dadurch zutiefst in Frage gestellt. Dies ist in noch scharferem Relief herausgetreten, als es seinerzeit bei der Niederschrift des englischen Textes der Fall war. 1m Lichte mancher Diskussionen und Supervisionen taUt mir immer wieder auf, wie sehr die Psychoanalyse auch heute noch im allgemeinen die liiebseite betont; Psychoanalyse ist de facto immer

Vorwort zur 1. Auflage

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noch viel mehr eine Triebpsychologie und eine Methode der Triebdeutungen oder umgekehrt eine einseitige Anpassungs- und Beziehungspsychologie, als daB sie vor allem anderen eine Konfliktpsychologie, eine Psychologie v. a. des inneren unbewu/lten Kontlikts ware, die den Affekten, namentlich Angst und Schmerz, und den Abwehrstrukturen zumindest gleichen "pride of place" wie den Traumen einraumte und diese aIle nur im Zusammenspiel miteinander verstande. Die Befreiung von administrativen Aufgaben und von den meisten Lehrtatigkeiten und der vollige tlbergang zur Privatpraxis, die seinerzeit auf die Abfassung dieses Werkes hin erfolgte, hatte den groBen Vorteil, mir sehr viel mehr Zeit flir die klinische Erfahrung zu geben, also die Grundlage dessen, was ich dargestellt hatte, zu verbreitem, zu vertiefen und zu sichem. Damit ging einher, daB es mir immer klarer wurde, wie jeder einzelne Patient seine eigene, auf ihn allein zugeschnittene, immer wieder neu zu iiberpriifende Technik brauchte, ohne daB damit alles Allgemeine verworfen wiirde. Doch verlangte die Arbeit mit den schweren Neurosen eine weit flexiblere Technik als die, die ich vor 10 Jahren bei der Niederschrift des urspriinglichen Werkes vertreten hatte. Ich hatte nie die Absicht, eine Schule oder neue Richtung in der Psychoanalyse zu griinden, Schiiler urn mich zu scharen, Lehrer und Leiter zu werden - oder eher: diesen Versuchungen nachzugeben. Auch dieses folgende Werk zielt auf Dialog, nicht auf Abgrenzung abo Es will den Geist der Versohnung, nicht des Entweder-oder, des wissenschaftlichen oder philosophischen Absolutismus. Ein anderer Vorteil jener Unabhangigkeit lag darin, daB ich weit mehr Gelegenheit fand, mich mit den wichtigsten Kulturen, deren Sprachen und Hauptwerken etwas vertrauter zu machen. Das Innere des Menschen spiegelt die Kultur wider, aber in noch groBerem AusmaB spiegelt die Kultur die menschliche Seele wider. Je tiefer die Kenntnis gerade auch der begriindenden Kulturen - ich denke, ohne deren AusschlieBlichkeit zu behaupten, hier besonders an die griechische, die jiidische und die chinesische -, urn so mehr diirften auch die psychologischen Behauptungen, die die menschliche Natur iiberhaupt betreffen, gestiitzt, vielleicht auch gesichert werden. Vieles von diesen Bemiihungen habe ich in dem Buch Die zerbrochene Wirklichkeit schon dargestellt. Doch manches fand einen besseren Ort im Zusammenhang der Behandlung der Scham- und Schuldprobleme, also in diesem Buch; ein eigenes, neues Kapitel (Kap.4) wurde diesen Einsichten gewidmet. Wie ich schon in Die zerbrochene Wirklichkeit angedeutet habe, bin ich davon iiberzeugt, daB die Psychoanalyse mit den tiefsten

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Vorwort zur 1. Auflage

Fragen des menschlichen Lebens ringt und damit zur Philosophie ebenso viel beizutragen hat wie diese zur Psychoanalyse. Aus diesem Geist des Dialogs zwischen den beiden Disziplinen, die die Natur des Menschen zu ergriinden suchen, ist auch dieses Buch entstanden. Zur Grundlage dieser Analyse der Scham gehort, was Camus liber die Analyse der Revolte geschrieben hat: "L'analyse de la revolte conduit au moins au soupcron qu'il y a une nature humaine, comme Ie pensaient les Grecs, et contrairement aux postulats de la pensee contemporaine. Pourquoi se revolter s'il n'y a, en soi, rien de permanent preserver?"2 Die Natur von Scham und Schuld ist nicht nur eine Frage der Psychologie, sondem der Ethik und damit der Philosophie; das Thema durchdringt die ganze Philosophie und die Geistesgeschichte liberhaupt, so daB ein Werk wie dieses, gleichgiiltig wie umfassend es auch zu sein versucht, doch nie mehr als einen bescheidenen Beitrag, eine Art Propadeutik, darstellen kann. So viel mehr ware zu erproben. Doch ist es gerade der tagliche Umgang mit diesen Geflihlen und Fragestellungen in ihrer wirklichen Machtigkeit in Form dringender klinischer Probleme, mit ihrer ganzen, tiefgriindigen Vielschichtigkeit, die letztlich trotz allem einen sichereren Boden abgibt, als es das grenzenlose Studium weiterer markanter Beispiele aus Literatur und Philosophiegeschichte zu tun vermochte, so wertvoll dieses auch ware. Dabei muB ich immer wieder betonen: das Wesentliche ist dabei fUr mich als Psychoanalytiker das Verstandnis einer solchen Phanomengruppe als Glieder in der Kette der Konfliktkausalitiit: Scham und Schuld verursachen direkt Konflikte; sie konnen selbst als das Ergebnis des Widerstreits innerer Machte angeschaut werden; sie spielen eine entscheidend wichtige Rolle in allen unbewuBten inneren Konflikten, und sie lassen sich nicht wegdenken aus dem unabIassigen Spiel von iiu~eren, bewu~­ ten Konflikten, nicht nur im Individuellen, sondem im Leben ganzer Kulturen, Gesellschaften und politischer Krafte. Die Psychologie hatte entscheidend Wichtiges beizutragen zum Verstandnis der Geschichte und der Politik. Sie konnte ein wertvolles Regulativ gegen die AnmaBung der Philosophie wie der Ideologien sein, die dekretieren wollen, wie die Natur des Menschen beschaffen sei und wie deshalb die Geschichte von Klassen und VOikem, ja der ganzen Menschheit gesetzlich ablaufen musse, und die selbst "das Ende der

