Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland Entwicklungsstand und Handlungsansätze Bibliografische Information der De...
Author: Ilse Franke
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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland Entwicklungsstand und Handlungsansätze

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 E-Book-Ausgabe (PDF) © 2007 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Alle Rechte vorbehalten Verantwortlich: Sigrid Meinhold-Henschel Redaktion: F. Klaus Koopmann Lektorat: Heike Herrberg Herstellung: Sabine Reimann Umschlaggestaltung: Nadine Humann Umschlagabbildung: © Veit Mette, Bielefeld Satz und Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld ISBN 978-3-86793-203-5 www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Räume eröffnen im demokratischen Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . Sigrid Meinhold-Henschel

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Kinder- und Jugendpartizipation im wissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Fatke Zum Nutzen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen . . . Thomas Olk, Roland Roth

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Die Beteiligung junger Menschen in Familie, Schule und am Wohnort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Fatke, Helmut Schneider

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Rahmenbedingungen der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kinderrechte – normativer Rahmen für die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Richter

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Demokratische Prozesse im »Volk der Schülerinnen und Schüler« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Michael Freitag Rechtlicher Rahmen für die Mitwirkung in der Kommune . . . . . 115 Gundel Berger 5

Handlungsansätze für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Stärkung der kommunalen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Helmut Schneider, Reinhard Fatke Bürgerschaftliche Partizipation lernen – eine Herausforderung für die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 F. Klaus Koopmann Beteiligungskompetenz stärken durch Qualifikation . . . . . . . . . . . 165 Waldemar Stange, Stephan Schack Beteiligung von Jugendlichen zwischen Interessen, Erwartungen und Lebensalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Nadia Kutscher Vereine als bürgerschaftliche Lernorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Roland Roth, Thomas Olk Qualitätsanforderungen an Beteiligungsvorhaben . . . . . . . . . . . . . . 221 Sigrid Meinhold-Henschel Netzwerke für Beteiligung organisieren und steuern . . . . . . . . . . . 247 Stephan Schack Die Kinderstube der Demokratie: Kindertageseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Raingard Knauer

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

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Vorwort

Die Arbeit der Bertelsmann Stiftung ist von der Überzeugung geprägt, dass gesellschaftliches Engagement eine wesentliche Basis für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens ist. Die Übernahme einer aktiven Bürgerrolle bedeutet, dass Menschen sich an der Lösung gesellschaftlicher Fragen beteiligen, damit entsprechende politische Entscheidungsprozesse beeinflussen und für ihr Engagement Verantwortung tragen. Schon in der antiken Polis war das Recht der Mitsprache verbunden mit der Pflicht, öffentliche Aufgaben und auch Ämter zu übernehmen. Gerade angesichts der zahlreichen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht, ist eine Rückbesinnung auf diese Kernelemente der Demokratie wichtiger denn je. Vor diesem Hintergrund sind Entscheidungsträger auf allen politischen Ebenen aufgerufen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die für gesellschaftliches Engagement förderlich sind. Im Zusammenhang der nachhaltigen Verankerung einer neuen Beteiligungskultur verdienen Kinder und Jugendliche besondere Aufmerksamkeit. Deshalb hat die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2004 die Initiative »mitWirkung!« gestartet. Gemeinsam mit unseren Partnern, dem Deutschen Kinderhilfswerk, der Unicef, der »Gemeinschaftsaktion Schleswig-Holstein – Land für Kinder« und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund möchten wir Kinder und Jugendliche dafür gewinnen, sich informiert und aktiv in die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens einzubringen. Städte und Gemeinden sind die Orte, wo sich junge Menschen schon früh engagieren können. Eine zentrale Frage zum Start des Projektes richtete sich deshalb darauf, wie ihnen Zugangswege eröffnet, wie sie für eine Mitwirkung gewonnen und qualifiziert werden können. Durch eine breit angelegte Studie zur Jugendpartizipation 7

