Konventionelle Therapie und ihre Grenzen

Pharmakotherapie in der Kritik Konventionelle Therapie und ihre Grenzen J. Heines Zusammenfassung Metaanalysen ergeben Beunruhigendes bezüglich der ...
Author: Bella Beltz
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Pharmakotherapie in der Kritik

Konventionelle Therapie und ihre Grenzen J. Heines

Zusammenfassung Metaanalysen ergeben Beunruhigendes bezüglich der Langzeitwirkung von Medikamenten. Das mechanistische Modell der Medizin von den Vorgängen im Körper und die daraus abgeleiteten Prinzipien der Substitutionsund der Suppressionstherapie stehen – einmal mehr – auf dem Prüfstand. Die unerwünschten Arzneiwirkungen nach Langzeitmedikation beruhen auf unspezifischen Effekten aufgrund (gegen-)regulatorischer Vorgänge, die im konventionellen Ansatz nicht erfasst werden.

Summary Conventional therapy and its limits Meta analysis shows an uncomforting picture with regard to long-term effect of medicament. The mechanistic model about the processes in the body and the resulting principles of substitution and the suppression therapy are once again under scrutiny. The undesirable impacts of drugs after long-term medication are due to unspecified effects grounded on (against) regulatory processes, which have not been captured in conventional therapy.

Key words Long-term effect of medicament, mechanistic model, substitution therapy, suppression therapy, regulatory processes

im medizinischen Alltag oft als neue Krankheiten behandelt. Bisher konnten unspezifische UAW nur durch Metaanalysen erkannt werden. Retrospektive Studien stellten fest, welche Langzeiteffekte diese oder jene Behandlung schließlich hatte. Prospektive Studien sind nicht das Mittel zu ihrer Erfassung oder gar Verhinderung. Für dieses Dilemma (die Plazebowirkung schafft ein weiteres) bieten Ergebnisse der neueren Stressforschung Lösungsmöglichkeiten. Die UAW, von denen hier die Rede ist, gehen wahrscheinlich auf Reaktionen unseres Organismus zurück, die bei jeder Änderung seiner Umgebungssituation erfolgen – auch bei medizinischen Interventionen. Gerade der kranke Organismus versucht ja den Status quo – seine Homöostase – aufrechtzuerhalten. Fehlende Flexibilität in der Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen ist ein erstrangiger Faktor für die Krankheitsentstehung – und er wirkt fort bei der Stabilisierung in der Krankheit.

Unbequeme Forschungsergebnisse

Medikamente haben neben den spezifischen Nebenwirkungen schädliche Langzeitwirkungen.* Hierbei sind nicht Abhängigkeiten gemeint, die in den Bereich der Suchttherapie gehören. Das Hauptproblem von unerwünschten Arzneiwirkungen (UAW) dieser Art ist das lange Intervall, bis sie spürbar oder sichtbar werden. Sie werden mit der Einnahme eines bestimmten Wirkstoffs meist gar nicht mehr in Verbindung gebracht, sondern

Die im Folgenden aufgeführten Beispiele unbequemer Ergebnisse der Arzneimittelforschung stehen für viele. Sie verschwinden leider rasch in den Schubladen der Wissenschaftler. Die Warnungen Einzelner, die kritisch geblieben sind (1), wurden überhört. Unerwartete Wirkung einer Behandlung war beispielsweise, dass die Patienten, die regelmäßig Medikamente gegen erhöhtes Cholesterin genommen hatten, häufiger an Herz-Kreislauf-Leiden erkrankten, als die, die dies nicht getan hatten (2). Als sei das noch nicht genug, hat eine andere Langzeitstudie an über 1000 gesunden Geschäftsleuten ergeben,

* Wieweit die spezifischen bzw. unspezifischen Nebenwirkungen Folge der jeweiligen Wirkung der Racemat-Komponenten der Medikamente sind, ist eine von Pharmakologen weitgehend unbeantwortete Frage. Thalidomid ist eine der wenigen Substanzen, für die sie beantwortet wurde.

