kirche im aufbruch Reformprozess der EKD Evangelische Predigtkultur Zur Erneuerung der Kanzelrede

Evangelische Predigtkultur Die evangelische Predigt ist beliebt und umstritten zugleich. Das zeigen die Beiträge dieses Bandes, der zentrale Themen d...
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Evangelische Predigtkultur

Die evangelische Predigt ist beliebt und umstritten zugleich. Das zeigen die Beiträge dieses Bandes, der zentrale Themen des im Oktober 2009 neu gegründeten „Zentrums für evangelische Predigtkultur“ diskutiert. So äußern sich beispielsweise Margot Käßmann und Katrin Göring-Eckardt grundlegend zur Predigt der Gegenwart und zu den Aufgaben des neuen EKD-Zentrums. Prominente aus Kultur, Politik und Kirche blicken zustimmend und kritisch auf die Predigt. Theologen, ein Literat und ein Rhetorikprofessor fragen, ob die evangelische Predigt eine Erneuerung braucht. Es entstand eine Sammlung mutiger und weiterführender Texte, die die Kultur der Predigt voranbringen wird.

kirche im aufbruch Re fo r m p ro ze ss d e r E K D

Evangelische Predigtkultur Zur Erneuerung der Kanzelrede

ISBN 978-3-374-02799-6

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783374 027996

EUR 14,80 [D]

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Evangelische Predigtkultur Zur Erneuerung der Kanzelrede

kirche im aufbruch Re for m proze ss d e r E KD

Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD Band 1

Evangelische Predigtkultur Zur Erneuerung der Kanzelrede

Im Auftrag des Zentrums für evangelische Predigtkultur herausgegeben von Alexander Deeg und Dietrich Sagert

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2011 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany · H 7461 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig Druck und Binden: Druckhaus Köthen GmbH ISBN 978-3-374-02799-6 www.eva-leipzig.de

Geleitwort

Im Jahr 2009 haben drei Zentren, die den Reformprozess der EKD unterstützen sollen, ihre Arbeit aufgenommen. Ich freue mich sehr, dass mit diesem Buch ein erster Band vorliegt, der anregende Ergebnisse aus der Arbeit im Anfangsjahr des „Zentrums für evangelische Predigtkultur“ in Wittenberg weitergibt. Besonders erfreulich ist die Vielzahl von Perspektiven, die in diesem Band vorgestellt werden. Das Wittenberger Zentrum begnügt sich nicht mit einer binnentheologischen und binnenkirchlichen Sicht der Dinge, sondern sucht im Dialog stets den Blick von Außenstehenden. So kommen unter anderen ein Rhetoriker aus Tübingen, eine Journalistin aus Berlin und ein Schriftsteller aus Wittenberg zu Wort. Auch der Brückenschlag über den Atlantik ist gelungen: Charles Campbell, ein profilierter US-amerikanischer Homiletiker, konnte für ein Seminar und für gleich zwei sehr lesenswerte Beiträge gewonnen werden. Dass man auch kritische Stimmen wahrnimmt und ernst nimmt, zeigen z. B. der Beitrag von Joachim Kunstmann und einzelne Statements wie das vom Romancier und Essayisten Dieter Wellershoff. Gerade diese Außenstimmen können von großer Bedeutung für die Reflexion der eigenen Predigtgestaltung sein. Das wusste schon Ernst Lange, der den Gottesdienst und die Predigtaufgabe immer wieder von denen her denken wollte, die (aus ganz verschiedenen Gründen) nicht in den Gottesdienst kommen. Sich von Kritikern den Spiegel vorhalten zu lassen und dabei nicht entmutigt, sondern sensibilisiert durch den Blick von außen neue Sprachformen zu wagen, das kann der große Gewinn im Dialog mit den „Zaungästen“ sein. Dass Frauen predigen, ist protestantisches Zeugnis für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Auch wenn Pfarrerinnen 5

Geleitwort

mittlerweile in allen Landeskirchen gleiche Rechte wie ihre männlichen Kollegen haben, zeigen die Beiträge von Katja Albrecht und Ruth Heß, dass viele Fragen zur Predigt von Frauen in der Forschung bislang kaum reflektiert werden. Hier legen die Autorinnen und die Herausgeber den Finger in die Wunde und weisen auf ein echtes Desiderat hin – gerade vor dem Hintergrund, dass die Predigt von Frauen ein Proprium der evangelischen Predigtkultur darstellt. „Lustvoll und mutig“ – so stellt sich Alexander Deeg, der erste Leiter des Zentrums, der inzwischen Professor für Praktische Theologie in Leipzig ist, evangelische Predigt vor. Dieser Band hat das Potenzial, Lust zu wecken und Mut zu machen: durch Provokationen, durch die intellektuelle Herausforderung, durch den eigentümlichen und doch tröstenden Blick auf den Prediger als Narren, durch poetische Inspirationen. Lesen Sie und lassen Sie sich ermutigen und zur Predigt inspirieren von den Beiträgen dieses Bandes.

