Krieg der Sterne, neue Folge. Kommentare und Berichte 1433

Kommentare und Berichte „ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen als Signatarstaat nachkommen“ und den Vertrag wie das dazugehörige Regime weiter unte...
Author: Matilde Fürst
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Kommentare und Berichte „ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen als Signatarstaat nachkommen“ und den Vertrag wie das dazugehörige Regime weiter unterstützen, machte der Vorsitzende der republikanischen Mehrheit im Senat, Trent Lott, klar, dass die Sache für ihn endgültig erledigt sei: „Wenn der Senat einer Ratifikation nicht zustimmt, und in diesem Fall haben wir nicht zugestimmt, dann hat der Vertrag für die USA keinerlei völkerrechtliche Bedeutung.“ Keine einzige der Vertragsbestimmungen sei bindend für die Vereinigten Staaten. Die Administration hingegen beharrt auf dem Standpunkt, dass allein der Präsident das Land aus internationalen Verpflichtungen entlassen könne. Der Ausgang des Streits ist offen.

Was nun? Wenn eine Wiederaufnahme der Atomtests und die Entstehung neuer nuklearer Rüstungswettläufe langfristig verhindert werden soll, gibt es zu einem Inkrafttreten des Teststopp-Vertrages keine Alternative. Dazu ist es wichtig, den Aufbau der Atomteststopp-Behörde in Wien fortzusetzen. Der wird ohnehin noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen, genug Zeit also für den künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten, den CTBT duch den Senat zu bringen. Bis dahin kommt es darauf an, dass der US-Kongress in einem zweiten Schritt nicht auch noch die Mittel für die Einrichtung des Verifikationsregimes streicht. Der amerikanischen Unterstützung kommt nämlich ein zentraler Stellenwert zu: Das Land trägt den größten Teil der Kosten, und amerikanische Technologie ist maßgeblich für das Funktionieren des Überwachungssystems. Zwar sind die USA als Unterzeichner verpflichtet, ihren Beitrag in Höhe von jährlich 20 Mio. Dollar nach Wien zu überweisen; die Vertragsgegner haben aber bereits begonnen, diese Zahlungen politisch in Frage zu stellen. Sollten sie erfolgreich sein, würde das den Aufbau der Wiener Kontrollbehörde zumindest verzögern.

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Eine fortgesetzte amerikanische Verweigerungspolitik hätte zudem gravierende Auswirkungen auf die internationalen Abrüstungsbemühungen. Als 1995 der nukleare Nichtverbreitungsvertrag unbegrenzt verlängert wurde, stimmten viele Nichtatomwaffenstaaten dem nur zu, weil die Kernwaffen besitzenden Staaten zusicherten, die nukleare Abrüstung zu beschleunigen. Der Abschluß der Verhandlungen über einen Atomteststopp ist der herausragende rüstungskontrollpolitische Erfolg seit 1995. Sollte der CTBT scheitern, könnten einige Länder versucht sein, ihre Haltung zum Nichtverbreitungsvertrag, dem Fundament der globalen nuklearen Nichtverbreitungspolitik, zu überdenken. Die im April und Mai kommenden Jahres stattfindende Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages würde dann zur Nagelprobe für die Nonproliferationsbemühungen. US-Präsident Clinton hatte vor der Abstimmung über den Teststopp-Vertrag gewarnt: „Amerika hat über vier Jahrzehnte den Kampf gegen die Verbreitung von Nuklearwaffen angeführt. Wenn unser Senat den Vertrag ablehnt, werden wir das nicht mehr tun.“ Oliver Meier

„Krieg der Sterne“, neue Folge „Der Blitz beim Zusammenprall war spektakulär“, schwärmte Colonel Lehner. Das Ziel sei „völlig pulverisiert“ worden. Von der Vandenberg-Luftwaffenbasis an der kalifornischen Küste aus war eine modifizierte Minuteman-Interkontinentalrakete gestartet, an Bord eine Gefechtskopf-Attrappe und ein Tarnballon. 20 Minuten später startete

