Kreatives Schreiben an Hochschulen

Kreatives Schreiben an Hochschulen Berichte, Funktionen, Perspektiven H erausgegeben von H an s A rn o ld R au Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 K...
Author: Oswalda Böhme
1 downloads 0 Views 245KB Size
Kreatives Schreiben an Hochschulen Berichte, Funktionen, Perspektiven

H erausgegeben von H an s A rn o ld R au

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Kreatives Schreiben an Hochschulen : Berichte, Funktionen, Perspektiven / hrsg. von Hans Arnold Rau. —Tübingen : Niemeyer, 1988. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 42) NE: Rau, Hans Arnold [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-22042-2

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte Vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Susanne Mang, Tübingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Tübingen 3

Schreibsem inare, wie sie in H ochschulen heute im m er häufiger angeboten werden, gelten in der Regel als A lternative zum traditionellen Studienbetrieb: Statt des logischen D enkens, der Bem ühung um O bjek­ tivität, der rezeptiven W issensaneignung sollen das G efühl, der subjek­ tive A usdruck, das produktive Selberm achen im Vordergrund stehen. Mit den folgenden Hinweisen möchte ich zeigen, in welcher Weise die kreativen V erfahren auch literaturw issenschaftliche Erkenntnisse zu verm itteln vermögen, so daß nicht von einem notwendigen W ider­ spruch zwischen der Freude am Spielerischen, der Entfaltung von Phantasie und der K undgabe persönlicher Erlebnisse einerseits und der theoretischen Reflexion und der Analyse und Interpretation von Tex­ ten andererseits ausgegangen werden muß. Ich gehe so vor, daß ich die verschiedenen M öglichkeiten, wie krea­ tives Schreiben für literaturw issenschaftliche Einsichten fruchtbar ge­ macht werden kann, der R eihe nach skizziere. Dabei verfahre ich ty­ pisierend, indem ich die m ethodischen Verfahren, die in der Sem inar­ arbeit meist in gem ischter Form auftreten, auf ihre G rundm uster zu­ rückführe. D am it hoffe ich, K larheit in die Vielfalt bringen zu können. Grundlage m einer A usführungen ist m eine eigene Lehrerfahrung in der Hochschule, die natürlich von m ancherlei A nregungen aus der ein­ schlägigen Fachliteratur beeinflußt ist. Eine wichtige Rolle spielen die kreativen V erfahren heute im D eutschunterricht der Schulen, so daß insbesondere die neuere deutschdidaktische L iteratur eine Fundgrube für m ethodische Vorschläge ist. So ist auch m eine Arbei in Hochschulsem inaren stark durch die Entwicklungen, die in der Deutschdi­ daktik stattgefunden haben, angeregt worden. Die V erfahren, die ich im folgenden darstelle, schließen Vorstufen des eigentlichen kreativen Schreibens ein. K reativität m uß nicht den schöpferischen G enius voraussetzen, sondern beginnt eher beim spielerischen Experim ent. M it solchen M öglichkeiten setze ich hier ein, und m an kann die Abfolge, in der ich die V erfahren nenne und cha­ rakterisiere, zugleich als ein Schreibcurriculum verstehen, m it dem man Studierende, denen der Ansatz noch frem d ist, zum freien krea­ tiven Schreiben h in fü h ren kann.

