Krieg in der Geschichte (KRiG)
KRIEG IN DER GESCHICHTE (KRiG) Herausgegeben von Stig Förster · Bernhard R. Kroener · Bernd Wegner · Michael Werner
Band 109
MINDERHEITEN-SOLDATEN Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkriegs
FERDINAND SCHÖNINGH
Oswald Überegger (Hg.)
Minderheiten-Soldaten Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkriegs
FERDINAND SCHÖNINGH
Der Herausgeber: Oswald Überegger studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und ist seit 2013 Direktor des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen. Er habilitierte im Fach Zeitgeschichte 2017. Titelbild: Gruppenfoto von italienischsprachigen Soldaten der Habsburgerarmee aus dem Trentino (Museo Storico Italiano della Guerra, Rovereto) Reihensignet: Collage unter Verwendung eines Photos von John Heartfield. © The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 1998.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78599-2
Inhaltsverzeichnis Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Minderheiten-Soldaten. Staat, Militär und Minderheiten im Ersten Weltkrieg – eine Einführung Von Oswald Überegger (Bozen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zwischen Pflichterfüllung und Nationalgefühl. Die tschechischen Soldaten der k.u.k. Armee Von Richard Lein (Budapest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Italiani d’Austria«. Italienischsprachige Soldaten der Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg Von Andrea Di Michele (Bozen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kriegserfahrung als nationale Identitätsstifterin? Ethnische Polen und Dänen als preußische Soldaten Von Jens Boysen (Chemnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die fragmentierte Front. Elsässische und lothringische Soldaten im Ersten Weltkrieg Von Volker Prott (Birmingham) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»England’s difficulty is Ireland’s opportunity.« Die Iren im britischen Heer des Ersten Weltkriegs und das Problem multipler Loyalitäten Von Christoph Jahr (Berlin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gab es ein Minderheitenproblem in der Zarenarmee im Ersten Weltkrieg? Von Reinhard Nachtigal (Freiburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heralding a new society, and venerating the English King. Australische, neuseeländische und indische Soldaten in Gallipoli und an der Westfront Von Daniel Marc Segesser (Bern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg – eine Minderheit? Von Gerald Lamprecht (Graz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlussbemerkungen: Militärische Minderheiten als interdisziplinäre Herausforderung Von Nicola Labanca (Siena) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort zur Reihe »Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit veränderten Mitteln. [...] Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständlich, ohne ihn ist alles voll der größten Absurdität.« Mit diesen Sätzen umriss Carl von Clausewitz im Jahre 1827 sein Verständnis vom Krieg als historisches Phänomen. Er wandte sich damit gegen die zu seiner Zeit und leider auch später weit verbreitete Auffassung, wonach die Geschichte der Kriege in erster Linie aus militärischen Operationen, aus Logistik, Gefechten und Schlachten, aus den Prinzipien von Strategie und Taktik bestünde. Für Clausewitz war Krieg hingegen immer und zu jeder Zeit ein Ausfluss der Politik, die ihn hervorbrachte. Krieg kann demnach nur aus den jeweiligen politischen Verhältnissen heraus verstanden werden, besitzt er doch allenfalls eine eigene Grammatik, niemals jedoch eine eigene Logik. Dieser Einschätzung des Verhältnisses von Krieg und Politik fühlt sich Krieg in der Geschichte grundsätzlich verpflichtet. Die Herausgeber legen also Wert darauf, bei der Untersuchung der Geschichte der Kriege den Blickwinkel nicht durch eine sogenannte militärimmanente Betrachtungsweise verengen zu lassen. Doch hat seit den Zeiten Clausewitz’ der Begriff des Politischen eine erhebliche Ausweitung erfahren. Die moderne Historiographie beschäftigt sich nicht mehr nur mit Außenund mit Innenpolitik, sondern auch mit der Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik, mit Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, nicht zuletzt, mit der Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. All die diesen unterschiedlichen Gebieten eigenen Aspekte haben die Geschichte der Kriege maßgeblich mitbestimmt. Die moderne historiographische Beschäftigung mit dem Phänomen Krieg kann deshalb nicht umhin, sich die methodologische Vielfalt der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft zunutze zu machen. In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte offen für die unterschiedlichsten Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem historischen Sujet. Diese methodologische Offenheit bedeutet jedoch auch, dass Krieg im engeren Sinne nicht das alleinige Thema der Reihe sein kann. Die Vorbereitung und nachträgliche »Verarbeitung« von Kriegen gehören genauso dazu wie der gesamte Komplex von Militär und Gesellschaft. Von der Mentalitäts- und Kulturgeschichte militärischer Gewaltanwendung bis hin zur Alltagsgeschichte von Soldaten und Zivilpersonen sollen alle Bereiche einer modernen Militärgeschichte zu Wort kommen. Krieg in der Geschichte beinhaltet demnach auch Militär und Gesellschaft im Frieden. Geschichte in unserem Verständnis umfasst den gesamten Bereich vergangener Realität, soweit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen lässt. In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte (abgekürzte Zitierweise: KRiG) grundsätzlich für Studien zu allen historischen Epochen offen, vom Altertum bis unmittelbar an den Rand der Gegenwart. Darüber hinaus ist Geschichte für uns nicht nur die vergangene Realität des sogenannten Abendlandes. Krieg in der Geschichte be-
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zieht sich deshalb auf Vorgänge und Zusammenhänge in allen historischen Epochen und auf allen Kontinenten. In dieser methodologischen und thematischen Offenheit hoffen wir den spezifischen Charakter unserer Reihe zu gewinnen. Stig Förster
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Bernd Wegner