Präses Nikolaus Schneider Der Vorsitzende des Rates der EKD

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Vorwort

„Menschen, die predigen, sind eigentlich total verrückt …“ – ein Satz wie dieser prägt sich ein. Gesagt hat ihn Professor Charles Campbell von der Duke University im Juni 2010 bei einer Veranstaltung des Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg zum Thema „Politische Predigt in der Gesellschaft der Gegenwart“. Campbell erinnerte an die „Torheit des Evangeliums“ von der Paulus sprach, und ermutigte zu einer „närrischen“ Verkündigung jenseits der Wiederholung von Konventionen, Sprachschablonen und Klischees. „Hat die Predigt ein Geschlecht? Wechselt der Pfarrberuf gerade sein Geschlecht?“ – so fragte die Theologin Ruth Heß im Rahmen der Konsultation „Predigen Frauen anders?“, die im Oktober 2010 am Zentrum für evangelische Predigtkultur stattfand. Hat die Tatsache, dass Frauen in allen Landeskirchen der EKD seit rund 30 Jahren predigen, die evangelische Kanzelrede verändert? Die Konsultation hinterfragte Selbstverständliches und wies neue Wege zur Wahrnehmung der Pluralität evangelischer Predigtkultur jenseits von vorgefertigten Schemata. „Die Predigt der Gegenwart ist in höchstem Maße ineffizient“ – mit dieser Feststellung provozierte Professor Joachim Kunstmann (Weingarten) bei seinem Vortrag im Rahmen der „Woche der Predigtkultur 2010“ des Zentrums. Es ging bei dieser Woche im Melanchthonjahr innerhalb der Lutherdekade um die „Predigt als Bildungsereignis“. Und Kunstmann erwies sich, wie auch die anderen Referenten, keineswegs nur als Kritiker der evangelischen Kanzelrede. Beiträge aus diesen drei Veranstaltungen des Zentrums sowie aus unserer Eröffnungsveranstaltung im Februar 2010 haben wir für dieses Buch ausgewählt. Es stellt damit einige Höhepunkte aus 7

Vorwort

der Arbeit des Zentrums im ersten Jahr seines Bestehens zusammen, bietet Anregungen für die Kanzelrede, Ermutigungen und kritische Anfragen sowie Überlegungen, die in den nächsten Jahren weiter bedacht werden sollten. Wir danken allen, die unsere Arbeit in Wittenberg bereichert, Kolleginnen und Kollegen in der Predigtarbeit herausgefordert und angeregt und ihre Beiträge für diesen Band überarbeitet haben. Außerdem geht unser Dank an die Evangelische Verlagsanstalt in Leipzig für die ausgezeichnete verlegerische Betreuung, allen voran an Frau Dr. Annette Weidhas. Susanne Platzhoff, die Projektassistentin am Zentrum, hat viel Mühe in das Korrekturlesen und das Redigieren einzelner Beiträge gesteckt. Evangelische Predigtrede ist „praedicatio semper reformanda“. Wir hoffen, dass dieses Buch einige hilfreiche Anstöße dazu gibt. Wittenberg, im April 2011 Zentrum für evangelische Predigtkultur Alexander Deeg Dietrich Sagert

PS Dietrich Sagert: Nicht zuletzt belegen dieser Band und die Entwicklung des Zentrums für evangelische Predigtkultur das Glück eines Zusammentreffens. Ohne die Großzügigkeit, Neugierde, Risikobereitschaft und Kompetenz von Alexander Deeg hätte diese Arbeit nicht gelingen können. Ihm gilt mein Dank und ihm wünsche ich für seine neuen Aufgaben als Professor für Praktische Theologie in Leipzig das Beste. Dem Zentrum aber wünsche ich ein zweites glückliches Zusammentreffen mit einer/einem ebenso geeigneten neuen Leiterin/Leiter.