1. Operative Verfahren Operative V erfahren sind vor allem in der Sprachwissenschaft und -didaktik entwickelt worden. M it sog. Proben wie Klang-, Verschiebe-, Ersatz-, U m form ungsprobe hat z. B. H ans G linz ein Instrum entarium geschaffen, m it dem linguistische K ategorien entdeckt werden können. In m odifizierter und erw eiterter Form können solche O perationen auch bei der Analyse von Texten eingesetzt werden. Dabei wird der fertige Text sozusagen in den Zustand des G em acht-W erdens zurück­ versetzt und der Produktionsprozeß vom Leser nachvollzogen. Als sol­ che operativen V erfahren kom m en z. B. in Frage: - Bei einem Text werden einzelne W örter weggelassen; die Sem inarteil­ nehm er setzen aus einem W ortangebot, das bereitgestellt wird, W örter ihrer W ahl in die Lücken ein. M it diesem Vorgehen wird die A uf­ m erksam keit für den Bedeutungshorizont einzelner W örter geschärft, und je nach Text werden auch stilistische Aspekte ins Bewußtsein ge­ hoben (wenn z. B. eine Assonanz oder der Rhythm us die W ortwahl bestimmen). - Ein Text oder Textteil soll in veränderter Erzählperspektive umge­ schrieben (z. B. Ich-Form statt Er-Form ) oder in ein anderes Tem pus gesetzt werden. D urch Vergleich der Textfassungen kann dann die Lei­ stung der Erzählperspektive bzw. der Tem puswahl erkannt und erörtert werden. - Ein Text soll in eine andere Textsorte um gew andelt werden, z. B. eine Kurzgeschichte in eine N achricht. D adurch wird m an auf Aspekte der T extstruktur und der textsortenspezifischen W irkung aufm erksam . Bei solchen operativen V erfahren ist die Phantasie noch recht stark gebunden, weil nach Regeln oder festen Anweisungen geschrieben wird. Die geplante G ew innung bestim m ter Einsichten steht deutlich im Vordergrund. Deshalb findet m an solche V erfahren zuweilen in ein­ führenden literaturw issenschaftlichen Publikationen: Die »generativen Übungen« z. B., die Jürgen Link in seinen »Literaturw issenschaftlichen G rundbegriffen« anbietet, haben zu einem großen Teil operativen C harakter; in verw andter Weise setzt Klaus W eim ar in seiner »En­ zyklopädie der Literaturw issenschaft« (vor allem im Teil »Poetik«, die er als »experim entelle Poetik« oder »M itm achkabinett« bezeichnet) operative V erfahren ein.

Kreatives Schreiben und literaturwiss. E rkenntnis 2. A n tiz ip ie r e n d e V e rfa h re n

G rößere G estalungsfreiheiten eröffnen die antizipierenden V erfahren: Texte oder Textteile werden von den Sem inarteilnehm ern geschrieben, bevor der entsprechende originale Text oder A bschnitt bekanntgegeben wird. Die einfachste Form dieses V erfahrens besteht darin, unvollstän­ dig ausgegebene Texte von den Sem inarteilnehm ern w eiterschreiben zu lassen. Dabei kann es z. B. um die letzte Zeile eines Gedichtes, den Schluß einer Kurzgeschichte oder auch den A nfang eines Folgekapitels in einem R om an gehen. Ziel ist nicht unbedingt, dem O riginaltext möglichst nahe zu kom m en - das würde rasch zu einem Ratespiel aus­ arten. G erade auch abw eichende Eigengestaltungen können für die In­ terpretation fruchtbar werden, weil durch sie z. B. die historische Dis­ tanz zwischen heutiger Leseerw artung und originalem Text sichtbar wird. Eine andere V ariante des V erfahrens besteht darin, daß zunächst nur eine Inhaltsangabe des zu behandelnden Textes zur Verfügung gestellt wird und die T eilnehm er n un versuchen, auf dieser G rundlage eine Textfassung zu konzipieren. Einen spielerischen C harakter gewinnt dieses Vorgehen, wenn bereits die Inhaltsangaben von den Teilneh­ mern selbst erstellt werden (wobei m ehrere Texte zur Verfügung stehen m üssen); die Inhaltsangaben w erden d ann ausgetauscht, und jeder ent­ wirft zu einer Inhaltsangabe, deren Ausgangstext er nicht kennt, eine Textfassung. - Es versteht sich, daß dieses antizipierende Schreiben nur bei kürzeren Texten angewendet werden kann (z. B. bei Schw ankerzäh­ lungen, Kurzgeschichten u. ä.). Bei reim losen G edichten bietet sich als antizipierendes Verfahren die Erstellung der Zeilengliederung an. Dazu wird der G edichttext ohne Zeilengliederung (also wie Prosa geschrieben) ausgegeben und von den Sem inarteilnehm ern nun um gebrochen. M an lernt durch die­ ses Verfahren viel über die F unktion der Zeilengliederung: interessante Erfahrungen habe ich z. B. m it dem G edicht »Einen jener klassischen« von Rolf D ieter B rinkm ann1 gemacht: Einen jen e r klassischen schwarzen Tangos in Köln, Ende des M onats August, da der Som m er schon ganz verstaubt ist, kurz nach Laden Schluß aus der offenen T ür einer

