Klaus Hesse: Leipzig nach dem 2. Weltkrieg ( )

Klaus Hesse: Leipzig nach dem 2. Weltkrieg (1945-49) I. WIEDERAUFBAU UND ANTIFASCHISTISCH-DEMOKRATISCHE ORDNUNG Auch Leipzig hatte im Ergebnis der von...
Author: Lilli Haupt
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Klaus Hesse: Leipzig nach dem 2. Weltkrieg (1945-49) I. WIEDERAUFBAU UND ANTIFASCHISTISCH-DEMOKRATISCHE ORDNUNG Auch Leipzig hatte im Ergebnis der von August 1942 bis April 1945 anhaltenden Luftangriffe erhebliche Verluste zu verzeichnen: Die Zahl der amtlich gemeldeten 5.102 Todesopfer [1] ist eher zu niedrig angesetzt. Von den 1942 vorhandenen 50.000 Gebäuden waren 1945 nur noch 24.000 unbeschädigt, 19,4% waren völlig zerstört, 2,8% schwer und 29,8% leicht beschädigt. Von den ehemals 225.000 Wohnungen blieben 44,8% unbeschädigt, 19,5% waren leicht-, 6,2% mittelschwer beschädigt sowie 19,5% zerstört. Dabei ist anzumerken, daß das Ausmaß der Zerstörung des Wohnraumes in Leipzig mit ‘nur’ 25% weit hinter den viel schwereren Zerstörungen in Halberstadt (82%), Dessau (80%), Plauen (75%), Nordhausen (74%), Dresden (60%), Magdeburg (50%), Berlin und Rostock (je 32%) [2] zurückblieb. Plünderungen und Raubzüge durch die USA-Besatzer Unter der vom 18.4. bis 1.7.1945 dauernden amerikanischen Militärverwaltung wurde keine wirklich neue Stadtverwaltung eingesetzt. Mit dem Stahlhelmführer Dr. Vierling und dem wegen arbeiterfeindlicher Aktionen berüchtigten ehemaligen Polizeipräsidenten Fleißner [3] wurde die von ihnen angestrebte politische Orientierung der Nachkriegsentwicklung deutlich. Noch vor ihrem Abzug wurden alle greifbaren Dokumentationen über und Ausrüstungen aus der in Leipzig laufenden Rüstungsproduktion in die Besatzungszone der USA verbracht. Konstrukteure, Erfinder und Wissenschaftler, die dem ‘Rüstungskommando Leipzig’ unterstanden, wurden nun ‘veranlaßt, Leipzig zu verlassen’. Nach einer im Auftrag der sowjetischen Besatzungstruppen erarbeiteten Zusammenstellung informierte die Industrie- und Handelskammer darüber, daß die Fachleute für Strahlenantriebe und Flugzeugmotoren aus den Mitteldeutschen Motorenwerken, eine Reihe von Professoren aus der Chemie und der Physik der Universität mit ihren Assistenten sowie die mit der Entwicklung der ‘Panzerfaust’ befaßten HASAG-Ingenieure um Dr. Langweiler gehörten. [4] Leipziger Arbeiter verlangen Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher Nach dem katastrophalen Ende von 12 Jahren Naziherrschaft war der überwiegenden Mehrzahl der Belegschaft klar, daß es so nicht mehr weitergehen durfte. Im Ergebnis des Eintretens ihrer Kollegen aus der schon seit 1942 bestehenden Widerstandsgruppe für den Erhalt des Betriebes und ihrer Arbeitsplätze bereitete es keine große Mühe, die Mehrzahl von der dringen Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse zu überzeugen. Nach eingehender Beratung und wurde auf einer Betriebsversammlung ein Brief an die Landesverwaltung Sachsen verabschiedet. Im Namen der 2.164 Belegschaftsmitglieder wurde ein Gesetz zur entschädigungslosen Enteignung der Betriebe der Kriegs- und Naziverbrecher verlangt. Die Erfahrungen aus 12 Jahren Faschismus wurden Grundlage von Forderung der Belegschaftsangehörigen dieses ehemaligen Rüstungskonzerns. Sowjetische Verwaltung setzt kommissarische Treuhänder ein Im Ergebnis der dadurch herbeigeführten