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Minderheiten-Soldaten. Staat, Militär und Minderheiten im Ersten Weltkrieg – eine Einführung von Oswald Überegger Die anhaltende Konjunktur des wissenschaftlichen Interesses an der Geschichte des Ersten Weltkriegs hat der spezifischen Forschung zum Thema in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zweifellos Auftrieb verliehen. Die gegenwärtige Aufmerksamkeit, die der ›Urkatastrophe‹ zuteilwird, ist freilich vielfach – und im medialen Diskurs wohl primär – eine Folge des ›Centenaires‹ von 2014, dem sich jetzt jenes von 2018 anreiht.1 Damit wird der ›Große Krieg‹ – noch einmal und wohl in ähnlicher Intensität wie 2014 – im Mittelpunkt des wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und medialen Interesses stehen. Das Kriegsende 1918 und die aus der Pariser Friedensordnung 1919/20 hervorgegangene neue Welt – werfen förmlich eine ganze Reihe von Fragen und Diskussionspunkten auf, die mit Blick auf die Bedeutung der damit verbundenen Epochenzäsur und die ›ewige‹ Frage nach dem ›Ort‹ des Ersten Weltkriegs in der Geschichte des vergangenen 20. Jh. kontroversiell diskutiert werden. Trotzdem lässt sich der historiographische Gang der Dinge nur aus einer Longuedurée-Perspektive zusammenhängend und sinnhaft verstehen. Stark vereinfacht dargestellt, hat im deutschsprachigen Raum vor allem die Operationalisierung alltags- und mentalitätsgeschichtlicher Ansätze in der Weltkriegsforschung schon ab den späten 1980er-Jahren einen prägenden, multiplen Perspektivenwechsel nach sich gezogen.2 Der vorherrschende Blick auf die als historisch relevante Entscheidungsträger identifizierten politischen und militärischen Eliten verlor einerseits durch die neue Thematisierung der zivilgesellschaftlichen Implikationen des Krieges sukzessive an wissenschaftlicher Attraktivität. Das individuelle oder kollektive Kriegserlebnis nicht-kombattanter gesellschaftlicher Gruppen wurde erstmals auf breiterer Ebene zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt. Im Rahmen der sich relativ zeitgleich ebenfalls neu etablierenden ›Militärgeschichte von unten‹ verschob sich schließlich andererseits auch der geschichtswissenschaftliche militärhistorische Fokus stärker auf das Kriegserlebnis des einfachen Soldaten. Seit den 1990erJahren differenzierten sich die im Rahmen dieser paradigmatischen Interessensverlagerung entwickelten verschiedenen Zugänge weiter aus; im Rahmen der neuen 1
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Vgl. zur wissenschaftlichen Bilanz des ›Centenaires‹ von 2014: Jost Dülffer, Einhundert Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014, in: Osteuropa 64 (2014) 11-12, S. 45–58; auch: Stig Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg, in: Neue politische Literatur 60 (2015), S. 5–25. Vgl. etwa: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge 1), Essen 1993.
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Kriegserfahrungs-Forschung und kulturgeschichtlicher bzw. -wissenschaftlicher Forschungsimpulse wurden sie auch mit Blick auf ihre theoretisch-methodische Grundierung zusehends verfeinert, konkretisiert und operationalisierbar gemacht.3 Hand in Hand mit diesem neuen Interesse für den ›gewöhnlichen‹ Soldaten rückten bisher stets vernachlässigte oder tabuisierte Themen- und Fragestellungen in den Mittelpunkt des geschichtswissenschaftlichen Interesses – etwa die Geschichte des soldatischen Kriegsalltags, die verschiedenen Formen von militärischen Verweigerungshaltungen oder auch – um auf das Thema des vorliegenden Sammelbandes zu sprechen zu kommen – die Rolle und Bedeutung jener Soldaten, die nationalen, ethnischen, religiösen oder auch anderen Minderheiten angehörten. Die Kriegserinnerungen des elsässischen Soldaten Dominik Richert etwa wurden nach ihrer deutschen Erstveröffentlichung4 1989 kurzfristig zu einer Art kanonischem Text, der auch einen starken Impuls für eine intensivere inhaltliche wie theoretisch-methodische Reflexion einer aufstrebenden »Militärgeschichte von unten«5 insgesamt darstellte. Letztere etablierte sich als Konterpart einer konventionell ausgerichteten, zumeist außeruniversitär betriebenen Militärgeschichte, in der das Interesse für das soldatische Führungspersonal und die primär unter dem traditionellen militärischen ›Kerngeschäft‹ subsumierte Geschichte der militärischen Strategien und Operationen (vornehmlich als herkömmliche Schlachtengeschichte) weiterhin überwog. Dessen ungeachtet und von einzelnen territorialen Sonderfällen – etwa grenzregionale nationale Minderheiten, die im Fokus einer aktiven regionalgeschichtlichen Historiographie (bspw. Elsaß-Lothringen, Tiroler Raum usw.) standen – einmal abgesehen, spielten die ›Minderheiten-Soldaten‹ innerhalb einer zudem kaum als konkretes Forschungsfeld profilierten Weltkriegsforschung als Minderheitenforschung eine lediglich untergeordnete Rolle.6 Unter dem lange nicht näher konkretisierten Begriff der (Kriegs-)Minderheiten subsumierte sich in der Weltkriegshistoriographie vor allem die Situation ziviler nationaler Minderheiten im Krieg. Im Zentrum stand der jeweilige staatliche Umgang mit den so genannten ›Feindstaatenausländern‹ oder ›enemy aliens‹ als Konsequenz des Kriegsausbruchs und der damit verbundenen zahlreichen gegenseitigen Kriegserklärungen, die insbesondere ganze Gruppen 3
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Vgl. für viele andere: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte, Paderborn u. a. 2000; Georg Schild/Anton Schindling (Hrsg.), Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn u. a. 2009. Bernd Ulrich/Angelika Tramitz (Hrsg.), Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918, München 1989. Wolfram Wette, Die unheroischen Kriegserinnerungen des Elsässer Bauern Dominik Richert, in: Wolfram Wette, Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1998; vgl. auch: Christian Koller, Alsacien, Déserteur! Die Kriegserfahrung des Elsässer Bauern Dominik Richert im Spiegel seiner Memoiren, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000), S. 225–239. Vgl. als knappen aktuellen Überblick das Kapitel »Minorities, National Integration and the Attitudes towards war«, in: André Loez, Between Acceptance and Refusal – Soldiers’ Attitudes Towards War, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, [http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/between_acceptance_and_ refusal_-_soldiers_attitudes_towards_war], 10.05.2017, S. 21–24.