1 Rolf D ieter B rinkm ann: W estwärts 1 & 2. R einbek bei H am burg: Rowohlt 1975, S. 25.

dunklen W irtschaft, die einem G riechen gehört, hören, ist beinahe ein W under: für einen M om ent eine Ü berraschung, für einen M om ent A ufatm en, für einen M om ent eine Pause in dieser Straße, die niem and liebt und atemlos macht, beim H indurchgehen. Ich schrieb das schnell auf, bevor der M om ent in der verfluchten dunstigen A bgestorbenheit Kölns wieder erlosch.

W er m it m oderner Alltagslyrik nicht vertraut ist, wird kaum auf eine G liederung kom m en, die der Brinkm anns nahesteht. Dessen extrem e Verwendung des Zeilensprungs kontrastiert in der Regel m it den selbst erstellten Vorschlägen, die in ihrer Weise durchaus ebenfalls reizvoll und überzeugend sein können. Ein G espräch über die F unktion und W irkung verschiedener Zeilengestaltungen ist jedenfalls unm ittelbar gegeben.

3. N achahm ende V erfahren N achahm ende V erfahren haben eine lange T radition: Bis ins 19. Jahr­ hundert hinein lernte m an bei den Professoren für Poetik und R hetorik nicht n u r das Analysieren, sondern auch das Verfassen von Texten nach M ustern. U nter dem Einfluß der G enieästhetik ist jedoch seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das Schreiben literarischer Texte zu­ nehm end vom w issenschaftlichen Um gang m it ihnen abgekoppelt und dam it die U nterw eisung im D ichten aus den H ochschulen (zum indest Europas - in den USA sind die V erhältnisse bekanntlich anders) hin­ ausgedrängt worden. Erst heute besinnt m an sich wieder auf die da­ durch verschütteten Traditionen. Allerdings erheben wir nicht m ehr den A nspruch, in unseren U niversitäten Poeten heranzubilden; das nachahm ende V erfahren wird eher als m ethodischer Zugang zum ana­ lytischen Umgang mit Texten verstanden, weil es zu einer besonders genauen und intensiven Beachtung von Stil und Struktur der Vorlagen anhält. N un eignen sich allerdings keineswegs alle Texte für das nach­ ahm ende Verfahren. G erade bei besonders eigenständigen, individuell geprägten Texten ist es problem atisch, nachahm end zu verfahren; denn was die Q ualität einer solchen Vorlage ausm acht, ihre O riginalität und A uthentizität, kann in der N achahm ung gerade per definitionem nicht eingeholt werden. Deshalb eignen sich jene Texte besser, bei denen ein