wissen wir nun, welche Faktoren darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß Heranwachsende bereit sind, sich zu engagieren. Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse dieser Studie vor, ordnet die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in normative und aktuelle gesellschaftliche sowie politische Zusammenhänge ein und zeigt gleichzeitig Wege auf, wie Städte und Gemeinden in der Kooperation mit kommunalen Partnern, besonders den Schulen, junge Menschen für die Übernahme einer aktiven Rolle in der Gemeinde motivieren können. Unser besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen das Thema der Kinder- und Jugendpartizipation in den Blick nehmen. Gerade diese Interdisziplinarität eröffnet neue Perspektiven: Erfolg versprechende Handlungsoptionen werden vorgestellt, und gleichzeitig wird auch für die Grenzen bestehender Möglichkeiten sensibilisiert. Wir verbinden mit dieser Publikation die Hoffnung, der aktuellen Diskusssion über den Stellenwert der jungen Generation für die Entwicklung der Bürgergesellschaft weitere Impulse zu geben. Für die Bertelsmann Stiftung ist dieser Bereich mehr denn je von großer Bedeutung. Dies belegt auch die Vergabe des Carl Bertelsmann-Preises 2007 zum Thema »Vorbilder bilden – Gesellschaftliches Engagement als Bildungsziel«. Dr. Johannes Meier Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung

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Sigrid Meinhold-Henschel Projektleiterin der Initiative »mitWirkung!«

Räume eröffnen im demokratischen Gemeinwesen Sigrid Meinhold-Henschel

Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen hat in den vergangenen zwanzig Jahren in Deutschland wie in zahlreichen anderen Staaten eine deutliche Aufwertung erfahren. Entscheidend dazu beigetragen hat die UN-Kinderrechtskonvention, 1989 international verabschiedet und im Jahr 1992 von Deutschland ratifiziert. Sie setzt neben der Schaffung gesicherter Lebensgrundlagen (»provision«) und dem Schutz vor Gewalt (»protection«) Beteiligungsrechte (»participation«) als dritten Schwerpunkt. Diese normative Verankerung der Rechtsposition von Kindern und Jugendlichen hat erhebliche Wirkung in vielen der Konventionsstaaten entfaltet. Vor allem die Verankerung des Partizipationsrechts hat Reformprozesse unterstützt. Auch wenn Deutschland nicht wie viele andere Nationen den Weg gegangen ist, Kinderrechten Verfassungsrang zu geben, hat sich die Rechtsstellung des Kindes im Privatrecht wie auch im öffentlichen Recht verbessert. Beispielhaft sei hier auf die Kindschaftsrechtsreform 1997 und die Aufnahme von Beteiligungsrechten in vielen Gemeindeordnungen hingewiesen. Die Wirkung der UN-Kinderrechtskonvention lässt sich dabei weniger positivistisch aus der Wirkungsmacht rechtlicher Normen erklären, zumal umstritten ist, ob sich aus ihr subjektive Rechte des Kindes ableiten lassen; ihre Kraft wurde vielmehr durch gesellschaftliche Veränderungsprozesse vorbereitet, die bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen und das Verhältnis zwischen Erwachsenen und jungen Menschen in rechtlicher und sozialer Hinsicht neu und gleichberechtigter justiert haben. Gesellschaftliche Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren lassen es weiterhin geraten sein, den Teilhaberechten von Kindern und Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Denn junge Menschen wachsen mehr denn je in einer Zeit auf, die durch rasante 9