Entscheidung wurde Max Walter zum 16.1.46 durch die Landesverwaltung Sachsen als kommissarischer Treuhänder der HASAG bestellt. Aus einer notariell beglaubigten Abschrift eines Briefes vom 5.3.46 geht hervor, daß Walter, Beck und Oswald vom Oberbürgermeister Leipzigs als kommissarische Treuhänder über das Vermögen der Firma Hugo Schneider A.G. eingesetzt wurden. Ihnen wurde regierungsamtlich bescheinigt, daß sie gesetzliche Vertreter der ehemaligen Aktiengesellschaft sind. Walter, Mitglied der KPD-Betriebsgruppenleitung, wurde kommissarischer Treuhänder, Erich Beck, Mitglied der der SPD, kaufmännischer, der parteilose Rudolf Oswald technischer Leiter der Werkleitung. Potsdamer Ankommen fordert Demontage des Rüstungsbetriebes Kurze Zeit, nachdem dort, wo eben noch Granaten gedreht, Munition kalibriert und Panzerfäuste montiert wurden, aus Materialresten Töpfe und anderes Hausgerät hergestellt wurden, war der Neubeginn zu Ende: Im Frühjahr 1946 begann auf Weisung der Sowjetischen Militäradministration die Demontage der HASAG. Der größte Rüstungsbetrieb der Stadt fiel zweifelsohne unter die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, in denen eine vollständige Demontage dieser

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Industrieanlagen vorgesehen war. Die Hoffnungen und Erwartungen der eben noch mit dem Elan der ersten Stunde an der Umstellung dieses Großunternehmens auf die Erfordernisse der Nachkriegswirtschaft arbeitenden Belegschaft wurden durch diese Entscheidung enttäuscht. Wie bitter dies auch für die Mitglieder des kommunistischen Widerstandes war, wird durch folgendes Ereignis dokumentiert: Am 13.4.46 wurde Walter verhaftet, weil er versucht hatte, „Werkzeuge und Materialien für andre unserer Meinung nach wichtige Friedensproduktion“, vor der Demontage zu bewahren. Nur auf Grund des persönlichen Eintretens von Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck wurde er nach kurzer Zeit von den sowjetischen Militärbehörden freigelassen. [5]

II. VOLKSENTSCHEID GEGEN NAZI- UND KRIEGSVERBRECHER FÜR VOLKSEIGENTUM Nachdem im Sommer 1945 auf Grund der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz die Demontage der Rüstungsbetriebe begann entzog die SMAD im Ok1ober 1945 vielen Unternehmern und Aufsichtsräten durch den Befehl 124 die Verfügungsgewalt über die immer noch von ihnen verwalteten Betriebe. Dass die Beseitigung der Ursachen dieser Tragödie viel wichtiger war, hatte die Mehrheit begriffen. Für den 30. Juni 1946 war die wahlberechtigte Bevölkerung Sachsens zum aufgerufen, 77,6 % entschieden sich für die Enteignung. Am 30. Juni 1946 nahm die Bevölkerung der Stadt mit 92,9 % der Stimmen aller stimmberechtigten Bürger am Volksentscheid über das „Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Nazi- und Kriegsverbrechern in das Eigentum des Volkes“ teil. [6] Wie in Leipzig das Volkseigentum entstand… In Leipzig wurde dem Gesetzentwurf mit 283.453, d.h. mit der absoluten Mehrheit von 70,5% der Stimmen zugestimmt, mit 95.000 Gegenstimmen waren nicht einmal 1/4 dagegen und 23.344 Stimmen (=5,8%) waren ungültig. In Sachsen wurden auf dieser Grundlage 1.861 Betriebe in das Volkseigentum überführt. 635 weitere Betriebe wandelte die Besatzungsmacht in sowjetische Aktiengesellschaften (SAG-Betriebe) um. Enteignet wurde in drei Listen.   