überindividuelles M uster deutlich greifbar ist. Das ist z. B. bei kon­ kreter Poesie der Fall, deren A utoren ja auch program m atisch von der G enieästhetik Abschied genom m en haben und die rationale M achbar­ keit von dichterischen P rodukten proklam ieren. Eine besonders gelun­ gene A nw endung des nachahm enden V erfahrens habe ich in einem Seminar erlebt, in dem eine studentische Arbeitsgruppe den Dadaismus vorstellen sollte. Statt nun über D ada theoretisch zu referieren, funk­ tionierte die G ruppe ohne jede V orwarnung das Sem inar in ein dadaistisches H appening um . So erlebten wir - fast bis zum körperlichen Unbehagen, aber auch als befreiende Belustigung - an uns selber die irritierende, norm endurchbrechende W irkung des Dada, inbegriffen die V erunsicherung, der m an sich ausgesetzt sieht, wenn auf ernstge­ meinte Fragen plötzlich n u r noch m it dadaistischem U nsinn reagiert wird... Oft gleitet die N achahm ung in die Parodie über. W er den Stil eines Vorbildes in gekonnter Weise trifft, erzielt rasch eine belustigende W ir­ kung. Die eigentliche Parodie h at darüber hinaus eine gezielt demas­ kierende Funktion. Sie überspitzt die Stileigentüm lichkeiten einer Vor­ lage und gibt sie so dem G espött preis. Ebenso wird eine parodistische Wirkung erzielt, wenn m an der N achahm ung einen banalen oder sogar grotesken Inhalt unterlegt, so daß Stilhaltung und Inhalt auseinander­ klaffen. Leicht fallen Parodien bei trivialen, kitschigen Texten, weil bei ihnen die Stilm uster und die inhaltlichen Stereotypen penetrant in Er­ scheinung treten und ein uneingelöster ästhetischer A nspruch erhoben wird. Das parodierende V erfahren ist bei der Beschäftigung m it solchen Texten besonders angebracht, weil sich die dem askierende W irkung der Parodie m it der kritischen Intention deckt, die m an in der Regel bei der Behandlung von T rivialliteratur verfolgt. 4. Verfremdende V erfahren Man kann schon die Parodie als ein verfrem dendes V erfahren be­ zeichnen, sofern nicht n u r die Vorlage nachgeahm t, sondern durch Übertreibung der Stileigentüm lichkeiten oder durch U nterlegung eines unpassenden Inhalts eine kritische und zugleich komische D istanz zum Ausgangstext geschaffen wird. Es gibt aber viele weitere M öglichkeiten der Verfremdung. Die wichtigste M ethode ist die M ontage: In einen Text werden Sätze oder auch n u r einzelne F orm ulierungen aus anderen Texten (oder auch selbst form ulierte Sätze) einm ontiert. So kann man z. B. in ein traditionelles N aturgedicht ökologische Aussagen einmontieren. Bewußtm achen von historischer D istanz und Ideologiekri­ tik sind die H auptintentionen, die m it solcher Verfrem dung verfolgt werden können.

G rößerer Einfallsreichtum ist gefordert, wenn m an in einen Erzähl­ text sich selbst hineindichtet und darstellt, wie m an selbst in der fikti­ ven Welt gehandelt hätte. Im übrigen kann m an V erfrem dungen im Rahm en anderer V erfahren einsetzen, z. B. w enn m an beim W eiter­ schreiben eines unvollständig ausgegebenen Textes die Fiktion durch­ bricht und den A utor kritisch-ironisch them atisiert oder auf aktuelle G egebenheiten der Schreibgruppe Bezug nim m t.

5. Erweiterndes Schreiben Stärker herausgefordert ist die eigene G estaltungsfähigkeit bei Schreib­ aufgaben, die zwar an Vorlagen anknüpfen, aber zum selbständigen W eiterschreiben m it dem Ziel auffordern, den Ausgangstext weiter zu entfalten. Die einfachste V ariante besteht darin, bei Textstellen, die sich dafür anbieten, einen inneren Monolog, ein Tagebuch oder einen Brief einer Figur zu phantasieren und niederzuschreiben. Besonders eindrückliche Ergebnisse zeitigte das erw eiternde V erfahren, als wir in einem Sem inar die Kurzgeschichte »Flörli Ris« von K urt M arti2 zum Ausgangspunkt fürs Schreiben m achten. Die K urzgeschichte erzählt von einer B uchhalterin, die in einer W internacht in den Tod geht. W ir stellten uns die Aufgabe, über Flörli Ris aus der Sicht von Personen, die sie gekannt haben, nachzudenken (etwa als W iedergabe von G edanken, die der betreffenden Person w ährend der A bdankung durch den Kopf gehen). So entstand ein phantasiertes Bild vonFlörli Ris aus der Sicht von A rbeitskollegen und N achbarn - und auch ein langjähriger Freund, dessen H eiratsangebot Flörli Ris aus Rücksicht auf ihre M utter abgelehnt hatte, tauchte in unseren Texten auf. Zwar führt die phanta­ sierende A useinandersetzung bei solchen A rrangem ents z. T. weit über den Ausgangstext hinaus (von einem F reund ist in M artis Text z. B. überhaupt nicht die Rede), aber dennoch halten sie zur genauen Ver­ gegenwärtigung seines Inhalts an. Im m er wieder werden in den selbst­ geschriebenen Texten unscheinbare D etails der Vorlage reich entfaltet und dam it in den V ordergrund der A ufm erksam keit gerückt. Insgesamt liegt der Ertrag bei solchen Schreibaufgaben weniger auf der form alen als auf der inhaltlichen Ebene: sie vertiefen die A useinandersetzung mit der Botschaft des Textes. M it seiner Kurzgeschichte bringt K urt M arti in fragender Z urückhaltung dem Leser einen M enschen näher, der im alltäglichen gesellschaftlichen Leben von den m eisten überse­ hen wird - durch das Schreibarrangem ent w ird dieses Anliegen M artis weitergeführt. 2 K urt M arti: Bürgerliche Geschichten. D arm stadt und Neuwied: Luchterhand 1981, S. 64-69.

