Markus Wirz Barbara Köhler Detlef Marks Jan Kool Martin Sattelmayer Peter Oesch Roger Hilfiker Slavko Rogan Stefan Schädler Martin Verra Hansjörg Lüthi

Lehrbuch Assessments in der Rehabilitation

2.3  Assessments in der EBP  19

Tumore übersehen werden. Die Gefahr, dass sich diese Frauen in falscher ­Sicherheit wiegen, ist aus diesem Grund gegeben.

2.3  Assessments in der EBP Assessments sind Messinstrumente, die der qualitativen und quantitativen Registrierung von Schädigung oder Behinderung auf Körperstruktur-, Funktions-, Aktivitäts- und Partizipationsebene dienen (Information zur ICF im Kap. 4.). Sie liefern Hinweise für die Diagnostik, die Therapiewirkung und die Prognostik. Diese Tests sollten wenn möglich valide und zuverlässig sein. Des Weiteren dienen Assessments der interprofessionellen Kommunikation und der Kommunikation nach außen, wie zum Beispiel mit den Kostenträgern. Der Einsatz eines Assessments sollte sich immer an die klinische Fragestellung des Patienten richten. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Gültigkeit vieler Assessments nicht sehr hoch ist. Wie im oben beschriebenen Fall der Mammografie, bringt eine etablierte Untersuchung nicht unbedingt den optimalen Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Auch ist zu berücksichtigen, dass oft in der klinischen Arbeit Kompromisse eingegangen werden müssen. Zum einen liegt nur für einen Teil der angewendeten Assessments in der Praxis eine Evidenz vor. Zum anderen sind Tests mit sehr guter Evidenz zum Teil oft kostspieliger und aufwändiger in der Anwendung. Als Beispiel müsste man, um eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes sicher zu diagnostizieren, eine Arthroskopie durchführen, was bei einem ­ ­negativen Ergebnis ein zu großer Eingriff wäre. Um die Anwendung von Assessements in der Praxis zu erleichtern und deren Aussagekraft zu stärken, kann man Leitlinien zur Hilfe nehmen. Johnston et al. (1992) hat für ihre Benutzung folgende Punkte postuliert:

ICF

EBP

Einschränkungen der EBP

Leitlinie zur Einführung nach Johnston

• Die Praktikabilität bei der Auswahl eines Assessments ist wichtig. Der Aufwand, es anzuschaffen, sowie dessen Schulung und Durchführung darf nicht zu hoch sein. • Bei der Durchführung sollte man sich immer an die Anleitung halten, denn wenn man eine Änderung aufgrund klinischer Bedürfnisse vornimmt, müsste man die Gütekriterien Validität und Reliabilität neu anpassen. So bekommt das Ergebnis eine andere Bedeutung und Vergleiche mit anderen Patientengruppen sind nicht mehr möglich. • Kenntnisse über Gütekriterien (vgl. Kap. 5) gehören wie Anatomie und Physiologie zum Basiswissen. Damit Therapeutinnen in jeder Situation das adäquate Assessment wählen und Neuerscheinungen kritisch beurteilen können. • Das gewählte Assessment muss für das Patientenproblem relevant sein. • Der Praktiker solle ausgebildet und erfahren in der Durchführung des ­Assessments sein.

© 2014 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Markus Wirz et al.; Lehrbuch Assessments in der Rehabilitation. 1. Auflage.

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2  Die Rolle von Assessments in der evidenzbasierten Praxis

• Aufwand und Ertrag müssen sich die Waage halten. • Assessmentergebnisse mit unbekannter Validität, Reliabilität und Responsivität müssen kritisch beurteilt werden.

Das Spannungsfeld der Evidenz in der Forschung und der Umsetzung in der Praxis

Ein wichtiger Punkt, der bei der Auswahl eines Assessmentinstrumentes berücksichtigt werden muss, ist folgender Umstand: Man kann nur das messen, was das Instrument erfasst (Inhaltsvalidität). So kann man z. B. mit einem Dynamometer nur statische, jedoch nicht dynamische Muskelkraft messen. Assessmentverfahren sind auch Gegenstand der Forschung. Dort werden standardisierte Messverfahren unter anderem zur Quantifizierung von Interventionseffekten benutzt. In jüngster Zeit erfolgt auch vermehrt eine Beurteilung der Assessmentinstrumente selbst, anhand von Gütekriterien. Das Ziel solcher Forschung ist es, das Assessmentinstrument zu prüfen, bevor es in der Praxis zu Anwendung gelangt. Man geht hier der Frage nach, ob der Test in der Lage ist, das zu messen bzw. zu erfassen, was es zu messen vorgibt (Vali­ diät), und ob verschiedene Therapeuten bei dessen Durchführung am gleichen Patienten immer auf das selbe Resultat kommen (Reliabilität). Weiterhin ist zu bedenken, dass etliche Assessments, die in der Forschung angewendet werden, in der Praxis nicht angewendet werden können, da die Anschaffung und der Unterhalt der Testunterlagen und Utensilien zu teuer sind, der Zeitaufwand sehr hoch ist und sich nicht alle Ergebnis-Messungen am Wohle des einzelnen Patienten orientieren.