Dr. med. Jürgen Heines 34 rue du marché, F-17340 Chatelaillon Tel./Fax 0 03 35 - 46 31 01 90, E-Mail: [email protected]

Allgemeines

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Z. Allg. Med. 2003; 79: 408–413. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003

Pharmakotherapie in der Kritik dass eine präventive Behandlung mit mehreren Medikamenten zwar die Risikofaktoren (Cholesterin, Blutdruck etc.) senkte, Erkrankungshäufigkeit an Herzinfarkt und Sterberate aber stiegen (1). Eine dritte Studie bei älteren Menschen endete ebenfalls mit dem Ergebnis, dass Cholesterinsenkung deren Lebenszeit verkürzte (3). Wie wenig die Höhe des Cholesterinspiegels über eine Krankheitsgefährdung aussagt, zeigen Untersuchungen, die Länder vergleichen. Bei gleichem Cholesterinspiegel ist die Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Leiden in Amerika dreimal höher als in Frankreich (4). Unter einer konventionellen Langzeitbehandlung von Herz-Kreislauf-Krankheiten trat bei älteren Patienten gehäuft Krebs auf (5).

Wie gerät die Medizin in solche Sackgassen? Fragwürdige Untersuchungsergebnisse aus Tierversuchen werden kritiklos auf den Menschen übertragen. Die Behandlungsformen in der konventionellen Medizin sind einseitig. Das Modell der Medizin ist obsolet. Zum ersten Punkt: Wenn man Kaninchen, die als Vegetarier überhaupt kein Cholesterin aufnehmen, mit Eigelb füttert, bekommen sie Arteriosklerose. Da man bei Menschen, die an Herzinfarkten und Schlaganfällen gestorben waren, Arteriosklerose fand, schloss man kurz: cholesterinreiche Ernährung > Arteriosklerose > Herzinfarkt. Zum zweiten Punkt: Die alleinige Behandlung von chronischen Krankheiten durch Medikamente richtet sich ausschließlich nach Symptomen und lässt die dahinter stehenden Störungen außer Acht – vergleichbar einem Autofahrer, der das Blinken der Warnlampe für die »Krankheit« hält und nicht das Fehlen von Öl. Drittens: Substitution und Suppression sind nur noch bei einer Reduktion der Körpervorgänge auf ein mechanistisches Modell als alleinige Behandlungsprinzipien zu vertreten. Die moderne Stressforschung lehrt aber, dass der Organismus auf jeden Eingriff von außen mit einer Gegenregulation antwortet, die als unspezifische Wirkung die spezifische Medikamentenwirkung konterkariert.

Für die sympathikolytischen Behandlungsansätze von Herz-Kreislauf-Krankheiten ist dieser Effekt bekannt und wird bei der Entwicklung neuer Wirkstoffgruppen berücksichtigt. Dies hat zwar zu einer Verminderung der Nebenwirkungsrate bei diesen Medikamenten geführt. Das dahinter stehende allgemeine Prinzip bleibt aber weiterhin bestehen.

Wie findet man den Ausweg aus der Sackgasse? Das mechanistische Modell der Medizin kann um Wissen von funktionell-dynamischen Gesetzmäßigkeiten, von denen man im Biologieunterricht und in der Physiologievorlesung gehört hat und die von der Stressforschung bestätigt worden sind (6, 7, 8, 9), zu einem dynamisch-systemischen Modell erweitert werden. Von der biologischen Grundausstattung her stehen dem Organismus nur zwei primäre Reaktionen zur Verfügung, mit denen er auf Reize aus der Umgebung oder aus seinem Inneren – gleich welcher Art – reagiert. In älteren Lehrbüchern findet man gelegentlich noch die Umschreibung »ergotrop« und »trophotrop«. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der modernen Stressforschung mit dem Modell der »Zweikomponentenregulation« (9, 11) sprechen wir von »katabol-sympathikotoner Fehlregulation« bzw. »anabol-parasympathikotoner Maladaptation».* Der Kürze halber werden sie hier Typ-A- und Typ-BReaktion** genannt. Die Typ-A-Reaktion läuft über die gut erforschte erste Stressachse, die vom Zwischenhirn über die Hirnanhangsdrüse zur Schilddrüse und zur Nebenniere und über das sympathische Nervensystem verläuft, die Typ-B-Reaktion über die wenig erforschte zweite Stressachse (12), über das Gewebe und seine Hormone (Peptide), vor allem die Leber (13). 38,9%

Typ B weibl.