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von teilweise voll integrierten Immigranten mit einem Mal als suspekt erscheinen ließen.7 Die Frage der Internierung und Diskriminierung sowie der staatlicherseits praktizierten Repressionsmaßnahmen, schließlich auch die Erfahrungs- und Wahrnehmungsebenen der Betroffenen bildeten einen attraktiven Forschungsstrang, zu dem vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielzahl von Publikationen erschien.8 Rolle und Bedeutung von Minderheiten-Soldaten in den Armeen des Ersten Weltkriegs stellen also ein forschungsmäßig lange vernachlässigtes spezielles Thema der Minderheitengeschichte des Ersten Weltkriegs dar, das bisher nicht systematisch und – vor allem – nicht aus einer komparativen Perspektive betrachtet wurde.9 Die Beiträge dieses Sammelbandes sind das Produkt einer an der Freien Universität Bozen im Jahre 2015 stattgefundenen Tagung,10 deren Ziel es war, die bestehende einschlägige Forschung zusammenzuführen und das Thema anhand verschiedener konkreter Fallbeispiele unter Berücksichtigung mehrerer grundlegender Fragestellungen in einer stärker analytischen und vergleichenden Art und Weise zu fokussieren. In diesem Kontext lehnt sich die Definition dessen, was unter ›MinderheitenSoldaten‹ zu verstehen sei, einerseits an klassische Differenzierungsmodelle an, wonach es sich bei Minderheiten handelt um: »A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant position, whose members – being nationals of the State – possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language.«11
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Sehr stark in diese Richtung gehen die Arbeiten von Panikos Panayi. Vgl. Panikos Panayi, Dominant Societies and Minorities in the Two World Wars, in: ders., Minorities in Wartime. National and Racial Groupings in Europe, North America and Australia during the Two World Wars, Oxford 1993, S. 3–23; ders., Germans as Minorities during the First World War. A Global Comparative Perspective, Farnham 2014; vgl. zuletzt auch zusammenfassend: ders., Minorities, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 3: Civil Society, Cambridge 2014, S. 216–241. Vgl. dazu als Überblicke mit neuester Forschungsliteratur: Matthew Stibbe, Civilian internment and civilian internees in Europe, 1914–1920, in: Immigrants and Minorities 26 (2008) 1-2, S. 49–81; ders., Enemy Aliens and Internment, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, [http://encyclopedia.1914-1918-online.net/ article/enemy_aliens_and_internment], 10.05.2017. Selbst im Programm der an der Universität Chester 2014 stattgefundenen, thematisch einschlägigen Tagung zu »Minorities and the First World War« lassen sich nur einzelne Beiträge zum Thema der soldatischen Minderheiten finden. Vgl.: https://www.chester.ac.uk/node/21354. »Minderheiten-Soldaten. Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkrieges«, organisiert vom Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen am 9. November 2015. Für den Band neu hinzugekommen sind die Beiträge von Andrea Di Michele, Volker Prott und Reinhard Nachtigal. Nach der klassischen Definition von Francesco Capotorti, zit. bei: United Nations Human Rights, Office of the High Commissioner, Minorities under international law, [http://www.ohchr.org/EN/ Issues/Minorities/Pages/internationallaw.aspx], 14.04.2017.
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Dementsprechend beziehen sich die im Band versammelten Fallstudien, erstens, auf vornehmlich grenzregional verankerte nationale Gruppen verschiedener Staaten, deren Minderheiten-Status sich im Zuge des Nation-Building-Prozesses im 19. Jh. erst artikuliert bzw. verschärft hatte.12 »Nationale Minderheiten im heutigen Wortsinn konstituierten sich erst in Wechselwirkung mit der modernen Nationsbildung der jeweiligen Majoritäten und mit der Formierung von Nationalstaaten.«13 In dem Maße, wie die Nationsidee immer offensichtlicher den Charakter einer leitideologischen Orientierung annahm, wurden Minderheiten als gesellschaftliche Gruppen immer stärker sichtbar und als quantitative Größe vermessen.14 Die Tatsache, dass sich die Kategorien der Differenz und folglich auch die Formen von Inklusion und Exklusion immer stärker an nationalen Zugehörigkeitsmustern orientierten, verkomplizierte den Status von ethnischen bzw. nationalen Minderheiten innerhalb des zunehmend ›nationalisierenden‹ Staates.15 Zwar ist es natürlich richtig, dass es sich bei der Diversität im Militär um ein »klassisches Problem« handelt, »mit dem sich Armeen schon immer konfrontiert sahen«; der moderne Nation-Building-Prozess stellte aber zweifellos eine Zäsur in dem Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit dar.16 Und zweitens rekurriert die Definition von Minderheit auf die Gruppe der »dispersed European minorities« und meint damit Minderheiten, die in diversen Staaten präsent waren, wie beispielsweise die Juden, denen der abschließende Beitrag dieser Publikation von Gerald Lamprecht gewidmet ist.17 Sozialwissenschaftlich bzw. organisationssoziologisch gesprochen, geht es also vorwiegend um die so genannte »skewed group« (schiefe bzw. verzerrte Gruppe) und damit um eine Minderheitengruppe, die von der Majorität vor allem als überschaubares, einheitliches Kollektiv wahrgenommen wird. Aufgrund der mehrheitsseitig herrschenden Tendenz zur Konstruktion einer in sich geschlossenen, homogenen Gruppe geraten individuelle Handlungs- und Verhaltensmuster infolge einer
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Vgl. zur Frage der ›nationalen Minderheiten‹ die begriffsgeschichtliche Analyse von Kai Struve, »Nationale Minderheit« – Begriffsgeschichtliches zu Gleichheit und Differenz, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur II (2004), S. 233–258. Rudolf Jaworski, Nationalstaat, Staatsnation und nationale Minderheiten. Zur Wechselwirkung dreier Konstrukte, in: Hans H. Hahn und Peter Kunze (Hrsg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jh., Berlin 1999, S. 19–27, hier S. 21. Vgl. dazu etwa die Anmerkungen von Hans Lemberg, Minderheiten als Konfliktursache?, in: Ralph Melville, Jiří Pešek und Claus Scharf (Hrsg.), Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa. Völkerrecht – Konzeptionen – Praxis (1938–1950) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beihefte 69), Mainz 2007, S. 99–109, insbes. S. 99f. Vgl. Hans Henning Hahn, Nationale Minderheiten und Mehrheitsnationen im 19. Jahrhundert. Einige grundsätzliche Überlegungen zur kollektiven Identitätsbildung, in: ebd., S. 205–210, hier S. 207. Thomas Hallmann, Diversity Management im Militär. Eine historische Betrachtung anhand ausgewählter Fallbeispiele, in: Gerhard Kümmel (Hrsg.), Die Truppe wird bunter: Streitkräfte und Minderheiten (Militär und Sozialwissenschaften 47), Baden-Baden 2012, S. 47–71, hier S. 47. Vgl. zur Differenzierung den Abschnitt über »Typologies of minorities«, in: Panayi, Minorities, S. 217–219.