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6900 km weiter westlich vom KwajaleinAtoll bei den Marshall-Inseln eine weitere mit einem hitzesuchenden Abfangflugkörper bestückte Minuteman-Rakete. Kurze Zeit später prallten beide Flugkörper über dem Pazifik mit einer Geschwindigkeit von 26 000 km pro Stunde aufeinander, die „angreifende“ Attrappe war zerstört.1 Was wie eine verblaßte Szene aus dem Drehbuch des Kalten Krieges erscheint, ereignete sich am 2. Oktober 1999, rund zehn Jahre nach dem Mauerfall. Tatsächlich gleicht die Darstellung fast wörtlich einem 15 Jahre zurückliegenden Ereignis. Am 12. Juni 1984 vollführten zwei Minuteman-Raketen ein vergleichbares Manöver. Es sei gelungen, „eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel zu treffen“, hieß es damals.2 Nur ein weiteres Mal, im Jahr 1991, gelang ein ähnliches Experiment, während 14 andere Versuche fehlschlugen. Eine recht bescheidene Ausbeute für ein Programm, das seit der spektakulären „Star Wars“-Rede Ronald Reagans im Jahr 1983 schon mehr als 55 Mrd. Dollar verschlang. Dennoch findet die Erprobung der nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD), die die Nachfolge der Strategic Defense Initiative (SDI) antritt, in den USA mehr politische Unterstützung als je zuvor. Kurz nach seinem Amtsantritt hatte Clinton 1993 eine Umorientierung des Programms von exotischen Weltraumund Strahlenwaffen hin zu bodengestützten Abwehrtechnologien vorgenommen und die SDI-Organisation in „Ballistic Missile Defense Organisation“ (BMDO) umbenannt, ohne jedoch wesentlich finanzielle Abstriche zu machen. (Der Haushalt der BMDO liegt im Mittel bei rund 3 Mrd. Dollar.) Im jährlichen Haushaltsclinch mit dem Kongreß sah sich Clinton zu manchem Zugeständnis gezwungen. Anfang Januar 1 „New York Times“, 4.10.1999. 2 Nachzulesen in Dieter Engels, Jürgen Scheffran und Ekkehard Sieker, Die Front im All, Köln 1984, S.62.

1999 gab er bekannt, daß fast 7 Mrd. Dollar mehr für die Entwicklung der NMD ausgegeben werden sollten. Senat und Repräsententenhaus beschlossen im März schließlich mit großer Mehrheit die Errichtung eines territorialen Raketenabwehrsystems, sobald dies „technologisch möglich“ ist. Eine Entscheidung über den Beginn der Stationierung in Norddakota oder Alaska im Jahr 2005 soll bereits im Juni 2000 fallen.

Bedrohung durch „Schurkenstaaten“ Vorgesehen sind landgestützte Flugkörper für die Abwehr in hohen und niedrigen Schichten der Atmosphäre, ergänzt durch Radar- und Infrarotsensoren am Boden und im Weltraum. Zusätzlich zur Landesverteidigung entsteht auch eine taktische Abwehr gegen Kurzstreckenraketen (Tactical Missile Defense, TMD), die weltweit in Krisenregionen zum Einsatz kommen soll, um die eigenen Truppen zu schützen. Als Grundlage dient eine Weiterentwicklung der Patriot-Rakete zur Punktverteidigung sowie die Neuentwicklung von Flächenverteidigungssystemen der Army (Theatre High Altitude Area Defense, THAAD) und der Navy (Navy Theater Wide).3 Als Motiv für NMD wird die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und Raketen von „Schurkenstaaten“ (Nordkorea, Iran, Irak) und Terroristen angegeben, die die USA zu enormen Anstrengungen im Rahmen ihres Konzepts der Counterproliferation veranlassen.4 Mitangefacht wurde die aktuelle Diskussion 1998 durch die RumsfeldKommission, die in ihrem Bericht zur Abschätzung des ballistic missile threat erklärte, daß Nordkorea und Iran schon in fünf Jahren „die Fähigkeit erwerben 3 Ein Überblick findet sich bei Götz Neuneck, „SDI light“ oder die Aushöhlung des ABM-Vertrages, in: „Wissenschaft und Frieden“, 2/1999, S.58-63. 4 Jürgen Scheffran, Paul Schäfer und Martin Kalinowski, Nichtverbreitung mit militärischen Mitteln? Nordkorea und die Strategie der CounterProliferation, in: „Blätter“, 7/1994, S.834-847.