Typ B m nnl. Typ A m nnl.

* Fehladaptation und Maladaptation dienen der Unterscheidung der Pathogenese. ** Das Muster der Typ-A-Reaktion ist identisch mit dem von Kardiologen beschriebenen Typ A. Die seinerzeitigen Schwierigkeiten, einen polaren Typ B herauszuarbeiten, scheiterten am Fehlen eines entsprechenden diagnostischen Rüstzeugs. Die Typ-A-Reaktion ist auch identisch mit der erschöpfend erforschten sympathikoadrenergen Reaktion (Stressachse I), über die schon 1994 über 200.000 Publikationen veröffentlicht worden waren. Die Typ-B-Reaktion entspricht der parasympathikotonpeptidergen Reaktion (Stressachse II), die immer noch so gut wie nicht erforscht ist – der zweite Grund, warum man seinerzeit den Typ B nicht beschreiben konnte, war, dass eine diagnostische Methode fehlte.

4,7%

Typ A weibl.

16,8% 39,7%

Abbildung 1: Verteilung der Geschlechter auf die Reaktionsmuster (n = 1049).

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Pharmakotherapie in der Kritik Diese Reaktionen sind individual-typisch. Es gibt Kriterien, die dem Erfahrenen erlauben, diese individual-typische Reaktion vorherzusagen, aber da es unerwartete Ausreißer gibt, empfiehlt sich eine exakte Bestimmung des Reaktionstyps durch vegetative Funktionsdiagnostik – Untersuchungen, die eine minimale Erweiterung des diagnostischen Aufwands erforderlich machen (11). Die Typen verteilen sich unterschiedlich auf die Geschlechter (und das Alter).

Das individuelle Verhaltensspektrum Gesunde vereinigen in sich – konstitutionell/dispositionell* mehr oder weniger ausgeprägt – Eigenschaften beider Typen. Kranke hingegen neigen zu einer der beiden Reaktionen. Die Reaktionsweisen werden umso einseitiger, je länger bzw. schwerer sie krank sind (14). Bei Funktionsstörungen sieht man noch die »Disposition«, bei Krankheiten fast nur noch »Konstitution«. Fortgeschrittene Krankheit reduziert den Menschen sozusagen auf sein phylogenetisches Erbe.** Das Verhältnis von A- zu B-Störungen und Krankheiten in der Praxis ist etwa 3 : 2 (14). A-Störungen sind zwar um 50 % häufiger als B-Störungen. Ob damit aber zu rechtfertigen ist, dass Patient/innen mit B-Störungen immer noch nach Regeln behandelt werden, die für A-Störungen gelten, ist doch sehr fraglich. Es erklärt einen Teil (die eine Hälfte) der hier abgehandelten Probleme.

Gesunde Menschen Gesunde Menschen verfügen über die Fähigkeit der eindeutigen Abgrenzung gegenüber krankmachenden Einflüssen – gleich welcher Art sie sind: biologisch, psychiosozial, mental etc. Gleichzeitig verfügen sie über die Möglichkeit der flexiblen Anpassung an geänderte Umwelt- oder Umgebungsbedingungen. Diese Potenzialitäten können durch destruktive Realitäten in der biologischen Umwelt oder psychosozialen Umgebung eingeschränkt/verunmöglicht werden (»Krankheitspartei«). Das salutogenetische Prinzip (15), das sich u.a. auf eine stressphysiologische Basis stützt, lässt sich als Schwingen (-können, -dürfen) zwischen den beiden Polen »Anpassung« und »Abgrenzung«, »Aktion« und »Regeneration«, »Eindeutigkeit« und »Flexibilität« u.a. verstehen (»Gesundheitspartei«).