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Camus 1951: L'homme r/wolte. Gallimard, Paris, S. 30. "Die Analyse der Revolte fiihrt mindestens zum Verdacht, da8 es, wie die Griechen dachten, im Gegensatz zu den Postulaten des heutigen Denkens eine menschliche Natur gibt. Weshalb revoltieren, wenn es nicht an sich etwas Dauemdes zu bewahren gibt?" (Der Mensch in der Revolte, iibers. J. Streller, 1958; Rowohlt, Hamburg, S. 20).

Vorwort zur 1. Auflage

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Geschichte" zu prophezeien sich erkiihnen - handle es sich dabei urn die Postulate, daB die Menschen nur durch materielle Motive bewegt werden oder nur durch Macht und die Suche nach Anerkennung oder nur durch sexuelle Befriedigung oder nur durch den Kampf zwischen dem Korperlichen und dem Geistigen, dem Rufe des Gottlichen gegeniiber der Versuchung durch das Bose. Dabei meine ich eine Psychologie, die nicht von theoretischen Schemata gefesselt ist, sondern ihre direkten klinischen Erfahrungen als Gegenbild gegen voreilige Behauptungen vorzeigt: "Jenes kann nicht die Wahrheit sein. Schaut, wieviel komplizierter, wieviel vielschichtiger die menschliche Natur in Wirklichkeit ist!" AIle jene Postulate sind Teilantworten, die nicht Anspruch auf die Ganzheit erheben konnen - ist es doch so, wie Camus es dargestellt hat, daB der Versuch "der Eroberung des Ganzen" ("la conquihe de la totalite") zu "einer Philo sophie der Verachtung und Verzweiflung" ("une philo sophie du mepris et du desespoir") gefiihrt hat. 3 Jede solche Absolutsetzung der Kausalitat zwingt, den einzelnen den objektiven Kategorien einzuordnen, "sich dem Reich der Dinge zu fiigen" ("conforme a I'Empire des choses", Camus, S.298/257) die Entehrung und Entwiirdigung des Individuums, die die Scham zu einem Instrument des Terrors und der Gewalt macht. Ich messe, wie gesagt, der Erklarung durch Konflikte bei der Erforschung der menschlichen Natur besondere Bedeutung beL Bei den spezifisch wirksamen Konflikten bleibt die analytische Kausalforschung im Einzeifall stehen. Ihr Horizont mag von anderen Machten gebildet werden - Traumata, Strukturen, angeborenen Triebkraften und Regulationsprinzipien. Doch diese bilden nicht selbst Glieder in den durch die Psychoanalyse auffindbaren Kausalketten; sie stehen auf einer anderen Ebene der Abstraktion oder bieten sich bei anderen Zugangsweisen psychologischer oder physiologischer Forschung als Kausalverstandnis an. Erkliirung und Kausalbegreifen sind methodenabhiingig, also relativ. Und doch scheint es mir, daB es eine Ausnahme von der eben gemachten Behauptung gebe, von der Versicherung namlich, daB aIle psychoanalytisch erreichbaren Ursachen in Konflikten (inneren und auBeren, bewuBten und unbewuBten) zu suchen seien: ich meine die Affekte, die den Kern unserer Natur, je individuell spezifisch, ausmachen, ganz besonders jene iiberwaltigenden, unaufhaltsamen, globalen Affekte, die das ganze Innenleben zu beherrschen scheinen und sich soweit zUrUckverfolgen lassen, wie die Erinnerung nur iiberhaupt reicht, und wohl weit ins Praverbale, ja ins Bio-

3

Camus, L'homme revolte, 8.128, 186; dt. Obers. 8.107, 156.