Auf Liste A ging es um Unternehmen, die enteignet und in Volkseigentum überführt werden sollten. Dazu gehörten Flügel & Polter, Törpsch, die Globuswerke, Nitzke & Co, Otto Sack. Die Liste B erfaßte Betriebe, die auf Grund nachgewiesener geringer Schuld an ihre früheren Besitzer zurückgegeben werden sollten. Das geschah zum großen Teil im Jahre 1946. Auf Liste C wurden Betriebe erfasst, für die sich die SMAD die Entscheidung vorbehielt. Dazu gehörten größere Rüstungsunternehmen (Meier & Weichelt, Scheiter & Giesecke, Rud. Sack, Eberspächer GmbH, Gebrüder Brehmer, Stöhr & Co, Grohmann & Frosch, Unruh & Liebig, Jaeger & Co, Schuhmann & Co u.a. [7]

So entstand in Leipzig mit 262 Betrieben das Volkseigentum. [8] Im Osten wurde der Volksentscheid durchgesetzt Bemerkens- und erinnernswert ist dies nicht nur deshalb, weil diese demokratische Entscheidung im Unterschied zu gleich gelagerten Abstimmungsergebnissen in den Westzonen nur in der sowjetischen Besatzungszone durchgesetzt wurde. Nicht weniger aufschlußreich sind die Unterschiede im aktuellen Umgang mit den Entscheidungen über die Bodenreform und dem Volksentscheid zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher. Das eine wird nur als ‘Besatzungsrecht’ diskriminiert und als solches widerwillig geduldet – das andere als kommunistischer Willkürakt abqualifiziert und, obwohl auf völlig demokratischer Grundlage zustande gekommen, in jeder Hinsicht ignoriert. Auch die Wahlen waren demokratisch In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, daß bei der ersten Nachkriegswahl zu den Gemeindevertretungen und Stadtverordnetenversammlungen die SED 44,26%, die LDP 29,68 % und die CDU 21,5% in Leipzig erzielten. Entsprechend der sich daraus ergebenden Stimmenverteilung erhielten die SED 42, LDP 27, CDU 19 und der Kulturbund 2 Sitze im Parlament. [9]

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Die Umsiedler und eine große Wohnungsnot Doch diese Auseinandersetzungen wurden durch andere Probleme in den Hintergrund gedrängt: Noch vor dem Ende des Naziregimes gab es in Leipzig 60.000 ‘Wohnungslose’ und 110.000 Leipziger Bürger, die nach der Evakuierung wieder zurückwollten. Jetzt waren nicht nur diese unterzubringen. Vom November 1945 bis Mai 1946 wurden 80.000 Umsiedler aus dem ehemals deutschen Schlesien und anderen Gebieten durch Leipzig ‘geschleust’. Davon blieben 40.000 – vorwiegend Ältere und Frauen mit Kleinkindern – in der Stadt und im Landkreis. Nicht wenige Umsiedler im arbeitsfähigen Alter zogen es unter verschiedenen Gründen vor, in die westlichen Besatzungszonen auszuweichen. Die Infrastruktur war völlig zusammengebrochen Alle mußten untergebracht, verpflegt, eingekleidet, entlaust, geimpft und betreut werden, obwohl kein Wohnraum vorhanden und die Infrastruktur der Versorgung zusammengebrochen war. Damit war die ohnehin kaum noch funktionsfähige Belieferung der Stadt mit Nahrungsmitteln und die Energie- und Wasserversorgung überfordert. Provisorische Umsiedlerlager mußten eingerichtet, Geld-, Kleider und Sachspenden zusammengetragen werden, um die Not derer zu lindern, die alles verloren hatten. Vom innerstädtischen Verkehr funktionierte statt 160 nur noch 16 km Straßenbahn. Eine Sonderaktion konnte im Winter 1945/46 die Heizung der Kliniken, Krankenhäuser, Altenheime, Schulen, Betriebe und der privaten Haushalte sichern. Schutt, Ruinen und eine Rattenplage Das waren längst nicht alle Probleme, die in kürzester Zeit gelöst werden mußten. Durch einsturzgefährdete Ruinen waren die Wege durch die Stadt ein lebensgefährliches Abenteuer. Auf Straßen und Plätzen lag die unvorstellbare Menge von 700.000 m³ Schutt. Bei den flächendeckenden Zerstörungen in der Innenstadt konnten Absperrungen nur vorübergehend Abhilfe schaffen. Auch wegen der zunehmenden Ratten- und Mäuseplage waren die Beräumung der zerstörten Stadtteile und der Abtransport des Schutts lebensnotwendig. Auch in Leipzig wurde das Stadtbild der Nachkriegszeit von Trümmerfrauen, Schmalspurbahnen und Arbeitseinsätzen bestimmt. Arbeitseinsätze zur Wiedergutmachung Als ein Teil der Wiedergutmachung für die in ihrer Verantwortung angerichteten Schäden wurden von den in Leipzig 1945 lebenden 45.987 Mitgliedern der NSDAP (!!!) 