Kirchenmusikalisches Jahrbuch

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Kirchenmusikalisches Jahrbuch

Im Auftrag der Görres-Gesellschaft und in Verbindung mit dem Allgemeinen Cäcilien-Verband für Deutschland herausgegeben von Ulrich Konrad

99. Jahrgang – 2015

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Kirchenmusikalisches Jahrbuch Gegründet 1886 von Franz Xaver Haberl (1840–1910) „zum Besten der Kirchenmusikschule Regensburg“, die von ihm 1873 errichtet wurde. Seit 1909 wird das Jahrbuch finanziell gefördert von der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und wurde 1930–1982 herausgegeben vom Allgemeinen Cäcilien-Verband in Verbindung mit der Görres-Gesellschaft. Schriftleitung: Professor Dr. Ulrich Konrad (Institut für Musikforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Domerschulstraße 13, D-97070 Würzburg, Telefon: 0931/3182828, E-Mail: [email protected]); Dr. Inge Forst (Kessenicher Straße 179, D-53129 Bonn, Telefon 0228/234872), Redaktion

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Auslieferung: Brockhaus/Commission, Kreidlerstraße 9, D-70806 Kornwestheim, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn ISBN 978-3-506-78720-0

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Inhalt

Martin Christian Dippon Textdarstellung und Textinterpretation in Josquins Stabat mater . . . .

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Christine Siegert Messen für Fürst Nikolaus II. Esterházy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Julia Ronge Beethovens kirchenmusikalische Ambitionen. Pläne, Ideen und Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jens Dufner Eine Anleitung zum Improvisieren – Ludwig van Beethovens Begleitungen zu den Lamentationen des Propheten Jeremia . . . . . . .

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Panja Mücke Schikaneders Hoffnungen, oder: Ideen zum narrativen Potential von Christus am Oelberge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Beate Angelika Kraus Zum religiösen Verständnis von Beethovens Musik in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eva Vičarová Zur Entwicklung der böhmischen Chormusik im 20. Jahrhundert Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Verfasser der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Textdarstellung und Textinterpretation in Josquins Stabat mater* Martin Christian Dippon

Textvertonung im Tenorsatz Innerhalb der Josquin-Forschung gilt die Untersuchung des Wort-TonVerhältnisses, um mit Helmuth Osthoff zu sprechen, als längst etablierter und intensiv erforschter Analysezugang. Die dazu verfasste Forschungsliteratur ist umfangreich, die Forschungsansätze sind vielfältig1. In der folgenden Analyse soll nun kein neuer Ansatz dargelegt, sondern ein bereits bekannter Zugang auf eine spezifische Problemstellung angewandt und anhand einer bestimmten Motette Josquins erörtert werden: Die Textvertonung im Tenorsatz. Hier, wo der Tenor als „fundamentum relationis“2 den musikalischen Satz weitgehend bestimmt, sei es durch die Vorgabe der möglichen Klänge während der Durchführungen in der Klanggestalt, durch die Wahl der Satztypen oder der Kadenzmöglichkeiten3, ist es keinesfalls selbstver-