XXXIV

Vorwort zur 1.Auflage

logische, ins Physiologische, hinunter. GewiB treten sie aIle selbst in Konflikte ein, werden durch diese neu mobilisiert, schaffen auch selbst wieder neue Konflikte, innerlich und auBerlich, und doch scheinen sie gerade bei den psychisch schwerer Kranken so sehr eine eigene Dynamik zu besitzen, daB ihre Behandlung oft mehr als nur der Einsichtstherapie, sondem auch der auBeren Struktur, der emotionellen Gegenwart des Therapeuten in besonders hohem Grad4 und oft sogar der Medikamente bedarf. Diese iiberwrutigenden Affekte, die dem "Gelben Flusse" gleichen, der immer wieder aile Deiche durchbricht und das Land unermeBlich verheert, stammen von chronischen und akuten Traumata. Die intrapsychischen Konflikte beziehen ihre Vehemenz und Unlosbarkeit von dieser verheerenden Natur der primaren, traumatogenen Affekte und tragen ihrerseits zu deren Unheilbarkeit beL Der "NarziBmus" ist das Kind dieser Affekte. Eine jener Urgewalten ist der Affekt der Scham (oder, urn es genauer zu sagen: die Gruppe der Schamaffekte). Er laBt sich nicht auf Konflikte allein reduzieren, noch kann er von dem Konfliktverstandnis 10sgelOst werden. Bei jenen Traumata ist es das "Nichtgesehenwerden", der Mangel an Respekt fiir die Identitat und Individualitat, die MiBachtung der Bediirfnisse des eigenen Ausdrucks, der eigenen Willensentscheidungen, des eigenen Rhythmus, der eigenen, differenzierten Affektivitat, der ein besonders wichtiges, wenngleich verborgenes Trauma ausmacht. Noch ein MiBverstandnis gilt es kurz zu erwahnen. Meine Betonung der Konfliktpsychologie wurde ofters gleichgesetzt mit dem des Strukturmodells in der Psychoanalyse oder gar dem Odipuskomplex. Dem muB energisch widersprochen werden; ich habe das auch schon eingehend in den beiden vorangehenden Biichem getan. Konflikt ist eine zentraIe Metapher. Sie umfaBt die Metapher der Struktur und deren konkreten Ausformungen von Ich, Es und tlberIch. Ideen, Werte, Ideale, Verpflichtungen, Gefiihle, Vorstellungen, Haltungen, Wiinsche: aIle k6nnen zueinander in Gegensatz und Widerstreit stehen, alle bilden sie innere Konflikte, ohne daB man diese Konflikte automatisch auf solche zwischen jenen 3 Strukturen reduzieren miiBte oder das unbedingt immer mit Vorteil tate. Das Gleichnis vom inneren Konflikt ist viel weiter als das von den drei inneren Instanzen. Doch ist das letztere Modell pragmatisch von ausgezeichneter Bedeutung, gerade im klinischen Zusammenhang. Noch ist Konflikt mit dem 6dipalen gleichzusetzen. Hier hat die Selbstpsychologie ein verheerendes MiBverstandnis geschaffen, ist 4

Andre Haynal hat gerade diesen Problemkreis mit seinem Werk La technique en question (Payot, Paris, 1987) in fesselnder Weise neu angepackt.

Vorwort zur l.Auflage

:xxxv

doch gerade das Praodipale und "NarziBtische" durch weit scharfere Konflikte gekennzeichnet als die spatere Entwicklung, und so sind deren respektiven Abkommlinge. Wir, die wir einen groBen Teil dieses Jahrhunderts als Zeugen miterlebt haben, haben doch eigentlich das standige Gefiihl, daB wir an einem durch dichte Nebel verborgenen Abgrund entlang wandern und wir uns bei einem unbedachten Schritt plotzlich an einer haarscharfen Kante, einer absoluten Grenze, finden konnen, wo die schwarze Leere vor uns gahnt, oder daB sich die Urgewalten aus der Tiefe emporgeschlichen haben und wir unversehens wiederum Angesicht gegen Angesicht vor dem Grauen, dem absolut Bosen stehen, das nun auch uns mit sich in die Tiefe zieht. Dieses Buch ist, wie die beiden anderen (Flucht vor dem Gewissen und Die zerbrochene Wirklichkeit), ein Versuch, den Nebel zu durchdringen, den Kraften dieses Abgrunds Gestalt und Namen zu verleihen - und ihnen auf diese bescheidene Weise die Stirn zu bieten. Es gibt ein sehr tiefes Wort im Talmud, das mir beim Wiederlesen und der Korrektur des nun iibersetzten Buches nicht aus dem Sinn wollte: "Daher ist der Mensch als Einzelner (jechidi, als einzigartig5) erschaffen worden. Es solI dich lehren, daB, wer eine einzige Seele (ein einziges Leben, nefesch) [aus IsraeJ6] vernichtet, es ihm von der Schrift angerechnet wird, als ob er eine ganze Welt vernichtet hatte. Und wer ein einziges Leben [aus Israel] gerettet hat, die Schrift rechnet es ihm an, als ob er eine ganze Welt gerettet hatte ... Wenn ein Mensch viele Miinzen aus einer Form pragt, sind sie sich aIle sehr ahnlich. Der Konig, der Konig der Konige, der Heilige, pragt jeden Menschen in der Form des ersten Menschen, und doch ist kein einziger von ihnen seinem Nachsten gleich. Daher ist jeder einzelne verpflichtet zu sagen: Urn meinetwegen ist die Welt erschaffen worden." Diese Mischna-Stelle ist eine Rede, die jedem Zeugen in Prozessen urn Kapitalverbrechen zum Bedenken gegeben wird, urn ihm die Einzigartigkeit jedes Lebens einzuscharfen und in ihm die Ehrfurche vor jedem einzelnen Menschenleben bewuBt zu halten (Sanhedrin, Talmud Babli, 37 a; Mischna Sanhedrin, 4, 5). Es ist diese Einzigartigkeit jedes einzelnen Lebens, jeder einzelnen Seele, die sich mir immer starker bei meiner Arbeit eingepragt 5

6

7

Wortlich: "allein", d. h. daB nur ein Mensch geschaffen wurde - urn der Selbstgerechtigkeit und der Streitsucht vorzubeugen, heiBt es in der Gemara zu dieser Stelle, Sanhedrin, 38 a. Dieser Zusatz fehlt in einigen Texten. Die Mischna -Stelle braucht dafiir die Ausdriicke: "rneajjernin" - einschiichtern; "tzara" - Angst, niirnlich in bezug auf die Belehrung der Zeugen.