Veränderungsprozesse in allen Lebensbereichen gekennzeichnet ist. Dadurch verändern sich auch die Bedingungen von Kindheit und Jugend. Globalisierung und Technisierung führen zu wachsenden Anforderungen an Bildung und berufliche Qualifizierung. Das breite Spektrum beruflicher Optionen bietet eine Fülle von Chancen, steigert gleichzeitig aber auch den Druck, in Schule, Ausbildung und Universität Spitzenleistungen zu erzielen. Die private Sphäre ist ebenfalls durch vielfältige Lebensformen gekennzeichnet. Die traditionelle Eltern-Kind-Familie herrscht zwar noch vor, aber immer mehr junge Menschen leben in anderen Familienkonstellationen. Viele Kinder erfahren die Instabilität familiärer Strukturen und müssen die Diskontinuität von Beziehungen und – aufgrund der zunehmenden Mobilisierung – von Lebensorten verarbeiten. Zu den prägenden Faktoren unserer Gesellschaft gehört ferner die demographische Entwicklung mit einer gleichzeitigen Abnahme, Alterung und Internationalisierung der Bevölkerung. Entleerung von Landschaften, Bevölkerungsballung in prosperierenden Regionen und vor allem auch Abschottung sozialer und kultureller Milieus sind vielfach beschriebene Konsequenzen. Jeder der skizzierten Bereiche wirft fundamentale Fragen zu den Lebenschancen der Einzelnen sowie dem sozialen Zusammenhalt und der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft auf. Fest steht: Die Entwicklung zur Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) lässt sich nicht aufhalten; sie bietet viele neue Möglichkeiten, aber wenig Gewissheiten. Nicht nur Politik und Gesellschaft sind gefordert, tragfähige Lösungen zu entwickeln. Auch jeder und jede Einzelne muss sich den Herausforderungen stellen. Kinder und Jugendliche sollten deshalb früh lernen, selbstbestimmt ihren eigenen Weg in einer komplexer werdenden Welt zu gehen und dabei gleichzeitig Kompetenzen für die Ausfüllung einer aktiven demokratischen Bürgerrolle aufzubauen, die Kontinuität und Weiterentwicklung unserer gesellschaftlichen Ordnung ermöglichen. Entwicklungsbedarf hinsichtlich gesellschaftlicher Teilhabe besteht hierzulande in mehrfacher Hinsicht: • Die Pisa-Studie weist nach, dass ein Viertel der Schülerinnen und Schüler nicht oder nur knapp das unterste Leistungsniveau erreicht (Pisa-Konsortium 2002). In keinem anderen Industrieland ist der Schulerfolg von der sozialen Herkunft so abhängig wie bei 10

uns. Deutschland fokussiert sich dennoch weiterhin auf traditionelle, wissensbasierte Lernformen. Eine Verzahnung von reflexiver und handlungsorientierter Aneignung von Kompetenzen ist immer noch die Ausnahme. Formelle Lernprozesse mit vom Lehrer formulierten Ergebniszielen werden überschätzt, der informell erfolgende Kompetenzaufbau unterschätzt. Zu wenig wird wahrgenommen, dass Lernende stets die Rolle von Ko-Produzenten haben und dass Bildung am besten in einem selbstgesteuerten Prozess gelingt. • Die Ausdehnung der Schul- und Ausbildungszeit in den letzten fünfzig Jahren führt dazu, dass die Erfahrungswelt Jugendlicher teils bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein durch schulisch dominierte Lebensformen bestimmt ist. Durch die unveränderte Dominanz einer traditionellen Belehrungskultur wird jungen Menschen die Erfahrung konkreter Nützlichkeit vielfach vorenthalten (von Hentig 2006). Sie erleben sich in Schule und auch Freizeit vor allem als Konsumenten, in denen sie die Angebote anderer rezipieren (Krettenauer 2006: 97) –, und sie werden von Erwachsenen auch so wahrgenommen. In der deutschen Leistungs- und Arbeitsgesellschaft führt dies dazu, dass die Erfahrungswelt zahlreicher Jugendlicher durch fehlende Anerkennung und Wertschätzung geprägt ist (Burdewick 2003). • Viele junge Menschen distanzieren sich von der etablierten Politik. Nur 39 Prozent, so das Ergebnis der 15. Shell-Studie, bezeichnen sich als politisch interessiert (Schneekloth 2006: 114). Im Vergleich zu anderen Industrieländern zeigen die deutschen Jugendlichen eine geringere politische Beteiligungs- und Mitbestimmungsbereitschaft (Oesterreich 2001: 21), gleichzeitig wünschen sie sich mehr Orientierung in Fragen der Gesellschaftsentwicklung (Bertelsmann Stiftung 2005: 28) • Der Freiwilligensurvey zeigt gleichzeitig auf, dass junge Menschen hochaktiv sind: Mehr als jeder dritte Jugendliche (36 Prozent) im Alter zwischen 14 und 24 Jahren engagiert sich freiwillig. Belegt wird aber auch eine soziale Selektion: Engagementquoten von Jugendlichen mit höherem Bildungsstatus sind doppelt so hoch wie die derjenigen mit niedriger Bildung (BMFSFJ 2005: 226). Diese schichtspezifischen Unterschiede nehmen in der Tendenz weiter zu. Außerdem ist bei Jugendlichen ein hohes unausgeschöpftes Engagementpotenzial zu konstatieren: Die Jugendpartizipations11