* Als Konstitution wird in der Stressforschung das Erbe der phylogenetischen Anpassung bezeichnet, als Dipsosition die Summe und das Ergebnis der ontogentischen Anpassungs vorgänge (von Uexküll). ** Bei Tieren werden die konstitutionellen Reaktionen i.a. nicht beobachtet (Schole; persönliche Mitteilung)

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In der Stressforschung wird Gesundheit verstanden als gelernte Anpassung an eine sich wandelnde Umwelt/ Umgebung und gekonnte Gestaltung der Umwelt/Umgebung (16).

Störungen und Krankheiten Sind die Umwelt-/Umgebungsbedingungen zu ungünstig für die aktuelle biologische, psychosoziale und mentale Adaptationsfähigkeit des Individuums oder verfügt der Mensch nicht ausreichend und selbstverständlich über die Fähigkeiten der entsprechenden Stressverarbeitungen, dann entsteht Distress! Dieser Disstress wird erzeugt von einer destruktiven Umwelt und/oder krankmachenden oder krankhaltenden Gruppe (»Krankheitspartei«) oder ist »hausgemacht« durch die Internalisierung der Dynamik einer solchen Gruppe. Störungen und Krankheiten treten dann auf, wenn jemand nur noch auf »Leistung« setzt oder nur noch auf »Erholung« aus ist, nur noch »Aktion betätigen« will oder nur noch »Regeneration« anstrebt, wenn jemand sich nur noch anpasst oder sich nur noch in der Abgrenzung verweigert – mit einem Wort: Krankheit ist die Folge von Einseitigkeit. Eine Form der Einseitigkeit führt über Aktionismus und Getriebensein zu Typ-A-Krankheiten; die andere über die Gewöhnung an Passivität und zunehmende Schwächung zu Typ-B-Störungen.

Typisch Mann – typisch Frau Männer erkranken überwiegend nach dem Typ-AMuster. Zunehmend finden wir den Typ A aber auch bei Frauen, die sich den Regeln der Leistungsgesellschaft angepasst haben. Typische, im Wesentlichen durch schlechtes Stressmanagement und (Über-)Anpassung verursachte Krankheitsbilder dieser Gruppe reichen von der Reizform der vegetativen Dystonie (hyperaktiv-hyperkinetische somatoforme Syndrome) über chronische Krankheiten der unten genannten Organsysteme bis zu deren bösartiger Erkrankung. Typ-A-Menschen erkranken vorzugsweise an Systemen und Organen, die dem Einfluss des sympathischen Nervensystems und der gleichsinnig wirkenden Hormone der Schilddrüse, der Nebennierenrinde und des Nebennierenmarks etc. unterliegen. Das sind die für Leistung erforderlichen Systeme wie Blutzuckerregulation, HerzKreislauf und Lunge sowie Nieren u. a. Endstadien einer typischen A-Entwicklung sind: das Ausbrennen (Burn-out), chronische Leiden des Herz-Kreislauf-Systems mit schlussendlichem Zusammenbruch – in Form eines Herzinfarkts, eines Schlaganfalls o. ä. oder chronische Erkrankungen von Organen oberhalb des Zwerchfells (Herz, Lunge, Kehlkopf, Speiseröhre,