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Für wertvolle Kritik danke ich herzlich meiner Kollegin Hanna Zühlke, sowie meinen Kollegen Hans-Jörg Ewert, Andreas Pfisterer, Konstantin Voigt und Herrn stud. mus. Holger Slowik vom Institut für Musikforschung der Universität Würzburg. Aus der Menge der Literatur zum Thema seien in enger Auswahl nur die folgenden Arbeiten genannt: H. Osthoff, Josquin Desprez, 2 Bde., Tutzing 1962–1965, passim; L. Finscher, Zum Verhältnis von Imitationstechnik und Textbehandlung im Zeitalter Josquins, in: Renaissance Studien. Helmuth Osthoff zum 80. Geburtstag, hrsg. v. L. Finscher, Tutzing 1979 (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 11), S. 57–72; P. P. Macey, Josquin’s „Miserere mei Deus”: Context, Structure, and Influence, 2 Bde., Berkeley 1985; ders., Josquin and Musical Rhetoric: Miserere mei, Deus and Other Motets, in: The Josquin Companion, hrsg. v. R. Sherr, New York 2000, S.485–530; J. Milsom, Josquin des Prez and the Combinative Impulse, in: The Motet around 1500. On the relationship of imitation and text treatment?, hrsg. v. Th. Schmidt-Beste, Turnhout 2012, S. 211–246. Der von Schmidt-Beste herausgegebene Sammelband bietet zudem einen guten Überblick über den allgemeinen Forschungsstand zum Thema Textbehandlung in der Motette um 1500. So Johannes Tinctoris in seinem Terminorum musicae diffinitorium. Faksimile der Inkunabel Treviso 1495. Mit der Übersetzung von Heinrich Bellermann und einem Nachwort von Peter Gülke, Kassel 1983 (= Documenta musicologica I/XXXVII), s. v.; vgl. auch E. de Coussemaker, Scriptorum de musica medii ævi. Novam Seriem a Gerbertina alteram, Bd. 4, Paris 1876. Neudruck Hildesheim u. a. 1987, S. 189b. Vgl. zur Determination des Satzes durch den Tenor M. Dippon, Determination und Freiheit. Studien zum Formbau in den Motetten Josquins, Tutzing 2010 (= Regensburger Studien zur Musikgeschichte 8), S. 23 f., 119 ff. Zur Tenormotette in der Renaissance vgl. die Arbeit von T. Sh. Pack, Axial Tenor Composition in the Renaissance, Ph.D. University of Indiana 2005.

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ständlich, dass der Text als weiteres Strukturmoment des musikalischen Satzes ebenfalls Berücksichtigung findet. Darin unterscheidet sich die Tenormotette fundamental von den anderen Motettentypen, die nicht dem Tenorprinzip folgen, wie etwa den Psalmmotetten Josquins oder den Motetti missales von Franchino Gaffurio und Gaspar van Weerbeke, aber auch den Motetten über Choralparaphrasen, wie Josquins O admirabile commercium-Zyklus oder dem Ave Maria ... virgo serena. Bei diesen Motetten lassen sich die Strukturelemente des Textes wie Strophen und Syntax nicht nur ohne weiteres in der Kadenzordnung oder dem Wechsel der Satzfakturen abbilden, vielmehr könnte man sagen, dass es gerade die Strukturen des vertonten Textes sind, die die Basis für die Form des musikalischen Satzes bilden. Verallgemeinert kann also gesagt werden, dass in den tenorfreien Motetten die Strukturen des Textes die Basis für die musikalische Syntax bieten oder bieten können, während bei der Tenormotette der Tenor die musikalische Syntax vorgibt. Tenorsatz, Formbau, Textdarstellung und -interpretation bei Josquin An Josquins Stabat mater lässt sich nun zeigen, dass der Komponist trotz der starken Determination des musikalischen Satzes durch das Tenorprinzip dem vertonten Text ebenfalls eine herausragende Rolle für den musikalischen Formbau zugewiesen hat4. Dies ist umso bemerkenswerter, als in Josquins Komposition bekanntlich der Tenor von der ersten bis zur letzten Mensur pausenlos erklingt, also keine einzige Mensur durch ihn undeterminiert bleibt. Insofern sind hier das Tenorprinzip und der Grad der Schwierigkeit für die Darstellung der Textstruktur im musikalischen Satz auf die Spitze getrieben. Das Instrumentarium der Textdarstellung hat Ludwig Finscher in seiner Analyse des Ave Maria ... virgo serena bereitgestellt5: Auf die formale Strukturebene des Textes bezogen wäre hier zunächst die Orientierung des musikalischen Formbaus an den Strophen zu nennen, deren Grenzen durch 4