studie der Bertelsmann Stiftung weist nach, dass 78 Prozent der Jugendlichen bereit wären, sich stärker zu engagieren, wenn die Angebote attraktiver wären. Welchen Beitrag können nun Partizipationserfahrungen im öffentlichen Raum leisten, um die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen zu stärken? Um es vorwegzunehmen: Partizipation im Sinne einer quantitativen Ausweitung von Angeboten unter sonst konstanten Bedingungen ist kein geeignetes Mittel, um Bildungsmisere und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse zu mildern oder gar aufzuheben; dazu bedarf es weitergehender politischer Strukturentscheidungen. Dagegen kann Partizipation, verankert als durchgängiges Qualitätsprinzip im pädagogischen und (kommunal-)politischen Alltag dazu beitragen, dass Bildungschancen gerade für die Jugendlichen ausgebaut werden, die durch traditionelle Lernsettings nicht hinreichend gefördert werden. Partizipation kann jungen Menschen Räume eröffnen, in denen sie sich als wertgeschätzte Mitgestalter dieser Gesellschaft erfahren. In bedeutungsvollen, weil realen Situationen erfahren und lernen sie, dass öffentliche und damit politische Fragen in einem diskursiven Prozess geklärt, ausgehandelt und entschieden werden. Ihnen wird klar, dass dieser Prozess von konstruktiver Konfliktlösung lebt. Für den eigenen Standpunkt einzutreten und gleichzeitig demokratisch getroffene Entscheidungen zu akzeptieren, die nicht der eigenen Präferenz entsprechen, wird als Kern demokratischen Handelns nicht nur kognitiv erfasst, sondern praktisch erfahren. Damit können demokratische Wertorientierungen wachsen und entsprechende Handlungsmuster entwickelt werden. So können authentische und attraktive Partizipationsangebote der offensichtlich vorhandenen Bereitschaft junger Menschen zum Engagement gerecht werden und aktivierend wirken. Projekte und Angebote zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erleben derzeit einen Boom: Viele Kommunen definieren »Kinderfreundlichkeit« und damit verbundene bessere Teilhabechancen für junge Menschen als ein zentrales Zukunftsthema. Beteiligungsangebote und -verfahren leiden jedoch oft unter mangelnder Nachhaltigkeit, unprofessioneller Durchführung und sind häufig nicht oder nur wenig mit anderen Projekten im kommunalen und schu12

lischen Raum vernetzt. Starke, ohnehin beteiligungsaffine Zielgruppen werden durch Angebote, die der Lebenswelt Erwachsener entlehnt sind und auf verbale Argumentationsstärke setzen, strukturell bevorzugt. Die pädagogischen Fachkräfte in kommunalen Jugendeinrichtungen und Schulen sind eher selten ausreichend qualifiziert, um komplexe Verfahren und Planungsprozesse zielgruppengerecht zu moderieren. Solche Problembefunde standen am Anfang der Initiative »mitWirkung!«. Deshalb hat die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2004 gemeinsam mit ihren Partnern Unicef und dem Deutschen Kinderhilfswerk sowie mit Unterstützung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes und der Gemeinschaftsaktion »Schleswig-Holstein – Land für Kinder« dieses Projekt gestartet. Die Initiative hat zum Ziel, dass sich junge Menschen aktiv und informiert in die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens einbringen. Junge Menschen sollen dazu motiviert werden, für die Lösung gesellschaftlicher Fragen größere Verantwortung zu übernehmen; ihnen werden dafür gleichzeitig erweiterte Einflussmöglichkeiten gegeben. Die Initiative »mitWirkung!« richtet sich damit an dem Leitbild der Bürgergesellschaft aus, wie es von der Enquete-Kommission »Zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« entwickelt wurde (Enquete-Kommission 2002). Als grundlegende Voraussetzung für eine strategische Stärkung und nachhaltige Verankerung der Kinder- und Jugendpartizipation auf kommunaler Ebene wurde eine umfassende Analyse der Partizipationssituation von jungen Menschen angesehen. Denn das vorhandene empirische Wissen reichte nicht aus, um validierte Aussagen über Zugangswege von Kindern und Jugendlichen zum Engagement, ihren bevorzugten Beteiligungsformen und die Nutzung der bestehenden Angebote zu machen. Insbesondere die Frage, wie Kommunen gezielt die Beteiligung stärken und ihre Angebote besser an den Nutzern ausrichten können, war unbeantwortet. In der ersten Projektsequenz fand deshalb die bislang national wie international umfassendste Studie zur Jugendpartizipation statt. In zwei Wellen wurden rund 17.000 Schülerinnen und Schüler im Alter von zwölf bis 18 Jahren befragt sowie deren Lehrkräfte und Schulleitungen. Die Studie fand in 51 Kommunen statt, vertreten waren Groß-, Mittel- und Kleinstädte aus allen Teilen Deutschlands; die empirischen Analysen des vorliegenden Bandes beziehen sich auf die Ergebnisse der ersten Welle mit 42 Kommunen und 14.378 Be13