XXXVI

Vorwort zur 1. Auflage

hat. Diese Achtung vor dem je Einzelnen in seiner Gegenwartigkeit wie in seiner Geschichtlichkeit ist eben die Gegenmacht zu jener Beschamung, die uns allen wieder und wieder begegnet und deren Wunde unsere Patienten tief in sich bergen und zu verdecken suchen.

Towson, im Herbst 1989

Leon Wurmser

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe (1981)

Obwohl es kaum iiblich ist, ein Vorwort und Buch mit tief empfundenen Danksagungen zu beginnen, mochte ich doch so verfahren, und zwar wegen der groBen Schwierigkeiten, denen ich beim Schreiben, Fertigstellen und Herausgeben dieser Arbeit begegnet bin, die ich nun einer breiteren Offentlichkeit vorstelle. Vor allem mochte ich jenen Freunden danken, die mir nicht nur beim Durchsehen und Redigieren des Manuskripts, sondem - was noch wichtiger war - unter den miihsamen und beschwerlichen Umstiinden geholfen haben, die die Beendigung des Buches begleiteten; allen voran meinen Kollegen und Mitarbeitem Anne C. Lewis, Clare Lebling, Alan Zients, Paul Gray, Cibeles Vidaud und Peter Warschawski. Joseph Berman, Richard Carter, David Beres sowie Stefan de Schill und meine Freunde in der Schweiz, Andre Haynal, Martin Stem und Verena Wenger, waren groBziigig mit ihrer freundlichen Unterstiitzung. Sie mussen manchmal wie Balzac gefiihlt haben: "Les abimes ont leur magnetisme" (Die Abgriinde haben ihre magnetische Anziehungskraft), wenn sie das Auf und Ab dieser Arbeit mitverfolgt haben. Aber hier ist sie nun - ein Denkmal ihrer Loyalitiit und Freundschaft, ihrer Geduld und ihres Mutes. Sie haben sich wirklich als ein "cenacle de grands esprits" erwiesen. Die hier vorgestellte analytische Arbeit verdankt besonders viel dem Rat und der Hilfe der Dres. Jenny Waelder-Hall, Paul Gray, Joseph Lichtenberg, James Bing and Alan Zients - Lehrem und Freunden, die nicht selten meine Absicht, nicht aufzugeben, unterstiitzten, wenn meine Hoffnung schwand, und die halfen, Einsichten weiterzuverfolgen und wiederzugewinnen, wenn A.rger und Entmutigung die Arbeit gefahrdeten. Besonderer Dank geht an Leo Rangell, des sen tiefe Einsichten in dieses Buch hineinverwoben sind. SchlieBlich hielt meine Familie die Thrbulenzen, die das Schreiben eines Buches - und insbesondere dieses Buch - mit sich bringt, tapfer aus. Ihnen allen ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet. Einige Bemerkungen zum Tenor und Stil dieses Buches. Ich habe reichlich Material aus Therapiestunden direkt zitiert, das hauptsachlich auf meinen eigenen stenographischen Notizen beruht, die ich uber mehr als 30 Jahre gemacht habe. Sorgfaltig ausgewahlt, durch-

XXXVIII

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe (1981)

gesehen und oft komprimiert, sollten sie doch eine direkte und unmittelbare Erfahrung wiedergeben k6nnen, die notwendig ist, wenn klinische Verallgemeinerungen und hOhere Abstraktionen mit iiberzeugender Kraft und dauemdem Effekt herauskommen sollen. Wie immer bei solchem Material, wird ein einmaliges Lesen nicht die reife Frucht des Verstehens erbringen; nur wiederholtes, langsames Studieren kann das erreichen - ein wiederholtes Durcharbeiten, dem auch ich viel Material unterzogen habe. Ich bin mir bewuBt, wie groB die Biirde einer solchen Bitte - auch wenn sie noch so bescheiden und freundlich vorgetragen wird - fiir aIle ist, die in dieser Zeit der Eile mit ihrer iibergroBen Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit und mit ihren Informationsfluten leben. Ein zweites stilistisches Element, das ich mit demselben Ziel benutze, ist die Wiedergabe vieler literarischer und philosophischer Zitate - sowohl innerhalb des Textes als auch in Form von Epigraphen. Durch sorgfaItig ausgewahltes und verdichtetes Material habe ich auch hier versucht, den Leser zum Innehalten und Nachdenken anzuregen, ihn zu veranlassen, sich zu wundem und neu zu betrachten, was uns in unserer Praxis begegnet, und zwar von einer viel breiteren und langeren Perspektive aus, als es gew6hnlich der Fall ist, ihn teilhaben zu lassen an einem Dialog mit den besten Denkem, die immer noch direkt iiber den Abgrund von Tod und Zeit hinweg zu uns sprechen. Warum sollten wir uns dieses einzigartige Privileg so leicht verscherzen? Es mag sogar eine "verborgene Absicht" hinter meinem hartnackigen Beibehalten der Zitate in ihrer Originalsprache stecken (obwohl sie auch immer iibersetzt sind). Ich bedaure den gegenwartigen, namentlich in den USA eklatanten Verfall der Fahigkeit, andere Sprachen und die Lehren, die in ihnen geschrieben sind, zu kennen. Fiir mich stimmt nicht nur, "Wer keine andere Sprache kennt, kennt auch seine eigene nicht" (Goethe), sondem ich bin auch iiberzeugt davon, daB das Lemen einer neuen Sprache bedeutet, in einer neuen Form zu leben und die Welt in einem ungewohnten Licht zu sehen: "apprendre une langue, c'est vivre de nouveau". Daher verstehe ich diese Passagen als sanften AnstoB und freundlichen Appell an all jene, die Interesse an der auBerst komplexen Sprache unseres inneren Lebens, an ihrer uniibersetzbaren Poesie und Musik haben, durch die groBen literarischen Quellen - unverfalscht durch Ubersetzung - Annaherung an sie zu finden. Das bringt mich zu einem anderen Punkt. Ein oft vemachlassigter, aber ebensoviel geriihmter Teilbereich der psychoanalytischen Lehre ist die hohe "metapsychologische" Abstraktion. Obwohl ich sie nicht ganz vermieden habe, habe ich sie doch auf ein Minimum beschrankt. Viele, die heute der Mode des radikalen Empirismus folgen, werden mich dafiir ausschelten, daB ich in der klassischen Me-