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Pharmakotherapie in der Kritik Gehirn etc.) oder außerhalb des Bauchfells (Bauchspeicheldrüse, Nieren etc.) bis hin zu deren bösartiger Erkrankung. Menschen mit dem Typ-B-Verhalten sind überwiegend Frauen. Man findet es aber auch gelegentlich bei Männern. Typische Krankheitsbilder dieser Gruppe – im Wesentlichen verursacht durch ungeeignetes Konfliktmanagement und Verweigerung – sind »Frauenleiden« (Periodenunregelmäßigkeit, -störungen und -beschwerden, PMS etc.), die Risikoschwangerschaft und echte Abhängigkeitsleiden (Süchte). Das Krankheitsspektrum insgesamt reicht von der abgeschwächt oder verzögert reagierenden Form der vegetativen Dystonie (syn.: hypoaktiv-hypokinetische somatoforme Syndrome) wie chronisches Müdigkeitssyndrom, multiple chemische Sensibilität, SickbuildingSyndrom und die meisten chronischen Schmerzsyndrome über die chronischen Erkrankungen von Organsystemen im Bauchbereich bis zu deren bösartiger Erkrankung. Typ-B-Menschen erkranken bevorzugt an Systemen und Organen, die dem Einfluss des Parasympathicus (Vagus) und der gleichsinnig wirkenden Wachstums- und Gewebshormone unterliegen: Die für Verdauung, Aufbaustoffwechsel und Regeneration erforderlichen Organe im Bauchraum und im Genitalbereich: Magen–Darm, Leber–Galle, Gebärmutter (Prostata), Eierstöcke (Hoden) etc. Endstadien einer typischen B-Entwicklung sind: allgemeine Schwächezustände (»fatigue«), Schwächungen der Abwehr mit chronischen Infekten, ausgebrannten Allergien oder chronische Leiden der Bauchorgane und der Brustdrüsen mit gelegentlichem Ausgang in Krebs.

Wirkung einer isolierten medikamentösen Behandlung Bei Menschen vom Typ A (90 von 100 Männern und inzwischen 30 von 100 Frauen) führt die isolierte Symptomunterdrückung – sei es Blutdruck- oder Herzschlagsenkung, Dämpfung von Unruhezuständen, Schmerzlinderung etc. – zu einer Gegenregulation des Organismus, die auf Dauer (über das katabolische Hochfahren des Stoffwechsels und aller Abwehrvorgänge mit den oben beschriebenen Syndromen) zum terminalen Kollaps führt. Bei Menschen vom Typ B hingegen (70 % der weiblichen und 10 % der männlichen Patienten) führt eine ausschließliche Symptomunterdrückung gleich welcher Art (b-Blocker, Blutdrucksenker, Beruhigungsmittel, Kalzi-

um-Antagonisten, Schmerzmittel, Tranquilizer etc.) zu einer zusätzlichen Unterdrückung der ohnehin verminderten aktiven Adaptation und zu einer Minderung der Abwehr mit den unter Umständen fatalen Konsequenzen für den weiteren Krankheitsverlauf. Diese reichen von der Chronifizierung von funktionellen Syndromen oder Befindlichkeitsstörungen wie chronischem Müdigkeitssyndrom, Depressionen, Fibromyalgie, Ökochondrien (multiple chemische Sensibilität, Sick-building-Syndrom etc.), rheumatischen Beschwerden, Schmerz- oder Unruhezuständen über die Chronifizierung von Allergien, Asthma, Blasenleiden, Darmentzündungen, Frauenleiden, Kreislaufstörungen, Sterilität und Risikoschwangerschaft und Wirbelsäulenleiden bis hin zu den oben unter »Endstadien« beschriebenen Syndromen oder zum kompletten Zusammenbruch der Abwehr mit bösartigen Erkrankungen.

SymptomUnterdr ckung

gen Ge lation u Reg t ou rn bu

Terminal-Kollaps Abbildung 2a: Unspezifische Wirkung der Behandlung bei Typ-AKranken

G Re ege gu nlat ion fat igu e

SymptomUnterdr ckung

Schw chung der Abwehr Abbildung 2b: Unspezifische Wirkung bei Typ-B-Kranken

Die negativen Konsequenzen einseitiger Behandlungen… Der in der abendlichen Fernsehwerbung ständig wiederholte Slogan »Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker« hat Alibifunktion und lenkt vom Problem ab (17). Selbstbehandler ziehen den Arzt schon bei der Verordnung nicht zu Rate – warum sollten sie es bei Komplika-

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Pharmakotherapie in der Kritik tionen tun? Störungen einer Behandlung werden zudem vom Laien – und von vielen Medizinern – i. a. als neue Krankheit interpretiert (iatrogene Variante des Symtomwechsels).