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Dies habe ich in meiner in Anm. 3 genannten Dissertation, die stark auf einen rein musikalischen Formbau abhebt, noch anders dargestellt, wie die Analyse von Josquins Stabat mater auf S. 134–139 zeigt. Die im Schlusskapitel formulierte These, dass sich im Falle des Stabat mater „dessen zumindest angedeutete Dreiteilung innerhalb der Partes weder aus dem zugrunde liegenden Tenor, noch aus dem Text ableiten“ lasse (S. 249), kann im Hinblick auf den Text so nicht mehr vertreten werden. Die etwas einseitige Konzentration auf den musikalischen Formbau trifft auch auf meinen im Juni 2010 auf der Tagung Josquin des Prez – ein ‚unbeschreibliches‘ Genie? vorgetragenen Beitrag „Josquin incomparabilis“? Überlegungen zu Illibata dei virgo im Kontext der römischen Motettenüberlieferung zu, der innerhalb des von Michael Zywietz herausgegebenen Bandes Josquin Desprez und seine Zeit in der Reihe Große Komponisten publiziert werden soll. – An Analysen des Stabat mater sollen noch erwähnt werden: Milsom, Motets for Five or More Voices, in: The Josquin Companion, S. 299 f., und D. Fallows, Josquin, Turnhout 2009, S. 213 ff. Vgl. Finscher, S. 69 ff.

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Kadenzen oder den Einsatz noch nicht verwendeter Satzmodelle markiert werden. Finscher bezieht hier auch das Reimschema mit ein, das in der ersten Strophe des Ave Maria durch die Kadenzfloskel markiert wird. Doch geht Josquin nach Finscher im Ave Maria über die Verdeutlichung der formalen Struktur des Textes noch hinaus und vollzieht „den historisch entscheidenden Schritt von der Textdarstellung zur Textinterpretation“6. Die von Finscher namhaft gemachten Textinterpretationen lassen sich in zwei Gattungen differenzieren: in eine metaphorische Interpretation des Textes durch die Musik und in eine quantitative Hervorhebung einer Textstelle. Als metaphorische Textinterpretation wäre im Fall des Ave Maria z. B. „die immer stärkere melismatische Umkleidung des Chorals“ als Darstellung der „Vermenschlichung Gottes“ zu nennen7, oder offensichtlichere Vorgehensweisen wie den „Einsatz der akkordischen Vollstimmigkeit bei ‚solemni plena gaudio‘“8. Als quantitative Hervorhebung wäre das erstmalige Wiederholen einer Textzeile in der Motette zu nennen, hier der Zeile „Ave cuius conceptio“, „wodurch das Wunder der unbefleckten Empfängnis – bei dem der Text nicht weiter verweilt – hervorgehoben wird“9. Im Stabat mater wendet Josquin im Großen und Ganzen dasselbe Instrumentarium zur Textdarstellung und Textinterpretation an, aufgrund des permanent durchlaufenden, den Satz somit in jeder Mensur determinierenden Tenors allerdings unter völlig anderen satztechnischen Bedingungen10. Das gilt zunächst für die Darstellung der Textstruktur auf der Formebene durch analoge Strukturen des musikalischen Satzes. Hier wären zunächst die 16 Doppelstrophen der Komposition Josquins zu nennen, die, wenn man das abschließende „Amen“ noch hinzunimmt, sämtlich durch Kadenzen abgeschlossen werden. Das ist in einem Satz, in dem der Tenor die Kadenzstellen vorgibt, keineswegs selbstverständlich. Mit dem Tenor kadenzieren daher auch nur die 3 Doppelstrophen 2ab, 5ab und 10ab, an den übrigen Kadenzen nimmt der Tenor mit keiner der drei Hauptklauseln (clausula tenorizans, cantizans oder basizans) am Kadenzvorgang teil. Seltener findet der Einsatz von Kadenzen auf der Formebene der Halbstrophen statt (1a, 5a, 10a mit Einschränkung), noch seltener auf der Versebene (nur 3b, 9a Vers 1). Die Form des Textes auf der Ebene der Halbstrophen und Verse wird im musikalischen Satz zumeist durch Fakturwechsel angezeigt. Das kann auch für die Syntax des Textes gelten, die vielfach mit der formalen Struktur in Strophen und Versen parallel geht. Beispielhaft zu nennen wäre hier die Vertonung der ersten beiden Verse der Strophe 3a in Bicinien; von ihr wird diejenige des Schlussverses vollstimmig abgesetzt. 6 7 8 9 10

Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Ebd. Ebd. Die Textdeklamation steht nicht im Zentrum dieses Ansatzes. Vgl. zu diesem Thema die ausführliche Arbeit von Th. Schmidt-Beste, Textdeklamation in der Motette des 15. Jahrhunderts, Turnhout 2003.