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe (1981)

XXXIX

tapsychologie "gefangen" bleibe; andere werden mich im Gegenteil dafiir kritisieren, daB ich sie zu wenig oder ungeeignet benutzt habe. Ich habe jedoch versucht, eine goldene Mitte zwischen konkreter Erfahrung und erlaubter, ja notwendiger Abstraktion zu erreichen. Die Theorie bleibt das Skelett, das die Praxis unterstiitzt, strukturiert und zusammenhalt, wohingegen nur die Erfahrung der Wissenschaft ihre volle Lebendigkeit verleiht. Urn einen bekannten Ausspruch Kants zu paraphrasieren: Erfahrung zu haben und sich der Theorie zu begeben ist blind; Theorie ohne konkrete klinische Erfahrung ist leer. Ich stimme auch iiberhaupt nicht mit der Ansicht iiberein, daB Freuds Theorie einfach nur in den Naturwissenschaften und den Vorurteilen des spaten 19.Jahrhunderts wurzele und daher jetzt aufgegeben werden solIe; meine Meinung ist vielmehr, daB diese Konstrukte aus der Gedankenwelt von Plato, Aristoteles und Descartes hervorgegangen sind, obwohl sie sich in wichtigen Aspekten auch wieder deutlich von jener unterscheiden. Ich halte es flir ein kiihnes, wenn nicht gar tollkiihnes Unterfangen, die Ideenstrukturen von 2500 Jahren beiseitezuschieben, was einige Zeitgenossen geneigt sind zu tun, mehr aus einer modernen Verachtung von "auctoritas" (als "Wachstum durch Wahrheit und Vertrauen gewahrend") und "traditio" (als "anderen anvertrauen, was einem selbst anvertraut wurde") als aus einer echten neuen Einsicht heraus. Von Zeit zu Zeit bediene ich mich kraB anthropomorpher Sprache, wobei ein Teil unseres inneren Lebens mit einem anderen "spricht", ihn "verurteilt", "lacherlich macht" oder "bewundert". Ich werde mir die Freiheit nehmen, von "innerer Realitat" und dem "Selbst" als von konkreten Termini zu sprechen, was Puristen entsetzen wird. Wenn ich dies in einem theoretischen Kontext mache, meine ich es eindeutig metaphorisch, denn ich bin iiberzeugt davon, daB Wissenschaften nicht durch vorgegebene, rigide Formeln wachsen, sondern durch lebendige Bilder, die neue Zusammenhange und Konzepte plotzlich und bildhaft aufzeigen. Umgekehrt ist soleh eine konkrete Sprache der inneren Erfahrung auffallend nahe - und was versuchen wir anderes zu studieren als diese innere Erfahrung? Diese Dichotomie zwischen innerer und auBerer Realitat wird jetzt manchmal als kartesisch abgetan, was, falls berechtigt, nicht nur nichts gegen ihre Verwendbarkeit aussagte, sondern - wie ich glaube - sogar eine Ehre ware: bewuBt in der Tradition eines der groBten Denker aller Zeiten zu denken. Dieses Verstiindnis unseres inneren Lebens als unaufhorlicher Dialog war jedoch eine der groBten Entdeckungen der Geschichte, die sich 431 v. Chr. zum ersten mal in Euripides' Monolog der Medea manifestierte und die dann spater durch die groBen griechischen Philosophen entwickelt und vertieft wurde. Uberdies treffen wir eine parallele Denktradition in der chinesischen Phi-

XL

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe (1981)