Ein kom plizierteres A rrangem ent entfaltenden Schreibens spielten wir - in einem anderen Sem inar - in bezug auf Büchners »Lenz« durch. Ausgangspunkt w aren zunächst O berlins A ufzeichnungen über Lenz, also Büchners Vorlage. W ir vollzogen im Sinne antizipierenden Schreibens in verkürzter Form das Vorgehen Büchners nach, indem wir einen Ausschnitt aus O berlins Tagebuch selbst erzählend entfalte­ ten. Ausgewählt hatte ich die folgende Stelle: Ich erfuhr ferner, daß H err L..., nach vorhergegangenem eintägigen Fasten, Bestreichung des G esichts m it Asche, Begehrung eines alten Sacks, den 3. H ornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das Friedericke hieß, aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen.

An das Vorlesen der so entstandenen Texte und die darauffolgende Lektüre der Büchnerschen Fassung schloß sich eine A rt Schreibspiel an: In A nlehnung an O berlins Form ulierung dachte sich jeder Teilneh­ mer eine Situation aus, die er m it den W orten »Ich erfuhr ferner, daß ...« als Einleitung knapp beschrieb. Es kam dabei zu K urztexten wie Ich erfuhr ferner, daß R. B. gegen N achm ittag das Heim verließ und sich auf den Weg zum B ahnhof machte. Unterwegs kaufte er in der A potheke eine Schachtel Schlaftabletten. D er Erzieher E. griff ihn um 2.00 nachts in H. auf. Ich erfuhr ferner, daß er seinen Entschluß, nach A ustralien auszuw andern, nach langem Zögern und Abwägen doch in die Tat umgesetzt hat.

Die Blätter m it diesen Situationscharakterisierungen w urden ausge­ tauscht; jeder schilderte nun das G eschehen, das er auf dem ihm zuge­ kom m enen Blatt genannt fand, aus der Perspektive eines Beteiligten, Angehörigen oder B ekannten der H auptfigur, und zwar in Ich-Form. Nach dieser Schreibphase w urden die Blätter wieder weitergegeben, der jeweils nächste Schreiber schilderte das G eschehen in Er-Form nun so, daß die Erlebnisperspektive der H auptfigur zum A usdruck kam (per­ sonale Erzählform ). D urch dieses A rrangem ent erfolgte eine schritt­ weise A nnäherung an die jeweilige H auptfigur, eine im m er stärkere Vergegenwärtigung der Innenperspektive des Betroffenen. A uf exem­ plarische Weise konnte so eine H auptleistung der Erzählliteratur, die Vergegenwärtigung frem der Erlebnisperspektiven, verdeutlicht werden (gerade dafür kom m t dem Text Büchners eine bahnbrechende Bedeu­ tung z u : Schilderung einer ausbrechenden G eisteskrankheit so, daß der Leser das G eschehen erlebnism äßig nachvollziehen kann). D urch den Wechsel der E rzählhaltung konnten zugleich grundlegende erzähltheo­ retische Einsichten gewonnen w erden; die V erm ittlung von Innenper­ spektive in Er-Form erforderte z. B. eine personale Erzählweise und legte erzähltechnische M ittel wie die erlebte Rede nahe, die m an in Büchners »Lenz« sozusagen in statu nascendi beobachten kann.