Inhalt

Erneuerte Predigt – grundlegende Impulse . . . . . . . . . . .13

Statements verschiedener Autorinnen und Autoren Erneuerung der Predigt!? – Wie ich mir die evangelische Kanzelrede wünsche … . . . . . . .15 Alexander Deeg Sprachwelten im Wechselspiel – Evangelische Predigt als praedicatio semper reformanda . . . . 25 Thomas Klie Der Beitrag der Kanzelrede zur rhetorischen Kultur unserer Gesellschaft – Ein unzeitgemäßes Desiderat . . . . . . .31 Christian Lehnert „Der Märchenbäume horizontale Sehnsucht“ – Drei Interventionen zeitgenössischer Gedichte in die Mundart des Predigens . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Martin Kumlehn Erneuerung der Predigt aus den Quellen des Selbst . . . . . . . 39 Josef Kopperschmidt Neue, statt bloß erneuerte Predigt . . . . . . . . . . . . . . . 43

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Inhalt

„Ich bin ein Narr geworden …“ – Zur politischen Predigt in der Gesellschaft der Gegenwart . . . 47 Charles Campbell Der Prediger als lächerlicher Mensch – Nackte Straßenpredigt und homiletische Torheit . . . . . . . . 49 Charles Campbell Predigt, die die Welt verändert !? – Ein Ausrufezeichen und ein Fragezeichen . . . . . . . . . . . 69

Evangelische Predigt als Bildungsereignis . . . . . . . . . . . 89 Joachim Kunstmann Neue Religiosität – neue Sprache – neue Predigt . . . . . . . . 91 Jacqueline Boysen Der Blick durch die Stäbe – Predigt und Sprache . . . . . . . . 103 Michael Herbst An die Gebildeten unter ihren Verächtern – Notwendigkeit und Chance missionarischer Predigt heute . . . 109 Anne Gidion Selig bist du, wenn du weißt, wie du sprichst – Leichte Sprache als Anregung für die Predigtrede . . . . . . . . 125 Philipp Stoellger Dekonstruktion des Christentums? – Eine Antwort auf Jean-Luc Nancy. . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhalt

Predigen Frauen anders …? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Katja Albrecht Predigen Frauen anders …?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ruth Heß Predigen Frauen anders? – Fragen über Fragen . . . . . . . . . 149

Perspektiven: Predigt-Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Dietrich Sagert Gut leben vor dem Requiem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Alexander Deeg Cultura verbi Dei – Ein Rückblick und Ausblick nach 18 Monaten „Zentrum für evangelische Predigtkultur“ . . 169

Liste der Beiträgerinnen und Beiträger. . . . . . . . . . . . . 185

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Erneuerte Predigt – grundlegende Impulse

Am 19. Februar 2010 war es endlich so weit: Nachdem das Zentrum für evangelische Predigtkultur als ein Kind des Reformprozesses der EKD über Jahre hin erdacht und konzipiert worden war und im Oktober 2009 seine Arbeit aufgenommen hatte, konnte an diesem Tag seine Eröffnung gefeiert werden. Mit der Eröffnung begann die programmatische Arbeit des Zentrums. Ein Büchlein mit Veranstaltungsangeboten nahm den Stand der Predigt in den evangelischen Kirchen in den Blick und wagte Schritte hinüber in die Bereiche Kultur, Kunst und Philosophie. In Sonderheit wurde der Grund gelegt zur Entwicklung eines Predigtcoachings (cura homiletica). Die an die Wittenberger Invokavit-Predigten Martin Luthers aus dem Jahr 1521 erinnernde Auftaktveranstaltung setzte ein Zeichen für eine der wichtigsten Aufgaben des Zentrums: die Vernetzung von konkreter Arbeit an der Predigt und homiletischer Theorie. Die damalige Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Dr. Margot Käßmann, war nach Wittenberg gekommen, ebenso die Präses der Synode der EKD und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Katrin Göring-Eckardt. Gemeinsam mit zahlreichen Gästen aus der Stadt Wittenberg sowie aus den Kirchen und den kirchlichen wie universitären Einrichtungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung konnten wir mit Reden, Musik, Empfang und Gebet das Zentrum eröffnen. Im Vorfeld hatten wir uns ein Bild gemacht über den Eindruck, den Prominente von evangelischer Predigt haben. So haben wir Statements mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten gesammelt und stellen sie in Auswahl in diesem Band vor. Darunter dokumentieren wir auch Worte zur evangelischen Predigtkultur, die Frau 13

Erneuerte Predigt – grundlegende Impulse

Käßmann und Frau Göring-Eckardt im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung geäußert haben. Im Anschluss an die Feierlichkeiten beschäftigten wir uns am 20. Februar in einem Symposium mit der inhaltlichen Weiterführung der Frage nach einer Erneuerung der Predigt. Was soll eigentlich erneuert werden und warum? Soll lediglich erneuert werden oder müsste die evangelische Predigt radikaler neu werden? Und wie kann eine solche Erneuerung gelingen? Vier Beiträge, die im Rahmen des Symposiums zur Diskussion gestellt wurden, dokumentieren wir in diesem Band.