Kommentare und Berichte könnten, die USA mit ballistischen Raketen zu treffen, falls sie die Entscheidung dazu träfen“.5 Die Einschränkung wurde in der hitzig geführten Debatte geflissentlich übersehen; die Schlußfolgerung, nur durch Raketenabwehr könne der unvermeidlichen Raketenbedrohung der USA begegnet werden, war durch nichts gedeckt. Wie zur Bestätigung testeten Nordkorea, Iran, Indien und Pakistan 1998 jeweils ihre ballistischen Raketen. Kaum beachtet wurde, daß es sich um Kurzund Mittelstreckenraketen handelte, die eher für den Einsatz in Regionalkonflikten bedeutsam sind als gegen die vielfach überlegene USA. Wollten Staaten oder Terroristen Massenvernichtungswaffen einsetzen, könnten sie diese auch in die USA einschmuggeln. Ein sicherer Schutz hiergegen ist kaum möglich. Dennoch puschen führende Republikaner, in deren Augen SDI den Kalten Krieg gewonnen hat, die Raketenabwehr. Diese hat höchste Priorität für die Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Dole, die das Bild einer Welt voller nuklearer Bedrohungen zeichnet. George Bush jr. stellt die beschleunigte Entwicklung von High-Tech-Waffen in Aussicht, darunter auch für ein Raketenabwehrsystem. Und Senator Jesse Helms stilisierte die Teststopp-Abstimmung im Senat zu einer Entscheidung zwischen Teststopp und Raketenabwehr hoch.6 Tatsächlich kam den Konservativen der erfolgreiche Abwehrtest wie gerufen, um der ihnen verhaßten Rüstungskontrolle den Garaus zu machen und ihrem eigenen unilateralistischen Dominanzkonzept zum Durchbruch zu verhelfen, das vom US Space Command auf die Vorherrschaft im Weltall ausgedehnt wird. Auch Präsident Clinton selbst scheint vom „Star Wars“-Fieber gepackt zu sein. Bei öffentlichen Auftritten betont er, „es sei unverantwortlich“, kein nationales Raketenabwehrsystem aufzubauen, 5 Vgl. http://www.fas.org/irp/threat/bm-threat. htm. 6 „Washington Post“, 28.9.1999, S.3; „Washington Post“, 24.9.1999 S.9; „Washington Post“, 20.9.1999, S.14.

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wenn es technisch funktionsfähig und verträglich mit existierenden Verträge gemacht werden könne. Zugleich ist Clintons Sicherheitsberater Samuel R. Berger jedoch bemüht, sich von den Isolationisten abzugrenzen: „für uns ist Raketenabwehr Teil einer soliden nationalen Sicherheitsstrategie; für sie ist Raketenabwehr die Strategie.“7 Wieder melden sich in der Debatte Wissenschaftler und Rüstungskontrollexperten zu Wort, die zum einen die technische Machbarkeit aufgrund einfacher Gegenmaßnahmen in Frage stellen, andererseits die Folgen für Rüstungskontrolle und Stabilität herausarbeiten.8 Gelegentlich äußern sich auch moderate Befürworter zu Wort, die wie der Präsident des Henry L. Stimson Center in Washington, Michael Krepon, die Raketenabwehr für eine „nicht so schlechte Idee“ halten. Um Kritik vorzubeugen, erklärt die Administration, das Abwehrsystem stehe in Übereinstimmung mit dem ABM-Vertrag von 1972, der den USA und Rußland die Entwicklung, Erprobung und Stationierung einer landesweiten Raketenabwehr untersagt, mit der Ausnahme eines Systems von 100 Abfangflugkörpern an einem Ort. Die technische Entwicklung widerspricht jedoch dem Wortlaut und dem Geiste dieses Abkommens. Die fortschreitende Aushöhlung des ABM-Vertrags bringt auch die russische Regierung auf den Plan, die wie schon die sowjetischen Vorgängerregierungen wenig begeistert von den Vorhaben der USA ist, da sie ihre teuer erkaufte nukleare Abschreckungsfähigkeit zur Makulatur machen könnte. Deswegen widersetzt sich das politische Establishment in Moskau derzeit noch den Lockungen Washingtons, eine „Anpassung“ des ABM-Vertrages zu vereinbaren oder gar bei der Raketenabwehr zusammenzuarbeiten. Von einigen Exper7 „Washington Post“, 31.10.1999, S.B3. 8 George N. Lewis, Theodore A. Postol und John Pike, Warum Raketenabwehr nicht funktioniert, „Spektrum der Wissenschaft“, 7/1999, S.66-73. 9 „Washington Post“, 4.11.1999, S.25.

