kriechen man bereit sein mag, wenn man es nicht loslassen will

Inhaltsverzeichnis kriechen man bereit sein mag, wenn man es nicht loslassen will. Es war kurz nach neun Uhr am Abend, als ich Mary anrief und ihr ...
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Inhaltsverzeichnis

kriechen man bereit sein mag, wenn man es nicht loslassen will.

Es war kurz nach neun Uhr am Abend, als ich Mary anrief und ihr sagte, ich würde den Fall übernehmen. Sie begann zu weinen. Ich hörte ihr ein paar Minuten zu. Ihr Schluchzen wurde nur von ihren Dankesworten unterbrochen. Dann erklärte ich, dass ich am nächsten Morgen bei ihr vorbeikommen würde. Als ich den Hörer auflegte, schaute ich in den Flur, in die Eingeweide meines Hauses und weiter in die Dunkelheit unseres Schlafzimmers; unberührt, seit Derryn gestorben war. Ihre Bücher lagen noch immer unter dem Fenster aufgestapelt, die Umschläge zerknittert, die Seiten an den Ecken geknickt, wenn sie gerade kein Lesezeichen zur Hand gehabt hatte. Auf der Fensterbank über den Büchern stand ihre Graslilie, deren lange, dünne Arme nach den Oberkanten der Romane auf dem höchsten Regalbrett griffen. Seit sie fort ist, habe ich keine einzige Nacht in diesem Raum verbracht. Ich gehe hindurch, um zu duschen; ich gehe kurz hinein, um ihre Pflanze zu gießen. Doch ich schlafe auf dem Sofa im Wohnzimmer, und immer bei laufendem Fernseher. Sein Klang tröstet mich. Die Menschen, die Programme, die Vertrautheit füllen ein wenig von dem Raum aus, den Derryn früher eingenommen hat.

4 Ich erreichte Marys Haus, ein riesiges, auf Tudor-Stil getrimmtes Cottage, das eine Stunde westlich von London lag, gegen zehn Uhr am nächsten Morgen: ein Vorstadt-Idyll wie gemalt, ganz am Ende einer üppig begrünten Sackgasse. Fenster mit Läden, eine breite, teakholzfarbene Veranda und Blumenkörbe, die sanft im Wind schaukelten. Ich trat an die Tür und klingelte. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und Marys Gesicht zeigte sich. In ihren Augen blitzte Wiedererkennen auf. Als sie die Tür öffnete, sah ich ihren Mann mir direkt gegenüber auf der Treppe sitzen. »Hallo, David.« »Hi, Mary.« Sie trat zurück, sodass ich an ihr vorbei ins Haus treten konnte. Ihr Mann bewegte sich nicht. Er schaute hinunter auf eine Spielkarte, die er in den Händen hin und her drehte. Bild nach oben. Bild nach unten. »Möchten Sie Kaffee oder Tee?« »Kaffee, danke.« Sie nickte. »Malcolm, das ist David.« Malcolm rührte sich nicht. »Malcolm.« Nichts.

»Malcolm.« Er zuckte zusammen, als wäre ihm ein elektrischer Schlag durch den Körper gefahren, und blickte auf. Nicht um festzustellen, wer ihn gerufen hatte, sondern woher der Lärm kam. Seinen Namen erkannte er offensichtlich nicht wieder. »Komm her, Malcolm«, sagte Mary und winkte ihn zu uns. Malcolm stand auf und schlurfte auf uns zu. Er wirkte abgehärmt und erschöpft, ohne jeden Anflug von

Lebendigkeit. Sein schwarzes Haar begann zu ergrauen, seine Gesichtshaut hing schlaff herunter. Wahrscheinlich war er nur wenige Jahre älter als Mary, doch der Altersunterschied schien wesentlich größer zu sein. Er besaß die Statur eines Rugbyspielers; vielleicht war er früher ein kräftiger Mann gewesen. Doch jetzt sickerte das Leben aus ihm heraus und nahm dabei seine Körpermasse mit sich. »Dieser Mann heißt David.« Ich streckte den Arm aus und musste nach seiner herabhängenden Hand greifen, um sie zu schütteln. Er sah aus, als wüsste er nicht, was er von dem halten sollte, was ich mit ihm machte. Als ich losließ, fiel seine Hand schlaff herab, und er wandte sich dem Fernseher zu. Er wirkte sediert. Ich folgte ihm und nahm ihm gegenüber Platz. Statt mir zu folgen, wie ich es erwartet hatte, wandte Mary sich zur Küche um und verschwand dort. Also musterte ich Malcolm Towne. Er starrte auf den Bildschirm, dessen Farben ihm entgegenflimmerten. »Sehen Sie gerne fern?«, fragte ich. Er sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an, als hätte er die Frage verstanden, könnte sie aber nicht beantworten. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Bilder. Im nächsten Moment kicherte er in sich hinein, beinahe schuldbewusst. Ich sah, wie er die Lippen bewegte. Dann erschien Mary mit einem Tablett. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Hier ist Zucker und etwas Milch.« Sie nahm einen Muffin, legte ihn auf einen kleinen Teller und reichte ihn ihrem Mann. »Iss das, Malc«, sagte sie und bewegte ihre Hand zum Mund. Er nahm ihr den Teller ab, stellte ihn auf seinen Schoß und betrachtete ihn. »Ich war mir nicht sicher, wie Sie es aufnehmen würden«, sagte sie.