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dominierenden stereotypen Zuschreibungspraxis in das Hintertreffen.18 Öffentliche Sichtbarkeit und Wahrnehmungsintensität der Minderheit als solche waren schließlich auch Voraussetzung dafür, dass die jeweilige Minorität staatlicher- und militärischerseits als Problem empfunden wurde. In einem als vormodern-autokratisch zu charakterisierenden Großreich wie Russland, in dem der Nationalisierungsprozess noch nicht so weit fortgeschritten war, bestand das Minderheitenproblem in lediglich geringerem Ausmaß.19 In ähnlicher Weise verhielt es sich etwa mit den jüdischen Soldaten innerhalb der k.u.k. Armee, die »nur schwer als (Minderheiten-) Gruppe festzumachen«20 waren. Im letzteren Fall verbanden sich Staatspatriotismus und Kriegsunterstützung sogar mit der Hoffnung auf einen weiteren Meilenstein in der gruppenspezifischen Emanzipationsgeschichte.21 In Ergänzung zu den skizzierten klassischen Einordnungsmodellen versteht sich ›Minderheit‹ im Kontext dieses Bandes allerdings auch als kriegsimmanentes Differenzierungskonzept. Auf diese Weise macht es analytisch durchaus auch Sinn, Soldatengruppen als Minderheitenkollektive zu begreifen, die a priori und vordergründig wohl nicht als solche erscheinen mögen. Hier sind es vornehmlich Rekrutierungsweisen, Einsatzkontexte und kollektive Wahrnehmungsmuster, die – das zeigt etwa der Beitrag von Daniel Marc Segesser – Minderheitenkonstellationen kriegsimmanent evozierten. Gerade mit Blick auf diese nicht vordergründig und augenscheinlich fassbaren ›anderen‹ Minderheitencharaktere, die weit über rein sprachliche, nationale, ethnische oder religiöse Distinktionsmuster hinausgehen und tief in den Bereich der kriegsimmanenten sozialen und kulturellen Gruppenbildung hineinreichen, gibt es international noch beträchtlichen Forschungsbedarf. Auch Segesser ortet unter den Soldaten der Dominions eine kriegsimmanente Form der Nationalisierung, sodass sich die »Primäridentifikation […] mehr und mehr auf die immer häufiger als eigenständig wahrgenommene, unmittelbare Herkunftsnation [verschob].«22 Insofern stellte der Erste Weltkrieg auch in diesem Fall eine unverkennbare Zäsur mit Blick auf die Veränderung von Identitäten und nationalen Verortungen dar.
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Vgl. zu diesen organisationssoziologischen Überlegungen, basierend auf den Studien von Rosabeth Moss Kanter und anderen, die Ausführungen von Gerhard Kümmel, Die Minderheiten, das Fremde und das Militär: Eine Einleitung, in: Kümmel, Truppe, S. 9–25. Vgl. dazu die Anmerkungen von Reinhard Nachtigal, S. 153–158. Gerald Lamprecht in seinem Beitrag über die jüdischen Soldaten in diesem Band, S. 179. Vgl. nunmehr auch Marsha Rozenblit, Der Habsburg-Patriotismus der Juden, in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band XI: Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teil 1: Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg, 1. Teilband: Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas, Wien 2016, S. 887–917, hier S. 892–897. Daniel Marc Segesser in seinem Beitrag über die australischen, neuseeländischen und indischen Soldaten, S. 170.