39.975 arbeitsfähige ‘im Sondereinsatz beschäftigt’. Zu den damals zu bewältigenden Aufgaben gehörte aber auch der Einsatz von 9.000 Arbeitskräften auf die Dauer von 3-4 Wochen bei der Demontage solcher Industrieanlagen, die zur Reparation vorgesehen waren. [10] Schließlich darf nicht vergessen werden, dass es nur durch rechtzeitig eingeleitete prophylaktische Maßnahmen gelang, daß es im Sommer 1945 infolge der sich häufender Typhus-, Ruhr- und Diphtherieerkrankungen nicht zu Epidemien kam. Die Leipziger Universität wird wieder eröffnet Mitten in den Anstrengungen um die Sicherung der elementarsten Lebensbedingungen wurde die Wiedereröffnung der Universität am 5.2.46 von der KPD als Anlaß zu einem in seinen Konsequenzen weit in die Zukunft reichenden Aufruf genutzt. Mit der Forderung: ‘Arbeiter als Studenten an die Universität’ begann die Beseitigung des Bildungsmonopols der herrschenden Klassen. Geflüchtete oder untergetauchte Kriegsverbrecher Im Kontext der alles überlagernden Alltagssorgen wurde damals und wird heute ‘vergessen’, daß viele derer, die nun wegen ihrer Beteiligung an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht wurden, in die westlichen Besatzungszonen abgehauen oder unter falschem Namen untergetaucht waren. Die schrecklichsten Hinterlassenschaften der Nazis Eine der schrecklichsten Hinterlassenschaften war das Massaker an den nach dem Todesmarsch zurückgebliebenen kranken KZ-Häftlingen in Abtnaundorf, an dem Angehörige des ‘Volkssturms’ und

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der Hitlerjugend beteiligt waren. Eine Vielzahl weiterer Verbrechen war mit der Konzentration von Rüstungsbetrieben, der großen Zahl von Zwangsarbeitern und den AußensteIlen des KZ-Buchenwald in und um Leipzig verbunden. Zwar lag deren Verfolgung in den Händen der Besatzungsmächte. Aber Angst vor den Konsequenzen dieser Taten, vor kollektiver Bestrafung im Stile der eigenen Verbrechen, vor Denunziation und falschen Verdächtigungen überschattete die Befreiung von der immer noch wirksamen faschistischen Ideologie. Die westliche Farce mit den „Persilscheinen“ Ob in der im Westen immer öfter zur Persilschein-Farce verkommenen Entnazifizierung von Nazi- und Kriegsverbrechern, bei der Weiterbeschäftigung von Nazibeamten in Justiz, Polizei und in allen anderen Bereichen des Staatsapparates, in der Verschleppung und Vereitelung der vertraglich vereinbarten Zerschlagung der Kartelle, Syndikate, Trusts und anderen Monopolvereinigungen – für die westlichen Besatzungsmächte ging es um die Klassensolidarität des Kapitals und vielmehr noch um eine systematische Begrenzung und Einschränkung des Einflusses der Sowjetunion. Wo wie in Hessen und Nordrhein-Westfalen die deutsche Bevölkerung durch die Landesverfassung sich selbst zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher bekannt hatte, griffen westliche Besatzungsmächte mit Verboten ein, um der Zerschlagung der Macht der Monopole Einhalt zu gebieten. [11]

III. ENTNAZIFIZIERUNG UND DEMOKRATISCHER NEUANFANG Die konsequente Durchsetzung des Potsdamer Abkommens bei der Verfolgung der Nazi- und Kriegsverbrecher, bei der Zerschlagung der Überreste des deutschen Militarismus, der deutschen Rüstungsindustrie und der ökonomischen Macht des deutschen Monopolkapitals, der Junker und Großgrundbesitzer blieb auf das Gebiet der sowjetischen Besatzungsmacht beschränkt. Trotz der drängenden Probleme, die sich aus dem Zusammenbruch aller elementaren Versorgungssysteme, der katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen, aus fehlendem Wohnraum, allgegenwärtigem Hunger, massenhafter Verelendung und völlig unzureichenden Lösungsmöglichkeiten ergaben, mußten innerhalb kürzester Zeit auch politische Lösungen für eine Vielzahl von heute kaum noch vorstellbaren Problemen gefunden werden. Die schwerste Aufgabe war die Entnazifizierung Im Rahmen der Entnazifizierung mußten Schulen, Gerichte, die Polizei und die Verwaltungen der Länder und Kommunen von ehemaligen Nazis gesäubert werden. Aber: „… das Schwerste und Entscheidendste waren die Menschen, die als Lehrer und Erzieher in der neuen Schule den demokratischen Charakter sichern sollten. Dem Krieg waren auch Zehntausende von Lehrern zum Opfer gefallen. Viele waren in Kriegsgefangen-schaft. Aber in keinem anderen Berufsstand gab es so viele Mitglieder der NSDAP, wie in dem der Lehrer. In der sowjetischen Besatzungszone waren 72 Prozent, in Thüringen sogar 90 Prozent aller Lehrer Mitglied der Nazipartei.