…sind unendliche Geschichten Ein Beispiel stellvertretend für viele: Ein Rheumapatient nimmt (bekommt vom Orthopäden) ein »harmloses« Schmerzmittel. Die auftretenden Magenbeschwerden führt er (oder der konsultierte Gastroenterologe) auf eine Übersäuerung oder auf eine Infektion mit Helicobacter pylori zurück. Dies führt zur Einnahme (Verordnung) eines Säureblockers oder zu einer Eradikationsbehandlung. Diese wirken sich schädlich auf die Darmflora aus, die zu allen möglichen Störungen führen, unter anderem zu einer Zunahme der rheumatischen Beschwerden, die zur Einnahme/Verordnung eines neuen, stärkeren Medikaments führen (womit der erste Teufelskreis geschlossen ist), aber auch zu einer Minderung der Infektabwehr oder zur Auslösung einer bis dahin latenten Allergie. Erstere zieht in der Regel die Einnahme/Verordnung eines Antibiotikums nach sich, was die Darmflora weiter schädigt (womit der zweite Teufelskreis geschlossen ist). Eine schwerere Allergie zieht oft die Einnahme/ Verordnung von Cortison nach sich, wodurch u. a. Knochensubstanz abgebaut wird. Die neue Diagnose heißt Osteoporose und zieht u. U. die Einnahme/ Verordnung von Östrogenen nach sich. Diese begünstigen den Wildwuchs von Pilzen im Darm und in der Scheide, sodass die Infektabwehr weiter geschwächt, Allergien gestartet und die »Inweltverschmutzung« mit Autotoxinen vom Darm aus mit konsekutivem Leberschaden verstärkt werden (womit ein vierter Teufelskreis geschlossen und ein fünfter gestartet wird).

Selbstmedikation im Aufwind Da der Trend zur Selbstmedikation ungebremst zunimmt – er ist in den beiden letzten Jahrzehnten um 50 % gestiegen (18) –, werden wir in Zukunft vermehrt solch »unendliche Geschichten« hören.

Die Schlüsse aus den Erkenntnissen Zur (Wieder-)Gewinnung von Gesundheit brauchen chronisch Kranke professionelle Hilfe von biologisch und psychosomatisch kompetenten Ärzten. Was psychosomatische Inkompetenz anrichtet, zeigt ein Beispiel aus der Schmerzforschung. Bei der Behandlung von Schmerzen chronifiziert gut gemeinte, d. h. unpro* Unter Basisbehandlungen sind zu verstehen: die unspezifischen Verfahren der Natur- und Erfahrungsheilkunde, ergänzt um energetische Behandlungsverfahren – beispielsweise der Physikalischen Therapie etc. –, eingebettet in die psychosomatische Grundversorgung.

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fessionelle und unreflektierte Zuwendung den Zustand (19). Da unerwünschte Arzneiwirkungen nach Langzeitbehandlungen nach unserem heutigen Stand des Wissens wahrscheinlich Folge unspezifischer Effekte sind, deren Pathophysiologie sich aus der Stressforschung ergibt, bedarf es zu ihrer Vermeidung ergänzender unspezifischer Behandlungsverfahren, die die neurohumoralen Veränderungen berücksichtigen.

Eine Kranke vom Typ B braucht eine andere Basisbehandlung… Typ-B-Menschen neigen von Hause aus zu Schonung und Unterforderung. Dauernde Schonung verschlechtert ihre Situation. Typ-B-Kranke brauchen Förderung und Forderung.

… als ein Kranker vom Typ A Anders bei Typ-A-Patienten! Da diese von Haus aus zu Leistung und Überforderung neigen, brauchen sie Eingrenzung, Leistungsdrosselung und Schonung.

Fazit Um einer weiteren – iatrogenen – Chronifizierung vorzubeugen, bedarf es der Ergänzung der konventionellen Behandlung durch Basisbehandlungen* (20). Alles in allem werfen Metaanalysen und die Anwendung der Ergebnisse der neueren Stressforschung auf die konventionelle Langzeitmedikation mehr Fragen auf als sie beantworten.