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Problemfelder und Fragen Bezüglich der weiter oben erwähnten grundlegenden Fragestellungen, die im Kontext des Themas von hoher Relevanz sind, ist vor allem auf drei Problemfelder zu verweisen, die direkt oder indirekt, mehr oder weniger stark mit dem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen nationalisierendem Staat, nationaler Minderheit und »konnationalem Patronagestaat«23 zusammenhängen, das Rogers Brubakers treffend als »triadic nexus« bezeichnet hat.24 Innerhalb dieser Trias gestalten sich die Beziehungen zwischen den Subjekten weniger als eindeutige, sondern eher als zwischen inklusiven und exklusiven Strategien konkurrierenden bzw. situativ changierenden dynamischen und fluiden Ausverhandlungs- und Interpretationsprozessen, die auf der Wahrnehmung der Praxis des jeweiligen Gegenübers basieren.25 In diesem thematischen Kontext steht ein erster Fragenkomplex dieses Sammelbandes im Zusammenhang mit den konkreten Kriegserfahrungen und dem Charakter der Kriegslebenswelten von Minderheiten-Soldaten, was immer man auch unter Minderheiten-Soldaten in spezifischen Situationen verstehen mag. Diese Kriegslebenswelten waren selbstredend in hohem Maße von politischen und militärischen Zuschreibungen innerhalb der skizzierten Trias und der perspektivisch jeweils unterschiedlich beantworteten zentralen Frage nach dem Loyalitätsverhältnis der Minderheiten zur Staatsnation abhängig. Nationale Minderheiten wurden vielfach in sehr pauschaler Weise als unzuverlässige und illoyale Staatsbürger kategorisiert, wobei insbesondere der Typus grenzregionaler Minderheiten teilweise mit einer Art doppeltem Misstrauen (des nationalisierenden Staates, vielfach aber auch des konnationalen Patronagestaates) konfrontiert war. Die Frage nach diesen Stereotypisierungen und Schwarz-Weiß-Etikettierungen, ihrem realen bzw. fiktiven Hintergrund sowie ihren konkreten Auswirkungen auf die Kriegslebenswelt der Soldaten ist ein erstes zentrales Bestimmungsmoment, das wohl nur aus einer komparativen Perspektive sinnvoll und gewinnbringend zu beantworten ist. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich im Umgang mit den Minderheiten aus einer vergleichenden Perspektive festmachen, und welche Bedingtheiten und Faktoren evozierten bestimmte Handlungs- bzw. Reaktionsmuster innerhalb der Akteure des skizzierten Beziehungsgeflechtes? Ein weiterer, noch spezifischerer Fokus steht in einem Zusammenhang mit der zentralen Frage nach der Transformation nationaler Identitäten im Krieg: Wie stark waren nationale Identitäten im Spannungsfeld zwischen Nation und Region? Sind 23
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Gerhard Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien und die Frage der Loyalität 1919–1939, in: Mathias Beer und Stefan Dyroff (Hrsg.), Politische Strategien nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit, München 2013, S. 15–25, hier S. 15. Vgl. Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1996. Vgl. dazu auch Peter Haslinger/Joachim von Puttkamer, Staatsmacht, Minderheit, Loyalität – konzeptionelle Grundlagen am Beispiel Ostmittel- und Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit, in: Peter Haslinger und Joachim von Puttkamer (Hrsg.), Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1941, München 2007, S. 1–16, hier S. 1f. Vgl. ebd. S. 2.
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nationale Identifikationsmuster etwas – darauf weisen verschiedene neuere Studien teilweise hin –, was man in der Forschung bisher überschätzt hat? Was bedeuteten Nation und nationales Bewusstsein beispielsweise für den einfachen Trentiner Bauern, der 1914 im Verbande der k.u.k. Armee in den Krieg zog, oder für den Elsässer Soldaten, der 1914 in das deutsche Heer eingereiht wurde? Spielen nationale Identifikationen wirklich etwa auch eine wichtige Rolle für das Phänomen der militärischen Verweigerung, oder ist letztere auch innerhalb der Gruppen von Minderheiten-Soldaten ganz überwiegend eine direkte Folge des Krieges und der von ihm ausgehenden Desillusionierung? Sind diese Gruppen-Konstruktionen von nationalen Minderheiten, mit denen geschichtswissenschaftlich vielfach operiert wird, letztlich eine unzulässige Reduktion von Komplexität? Und haben wir es auch mit Blick auf die Minderheiten-Soldaten defakto mit einer Vielzahl von teilweise stark differierenden Mehrfach-Identitäten zu tun? Welche Rolle spielen die verschieden stark ausgeprägten Separatismen/Irredentismen und die jeweilige Haltung des konnationalen Patronagestaats für die konkreten Handlungsmuster der Minderheiten-Angehörigen im Krieg? Und schließlich stellt sich auch noch die Frage nach der bereits angedeuteten Transformation von Identität während des Krieges. Wann ist die im Krieg zweifellos zu beobachtende Politisierung oder Nationalisierung eine wirkliche Ideologisierung und wann nimmt sie eher den Charakter einer reaktionären oder sekundären Politisierung als Reaktion auf erfahrene Diskriminierung bzw. Ungleichbehandlung an? Oder ist sie vielfach schlichtweg auch nur Ausdruck einer ›opportunistischen‹ Entscheidung? Verstärkt der Krieg in Verbindung mit Sieg oder Niederlage Formen der Alterität oder bringt er zumindest situativ auch so etwas wie eine integrative Sogwirkung hervor? Damit verbunden stellt sich die Frage nach den Erwartungshaltungen: Loyalität im Krieg als eine Art Hoffnungsträger, als ›Motor‹ für einen erhofften Emanzipationsschub? Ein dritter und letzter Fragenkomplex ist mit dem Thema der erinnerungskulturellen Deutungen angesprochen, das in diesem Band nur eine untergeordnete Rolle spielt, nichtsdestotrotz aber von großer Bedeutung ist: Geschichtspolitische Vereinnahmung und Umdeutung sowie retrospektive Politisierung/Nationalisierung beginnen ganz offensichtlich schon im Krieg und setzen sich nach 1918 fort, unabhängig davon ob nun im Rahmen verschiedener, auch regionaler Dolchstoßlegenden oder im Rahmen diverser nationaler Gründungsmythen neu entstandener Nationalstaaten. Im Falle der Sukzessionsstaaten der Habsburgermonarchie ist dieses Phänomen natürlich ganz besonders eklatant. Ohne die Freilegung dieser Geschichte von Instrumentalisierung und retrospektiver Politisierung ist letztlich auch die Geschichte der Minderheiten-Soldaten im Ersten Weltkrieg nicht zu verstehen.