2.4 Leitlinien Geschichte der ersten Leitlinie

Eine kleine Geschichte zu den Anfängen von Leitlinien. 1954 wurde John ­Bolam wegen seiner Depression im Friern Krankenhaus behandelt, einer psychiatrischen Klinik in Colney Hatch (England). Als Intervention verordnete sein behandelnder Arzt eine Elektro-Krampf-Therapie. Jedoch erhielt er als Ergänzung keine, wie sonst üblich, Medikamente oder manuelle Techniken zur Muskelentspannung. Zu der damaligen Zeit waren Aufklärungen des Patienten über die Wirkung und Nebenwirkungen der angewendeten Therapiemethode durch den behandelten Mediziner nicht die Norm. John Bolam wurde also nicht aufgeklärt und erlitt aufgrund der aggressiven Elektro-Krampf-Therapie eine Fraktur des ­Beckens und Luxationen beider Hüftgelenke. 1957 klagte er gegen das Friern Krankenhaus auf Schadensersatz. Sein Anwalt Lord Justice MacNair betonte in diesem Prozess «dass ein Arzt nicht eine veraltete Methode weiter anwenden darf, obwohl sie das Gegenteil der substantiell geltenden Meinung darstellt.» Das ausgesprochene Urteil im oben beschrieben Fall von John Bolam hatte in Großbritannien einen Einfluss auf den medizinischen «Standard». Ab sofort mussten die Mediziner ihr «Tun und Handeln» definieren. Als Grundlage

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2.4  Leitlinien  21

diente die EBM. Schlussendlich ermöglichte die EBM, ganz marginale Interventionen zu legitimieren (Cass, 2006). Von diesem Zeitpunkt an wurde eine Vielzahl nationaler und interner klinischer Leitlinien entwickelt. Leitlinien (englisch guideline) sind systematisch entwickelte Stellungnahmen mit dem Ziel einer Unterstützung im Sinne einer Entscheidungshilfe für Mediziner, Mitglieder anderer Gesundheitsberufe und Patienten, um Diagnosen zu stellen und Maßnahmen für eine angepasste Versorgung anwenden zu können. Man geht davon aus, dass eine gründliche Aufarbeitung des vorhandenen Wissens zu einer objektiven Verarbeitung dieses Wissens führt und somit die entstandene Leitlinie den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Erkenntnisse darstellt. Es werden zwei Arten von Leitlinien unterschieden: die nationale und die interne Leitlinie. Nationale Leitlinien werden von Fachgesellschaften wie zum Beispiel der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) oder sozialrechtlich (z. B. Leitlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 91 SGB V) ausgearbeitet und getragen. Interne Leitlinien werden z. B. von Krankenhäusern oder einem Verbund von Praxen entwickelt, um die medizinischen Leistungen und organisatorischen Abläufe zu standardisieren. Das zentrale Ziel einer Leitlinie ist eine inhaltlich und methodisch einheit­ liche Durchführung von Diagnoseverfahren, medizinischen Entscheidungsprozessen, Interventionen, Erfolgsbeurteilung und Prognosekonzepten beim gleichen medizinischen Problem. Im Gegensatz zu Leitlinien sind Richtlinien Regelungen, die von einer rechtlich legitimierten Institution aufgestellt wurden. Solche Handlungsregeln werden schriftlich fixiert und veröffentlicht. Diese sind für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich, deren Nichtbeachtung zieht definierte Sank­ tionen nach sich (vgl. Tab. 2-3).

Nationale Leitlinien

Interne Leitlinien

Richtlinien

Tabelle 2-3: Definition von Leitlinien und Richtlinien (Field & Lohr, 1990). Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die dem Mediziner, Angehörigen anderer Gesundheits­ berufsgruppen wie z. B. der Physio- oder Ergotherapie und dem Patienten helfen sollen, Entscheidungen über ­ange­messene Gesundheitsversorgung bei bestimmten klinischen Zuständen zu treffen. Leitlinien sind wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Handlungsempfehlungen. Leitlinien sind Orientierungshilfen für Handlungs-Entscheidungskorridore, von denen in begründeten Fällen ­abgewichen werden kann oder sogar muss. Richtlinien sind hingegen Regelungen des Handelns oder Unterlassens, die von einer rechtlich legitimierten ­Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden und für den Rechtsraum dieser Institution ­verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen.