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So besinnt sich Moskau, wie schon im Kaukasus, auf seine eigene militärische Stärke und fährt eine harte Linie. Genau einen Monat nach dem Abwehrtest der USA im Pazifik gab der russische General Wladimir Jakowlew, Befehlshaber der russischen strategischen Raketenstreitkräfte, den Test eines Abfangflugkörpers auf dem Testgelände von Sary-Shagan in Kasachstan bekannt. Die getestete Rakete soll zu dem Moskauer Abwehrsystem A-135 gehören, das der ABM-Vertrag zuläßt.9 Diesen symbolischen Warnschuß an die Adresse Washingtons begleiteten Warnungen Generalmajor Wladimir Dworkins, mit der Beseitigung des ABMVertrages werde das gesamte Vertragssystem zwischen beiden Staaten „einstürzen“. Die Raketenbedrohung durch Nordkorea, Iran oder Irak sei „grob übertrieben“. Rußland werde die erforderlichen Gegenmaßnahmen gegen eine Raketenabwehr ergreifen: mehr Kernwaffen, die Beibehaltung der durch START II gebannten Mehrfachgefechtsköpfe, mit denen auch die neue Topol-M-Rakete ausgestattet werden könne, sowie erschwingliche Gegenmaßnahmen (z. B.

Attrappen), um die Raketenabwehr zu durchdringen zu können. Mit dem Mute der Verzweiflung reagiert China, das mit weit weniger Kernwaffen bemüht ist, im Club der Mächtigen mitzumischen. Nicht zuletzt wegen der Bombardierung der chinesischen Botschaft im Kosovo-Krieg ist die Furcht groß, amerikanischer Willkür wehrlos ausgeliefert zu sein, wenn die nukleare Trumpfkarte nicht mehr sticht. Wie andere chinesische Offizielle vor ihm, warnte Anfang November Sha Zukang, Rüstungskontrolldirektor des chinesischen Außenministeriums, die Raketenabwehrkampagne der USA könne zu einem „nuklearen Wettrüsten führen und die strategische Balance in Asien und dem Rest der Welt gefährlich verändern“. Eine Abkehr vom ABM-Vertrag, wie auch vom Teststoppvertrag, habe „desaströse Konsequenzen“ und werde den gesamten Abrüstungsprozeß zum Stillstand bringen.10 Besonders besorgt ist China über die Zusammenarbeit zwischen Japan und den USA in der Raketenabwehr, die als Teil einer Einkreisungsstrategie angesehen wird. Sollte auch Taiwan in die Raketenabwehrplanungen der USA einbezogen werden, wie in dem von Helms eingebrachten Taiwan Security Enhancement Act vorgesehen, droht China mit dem Äußersten. Für die USA dürfte es kontraproduktiv sein, wenn China in Reaktion auf NMD seine Kernwaffenarsenale erhöht, mehr Waffen an andere Entwicklungsländer verkauft oder ein engeres Sicherheitsbündnis mit Rußland eingeht. Schließlich begegnen auch europäische Regierungen dem Treiben der Amerikaner mit Unverständnis oder Skepsis. Wie die „Washington Post“ am 5. November berichtete, seien die Verbündeten alarmiert, das Rüstungsvorhaben könne „die politischen und militärischen Verbindungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa schwächen und ein gefährliches Wettrüsten mit Rußland und China hervorrufen“.11 Es

10 „Washington Post“, 11.11.1999, S.1.

11 „Washington Post“, 6.11.1999, S.1.

ten werden allerdings mögliche Zugeständnisse in Aussicht gestellt, wenn dafür ein START III-Vertrag ausgehandelt würde, der die Disparitäten von START II überwänden. In diese Richtung weist die gemeinsame Stellungnahme Clintons und Jelzins vom 20. Juni, in der sie in Anknüpfung an die Helsinki-Beschlüsse vom März 1997 weitere Reduzierungen strategischer Offensivwaffen anpeilen und die fundamentale Bedeutung des ABM-Vertrags als „Eckpfeiler der strategischen Stabilität“ anerkennen. Die angekündigten Diskussionen über den Zusammenhang von START III und ABM-Vertrag wurden jedoch durch die Abwehrversuche der USA erst einmal konterkariert.