Loyalität und Identität Mit Blick auf den oben skizzierten Fragenkomplex in Zusammenhang mit den zwischen Minderheit und Staat bestehenden Loyalitätskonstellationen und der damit
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verbundenen kriegsimmanenten Veränderung von Identität gilt es zunächst darauf hinzuweisen – das zeigen die in dieser Publikation versammelten Beiträge in einmütiger Deutlichkeit –, dass sich die tief verankerte Loyalitätsskepsis, die vielfach schon vor 1914 unter den politischen, vor allem aber militärischen Eliten gegenüber den ethnischen Minderheiten grassierte, in der Krisensituation des Kriegs noch einmal verstärkte und sich tendenziell zu einer Art Generalverdacht auswuchs. Das in den Armeen praktizierte ›Diversity Management‹ speiste sich vor allem aus diesen stereotypen kollektiven Verdächtigungen, die es aus militärischer Perspektive zweckmäßig erscheinen ließen, den Minderheiten pauschal zu misstrauen und an ihrer Loyalität den Titularnationen gegenüber zu zweifeln.26 Das galt für den Verdacht, den die k.u.k. Militärs beispielsweise den italienisch- oder tschechischsprachigen Soldaten der Habsburgermonarchie gegenüber hegten genauso wie jenem der deutschen Armeeführung gegenüber Elsass-Lothringern oder polnischen Soldaten. Wie der Beitrag von Christoph Jahr zeigt, war die Situation der Iren im britischen Heer eine ähnliche.27 Diese kollektiven Verdächtigungen waren als Zuschreibungen in schier dominanter Weise präsent, obwohl die zumeist reibungslose Mobilisierung im Sommer 1914 und das militärische Verhalten der Soldaten im Verlauf des Krieges kaum Anlass zu Beanstandungen gaben. Die Integration in die Kriegsarmeen vollzog sich zumeist ohne größere Probleme, und auch das Phänomen der militärischen Verweigerung von Minderheiten-Soldaten unterschied sich quantitativ und qualitativ nicht substanziell, sondern eher graduell von jener der Soldatenmehrheit. Die Beiträge dieses Bandes und andere Neuforschungen weisen zudem unzweifelhaft darauf hin, dass sich auch die Verweigerungshaltungen von Angehörigen nationaler Minderheiten nur zu einem geringen Teil ursächlich mit politischen bzw. nationalen, im weitesten Sinne ideologischen Bekenntnissen oder Überzeugungen in Verbindung bringen lassen.28 Es überwogen persönliche oder kriegsimmanente Motivationen, die vielfach auch die Folge einer nüchternen, recht unideologischen Kosten-Nutzen-Strategie, und demnach also »fluide« waren, wie Volker Prott am Beispiel der elsässischen Soldaten veranschaulicht.29 Neben der in zunehmendem Maße als drückend empfundenen Kriegslebenswelt, der Sehnsucht nach einem Ende des Krieges und der als Minderheiten-Angehöriger erfahrenen Diskriminierung traten nationale und politische Desertionsmotive, die sich abseits einer nationalpatriotisch euphorisierten politischen (Minderheiten-)Elite lediglich fallweise rekonstruieren lassen, deutlich in den Hintergrund. Das gilt für die bereits erwähnten Elsässer genauso wie für Tschechen und Italiener in der Habsburgerarmee30 oder beispielsweise, wie neue Forschungsergebnisse zeigen, etwa auch für die estnischen Soldaten in der 26 27 28
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Vgl. Kümmel, Minderheiten, S. 15. Vgl. den Beitrag von Christoph Jahr, S. 103–117. Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Oswald Überegger, Politik, Nation und Desertion. Zur Relevanz politisch-nationaler und ideologischer Verweigerungsmotive für die Desertion österreichischungarischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2008) 2, S. 109–119. Vgl. dazu die Anmerkungen von Volker Prott, S. 86 Vgl. die Anmerkungen von Volker Prott, S. 85–101, und Andrea Di Michele, S. 45–68.
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russischen Armee, worauf Reinhard Nachtigal aufmerksam macht.31 Insgesamt kann man mit Blick auf das Verhältnis zwischen Minderheit und Staat wohl am treffendsten von einer Strategie der »minimalen Loyalität« (Jens Boysen) sprechen.32 Angehörige ethnischer und nationaler Minderheiten zogen in der Regel nicht patriotisch enthusiasmiert in den Krieg, verhielten sich im militärischen Sinne aber mehr oder weniger korrekt und kamen ihren staatsbürgerlichen soldatischen Pflichten insgesamt ziemlich beanstandungslos nach. Neben den im Kriegsverlauf kaum weiter auffälligen Desertionsraten der Minderheiten-Soldaten zeigt auch die weitgehend gescheiterte Politik der Gewahrsamsmächte, in Kriegsgefangenschaft geratene fremdstaatliche Minderheiten-Soldaten für die eigene Armee anzuwerben, dass genuin nationale Motivationen kaum auf breiterer Ebene vorhanden gewesen sein dürften. Mit rund 1.650 von über 20.000 in Kriegsgefangenschaft geratenen Elsässern und Lothingern ließ sich nur eine Minderheit im einstelligen Prozentbereich für einen Eintritt in die französische Armee gewinnen. Ähnlich verhielt es sich bei den kriegsgefangenen polnischen Soldaten des deutschen Heeres oder den in deutsche oder österreichisch-ungarische Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten russischer Minderheiten.33 Wie Andrea Di Michele in seinem Beitrag aufzeigt, hielt sich auch die Bereitschaft der in russische Kriegsgefangenschaft geratenen italienischsprachigen k.u.k. Soldaten, sich in die italienische Armee einreihen zu lassen, sehr in Grenzen.34 Gänzlich gescheitert war ferner das Projekt zur Bildung eines aus irischen Kriegsgefangenen in Deutschland bestehenden Freiwilligenkorps, das auf deutscher Seite hätte kämpfen sollen. Von den rund 3.000 irischen Kriegsgefangenen hatten lediglich 56 ihr Interesse bekundet.35 Unabhängig davon, ob man nun auf die polnische Minderheit im ostdeutschen Grenzgebiet oder die Italiener im habsburgischen adriatischen Küstenland blickt, die Masse der sich aus dem ländlichen Raum und entsprechend bildungsschwachen Milieus rekrutierenden Soldaten war vielfach nur rudimentär nationalisiert oder kaum über nationale Themen politisiert. Demgegenüber waren häufig lokale und regionale Identitäten und Zugehörigkeitsmuster von ungleich entscheidender Relevanz.36 Auf diese Diskrepanz zwischen nationalen, regionalen und lokalen Identitäten gilt es in der künftigen Forschung mehr Augenmerk zu werfen. Ungeachtet der skizzierten realen Verhältnisse und als direkte Konsequenz des erwähnten Generalverdachts installierten die militärischen Führungskader der europäischen Armeen des Ersten Weltkriegs sich strukturell durchweg ähnelnde spezielle Kontrollmechanismen, die von intensiveren Überwachungsmaßnahmen (die verschiedenen Spielarten der Zensur, Entfernung aus gewissen Frontabschnitten usw.) bis hin zur offensichtlichen Diskriminierung (Beschimpfungen, Misshandlungen, 31 32 33
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Vgl. dazu den Beitrag von Reinhard Nachtigal, S. 140–145. Vgl. dazu die Anmerkungen von Jens Boysen, S. 82. Vgl. dazu die Anmerkungen von Volker Prott, S. 91, Jens Boysen, S. 80f. und Reinhard Nachtigal, S. 119–158. Vgl. den Beitrag von Andrea Di Michele, S. 60–66. Vgl. den Beitrag von Christoph Jahr, S. 112. Vgl. dazu die Anmerkungen von Richard Lein, S. 27, und Jens Boysen, S. 82f.