fragten. Die Städte und Gemeinden wurden darin unterstützt, ihr Angebot im Bereich der Jugendbeteiligung zu untersuchen. Gleichzeitig startete eine Recherche nach guten Praxisbeispielen (www.tool box-bildung.de). Mit Unterstützung des wissenschaftlichen Beirats wurden Qualitätskriterien der Beteiligung erarbeitet, die mittlerweile in den Modellkommunen Essen und Saalfeld (Thüringen) sowie in Flensburg, Elmshorn und Kropp erprobt werden. Welche Bedingungen fördern bzw. beschränken die Bereitschaft junger Menschen zur Mitwirkung? Was sind Erfolg versprechende Handlungsansätze zur Stärkung der Kinder- und Jugendpartizipation? Und: Mit welchen Argumenten kann die Akzeptanz der stärkeren Einbindung von Jugendlichen gesteigert werden? Diese Fragen standen im Vordergrund der bisherigen Arbeit. Der vorliegende Sammelband stellt die Ergebnisse der Initiative »mitWirkung!« vor und versteht sich als ein Kompendium zu Fragen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Seine besondere Qualität ergibt sich aus der Verzahnung normativer, empirischer und handlungsorientierter Diskurse sowie aus der Validierung theoretischer Konzepte durch die Arbeit in den Modellkommunen. Nach einer wissenschaftlichen Annäherung an den Begriff Partizipation durch Reinhard Fatke stellen Thomas Olk und Roland Roth vor, mit welchen systematischen und funktionalen Argumenten für die Beteiligung junger Menschen im politischen und wissenschaftlichen Diskurs geworben wird: Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine verstärkte Beteiligung junger Menschen eine Win-win-Situation für Individuum und Gesellschaft schafft. Reinhard Fatke und Helmut Schneider präsentieren anschließend die Ergebnisse der Jugendpartizipationsstudie der Bertelsmann Stiftung und belegen: Um die tatsächliche Kinder- und Jugendbeteiligung ist es in Deutschland noch nicht gut bestellt. Eine Ursache dafür könnten rechtliche Rahmenbedingungen sein. Ingo Richter beleuchtet den Zusammenhang zwischen der Beteiligung junger Menschen und dem Elternrecht. Michael Freitag geht am Beispiel Schleswig-Holsteins auf schulische Partizipationsmöglichkeiten ein, und Gundel Berger skizziert kommunalrechtliche Grundlagen. In einem abschließenden Kapitel werden Handlungsansätze für die Optimierung der Beteiligung junger Menschen vorgestellt. Ausgangspunkt ist der von Reinhard Fatke und Helmut Schneider geführte empirische Nachweis, dass vor allem fünf Faktoren über die 14