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Erneuerung der Predigt!? Wie ich mir die evangelische Kanzelrede wünsche …

… unter dieser Überschrift haben wir sehr schlichte Briefe in die Welt ausgesandt. Angeschrieben wurden 35 Personen aus Kultur, Politik, Kirche. Wir waren gespannt, ob es überhaupt einen Rücklauf geben und wie er sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht gestalten würde. Wir wollten wissen, was (mehr oder weniger) prominente Zeitgenossen von der Predigt denken und von der evangelischen Predigt der Gegenwart erwarten. Neun Antworten haben wir bekommen, was einen Rücklauf von ziemlich genau 25 % bedeutet. Das reicht für eine quantitative empirische Studie nicht aus – und ist immerhin knapp für eine qualitative Studie. Geantwortet haben uns zwei Ministerpräsidenten, zwei Professoren, drei prominente Katholiken, ein Schriftsteller, ein prominenter Kulturmanager. Etwas mehr als die Hälfte der Rückläufe stammt von Katholiken, der etwas kleinere Teil von Evangelischen – der konfessionelle Proporz ist also nicht ganz gewahrt –, gleichzeitig aber haben wir ein sehr überzeugendes Signal für die ökumenische Dimension und die ökumenische Offenheit unseres Zentrums erhalten. So erfreulich dies ist, so betrüblich ist eine andere Statistik: Nur eine Frau und acht Männer haben geantwortet (wobei wir, wie wir gestehen müssen, auch nur sechs Frauen angeschrieben hatten – und 29 Männer. Damit entspricht die Quote der Rückmeldungen wieder etwa der Quote bei der Befragung und es lässt sich statistisch kein geschlechtsbedingtes Desinteresse oder Interesse an der Frage der Erneuerung der Predigt feststellen). Die Länge der Rückmeldungen differiert gewaltig. Die kürzeste Stellungnahme umfasst gerade einmal 49 Zeichen (mit Leerzeichen!), die längste immerhin 8.116 Zeichen (und kann damit schon fast als kleiner Essay bezeichnet werden). 15

Erneuerte Predigt – grundlegende Impulse

Die Antworten Inhaltlich haben wir in der Tat Herausforderndes zu lesen bekommen. Etwa die Hälfte der Voten warnt eindringlich, und zwar davor, dass sich evangelische Predigt an den „Zeitgeist“, an das von der Totalität der Ökonomie geprägte Denken der Gegenwart anpasst und dass sie auf diese Weise ihr Eigentliches, ihr herausforderndes und verstörendes Potenzial, verliert. In zwei Texten erscheint Jesus, der die Händler aus dem Tempel vertreibt, als Prototyp eines Predigers, wie er heute nötig sei. Auf unterschiedliche Weise wurden wir auch vor Oberflächlichkeit gewarnt. „Weg“, rief uns jemand zu, „weg mit dem oberflächlichen Selbsterfahrungsgerede und Betroffenheitsgeschwätz evangelischer Gutmenschen!“ Gefordert wurden stattdessen eine Besinnung auf die Bibel, ein Weg in die Stille oder ein mutiger Aufbruch ins Neue – jenseits der Bindung an ein einengendes dogmatisches Geländer. Aus den neun Antworten haben wir wiederum sieben ausgewählt und geben sie gekürzt wieder. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Von denen, die eine Kanzelrede halten, erwarte ich mit dem Martin Luther zugeschriebenen Wort: „Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf.“ Darüber hinaus erwarte ich eine unverstellte Offenheit, die die Menschen wirklich erreicht. […] In jeder öffentlichen Rede und gerade auch in einer Kanzelrede halte ich es für wesentlich, dass offen und ehrlich mit den Zuhörern umgegangen wird. Ich meine, dass dies auch bereits als Grundzug der Predigten beobachtet werden kann, die wir im Neuen Testament nachlesen können. Die Kanzelrede kann und muss allerdings immer Gottes Barmherzigkeit einbeziehen; darauf muss die politische Rede aufgrund ihres innerweltlichen Charakters leider verzichten.