6. Freies Schreiben Vom erw eiternden Schreiben ist es kein großer Schritt m ehr zum freien Schreiben. Dieses ist nun nicht m ehr auf einen bestim m ten vorliegen­ den Text bezogen und kann deshalb nicht als direktes M ittel für Text­ analyse und -interpretation eingesetzt werden. W ohl aber erm öglicht das freie Schreiben grundsätzliche Einsichten in den literarischen Pro­ duktionsprozeß. W er z. B. selbst G edichte m acht und m it anderen dar­ über diskutiert hat, wird aufm erksam er für poetische Ausdrucksm ög­ lichkeiten (z. B. für m etaphorische Prozesse, K langbeziehungen, rhyth­ mische G estaltung usw.), und wer beim Schreiben von Prosa einm al erfahren hat, wie eine Geschichte sich w ährend des Schreibprozesses entfaltet und so dem Schreibenden ih r eigenes Gesetz aufzwingt, der wird nicht m ehr der Ansicht sein, beim literarischen Produktionspro­ zeß werde zuerst eine Aussageabsicht gefaßt und diese anschließend in literarische G estaltung umgesetzt, wie es die verkürzte Frage »Was will der A utor sagen« nahelegt. Auch für das freie Schreiben können A r­ rangem ents und m ethodische H ilfen verm ittelt werden, z. B. das Clustering-Verfahren nach G abriele L. Rico oder m ehr spielerische Va­ rianten wie das Schreiben zu Reizw örtern oder das Schreiben zu Fotos, Bildern und Musik. Aber nicht n u r Einsichten in den Produktionsprozeß von L iteratur und Sensibilität für A usdrucksform en verm ag das freie Schreiben zu verm itteln. Es kann ebenso der Vertiefung und D ifferenzierung theo­ retisch erarbeiteter E rkenntnisse dienen. So habe ich z. B. im Anschluß an die E rörterung von Lesertypologien in einem Sem inar den kurzen satirischen Text »D er Papiersäufer« von Elias C anetti3 ausgegeben und die Sem inarteilnehm er aufgefordert, nun selbst eine satirische C harak­ teristik eines Lesertyps zu schreiben, wobei den Teilnehm ern völlig freigestellt war, ob und in welchem M aße sie dabei eigene Leseerfah­ rungen, Beobachtungen an anderen M enschen, Erkenntnisse aus der Beschäftigung m it theoretischer L iteratur oder einfach eigene Phanta­ sien einbringen wollten. Die Schreibergebnisse zeigten eine erstaunli­ che Vielfalt von Aspekten, wobei gleicherm aßen im Sem inar Erarbei­ tetes wie eigene w eiterführende Ü berlegungen literarisch zum Aus­ druck kam en. Stärker als das sonst im Sem inarbetrieb der Fall ist, w ur­ de deutlich, auf welche Weise die einzelnen T eilnehm er die Diskus­ sionsanregungen verarbeitet hatten. So können kreative V erfahren nicht n u r als H inführung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, son­ dern auch als zusam m enfassender Abschluß analytisch-theoretischer Phasen eingesetzt werden. 3 Elias C anetti: D er O hrenzeuge. F ran k fu rt/M .: Ullstein 1977, S. 72-73.

Zusam m enfassung: E rkennen ist m ehr als W issensaneignung Kreative V erfahren sind eine M öglichkeit, im L iteraturstudium entdekkend zu lernen; sie erlauben es, literarische Strukturen und inhaltliche Problem dim ensionen durch eigene G estaltung zu erkunden. Dieses entdeckende Lernen bleibt nicht auf kognitive Einsicht beschränkt, sondern schließt em otionale E rfahrung ein und erm öglicht neben dem analytischen Vorgehen ein ganzheitliches Erfassen. D urch die Einbe­ ziehung kreativer V erfahren in die literaturw issenschaftliche Lehre kann literarische Bildung wieder als etwas verm ittelt werden, was Geist, G efühl und eigenes T un in gleichem M aße anspricht und anregt.

Literaturhinw eise K arlheinz D aniels/Ingeborg M ehn: Konzepte em otionellen Lernens in der D eutschdidaktik. Bonn-Bad Godesberg: D ürr 1985 (vor allem S. 154-173). Jürgen H ein /H elm u t K och/E lke Liebs (Hg.): Das ICH als Schrift. Balt­ m annsweiler: Schneider 1984. Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche G rundbegriffe. M ünchen: Fink 1974. G abriele L. Rico: G arantiert schreiben lernen. Reinbek bei H am burg: Rowohlt 1984. Klaus W eim ar: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. M ünchen: Francke 1980.