losophie an. Warum sollten wir zuriickschrecken, wenn wir wissen, was wir tun? Ich bin fest davon iiberzeugt, daB der Fortschritt der Psychoanalyse in der umgekehrten Richtung liegt - nicht im noch weiteren, durch die naturwissenschaftliche Tradition aufgeddingten Einengen ihrer philosophischen Basis durch das Befolgen der Diktate eines radikalen Empirismus, wie er durch den gegenwiirtigen linguistischen Behaviorismus und Positivismus vertreten wird, sondem vielmehr in der Nachfolge der modemen Biologie, Physik und Philosophie in eine ganz andere Richtung. Der eindrucksvolle Wert von "Gestalt" und von Organisationsmustem, von Sch6nheit und Form, von angeborenen sozialen Bediirfnissen und expressiv-perzeptorischen Mustem, liiBt uns die Konturen einer giinzlich neuen Biologie vermuten, einer Biologie, in der die aristotelischen Konzepte der Form (El()O~), Verwirklichung ("Aktualisierung") und Wesen ("Essenz") iiberraschen neue Wiirde und Giiltigkeit erlangen. Ebenso veranlaBt uns das Auftauchen der Systeme nonlinearer Dynamik in den Naturwissenschaften, das Problem der Kausalitiit auch in der Psychoanalyse neu zu iiberdenken (s. Die zerbrochene Wirklichkeit, Kap.10). Die klinischen Ergebnisse, die hier vorgetragen werden, kniipfen auf eine von mir unvorhersagbare Weise an Portmanns Umformung der klassischen Biologie, an die Ergebnisse von Untersuchungen an Neugeborenen und an die jiingsten Entwicklungen in Physik und Neurophysiologie an (weit mehr zu diesem Thema s. Die zerbrochene Wirklichkeit, Kap. 9-12). Obwohl diese Buch keine solchen Briicken bauen kann, vermag es doch wenigstens Briickenk6pfe zu errichten und gleichzeitig einige der Einschriinkungen, die durch eine zu enge psychoanalytische Biologie auferlegt sind, zu sprengen. Ich schul de meinen philosophischen Freunden Richard Carter und Stephen Vicchio ganz besonderen Dank dafiir, daB sie auf solche Vista hingewiesen haben, die sich jenseits der Grenzen dieses Buches er6ffnen. Ich beschlieBe diese etwas kritischen Aussagen mit einem h6chst priignant wiedergegebenen Gedanken von einem Dichter und Denker, der heutzutage schon mehr nur zitiert als auch gelesen und gekannt wird - Goethe: Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiR Rechenschaft zu geben, Bleibt im Dunkeln unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben.

Inhaltsverzeichnis

1

EinfUhrung ..

. . .

1

1.1 1.2

1

1.4 1.5

Der Verlust der Unschuld . . . . . . Starrende Augen und verborgenes Gesicht Zwei Gefahren ..... Stil und Perspektive . . . . Die Zentralitat von Konflikt

19

2

Scham, die verhiillte Begleiterin des

24

2.1 2.2 2.3

Innere Scham: offenkundig und versteckt Scham in der N eurose Zusammenfassung . . . .. .....

40

3

Phiinomenologische Studie der Scham .

42

1.3

.......

Narzi~mus

Schamverursachende Situation en . . . . Schamauslosende Charakterziige . . . Scham und Schuld wegen MachtmiEbrauchs . Macht und Schwache im sozialen Bereich Bipolaritat .. . . . . . . . . . . . Intemalisierung von Schamkonflikten Introjektion. . Verschiebung. . . . . . . . . . Reextemalisierung . . . . . Verflechtung von auEerer und innerer Realitat und "Spaltungen" . . . . . . Die Familienszene . . . . . . . . 3.8 Scham, NarziEmus und Integritat . . . 3.9 Definition verschiedener Schamaffekte 3.10 3.10.1 Schamangst . . . . . . . . . . . . . 3.10.2 Der eigentliche Schamaffekt . . 3.10.3 Schamhaftigkeit - die "Haltung der Scham"

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.7

(pudor, 3.11 3.11.1 3.11.2 3.11.3 3.11.4 3.11.5

aiOro~)

.........

. ..

Zeitliche Folge bei der eigentlichen Scham . BloEstellung (exposure) . . . . . . . Schamangst und ihr Inhalt . . . . . . . Das Durchdringende an der Scham (the pervasiveness of shame) . .. . . . . . . . . . Das "Ziel" der Scham . . . . . Der Versuch der Affektkontrolle

5 8 11

24

29

43 46 51

55 58 60 61 62 63 65

69 70 72 74

75 75 77

77

78

79 80 81

XLII

Inhaltsverzeichnis

3.12 3.13

Die Zweischichtigkeit der Scham Zusammenfassung........

84 85

4

Schamkonflikte in der Kultur .

86

4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3

86 89 89 93

4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.6 4.7

Das Grauen vor der Uicherlichkeit Scham und Ehre im Judentum. . . Scham in der biblischen Mythologie Ehre und Scham im Talmud . . . . . " ... meines Herzens Wtinschen folgen, ohne das MaB zu iibertreten" (Scham in der chinesischen Kultur) Scham als Schutz der sozialen Form . . . . . . . Das Individuum und die Gemeinschaft . . . . . . Scham als Schutz der Form des Rituellen, des It . Harmonie mit dem Ganzen Verdrangung der Sexualitat Verleugnung der Aggression. Verlagerung auf das Anale . . Ein traumatisiertes Reich .. " ... die Macht der heiligen Scheu" - Schamkonflikte und Identitat in der altgriechischen Kultur . . Scham- oder Schuldkultur? . . . . . . . . . . Das Tragische - die Scham-Schuld-Dialektik . Sokrates' Zurechtweisung . . . . . . . . . . . Die Lust als Schwache . . . . . . . . . . . . . Scham als die Wachterin der inneren Realitat Zusammenfassung . . . .