“ [12] Denn denen, die die deutsche Jugend eben noch im Glauben an den Führer und an den Endsieg erzogen hatten, konnte die Erziehung der Heranwachsenden nicht länger anvertraut werden. Der faschistische Ungeist zog sich durch alle Bevölkerungsschichten Zwar fand sich nach der Niederlage des Faschismus kaum noch jemand, der sich zu seiner Verantwortung für die eben noch vertretenen faschistischen Ziele bekannte. Aber im undurchschaubaren Filz zwischen hilfloser Verzweiflung, Anpassung an die uneingeschränkte Macht der Sieger, den in der drängenden Not der Nachkriegszeit erstickten Fragen nach eigener Verantwortung, einem oft nur sam kaschierten dumpfen Haß auf die Sieger und heuchlerischer Empörung die im Zuge der Entnazifizierung ‘erlittene’ Bloßstellung blieb in dem in allen Bevölkerungsschichten deutlich ausgeprägten deutschen Kleinbürgertum die Tiefen- und Fernwirkung eines über mehr als ein Jahrzehnt gezüchteten nationalchauvinistisch-faschistischen Selbstverständnisses erhalten.

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Viele unschuldige Mitläufer und ein paar zweifelhafte Karrieristen Von 140.000 Personen, die in Sachsen-Anhalt in den Verwaltungen, bei Post und Reichsbahn betraf das 50.000 ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen. [13] Jetzt sollten ehemalige KZHäftlinge, Widerstandskämpfer, Emigranten und andere Antifaschisten an die Stelle derer treten, die sie verfolgt hatten. So einfach das aus heutiger Sicht erscheinen mag: Von den noch vor Monaten für den ‘totalen Krieg’ eintretenden Massen war kaum etwas geblieben. Es gab einige fanatische Nazis, die den Selbstmord der Niederlage vorzogen. Aber die Masse eben noch aktiver Nazis tauchte in den Wirren des in Auflösung begriffenen Regimes unter. Wer das nicht schaffte, wollte nur Mitläufer gewesen sein. Und nicht wenige derer, die sich jetzt als ‘Antifaschisten’, als ‘KZ-Häftlinge’ oder gar als ‘alte Kommunisten’ gaben, entpuppten sich später als ganz gewöhnliche „Karrieristen, unfähige Menschen, zweifelhafte Existenzen, in einigen Fällen sogar als ehemalige Nazis“. [14] Nicht abreißende Flüchtlingsströme und schwierige Fragen Nicht selten dauerte es Jahre, ehe die in allen diesen Fällen konkret zu klärenden Fragen personenbezogen beantwortet werden konnten. Aber die Suche nach einer der jeweiligen Verantwortung gerecht werdenden Antwort stand immer im Hintergrund der Probleme, die durch den Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung durch Typhus- und Ruhrepidemien, fehlende Nahrungsmittel, zerbombte Wohnungen und durch die Unterbringung und Versorgung des nicht abreißenden Zustroms der aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen und aus dem Sudetengebiet mit letzter Kraft eintreffenden Umsiedler verursacht wurden. Die KPD weist den Ausweg aus der Krise Am 11. Juni 1945 hatte das ZK der KPD einen Beschluß gefaßt, mit dem ein Ausweg aus der Katastrophe gewiesen werden sollte. An vorderster Stelle der dringend zu lösenden Aufgaben standen neben der Liquidierung der Überreste des Hitlerregimes der Kampf gegen Hunger, Arbeits- und Obdachlosigkeit, die Herstellung demokratischer Rechte und Freiheiten, der Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung, die Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher, die Liquidierung des Großgrundbesitzes, die Überführung aller lebenswichtigen Betriebe und Einrichtungen in kommunalen Besitz und die Wiedergutmachung des den Völkern Europas zugefügten Schadens. [15] Ein politischer Neuanfang Bei Beibehaltung der gesellschaftlichen Vorkriegsverhältnisse wäre alles das nicht realisierbar gewesen. Ein Neuanfang war nur möglich, wenn ein für allemal mit der noch immer bestehenden wirtschaftlichen und der schon wieder im Aufbau befindlichen politischen Macht des Monopolkapitals, der Junker und Großgrundbesitzer und der daraus resultierenden aggressiven Orientierung des deutschen Militarismus gebrochen wurde. Diese Forderungen wurden auch im Aufruf der SPD vom 15.6.45 aufgegriffen. [16] Die antifaschistisch-demokratische Neuordnung Mit der am 1.9.1945 durch den antifaschistischen Block von CDU, SPD, LDP und KPD