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Auch das Reimschema findet hier und da Beachtung, wie die motivische Parallelisierung der Endreime „mortem / sortem“ der ersten beiden Verse in Strophe 8b zeigt. Auf der Ebene der Textinterpretation stellt sich einer einfachen Übernahme der von Finscher dargelegten ersten Kategorie aber die Schwierigkeit entgegen, dass der Text des Stabat mater im Rahmen der satztechnischen Möglichkeiten der Zeit nur wenig Gelegenheit zur metaphorischen Ausdeutung bietet. Am nächsten läge wohl noch die musikalische Interpretation des Schwertes, das durch das Herz Marias geht (Strophe 1b); diese könnte etwa mittels durchgehender Semiminimen dargelegt werden. Anders steht es mit der quantitativen Hervorhebung, die Josquin z. B. in Strophe 5b zu „in amando Christum Deum“ anwendet. Allerdings lässt sich eine musikalische Textinterpretation in Josquins Motette noch in anderer Weise fassen: So kann von einer musikalischen Interpretation des Textes m. E. durchaus auch dann gesprochen werden, wenn die Sinneinheiten des Textes auch im musikalischen Satz als Einheiten dargestellt und damit als solche dem Hörer präsentiert werden. Dies kann z. B. an den ersten beiden Doppelstrophen gezeigt werden, deren Texte eine Sinneinheit bilden, die durch das Satzmodell der Fuga auch zu einer musikalischen Einheit verbunden wird. Ebenso kann der gezielte Einsatz derselben Satztechnik bei Textstellen, deren semantische Beziehung durch die musikalische Analogie verdeutlicht wird, als musikalische Interpretation gelten. Als Beispiel können die ersten beiden Verse der Strophe 1b „cujus animam gementem ...“ gelten, die die „stabat mater dolorosa“ des Eröffnungsverses der Strophe 1a beschreiben. An beiden Stellen findet sich eine absteigende Diastematik in Semibreven, die zudem durch die analogen Satzmodelle der Fuga in 1b und des Imitationsfeldes in 1a vertont und somit aufeinander bezogen sind. Allerdings ist hier einzuräumen, dass die Klassifizierung der musikalischen Verdeutlichung einer Sinneinheit oder die Verbindung von Sinneinheiten durch musikalische Bezüge als Textinterpretation weit weniger offensichtlich ist als die metaphorische oder quantitative Textinterpretation, und auch durchaus als rein musikalische Verdeutlichung der Struktur des Textes verstanden werden könnte. Dennoch scheint es mir nicht verfehlt zu sein, hier die Kategorie der Textinterpretation anzuwenden. Denn auch bei der metaphorischen oder quantitativen Textinterpretation kann die Musik, die selbst keine Semantik besitzt, nichts anderes tun, als die im Text vorhandene Semantik hervorzuheben. Und dies ereignet sich dort ebenso, wo eine die Strophen übergreifende Sinneinheit durch eine musikalisch einheitliche Struktur oder ein semantischer Bezug zwischen Textstellen durch analoge Satzmodelle sinnfällig gemacht wird. Insofern können auch diese Vorgehensweisen als musikalische Textinterpretation gelten. Wie erwähnt, ist die Verwendung des dargelegten Instrumentariums zur Textdarstellung und bisweilen zur Textinterpretation in den Motetten ohne Tenor nichts Außergewöhnliches. Dass die Situation unter den Be-