Symbolischer Warnschuß

Kommentare und Berichte werde befürchtet, daß die USA ihre globale militärische und ökonomische Macht ausnutzen könnten, um „vor den Herausforderungen der Zukunft gegenüber dem Rest der Welt immun zu sein“. Dann könnten sie ihren Verpflichtungen unter der NATO-Doktrin nicht mehr nachkommen und eher bereit sein, auf wahrgenommene Bedrohungen mit Nuklearschlägen zu reagieren. Probleme sieht auch Bundesaußenminister Fischer: „Es gibt keinen Zweifel, daß dies zu verschiedenen Sicherheitsstandards in der NATO-Allianz führen wird.“ Ein Abwehrsystem für die USA werde europäische Städte „einem größeren Risiko gegenüber einem Raketenangriff aussetzen“. Der französische Präsident Jacques Chirac beklagt die hinter Raketenabwehr und Teststopp-Debakel stehenden isolationistischen Tendenzen der USA, und selbst dem britischen Premierminister Tony Blair werden „ernste Vorbehalte“ gegenüber den US-Plänen nachgesagt. Weil die USA auf die britische Radaranlage von Fylingdales angewiesen sind, ist die Unterstützung Großbritanniens von essentieller Bedeutung. Anklänge an die SDI-Debatte vor 15 Jahren sind nicht zu übersehen. In Erinnerung zu behalten ist jedoch auch, daß 1985 einige der europäischen NATOPartner auf SDI-Kurs einschwenkten. Dabei war das Argument der politischmilitärischen wie auch ökonomischtechnologischen Abkopplung von den USA der entscheidende Hebel, um (West-)Europa unter das Raketenabwehrdach zu zwängen. Um die Bedenken der Allierten, die Raketenabwehr könne einen „Pfahl durch das Herz der Allianz“ treiben, zu entkräften, sicherten die USA damals zu, ein Raketenabwehrsystem nur zu stationieren, wenn vier Kriterien erfüllt seien: die Technik müsse funktionieren und erprobt, der Kostenaufwand vertretbar, die Bedrohung signifikant sein und das System nachweislich die Sicherheit verbessern. Bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen europäischer Eigenständigkeit und Abhängigkeit von den USA

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wird auch die europäische Rüstungsindustrie ein gewichtiges Wort mitreden, um bei dem erwarteten Raketenabwehrgeschäft nicht zu kurz zu kommen. Ungebrochen durch das Ende des Kalten Krieges wird in der NATO an einer „Erweiterten Luftverteidung“ gearbeitet, die auch Raketenabwehr einschließt. Daß Raketenabwehr in einer von Unsicherheit geprägten Welt ein Exportrenner sein kann, zeigt die Patriot-Rakete, die im Golfkrieg Probleme hatte, die primitive Scud-Rakete überhaupt zu treffen, aber aufgrund ihrer Starrolle in den Medien Begehrlichkeiten weckte. Israel möchte sich jedoch nicht noch einmal auf die Patriot verlassen und entwickelt daher ein eigenes ArrowAbwehrsystem. Schließlich kann der russische Abwehrtest vom 2. November auch als eine Demonstration der russischen Rüstungsindustrie angesehen werden, den erhofften Rüstungsmarkt nicht kampflos preisgeben zu wollen. Wen wundert es da, daß auch aufstrebende Entwicklungsländer, dem Vorbild der Großen folgend, sich nicht an die ihnen aufgedrängte Pflicht zur Nichtverbreitung halten wollen, selbst wenn sie dadurch erst recht zum Ziel von Interventionsgelüsten werden. Der Ende der 80er Jahre so hoffnungsvoll beschrittene Weg der Abrüstung scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. Ermutigend sind derzeit nur die Aktivitäten einiger Staaten (New Agenda Coalition) und Nichtregierungsorganisationen (Abolition 2000) zur Abschaffung aller Atomwaffen, die in UN-Resolutionen regelmäßig Zweidrittel-Mehrheiten erhalten. Aufhorchen ließ auch eine Resolution gegen ein Wettrüsten im All, der am 1. November alle Staaten zustimmten, bei Enthaltungen der USA und Israels. Wenn Europa sich nicht auf ein kostspieliges Raketenwettrüsten einlassen will, sollte es als Alternative zur Raketenabwehr Initiativen für die kontrollierte Nichtverbreitung und Abrüstung ballistischer Raketen starten. Jürgen Scheffran