einstimmig beschlossenen Bodenreform wurden Kriegsverbrecher, Naziaktivisten und Großgrundbesitzer enteignet. [17] Durch die Übergabe des Bodens, des lebenden und toten Inventars an Bauern und Landarbeiter wurde nicht nur die 1848 abgebrochenen revolutionär-demokratischen Veränderungen zu Ende geführt. Durch die Vernichtung dieser Überreste des Feudalismus wurden denen die ökonomischen Grundlagen entzogen, die den Hitlerfaschismus an die Macht gebracht hatten. Folgerichtig stieß dies auf massiven Widerstand der Betroffenen und der Vertreter der bürgerlichen Parteien. Trotz verbaler Bekenntnisse zur Bodenreform versuchten Vertreter der CDU und der LDP erfolglos, ihre Durchführung zu hintertreiben.

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IV. KPD, SPD UND DIE VEREINIGUNG ZUR SED Unter der faschistischen Diktatur bekamen Kommunisten und Sozialdemokraten als erste die Folgen der Spaltung der Arbeiterparteien zu spüren. Für die überwiegende Mehrzahl war spätestens jetzt klar geworden, daß es nach dem Ende des Faschismus zu einer Vereinigung der beiden Arbeiterparteien kommen mußte. In der Illegalität, in der Haft und in der Emigration war bei der Mehrzahl der ihrer Überzeugung treu gebliebenen Mitglieder von KPD und SPD die Erkenntnis gewachsen, daß die 1933 fehlende Einheit der Arbeiterklasse und ihrer Parteien eine der entscheidenden Voraussetzungen für die eigene Niederlage und für den Sieg des durch das deutsche Monopolkapital an die Macht gebrachten Faschismus war. Die Schwierigkeiten der Vereinigung und fehlendes Vertrauen Daraus mußten jetzt Schlußfolgerungen gezogen werden. Deshalb gab es in fast allen Teilen des von alliierten Okkupationstruppen besetzten Deutschland in den sich nun wieder zusammenfindenden Resten kommunistischer und sozialdemokratischer Parteien Bestrebungen, einen Weg zur Vereinigung der Arbeiterparteien zu finden. Aber so überzeugend diese Erkenntnis war – für nicht wenige Mitglieder der KPD blieb die Erinnerung an die Folgen des erneuten Versagens und des Verrats der sozialdemokratischen Führung stärker. Vielen der aus der Emigration zurückkehrenden Funktionäre fehlte die Erfahrung eines, im gemeinsamen antifaschistischen Widerstandskampf von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsmitgliedern unter schwierigsten Bedingungen erkämpften Vertrauens. [18] Sozialdemokratische Boykottpolitik und demagogische Reden Dazu kam, daß die einige Funktionäre aus der Führungsriege der SPD angesichts der schwerwiegenden Folgen ihres Versagens Vereinigungsbestrebungen systematisch blockierte. Die einen kultivierten alte Vorbehalte und forderten konkrete Schritte zur inhaltlichen und praktischen Vorbereitung, die der Vereinigung beider Parteien vorangehen müßten. [19] Andere hielten demagogische Reden über den Sozialismus, als ob dies angesichts der unübersehbaren dringendst zu lösender wirtschaftlicher, kommunaler und anderer politischer Probleme eine Tagesaufgabe sei. [20] Dritte trafen geheime Absprachen mit britischen, französischen und US-amerikanischen Besatzungsbehörden, in deren Ergebnis die Durchführung von Versammlungen zur Vorbereitung der Vereinigung von KPD und SPD im britischen Sektor verboten wurde. Was war der Sinn der Vereinigung von KPD und SPD? Worum es in der sich zuspitzenden Auseinandersetzung um die Vereinigung beider Parteien ging, wird in der folgenden Darstellung deutlich: „Um jeden Preis sollte die Vereinigung der Arbeiterparteien in der sowjetischen Besatzungszone hintertrieben werden. Zu ihrer wichtigsten Ausgangsbasis wurde Westberlin gemacht, wo Spalter unter dem Schutz der westlichen Kommandanten volle Aktionsfreiheit erhielten. Bis dahin verkappte Einheitsfeinde wie Dahrendorf, Klingelhöfer und Germer, die die gemeinsame Erklärung vom 20. und 21. Dezember 1945 unterschrieben hatten, traten nun in aller Offenheit gegen die Vereinigung auf. Übrigens waren das die gleichen Leute, die im Mai 1945 die eifrigsten Verfechter eines sofortigen Zusammenschlusses gewesen waren, als sie erhofften, dabei die Zügel in die Hand zu bekommen.“ [21] Anliegen der überwiegenden Mehrzahl der alten und neuen Mitglieder wurde schon von Anfang an dadurch überschattet, daß es vielen leitenden Funktionären beider Parteien darum ging, die Zügel in die Hand zu bekommen.