5

Die Struktur der Scham

127

5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.5 5.6 5.6.1 5.6.2 5.7 5.7.1 5.7.2 5.8 5.9

Scham als komplexes Reaktionsmuster Die Reihe der Erwartungen (the set of expectations) . Die Reihe der beurteilten Aspekte Funktionen . . . . . Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbeobachtung . . . . . . . . Selbstbewertung (self-evaluation) Kritik der Diskrepanz .. Die Art der Aggression Symbolisierung der Kritik Strafe und BuBe . . . . . Der Strafaffekt (the affect of punishment) Die Handlung der Strafe und Siihne .. Schamangst. . . . . . . . . . . . . . . . Das "Ziel" der Schamangst: Verstecken

128 132 135 136 137 138 139 140 141 141 142 142 144 145 147

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8 4.4

96 97 98 100 103 105 106 109 109 111 111 112 117 119 122 126

Inhaltsverzeichnis

5.10

XLIII

5.11

Scham als Reaktionsbildung . Zusammenfassung . . . . . .

147 149

6

Liebesunwert und das magische Auge

151

6.1 6.2 6.3 6.3.1

Der Grundfehler . . . . Verwundung und Angst Das magische Auge .. Wahmehmung und Aufmerksamkeit (perception and attention) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . BloBstellung, Selbstausdruck und Kommunikation Die Verbindung von Inhalt und Funktion . Zusammenfassung . . . . . . . . . . .

152 159 160

6.3.2 6.4 6.5 7

7.1 7.1.1

7.1.2 7.1.3

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.4 7.5 7.6 7.7

8

8.1 8.2 8.2.1

Archaische Schamformen: klinische Beobachtungen . . . . . . Die Angst vor der Synthese Hintergrund . . . . . tlbertragungsneurose . . . Psychodynamik. . . . . . . "Die Macht der Augen" ("eye power") . Das gespaltene Selbst . . . . . . . . . . "Augenmacht" ("eye power") und "Schamhiillen" ("shrouds of shame") . . . . . . . . Idealisierung als Abwehr. . . . . . . Der Durchbruch symbiotischer Wut . Vereinigung und Isolation Expose . . . . . . . Beginn der Therapie Krise . . . . . . . . . UnbewuBte Konflikte Scham . . . . . . . . . Magische Verwandlung Der Wahn des Uicherlichen "Die schwere Last von taus end unbarmherzigen Augen" . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .

161 161 163 164

165 166 167 171 176 189 189 191 195 197 199 199 201 209 211

215 216 222 228 235

Die magische Macht von Wahrnehmung und Ausdruck - der zweifache Trieb von Zeigelust und Neugier . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236

Literaturiibersicht .. . . . . . . . . . . . . . . Die Zone der perzeptiv-expressiven Interaktion Zonen, Modi und Partialtriebe . . . . . . . . .

236 256 257

XLIV

Inhaltsverzeichnis

8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.3 8.4 8.4.1 8.4.2 8.5 8.6

Der Urkonflikt 258 Das sensorimotorische Handlungsmuster . 259 Die Genese der zwei logischen Ebenen . . 259 Theatophilie und Delophilie . . . . . . . . 261 Die perzeptiv-expressive ZOne und die Genese 264 des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kern des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . 264 Trieb, "idealisiertes Selbstobjekt" und "GroBenselbst" 266 Die Verbindung zur friihen Kindheitsentwicklung 268 Zusammenfassung.. . . . . . . . . . . . 270

9

Konstruktionen: die Genese der Scham

271

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9

Scham wegen des zerbrochenen Selbst . . Der Verlierer . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Synopsis VOn unbewuBten Schaminhalten Scham und masochistischer Charakter . . . . . Masochistische Erregung und "dreifache Passivitat" . Penetrierung.. . . . . . . . . . Der Kern der Schaminhalte . . . Urhemmung (primary inhibition) Zusammenfassung........

272 275 278 281 288 292 297 299 300

10

Maskierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

10.1 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8

Abwehr gegen Scham . . . . . Schamabwehrende Deckaffekte Verachtung........... "Stolzierender Gockel" ("strutting rooster") . Spott: den SpieB herumdrehen . . . . . Trotz und Zorn . . . . . . . . . . . . . . Erstarrung (frozenness) und Langeweile Neid.................... Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Deinem eigenen Selbst sei treu" ("to thine own self be true") . . . . . . . . . . . . Andere Formen der Abwehr . . Abwehr durch Konkretisierung Pars-pro-toto-Abwehr . . . . . Verleugung........... Abwehr durch "Gegenphantasie" (entgegenwirkende Phantasie, "countervailing fantasy") . . . . . . . . . . Abwehr durch Hybris und die Scham-Schuld-Dialektik "Schamdepression"...................

10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.4 10.5

302 305 305 306 306 307 308 308 309 310 310 310 311 312 312 314 317

Inhaltsverzeichnis

XLV

10.6 10.6.1 10.6.2 10.6.3 10.6.4 10.6.5 10.6.6 10.7 10.8 10.8.1 10.8.2 10.8.3 10.9

Andere Symptome . . . . . Erythrophobie und Erroten EBstorungen . . . . ." . . . Ausagieren von Schuld und Arger Paranoide ZusHinde . . . . . . . . Voyeurismus und Exhibitionismus . Schreib- und Sprechhemmung .. Abwehr gegen das Gewissen iiberhaupt Neurotisches und psychotisches "Schamsyndrom" Die vier Leitsymptome . . . . . . . . . . . Einige Bemerkungen zur Psychodynamik . Familie . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . .

317 318 318 318 319 320 320 320 323 324 330 333 335

11

Der Kompromi/lcharakter der Entfremdung

336

Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Hinter der Schweigemauer" . . . . . . . . . Schamkonflikt und die Rolle der Verleugnung Die Rolle des Verlusts . . . . . . . . . . . . . Magische Tamkappe und magische Blicke (magic hood and magic looks) . . . . . . . . . . . 11.5.1 Entfremdung und Funktion . . . . . 11.5.2 Depersonalisierung und Schaminhalt 11.5.3 Die "Lebensliige" . . . . . . . . . . Die radikale Verleugnung in der psychotischen 11.6 Depersonalisation . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6.1 Entfremdung als Verleugnung von Verschmelzung und Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6.2 Psychotische Depersonalisation und Scham Fokale Depersonalisation 11.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . 11.8

337 340 347 352

11.1 11.2 11.3 11.4 11.5

12

12.1 12.2 12.3 12.4 12.4.1 12.4.2 12.5 12.6

353 354 356 357 358 360 362 364 365

Schizophrene Mystifikation als Abwehr und Wunscherfiillung. . . . . . . . . . . .

366

Regressionsebenen . . . .......... Der Grundkonflikt . . . .......... Die "Hexenspirale" (the "vicious spiral") . Ratselhaftigkeit als Exhibition . Ausdrucksmagie .............. Gegeniibertragung . . . . . . . . . . . . . Die symbolischen Bedeutungen von Denkstorungen . Grundkonflikte und Urabwehr (proto-defense) . . . .

366 371 373 375 375 376 377 380

XLVI

Inhaltsverzeichnis

12.7 12.8

tlbersicht tiber die wichtigsten unbewuBten, pathogenen Konfliktgruppen Zusammenfassung

382 388

13

Schamlosigkeit

389

13.1

Wertemangel (value privation) und "kompromittierte Integritiit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Die schlimmste aller menschlichen Krankheiten" . Zusammenfassung.................

391 393 399

fUr die psychoanalytische und psychotherapeutische Technik . . . .

400

13.2 13.3

14 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8 14.9 14.9.1 14.9.2 14.9.3 14.9.4 14.9.5 14.9.6 14.9.7 14.9.8 14.9.9 14.10 14.10.1 14.11 14.12 14.13 14.13.1 14.13.2 14.13.3 14.13.4 14.13.5 14.14 14.15

Schlu~folgerungen

Schamwiderstand.............. "Analyse beginnt immer an der Oberfliiche der Gegenwart" . . . . . . Angstanalyse........ Abwehr gegen die Abwehr tlbertragung der Abwehr Der "innere" Fokus . . . Der "iiuBere" Fokus . . . Theatophilie und Technik Verschiedene Formen des Schamwiderstands Aligemeiner Schamwiderstand . . . . . . . . Durch tlbertragungshandlungen verschleierte Scham Das Umdrehen des SpieBes als tlbertragung der Abwehr . . . . . . . . . . . . . . . Undurchdringlichkeit (impenetrability) . . . Das "Ausschalten" ("tuning out") . . . . . tlbertragung der Abwehr durch Projektion . Widerstand durch Scham als Deckaffekt . . Die "Schlemihlabwehr" . . . . . . . . . . . Abwehr durch Sequenzen von "Impulshandlungen" Konfusion und Fragmentierung . . . Die Frage struktureller Defekte . . . Das Problem der Gegentibertragung Diagnostische Hyperbole . . . . . . Einsicht: eine Form des "Schauens" Das Prinzip der Spezifitiit Das Prinzip der Integration . . . . . Kairos . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Geftihlston des Zusammenpassens . Nach innen schauen (looking inward) . Selbstanalyse... Zusammenfassung...........

400 402 403 404 405 405 406 407 408 408 408 410 410 411 412 414 416 416 417 417 420 421 424 425 425 426 426 428 430 432

Inhaltsverzeichnis

XLVII

15

Die heroische Transzendenz der Scham . . . . . .. 433

15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.3 15.4

SchOpferkraft und Ergriffenheit . . . . . . . . . . . . . . Verletztsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beethoven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfiiltige Bedeutung und Delophilie . . . . . . . . . . Authentizitiit........................ Der Maskierte: der versteinerte Versteinerer. . . . . . . Zusammenfassung.....................

16

Sinn loser Hall, Scham und die Sunde der Verdinglichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . ., 453

16.1 16.2 16.3 16.4

"Sin'at Chinnam - Grundloser HaB" . . . . . . . . . . . Himmelsreise und Teufelsstimme . . . . . . . . . . . . . Der Mensch als Selbstzweck . . . . . . . . . . . . . . . "Das Liigengefiingnis" - Joseph Conrads "Vnter westlichen Augen" . . . . . . . . . . . . . . . . . "Die Stiirke der Falschheit - the strength of falsehood" "Doch wir schauen noch immer auf einen Konflikt". . "Die erstickenden Diimpfe der Falschheit" . . . . . . . "Das Land der gespenstischen Ideen und k6rperlosen Sehnsucht" . . . . . . . . . . . . . . . Doppelte und vielfache Wirklichkeit . . . . . . . . . . . Die tragische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scham, Schuld und Vernichtung in Katkas "ProzeB" "Liebe bedeutet: Ich will, daB du bist" . . . . . . . . . .

16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4

435 435 437 440 441 443 446 451

453 455 457 459 459 460 464

16.7

468 470 472 4 73 481 Absolutheit und der "Toleranzmidrasch" . . . . . . . . 482

17

Epilog: der Heilende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

16.4.5 16.4.6 16.5 16.6

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 488 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 503 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 508 Appendix: Zwei Leitbilder des MenschenverstiindnissesKonflikt und Komplementaritiit im Ursprung des chinesischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 525

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