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2  Die Rolle von Assessments in der evidenzbasierten Praxis

Selbstdisziplin zur Qualitätssicherung von Leitlinien AGREE-Instrument

Internationale Forscher wie z. B. Dr. Melissa Brouwers, Dr. George Browman oder Dr. Jako Burgers und weitere Kollegen mit Erfahrung in der Entwicklung von Leitlinien haben zum Zweck deren Qualitätssicherung ein Instrument, die sogenannten «Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation (AGREE)» entwickelt. Das AGREE-Instrument: • beurteilt die Qualität der Berichterstattung, die Entwicklung sowie die Qualität der Leitlinienempfehlungen. • wird nicht verwendet, um den Einfluss einer Leitlinie auf den Gesundheitszustand von Patienten zu bewerten. • ist sehr allgemein gefasst und ist für die Bewertung von neuen oder bereits vorhandenen Leitlinien bestimmt, die durch lokale, nationale oder internationale Arbeitsgruppen oder angeschlossene Regierungsorganisationen entwickelt wurden (Collaboration, 2001). Das AGREE II, als Überarbeitung der oben genannten Liste, enthält 23 Schlüsselbegriffe, die in sechs Domänen eingeteilt sind (vgl. Tab. 2-4, AGREE, 2009). Für weitere Informationen wird die AGREE-Webseite empfohlen (http:// www.agreetrust.org).

Tabelle 2-4: AGRRE II Instrument (2009). Dömane

Inhalt

Geltungsbereich und Zweck

Bezieht sich auf das Gesamtziel einer Leitlinie, spezifische medizinische Fragen und die Patienten-Zielgruppe.

Beteiligung von Interessengruppen

Fokussiert sich darauf, in welchem Maße die Leitlinie die Sicht ihrer beabsichtigten Anwender verkörpert.

Methodik der Leitlinienentwicklung

Bezieht sich auf das Verfahren, mit dem die Evidenz gesammelt und aufgebaut wurde sowie auf die Methoden für die Formulierung und Aktualisierung der Empfehlungen.

Klarheit und Gestaltung

Beschäftigt sich mit der Sprache und dem Format der Leitlinie.

Anwendbarkeit

Betrifft die wahrscheinlichen Auswirkungen der Anwendung einer Leitlinie bezüglich Organisation, Verhalten und Kosten.

redaktionelle Unabhängigkeit

Befasst sich mit der Unabhängigkeit der Empfehlungen sowie mit der Offenlegung möglicher Interessenkonflikte seitens der Leitlinien-Entwicklungsgruppe.

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2.5  Einführung der EBM in die Praxis  23

Patientenleitlinien Aus Patientensicht ist die EBP ebenfalls von Bedeutung. Denn nicht nur der Kliniker, sondern auch die Patientin hat das Interesse und das Recht, Empfehlungen und Bewertungen des aktuellen Forschungstandes zu erfahren. Patientinnen beziehen heute vermehrt Informationen aus dem Internet. Hierbei besteht allerdings die Gefahr, dass Verfahren mit fraglicher Evidenz und nicht leitlinienkonformem Vorgehen als Quelle benutzt werden. Aus diesem Grund müssen Kliniker die Aufklärung übernehmen. Es sollten auch die Wünsche und Erfahrungen betroffener Patientinnen oder deren Angehöriger in den Prozess der Aufklärung einbezogen werden. Daneben ist es empfehlenswert, dass Patientenleitlinien für den Patienten verständlich verfasst werden. Diese Patientenleitlinien sollten nicht nur Hintergrundwissen, sondern auch krankheitsspezifische Versorgungsstrukturen aufzeigen und Aspekte zum Selbstmanagement bzw. Unterstützungs- und Hilfsangebote auflisten. Aktuell können z.  B. von chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) Betroffene neben Patientenleitlinien auch Informationen mit Hilfe von Newslettern und Hinweisen zu regionalen Selbsthilfegruppen auf der Webseite der Patientenorganisation Lungenemphysem-COPD Deutschland (http://www.lungenemphysem-copd.de/index.php) erhalten.

Patientenaufklärung

Beispiel

2.5  Einführung der EBM in die Praxis Studien erfassen die Situation ausgewählter Patienten mit ausgewählten ­Assessments zu speziell definierten Zeitpunkten. Dieses Konstrukt wurde entwickelt, um zu möglichst eindeutigen und übertragbaren Antworten der jeweiligen Fragestellung zu kommen. Die komplexe Situation von individueller Ausprägung von Krankheit und mehrperspektivischer Behandlungsstrategie spiegelt sich in diesem Konstrukt nur teilweise wider. Im klinischen Alltag ist es notwendig, Erkenntnisse aus Studien routinemäßig zu erfassen und in die eigene Gesamtkonzeption zu integrieren. Dies bedeutet, dass das Wissen und der Erfahrungsschatz der Medizin sowie angrenzender Disziplinen grundsätzlich gültig sind, jedoch kontinuierlich hinterfragt und im Bedarfsfall korrigiert werden müssen. Im Gegensatz zur ausgewählten Situation in Studien sind im klinischen Alltag eine Vielzahl von Aspekten zu berücksichtigen, beispielsweise etablierte Therapiekonzepte, eigene Vorstellungen vom therapeutischen Zugang, komplexe Anforderungen multimorbider ­Patienten, zusätzliche Einflussfaktoren wie ökologische und ökonomische Bedingungen, Bedürfnisse aus dem Umfeld und der Öffentlichkeit und vieles mehr.

Studienresultate und die komplexe Alltagssituation

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