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Westliche Besatzungsmächte verhindern die Vereingung Als offensichtlich wurde, daß die Vereinigung von SPD und KPD einen wachsenden Einfluß der durch die faschistische Verfolgung in besonderem Maße dezimierte Anzahl der Kommunisten zur Folge haben würde, wurde dieser Prozeß in den Westzonen von den Besatzungstruppen mit Verboten behindert und schließlich abgewürgt. [22] Nach dem Scheitern des 1930 vom ZK der KPD unterbreiteten ‘Programms zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes’ und der darin beabsichtigten Errichtung eines Sowjetdeutschland [23] wurden jetzt – nach den Erfahrungen mit 12 Jahren faschistischer Diktatur – grundlegend andere Vorstellungen zur Zukunft Deutschlands erarbeitet. Ein Aufruf der KPD mit einem Hinweis Stalins Im Aufruf der KPD-Führung fanden sich jetzt folgende Worte: „Wir sind der Auffassung, dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“ [24] Nach Erinnerungen Paul Wandels hatte Stalin diesen Absatz in den ihm vorgelegten Entwurf selbst eingearbeitet. [25] Nicht nur die barbarischen Vorstellungen des Militarismus, des Rassismus und die faschistische Ideologie vom Herrenmenschen, sondern auch die damit verbundenen Verhaltens-, Denk- und Lebensweisen waren viel zu tief im Alltagsbewußtsein der deutschen Bevölkerung verankert, als daß unter diesen Bedingungen an eine sozialistische Orientierung zu denken gewesen wäre. Walter Ulbricht: Nicht den zweiten Schritt vor dem ersten! Parallel mit der Sicherung der Lebensbedingungen und in der Phase des Wiederaufbaus mußte zugleich die Entnazifizierung großer Teile der Bevölkerung, die Verfolgung von Naziverbrechen und die Schaffung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung in Angriff genomm~n werden. Zu Recht verwies Ulbricht im Juli 1946 auf einer KPD-Beratung in München darauf, daß es „Funktionäre der Arbeiterbewegung gibt, die offenkundig nur deshalb von Sozialismus sprechen, weil sie damit die Arbeiterschaft über die nächsten antifaschistischen Aufgaben hinwegtäuschen wollen.“ Sektierertum und eine falsche sozialistische Phraseologie Wie sich im Zuge der Durchsetzung einer wirklich ernst zu nehmenden Alternative nur allzu bald herausstellte verfolgte diese sozialistische Phraseologie nicht nur den Zweck, das Interesse der durch Kriegsfolgen und Orientierungsverlust desinteressierten Massen mit populistischen Sprüchen parteipolitisch zu instrumentalisieren. Hinter der Losung des Sozialismus wurden nicht nur praktische Schritte zur Vereinigung der Arbeiterparteien hintertrieben. Die Vereinigung von KPD und SPD gelang Nach Auseinandersetzungen mit den sektiererischen Positionen einiger Kommunisten und dem nicht weniger komplizierten Streit mit reformistischen Tendenzen in der SPD fanden am 30.3. in getrennten Konferenzen der KPD (im ‘Elstertal’) und der SPD (im ‘Felsenkeller’) zunächst vorbereitenden Beratungen statt, bevor es im ‘Capitol’ zur Vereinigung zur SED kam. „Mit einer Gegenstimme fand die Vereinigung von 35.905 SPD- und 26.222 KPDMitgliedern in Leipzig ihren Abschluss. Ernst Lohagen (KPD) und Stanislaw Trabalski (SPD) wurden zu gleichberechtigten Vorsitzenden gewählt.“ [26]

Quelle: Klaus Hesse: Leipziger Wirtschaft, eine Stadt zwischen Handelskapital, industriellem Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus, realem Sozialismus und globalisierter Finanzkrise. Eigenverlag Leipzig 2009, S.72-80. (Zwischenüberschriften eingefügt, N.G.)