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dingungen des Tenorprinzips hingegen eine ganz andere und Josquins Textvertonung im Stabat mater keinesfalls der Normalfall ist, zeigt der Vergleich von Josquins Motette mit dem Stabat mater seines Zeitgenossen Gaspar van Weerbeke. Beide Vertonungen sind als fünfstimmige Tenormotetten konzipiert und im Codex Chigi, der einzigen Quelle für Weerbekes Komposition, in direkter Folge hintereinander aufgezeichnet11. Weerbekes Komposition kann in vieler Hinsicht als beispielhaft für die Textbehandlung in der Tenormotette der Josquin-Zeit gelten. Dies gilt allerdings vornehmlich für die Kompositionen, denen ein in Versen gebundener Text zugrunde liegt, wie dies in der Regel bei Sequenzen und damit auch beim Stabat mater der Fall ist. Vertonungen von Prosa-Texten unterliegen hingegen anderen Gegebenheiten und werden in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt. Generalisierend kann für die Textbehandlung der Tenormotette gesagt werden, dass das Abbilden der Textstruktur, seien es die Strophen, Verse oder die Syntax, in den tenorfreien Abschnitten gängig ist. Das gilt ebenso für das Absetzen der Einzelstrophen durch einen Wechsel in Faktur oder Motivik sowie durch Kadenzen, die bisweilen auch auf der Versebene als musikalische Strukturelemente angewandt werden können. Es ist also dasselbe Vorgehen, das von den tenorfreien Motetten her bekannt ist. Seine Anwendung in den tenorfreien Abschnitten ist daher nicht weiter verwunderlich. Für die Tenordurchführungen kann dies jedoch nicht gelten. Hier ist es die Regel, dass die tenorfreien Stimmen mit dem Tenor kadenzieren, also der Tenor die musikalische Syntax vorgibt, wobei die Kadenzen mit Strophen- oder Versgrenzen zusammenfallen können, aber keineswegs müssen. Eine systematisch durchgeführte Parallelisierung der Strophenoder auch der Versgrenzen mit den Kadenzen des musikalischen Satzes ist im Allgemeinen nicht zu beobachten. Dies gilt auch für den gezielten Einsatz von Satzmodellen oder motivischen Parallelisierungen, die Josquin zur Textinterpretation verwendet. Um einer Verengung der Perspektive durch die Konzentration auf nur zwei Werke zu entgehen, werden neben den beiden Stabat mater-Vertonungen noch zwei weitere Sequenzmotetten mit Tenorprinzip wenigstens auszugsweise analysiert.

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Vgl. Vatican City, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms Chigi C VIII 234. Introduction by Herbert Kellman, New York-London 1987 (= Renaissance Music in Facsimile 22): Josquin fol. 241v-245r, Weerbeke fol. 245v-249r. Zu Entstehungszeit und -ort sowie der möglichen Verwendung der Motetten vgl. für Josquin B. Haggh, Du Fay and Josquin at the Collegiate Church of St. Gudila, in: Revue belge de Musicologie 55 (2001), S. 41–52, besonders S. 50 f., und für Weerbeke A. Pavanello, STABAT MATER / VIDI SPECIOSAM: Some Considerations on the Origin and Dating of Gaspar van Weerbekes’s Motet in the Chigi Codex, in: Tijdschrift van de Koninklijke Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 60 (2010), S. 3–19.

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Textbehandlung in Gaspar van Weerbekes Stabat mater12 Bekanntlich besteht die Sequenz Stabat mater aus 10 Doppelstrophen zu je 6 Versen mit der Versstruktur 8p+8p+7pp+8p+8p+7pp, der sog. Stabat mater-Strophe13. Weerbeke vertont den kompletten Text, wobei die Secunda pars mit Strophe 6a „Sancta mater istud agas“, der rechnerischen Mitte des Textes beginnt. In der Gesamtkonzeption erinnern einige Elemente seiner Motette an die Tenormotetten der Generation vor ihm, namentlich von Johannes Regis14, wie etwa der Wechsel vom perfekten zum imperfekten Tempus von der Prima zur Secunda pars – bei Josquin stehen beide Partes im imperfekten Tempus – oder auch der dreistimmige Motettenbeginn mit den Stimmen Superius, Altus und Vagans und der Beginn der Secunda pars als Bicinium. Auch die Fragmentierung des Cantus prius factus in relativ kurze Partikel von nur sechs oder sieben Mensuren in der Secunda pars erinnert an Regis15. Die Verwendung der Hohelied-Antiphon Vidit speciosam sicut columbam als Tenor gehört offenbar in den von Rupert von Deutz begründeten marianischen Zweig der mittelalterlichen Hoheliedexegese16. Wie in der Tenormotette allgemein üblich, und anders als in Josquins Vertonung, erklingt der Tenor in Weerbekes Stabat mater nicht permanent, sondern in 10 Tenordurchführungen, die von tenorfreien Abschnitten umgeben sind. Insgesamt findet sich der Tenor in 117 von 214 Mensuren, also in etwas mehr als der Hälfte der Motette. Damit bleibt viel Raum, den vertonten Text ohne Tenordetermination und damit gut verständlich in 12