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Verweigerung der Urlaubsgewährung u. dgl.) reichten und damit letztlich rasch auch einen stark repressiven Charakter annahmen. Das den ebenfalls pauschal als politisch unzuverlässig betrachteten eigenen nationalen Minderheiten zugedachte Repressionsinstrumentarium des deutschen Heeres ähnelte etwa frappierend dem Vorgehen des österreichisch-ungarischen Militärs – nicht zuletzt auch in seiner kontraproduktiven Wirkung. Unbenommen aller strukturellen Ähnlichkeiten gestaltete sich die Übersetzung des Misstrauens in die konkrete Diskriminierungspraxis aber auch unterschiedlich. So scheint etwa das Vorgehen der k.u.k. Armee gegen die italienischsprachige Minderheit ungleich radikaler gewesen zu sein als jene des britischen Heeres gegen die Iren. Selbstredend waren dafür auch kriegsimmanente Gründe ausschlaggebend. Die Erfahrung persönlicher Diskriminierung und Ungleichbehandlung führte auf der Seite der betroffenen Minderheiten-Soldaten zu einer raschen Frustration und umgehenden Desillusionierung, die in den Selbstzeugnissen der Betroffenen gut dokumentiert sind. Die Diskriminierungs-Erfahrung der Soldaten, wie sie etwa der elsässische Deserteur Dominik Richert in beeindruckender Weise schildert,37 gleicht den in zahlreichen Selbstzeugnissen österreichischer Soldaten und Deserteure italienischer Nationalität dokumentierten Kriegserfahrungen.38 Daraus resultierte letztlich eine Form der kriegsimmanenten, sekundären Nationalisierung bzw. Politisierung, die – nicht überall und in verschiedenen Ausprägungen und Nuancen – eine Art nicht unbedingt und primär national oder politisch motivierten, sondern vor allem reaktionären Frust-Irredentismus beförderte: Unbeschadet einer grundsätzlich bestehenden Loyalität zur Titularnation führten das Kollektiv diskriminierender Maßnahmen und das pauschale Misstrauen allerdings schließlich zu einer sukzessiven Entfremdung, die sich vor allem in der zweiten Kriegshälfte dann auch in höhere militärische Verweigerungsraten übersetzte, die angesichts der Tatsache, dass Desertionen generell im Zunehmen begriffen waren, allerdings kaum überraschen können.
Ressentiments als kriegsimmanente Medialisierungsprozesse Der militärische Blick auf die Minderheiten-Soldaten und das sich daraus ableitende Handeln basierten auf verschiedenen Komponenten, die in ihrer Gesamtheit die Entwicklungsgenese dieses (vorgefertigten) Bildes nachvollziehbar werden lassen. Die innerhalb der militärischen Führungsriegen traditionell vorhandenen Ressentiments präjudizierten ein pejorativ konnotiertes Bild der Minderheiten insgesamt, das sich in der Krisenzeit des Krieges und aufgrund der Konstellation der Kriegs37 38
Vgl. Richert, Gelegenheit. Vgl. dazu die vom Museo Storico del Trentino und vom Museo Storico Italiano della Guerra, Rovereto, herausgegebene Reihe »Scritture di guerra« mit edierten Tagebüchern und Kriegserinnerungen von Trentiner Soldaten. Seit 1994 sind insgesamt zehn Bände erschienen. Vgl. auch den Beitrag von Andrea Di Michele in diesem Band.