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Zitate und Anmerkungen: [1] Leipzig im Bombenhagel – Angriffsziel Haddock. Zu den Auswirkungen der alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt Leipzig, Leipzig 1998, S. 195. [2] O. Groehler Geschichte des Luftkrieges, a.a.O., S. 509. [3] D. und S. Kürschner: Das Kriegsende in Leipzig und Nordwestsachsen, in: Kriegsschauplatz Sachsen 1945 – Daten, Fakten, Hintergründe, Altenburg 1995, S. 49. [4] Brief der IHK zu Leipzig an den Oberbürgermeister vom 25.7.1945 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, IHK72/6. [5] so in dem, dem Autor vorliegenden, Lebenslauf Max Walters vom 4.4.1951 auf S. 5. Daraus geht auch hervor, daß Walter nur auf Fürsprache Wilhelm Piecks und Walter Ulbrichts wieder frei gelassen wurde. [6] siehe Wirtschaft, unter: http://www.archiv.sachsen.de/archive/leipzig/1593.htm [7] siehe Anhang 1 [8] Huth, Kirste, Oehme: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit (1945-1961) in: Neues Leipzigisches Geschicht-Buch, a.a.O., S. 300. [9] ebd. S. 281. [10] siehe: Sächsisches Staatarchiv Leipzig 3249/3248 Nr. 82. [11] siehe: Weißbuch über die amerikanisch-englische Interventionspolitik in Westdeutschland und das Wiedererstehen des deutschen Imperialismus, Lpz. 1951, S. 21. [12] W. Ulbricht: Zur Geschichte der neuesten Zeit, Berlin 1955, S.286. [13] R. Siebert Für ein besseres Leben, in: Wie die Arbeiter- und Bauernmacht entstand – Erlebnisberichte aus Sachsen/Anhalt, Halle 1960, S. 61. [14] W. Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Bd.2, Leipzig 1990, S.404. [15] siehe: Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands v. 11.6.1945. In: Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 2: 1945-1971, Berlin 1986, S. 12-15. [16] Aufruf des Zentralausschusses der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands v. 15.6.1945. In: Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 2: 1945-1971, Berlin 1986, S. 7/9. [17] R. Siebert: Für ein besseres Leben. In: Wie die Arbeiter- und Bauernmacht entstand – Erlebnisberichte aus Sachsen/Anhalt, a.a.O., S. 73. [18] B. Koenen: Wie entstand die Einheit der Arbeiterparteien? In: Wie die Arbeiter- und Bauernmacht entstand – Erlebnisberichte aus Sachsen/Anhalt, Halle 1960, S. 13ft [19] W. Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Band 2, a.a.O., S. 480 [20] W. Ulbricht: Zur Geschichte der neuesten Zeit, a.a.O., S. 292f. [21] ebd. S.303. Siehe auch: siehe auch: W. Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Bd. 2, a.a.O., S.453. [22] W. Ulbricht: Zur Geschichte der neuesten Zeit, a.a.O., S. 320f . [23] siehe: Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes, in: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin 1967, S. 124 [24] siehe: Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands v. 11.6.1945., In: Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 2: 1945-1971, a.a.O., S. 12 [25] H.Betzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte-Verlauf-Hintergründe. Berlin 2003, S. 14f. [26] W. Ulbricht: Die Hauptaufgaben der KPD in Westdeutschland, Referat auf einer KPD-Beratung in Munchen, 28. Juli 1946, In: W. Ulbncht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung – Aus Reden und Aufsätzen, Bd.III: 1946-1950, Berlin 1953, S. 21. [27] Huth, Kirste, Oehme: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit (1945-1961). In: Neues Leipzigisches Geschicht-Buch, a.a.O., 279f. Anmerkung: Der Autor ist ausdrücklich an Hinweisen zur Überarbeitung und Ergänzung ebenso wie an der Verbreitung dieses Inhalts interessiert und legt dem Nachdruck und anderer Verwendung keinerlei Hindernisse in den Weg. (Dr. Klaus Hesse, Hinrichsenstraße 25, 04105 Leipzig)

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