Ausblick Metaanalysen und Erkenntnisse der Stressforschung bestätigen die Erfahrung, dass die symptomzentrierte medikamentöse Behandlung in Form von Substitution bzw. Suppression dringendst der Ergänzung durch Behandlungsverfahren bedarf, welche die hinter den Symptomen stehenden Störungen in den Organen und ihre Funktion in übergeordneten Regeleinrichtungen berücksichtigt. Man sollte nicht nur das Fenster öffnen, wenn es im Zimmer zu warm geworden ist, sondern auch die Heizung herunterstellen – oder umgekehrt. Die Traditionelle Chinesische Medizin ist der westlichen Medizin bei der Behandlung von Funktionsstörungen und chronischen Erkrankungen – nicht zuletzt wegen dieses Prinzips – bisher überlegen gewesen. Laien können – unabhängig von professionaler Hilfe – Regulationsübungen durchführen. Zu deren Dosierung

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Pharmakotherapie in der Kritik gibt es jetzt Messgeräte, die die Herzfrequenzvariation (HRV) messen – eine neben der Ruhepulsfrequenz für die Langzeitprognose von Herz-Kreislauf-Krankheiten beispielsweise geeignete Größe. Chronisch Kranke brauchen aber auf jeden Fall professionelle Hilfe, denn bei Typ-A-Menschen gibt es Motivationsprobleme – sie »sind nicht krank«, »ihnen geht es gut«; sie »haben nur zuviel Stress«. Bei Typ-BKranken gibt es darüber hinaus Dosierungsprobleme – die Reize müssen nach dem Arndt-Schulz-Prinzip an die aktuelle Belastbarkeit angepasst sein, sonst erlebt man paradoxe Behandlungsergebnisse (21) – wie beispielsweise immer wieder bei der Misteltherapie o.a. beschrieben. An den Beispielen von Bewegungstherapie, Rehabilitation und Ordnungs- bzw. Reiztherapie lässt sich das Prinzip der ergänzenden Therapie darstellen. Typ-B-Kranke brauchen ein dosiertes Aufbautraining; sie müssen an Belastungen herangeführt werden, sie brauchen Anregung und Ermutigung. Sie sind von Haus aus Anhänger des Faulenzer- oder des Bildungsurlaubs. Ihnen tut eine Kneipp-Kur gut. Eine Entspannungskur verschlechtert ihren Zustand. Typ-A-Menschen, die meist Anhänger des Aktionismus und Positivismus sind, brauchen hingegen Abpegeln und Beruhigung, sie brauchen eine Verminderung des Trainigs- und Arbeitspensums. Sie sind Anhänger des Aktiv- oder Abenteuerurlaubs. Ihnen tut eine meditative Kur mit Erlernen von Entspannungstechiken gut, die bei Kranken vom B-Typ nicht vertragen werden oder den Zustand sogar verschlechtern. In der Naturheilkunde wendet man bei Typ-A-Krankheiten die verschiedenen Verfahren der Ordnungstherapie an, bei Typ-B-Kranken Reiztherapien. Gute Physikalische Therapie und Rehabilitationsmaßnahmen sind entsprechend aufgebaut. In der TCM heißen die Analoga Sedieren und Tonisieren.

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Zur Person Dr. med. Jürgen Heines Studium der Medizin, Psychologie, Philosophie, Ausbildung Chirurgie, Gynäkologie und Innere Medizin Niederlassung als Internist; Auseinandersetzung mit komplementären Konzepten. Entwicklung der vegetativen Funktionsdiagnostik durch Vollblutanalyse. Lehrbeauftragter in Bonn: Naturheilkunde – Abteilung Regulationsmedizin. Vorruhestand – Grundlagenwissenschaft. Wissenschaftsförderpreis 2002 des Zentralverbandes der Ärzte für Naturheilverfahren.

Z. Allg. Med. 2003; 79: 408–413. © Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003

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