»Schon in Ordnung.« »Es gibt Blaubeermuffins, und dort drüben finden Sie noch welche mit Himbeeren. Bedienen Sie sich, womit Sie wollen. Malcolm isst sie lieber mit Himbeeren, stimmt’s, Malc?« Ich sah, wie er ausdruckslos auf seinen Teller starrte. Man weiß nicht mehr, welchen Muffin man am liebsten mag, wenn man sich nicht einmal an seinen Namen erinnert. Mary betrachtete mich, als hätte sie meine Gedanken erraten, doch es schien ihr nichts auszumachen. »Wann sind bei Malcolm die ersten Anzeichen von Alzheimer aufgetreten?« Sie zuckte die Schultern. »Vor ungefähr zwei oder drei Jahren hat es angefangen, schlimm zu werden; aber dass etwas nicht in Ordnung war, haben wir wahrscheinlich schon zu der Zeit bemerkt, als Alex verschwand. Damals ging es einfach um irgendwelche Kleinigkeiten, so wie Sie oder ich eben auch Dinge vergessen. Nur dass sie ihm nachher nicht wieder einfielen. Sie waren einfach weg. Dann betraf es langsam auch größere Sachen, zum Beispiel Namen oder Termine, und schließlich fing er an, mich und Alex zu vergessen.« »Standen Alex und Malcolm sich nahe?« »Oh, auf jeden Fall. Immer.« Ich nickte und brach ein Stückchen Blaubeermuffin ab. »Nun, ich werde einige Dinge von Ihnen brauchen«, erklärte ich. »Zuallererst Fotos, die Sie auftreiben können, nur eine Auswahl natürlich. Dann brauche ich die Adressen seiner Freunde, seiner Arbeitsstelle, seiner Freundin, falls er eine hatte.« Ich deutete mit dem Kopf nach oben. »Außerdem würde ich mich gern kurz in seinem Zimmer umsehen, falls es Ihnen nichts ausmacht. Ich denke, das wäre hilfreich.« Ich spürte, wie Malcolm Towne mich anstarrte. Als ich mich zu ihm umdrehte, war sein Kopf leicht vorgebeugt, wodurch seine dunklen Augen hinter den Brauen verborgen lagen. Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel.

»Hör auf zu starren, Malc«, sagte Mary. Er wandte sich wieder dem Fernseher zu. »Lebte Alex in einer eigenen Wohnung, als er verschwand?« Sie nickte. »Ja.« »Wo?« »In Bristol. Dort war er zur Universität gegangen.« »Und nach der Uni?« »Er hatte einen Job in der Datenerfassung.« Ich nickte. »So eine Art Computer-Programmierer?« »Eigentlich nicht«, erwiderte sie leise. Eine Spur von Enttäuschung legte sich in ihren Blick. »Was ist los?« Sie zuckte die Schultern. »Nach seinem Abschluss bat ich ihn, wieder nach Hause zu kommen. Der Job, den er hatte, war schrecklich. Den ganzen Tag legten sie ihm Akten auf den Tisch, die er dann in den Computer übertragen musste, jeden Tag dasselbe. Und die Bezahlung war furchtbar schlecht. Er hätte eine bessere Arbeit verdient.« »Aber er wollte nicht zurückkommen?« »Er hätte promovieren können. In Englisch hat er mit Auszeichnung bestanden, sodass er einen Spitzenjob in London mit dem fünffachen Gehalt bekommen hätte. Wäre er zurückgekommen und hätte hier gewohnt, dann hätte er die Miete gespart und ein besseres Sprungbrett für die Jobsuche gehabt. Er hätte seine Tage mit dem Ausfüllen von Bewerbungsformularen verbringen und Gespräche mit Firmen führen können, die ihn als Mitarbeiter verdienten.« »Und trotzdem wollte er nicht zurückkommen?« »Nein«, entgegnete sie. »Er wollte dort bleiben.« »Warum?« »Ich vermute, er hatte sich in Bristol ein eigenes Leben aufgebaut.«