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Moderne Edition in Gaspar van Weerbeke. Collected Works, Vol. IV: Motets. Edited by Agnese Pavanello in collaboration with Andrea Lindmayr-Brandl, o. O. 2010 (= Corpus mensurabilis musicae 106), S. 83 ff., sowie H.-J. Winkler, Die Tenormotetten von Johannes Regis in der Überlieferung des Chigi-Kodex, Bd. 2: Edition, Città del Vaticano-Turnhout 1999 (= Capellae Apostolicae Sixtinaeque Collectanea Acta Monumenta 5), S. 23 ff. Die Notenbeispiele folgen in der Textlegung den Collected Works, ebenso in der Stimmenbezeichnung S = Superius, A = Altus, T = Tenor, V = Vagans, B = Bassus. Die Verkürzung der Notenwerte ist jedoch aufgehoben. Vgl. D. Norberg, An Introduction to the Study of Medieval Latin Versification, translated by Grant C. Roti & Jacqueline de La Chapelle Skubly, edited with an introduction by Jan Ziolkowski, Washington D.C. 2004, S. 111, 168 f. Der Text der Sequenz ist ediert in: Die Sequenzen, hrsg. v. Cl. Blume, Leipzig 1915 (= Analecta hymnica medii aevi 54). Nachdruck Frankfurt a. M. 1961, S. 312 f., sowie in Gaspar van Weerbeke. Collected Works, Vol. IV, LXIXf, und im Kritischen Kommentar zur Ausgabe von Josquins Motette in: Josquin des Prez. New Edition of the Collected Works, Vol. 25: Motets on non-biblical Textes 5, Bd. 3: De beata Maria virgine, hrsg. v. W. Elders, Utrecht 2009 (im Folgenden New Josquin Edition). Vgl. dazu die Edition von Winkler, sowie Johannes Regis. Opera Omnia, Vol. II, hrsg. v. C. Lindenburg, o. O. 1956 (= Corpus mensurabilis musicae 9). Vgl. etwa Clangat plebs von Johannes Regis. So auch R. Sherr, Illibata dei virgo nutrix and Josquin’s Roman Style, in: Journal of the American Musicological Society 41 (1988), S. 443, Anm. 9. Vgl. G. Gerleman, Ruth. Das Hohelied, Neukirchen-Vluyn 1965 (= Biblischer Kommentar Altes Testament, Bd. 18), S. 46 f. Dazu auch Pavanello, passim.