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bündnisse (unter den jeweiligen Kriegsgegnern befand sich auch so mancher konnationaler Patronagestaat der jeweiligen Minderheit) deutlich verschärft hatte. Obwohl das reale militärische Verhalten zu Beginn und im weiteren Verlauf des Kriegs kaum konkreten bzw. größeren Anlass zur Beunruhigung gab, hielt sich das spezifische Bild der unzuverlässigen ethnischen oder nationalen Minderheiten hartnäckig. Dieses Faktum resultierte auch aus einem – bisher lediglich in seinen Konturen erforschten – spezifischen Medialisierungsprozess, der im Rahmen der bereits erwähnten Tendenz, Minderheiten als homogene Gruppe zu begreifen und auf diese Weise von den Renitenzen und Verweigerungshaltungen einzelner auf eine vermeintliche Gruppenpraxis zu schließen, dafür sorgte, dass das bestehende Bild ständig perpetuiert und im Laufe des Krieges radikalisiert wurde. Obwohl es meist jeder realen Grundlage entbehrte, erschien das als unzuverlässig und illoyal gebrandmarkte Verhalten der Minderheiten-Soldaten öffentlich gleichsam als ›self-fulfilling prophecy‹. Richard Lein beschreibt diesen Medialisierungsprozess anhand eines tschechischen Beispiels eindrücklich: Obwohl sich im Nachhinein eindeutig herausgestellt hatte, dass sich das Scheitern zweier tschechischer Infanterieregimenter im Frühjahr 1915 an der Ostfront nicht auf ein ausschließliches und spezifisches Versagen der tschechischen Soldaten zurückführen ließ, blieben das militärische Misstrauen und das schlechte Image der tschechischen Truppenkörper, die sich in Wirklichkeit an zahlreichen Frontabschnitten wacker geschlagen hatten, für die gesamte Dauer des Krieges bestehen. Ähnliche Anschuldigungen gegen zwei mehrheitlich tschechische Infanterieregimenter wiederholten sich im Rahmen eines – an sich unbedeutenden – Gefechtes nahe der Stadt Zborów im Juli 1917 und führten zu einer polarisierenden, medial inszenierten öffentlichen Debatte über die Frage der Loyalität der tschechischen Soldaten, die letztlich suggerierte, dass sich letztere »in zunehmendem Maß illoyal verhalten [würden], auch wenn dies bekanntlich nicht den Tatsachen entsprach.«39 Realiter hatten rund 1,2 Millionen tschechische Soldaten vielfach bis zum Ende des Krieges anstandslos im Verbunde der k.u.k. Armee gedient. Ähnliche Schuldzuweisungen schlugen etwa auch den irischen Soldaten im März 1918 entgegen, als die britische Front infolge der Frühjahrs-Offensive des deutschen Heeres einzubrechen drohte.40 Und in derselben hartnäckigen Weise hielt sich der Topos der Unzuverlässigkeit auch im Fall der italienischen Minderheit in der k.u.k. Armee. Auch hier waren es die Konsequenzen ähnlicher Medialisierungsstrategien, die dazu beitrugen, dass sich in der Öffentlichkeit derlei Stereotypen langfristig halten konnten.41 Schließlich beschreibt auch Dominik Richert in seinem Tagebuch, wie sich diese öffentlich transportierten und vor allem im Offizierskorps tief sitzenden, vorgefertigten Aversionen den nationalen Minderheiten gegenüber vielfach
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Vgl. den Beitrag von Richard Lein, S. 38. Vgl. dazu den Beitrag von Christoph Jahr, S. 114. Vgl. den Beitrag von Andrea Di Michele, S. 45–68.
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erst im persönlichen Kontakt zwischen (Minderheiten-)Soldaten und (Mehrheits-) Offizieren relativierten und fallweise auch auflösten.42 Die zweifellos im Falle der ›Besiegten‹ auch im Kontext der durchschlagenden Rechtfertigungsrhetorik zu sehende Schuldzuweisung an die nationalen Minderheiten und die ihnen entgegengebrachte generelle Skepsis fügen sich allerdings in den (langfristigen) Prozess der als Top-down-Zuschreibung zu verstehenden Konstruktion grenzregionaler Identitäten ein, bei denen es sich letztlich primär um »inventions of nationalist activists« handelte, »intent on creating the objects for their policies of nationalization.«43 Diese Art ›gap‹ zwischen einer zusehends dominanten nationalisierenden Perspektive, die Grenzregionen und ihre Gesellschaften fast ausschließlich als in nationaler Hinsicht konfrontative Differenz-Räume wahrnahm, und einer bei weitem nicht im zugeschriebenen Ausmaß nationalisierten (Grenz-) Bevölkerung war für eine Vielzahl von nationalen Minderheiten im Ersten Weltkrieg zweifelsohne verhängnisvoll. Letztlich nahmen sich die von den Militärs ergriffenen Maßnahmen als weitgehend kontraproduktiv aus. Die sich aus dem skizzierten Generalverdacht ableitenden verschiedenen Praktiken der militärischen Führung erreichten genau das Gegenteil des Beabsichtigten: Sie konterkarierten das bestehende Loyalitätsverhältnis der Elsässer, Lothringer, Trentiner, Triestiner, Polen, Dänen und anderer Minderheiten zu den entsprechenden staatlichen Titularnationen, das gegen Ende des Kriegs dann vielfach nur mehr in Ansätzen vorhanden war. Während die Tatsache fortschreitender soldatischer Desillusionierung zweifellos mehrere Gründe hat, nehmen sich die Ursachen dieses Entfremdungsprozesses weitgehend als militärisch ›hausgemacht‹ aus. Letztlich gehörten sie mit zu den ›Triebfedern‹ militärischer Verweigerung, die man von Seiten des Militärs stets zu verhindern gesucht hatte.
Rechtfertigungsstrategien und Erinnerungspolitik Gerade in Österreich war, wie bereits erwähnt, die Betonung politischer und nationaler Ursachen von Verweigerungshaltungen ein wesentlicher, konstitutiver Bestandteil der militärischen und staatlichen Rechtfertigungsargumentation im Rahmen der Dolchstoß-Legende.44 Teilweise noch während des Ersten Weltkrieges 42 43
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Vgl. dazu den Beitrag von Volker Prott, S. 92. Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontier of Imperial Austria, Cambridge (MA)/London 2006. Auf die Widersprüchlichkeit bzw. Uneindeutigkeit grenzregionaler Identitäten hat schon eindringlich Peter Thaler hingewiesen, der von »zones of fluid identity« spricht und für »a more fluid side of national identity« plädiert. Peter Thaler, Fluid Identities in Central European Borderlands, in: European History Quarterly 31 (2001) 4, S. 519–548; vgl. auch Pieter M. Judson, Do Multiple Languages Mean a Multicultural Society? Nationalist »Frontiers« in Rural Austria, 1880–1918, in: Johannes Feichtinger und Gary B. Cohen (Hrsg.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 61–82. Vgl. dazu generell ausführlicher: Überegger, Politik.