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Wie ich mir die evangelische Kanzelrede wünsche …

Christine Lieberknecht, Theologin und Ministerpräsidentin des Freistaats Thüringen „Die Predigt ist kein Appetitbissen, sondern das Brot des Lebens“, hat Horst Georg Pöhlmann 1973 in seinem „Abriss der Dogmatik“ geschrieben. Diese Meinung, die ich ausdrücklich teile, sollten wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen. Es gehört zum Wesen der Kirche, dass sie zwar im Hier und Jetzt tätig ist, aber nicht primär für das Hier und Jetzt lebt. Der Zeitgeist ist flüchtig und einem ständigen Wandel unterworfen. Christus aber begleitet uns in Zeit und Ewigkeit. […] Gottesdienst muss Gottesdienst und Predigt muss Predigt bleiben. Nur die Besinnung auf die eigentliche Aufgabe der Verkündigung versetzt die Kirche in die Lage, „modernen“ Ansprüchen genügend, nicht zeitgeistgeleitet und -verleitet, sondern den Geist der Zeit mit prägend, sich der Auseinandersetzung mit anderen zu stellen. Eberhard Jüngel, Evangelischer Theologe Ich predige nicht über das Predigen. Ich predige. Erzbischof Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz Ich wünsche mir eine Predigt, die das Evangelium als Frohe Botschaft lebendig werden lässt und sie in das Leben der Menschen spricht – so wie Jesus Christus selbst auf dem Weg nach Emmaus den Jüngern die Schrift ausgelegt hat und sie dadurch ihr eigenes Erleben in der Schrift finden. Eine Predigt soll aktuelle Bezüge haben; sie tut gut daran, gesellschaftspolitisch einzufordern, was unser Glaube uns als Werte schenkt. Eine Predigt ist gut, wenn sie die Mitfeiernden des Gottesdienstes zur Mitte hin mitnimmt und sich nicht in Nebenthemen verliert; sie ist gut, wenn die christliche Hoffnung und damit der Lebenswert des Glaubens sich wie ein roter Faden durch die Auslegung des Wortes Gottes ziehen. 17

Erneuerte Predigt – grundlegende Impulse

Frère Alois, Prior der Gemeinschaft von Taizé Seit Jahren ist uns in Taizé wichtig, dass Elija die Stimme Gottes nicht im Sturm und nicht im Feuer, sondern „in einem stillen, sanften Sausen“ (1Kön 19,12) vernahm. Welche Predigt lässt den Ursprung des Wortes Gottes im Schweigen erahnen: „Als alles still war, fuhr dein Wort vom Himmel herab“ (Weish 18,14–15)? Welche Predigt führt zum anbetenden Schweigen: „Aber der Herr ist in seinem heiligen Tempel. Es sei vor ihm still alle Welt!“ (Hab 2,20)? […] „Sie kennen seine Stimme“ (Joh 10,4). Eine Predigt besteht nicht nur in Aussagen, sondern sie hat auch eine Tonart. Alles mag richtig sein und doch kann die unverkennbare Stimme Christi fehlen. Dann kann es geschehen, dass die Schafe fliehen, „denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht“ (Joh 10,5). Wie kann die Heilige Schrift so ausgelegt werden, dass in der unendlichen Vielfalt der Texte die Stimme Jesu Christi zum Klingen kommt? Dieter Wellershoff, Autor In meinem neuen Roman „Der Himmel ist kein Ort“ trennt sich eine junge Frau von ihrem Freund, einem Landpfarrer, indem sie ihn einen „Prediger“ nennt. Das ist der zur Formel geschrumpfte Ausdruck ihrer heftigen Abneigung gegen seine alle Widersprüche übertünchenden Beschwichtigungs- und Versöhnungsversuche. Als ein weiträumiges Echo klingt darin die verbreitete Kritik an der Versöhnungs- und Sinnstiftungsroutine von Sonntagspredigten mit. […] Das war auch mein Eindruck, wenn ich, um mich auf das Thema meines Romans vorzubereiten, sonntagmorgens im Rundfunk Übertragungen von Gottesdiensten anhörte. Es waren vermutlich nicht die schlechtesten Sonntagspredigten, die ich dabei zu hören bekam. Aber alle folgten dem gleichen Schema. Sie gingen von einer Bibelstelle aus, um im Rahmen dieses vorgegebenen Textes, mahnend und tröstend und selbstverständlich in genau bemessener Länge, niemals ausufernd, niemals fortgerissen vom eigenen Impetus eine menschliche Alltagserfahrung oder ein aktuelles gesellschaftliches 18

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