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Bicinien oder auch in anderen Stimmenkombinationen darzubieten, was Weerbeke reichlich nutzt. Allerdings wird der Text auch in den Tenordurchführungen weitgehend syllabisch dargeboten und damit dessen Verständlichkeit gesichert. Kleine Melismen finden sich eher in den Bicinien der tenorfreien Teile. Der Beginn des Stabat mater kann insofern als typisch für die tenorfreien Teile gelten, als er die Strophenordnung, teilweise auch die Versstruktur, in der Faktur des Satzes abbildet (siehe Notenbeispiel 1). Die erste Halbstrophe wird als Tricinium vertont, die ersten beiden Verse als Einheit, von der der dritte Vers, syntaktisch ein Nebensatz, durch eine e-Kadenz abgesetzt wird. Die vierte Silbe in den ersten beiden Versen („mat e r “ / „cruc e m “) wird durch dieselbe Diastematik parallelisiert. Das Tricinium endet mit einer a-Kadenz in Mensur 8 f., die den Strophenschluss markiert, wobei die Bassklausel jedoch trugschlüssig nach f ausweicht, anstatt zum A zu gehen, und damit die Vertonung der zweiten Halbstrophe beginnt. Der Bassus trägt noch den ersten Vers vor, um die Stafette dann an die beiden Oberstimmen weiterzugeben, die seinen Soggetto für den ersten Vers übernehmen. Die beiden folgenden, durch die Konjunktion „et“ verbundenen Partizipien „contristant e m “ und „dolent e m “, die den Vers 2 bilden, werden durch dieselbe Motivik parallelisiert, wobei der Altus mit „pertransivit“ das erste Wort des dritten Verses noch dazu nimmt. Die Parallelisierung bzw. Vereinheitlichung der Worte mit selber Endung, die Verdeutlichung des Binnenreims, ist also nicht ganz systematisch durchgeführt, zumal dann „gement e m “ aus Vers 1 noch hätte hinzugenommen werden müssen. Das Ende der Halbstrophe wird wieder durch eine eKadenz markiert. In die e-Kadenz von Mensur 16f setzt das tiefe Unterstimmenbicinium aus Vagans und Bassus mit Halbstrophe 2a ein, worauf in Mensur 26 mit dem Oberstimmenbicinium aus Superius und Altus die Halbstrophe 2b folgt, die in Mensur 30f ebenfalls mit einer e-Kadenz endet. Diese bildet dann den Einsatzort für die erste Tenordurchführung. Jeder Strophe entspricht also im musikalischen Satz ein Bicinium, in der Halbstrophe 2a werden sogar die Einzelverse durch Kadenzen markiert, während das Oberstimmenbicinium ohne Kadenz durchläuft. Auf der formalen Ebene des Textes sind die Strophenstrukturen im musikalischen Satz also ohne weiteres erkennbar. Auch findet sich ein Ansatz zur Hervorhebung von Worten mit gleicher Endung (ein echter Reim liegt nicht vor) durch motivisch analoge Vertonung wie in Strophe 1b; er wird hier jedoch nicht systematisch durchgeführt. Dieser Ansatz wird auch in Strophe 2b nicht wieder aufgenommen, obgleich er aufgrund des zusätzlich vorhandenen Binnenreims nahe läge: „que mereb a t et doleb a t , dum videb a t “. Das sonst ebenfalls überlieferte „et tremeb a t “ bleibt zudem unvertont. Aus der fehlenden Systematik in der Anwendung der Motivik kann man schließen, dass der Imitationsabschnitt in Strophe 1b eher zufällig zwei Worte mit gleicher Endung parallelisiert und es Weerbeke offenbar

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Notenbeispiel 1: Gaspar van Weerbeke, Stabat mater, Motettenbeginn

nicht auf eine Abbildung der Reimstruktur oder der gleichen Wortendung in der musikalischen Faktur ankam. Im Gesamten entspricht seine Vertonung dem gängigen Bild der Textdarstellung im tenorfreien Satz: Die Struktur der Halbstrophen wird durch Fakturwechsel mit und ohne Kadenzen dargelegt, bisweilen werden auch die Versgrenzen durch die Kadenzen markiert. Die weiteren tenorfreien Teile der Motette, die meist als Bicinien oder auch Tricinien gestaltet sind, bieten hinsichtlich der Textvertonung nichts grundsätzlich Neues. Hingewiesen werden soll jedoch noch auf die Strophe 4b „vidit suum dulcem natum“ ab Mensur 55. Sie besingt den Tod Jesu und ist daher inhaltlich von Bedeutung. Ihr geht mit dem Schlussvers von Strophe 4a „et flagellis ...“ ein bemerkenswertes Bicinium voran, das aus Altus und Tenor besteht, der die Choralvorlage hier jedoch stark verziert vorträgt und damit seinen Charakter als Achsenstimme verloren hat. An dieses Bicinium schließt sich die Strophe 4b als Oberstimmenbicinium an, dessen Verse nun sehr penibel durch Kadenzen getrennt sind: Nach Vers 1 steht im Superius eine Minima-Pause nach der Finalis. Der mittlere Vers „morientem desolatum“ ist beinahe durchweg als Gymel vertont, der in Vers 3 bei „emisit spiritum“ nochmals kurz anklingt. Vielleicht hat Weer-

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