Beteiligungsbereitschaft junger Menschen in Städten und Gemeinden entscheiden: • die Intensität der Beteiligungserfahrungen in der Schule • das Zutrauen, für ein Mittun qualifiziert zu sein • die hinreichende Information über bestehende Angebote • eine mögliche Mitgliedschaft in einem Verein • die Zufriedenheit mit bisherigen Beteiligungsprozessen Die Beiträge von Klaus Koopmann, Waldemar Stange und Stephan Schack, Nadia Kutscher, Thomas Olk und Roland Roth sowie Sigrid Meinhold-Henschel gehen unter handlungsorientierten Aspekten der Frage nach, welche Chancen bestehen, diese Wirkfaktoren in schulischen und kommunalen Zusammenhängen positiv zu beeinflussen. Alle Autorinnen und Autoren stimmen darin überein, dass es eines vernetzten Vorgehens in den Städten und Kommunen bedarf. Klaus Koopmann macht sich für das Erfahren und Erlernen bürgerschaftlicher Kompetenz im Zusammenspiel von Schule und Kommune stark und fordert die Entwicklung eines integrativen Partizipationsfeldes. Stephan Schack greift die Frage auf, wie ein lokales Netzwerk effektiv strukturiert werden kann. Raingard Knauer tritt für eine Ausdehnung des kommunalen Beteiligungsnetzwerkes auf Kindertagesstätten und Grundschulen ein, denn Beteiligung – so ihr Plädoyer – muss früh beginnen. Die Mitwirkung junger Menschen bietet erhebliche Chancen für sich wechselseitig verstärkende Entwicklungsprozesse von Individuum und Gesellschaft: Sie bietet Bildungschancen für die Einzelnen, kann sozial integrierend wirken und unterstützt die Demokratieentwicklung. Die Beiträge in diesem Band zeigen auch auf, dass eine solche Entwicklung an Voraussetzungen gebunden ist. Qualitätsfragen richten sich darauf, wie Jugendlichen aus sozial benachteiligenden Verhältnissen verstärkt Zugangswege eröffnet werden können. Darüber hinaus ist zu fragen, ob Verantwortliche in Verwaltung, Schulen und Politik die Partizipation von Jugendlichen nicht nur als pädagogischen Ansatz zur Einübung demokratischer Werte sehen, sondern auch als ernst gemeinten Aushandlungsprozess entscheidungsrelevanter politischer Fragen begreifen. Denn nur dann, dies belegen einschlägige Studien, wird die demokratische Identitätsbildung unterstützt (Biedermann 2006). Die Beiträge fragen vor die15

sem Hintergrund auch, welche Beteiligungsstrukturen in Bildungseinrichtungen, in Vereinen und Verbänden sowie im kommunalen Raum erforderlich sind, um alltagsdemokratische Erfahrungen zu ermöglichen. Diese Textsammlung bietet einen interessanten Überblick über Entwicklungsstand und Handlungsansätze der Beteiligung, Mitwirkung, Partizipation – diese Begriffe verwenden wir hier synonym – junger Menschen in Deutschland. Es freut uns, wenn der vorgelegte Band die Arbeit von Praxis und Wissenschaft in diesem Feld unterstützt.

Literatur Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven. Gütersloh 2005. Biedermann, Horst. Junge Menschen an der Schwelle politischer Mündigkeit. Partizipation: Patentrezept politischer Identitätsfindung? Internationale Hochschulschriften 458. Münster 2006. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.). Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. München 2005. Burdewick, Ingrid. Jugend – Politik – Anerkennung. Eine qualitative empirische Studie zur politischen Partizipation 11- bis 18-Jähriger. Opladen 2003. Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« des Deutschen Bundestages. Bericht – Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft (4). Opladen 2002. Gross, Peter. Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt am Main 1994. Hentig, Hartmut von. Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein. Die Entschulung der Mittelstufe und ein einjähriger Dienst für die Gemeinschaft. Ein pädagogisches Manifest im Jahre 2005. München und Wien 2006. Krettenauer, Tobias. »Informelles Lernen und freiwilliges Engagement im Jugendalter aus psychologischer Sicht«. Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. Hrsg. Thomas Rauschenbach, Wiebken Düx und Erich Sass. Weinheim und München 2006. 93–120. 16

Oesterreich, Detlef. »Die politische Handlungsbereitschaft von deutschen Jugendlichen im internationalen Vergleich«. Aus Politik und Zeitgeschichte 2 2001. 13–22. Pisa-Konsortium (Hrsg.). PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen 2002. Schneekloth, Ulrich. »Politik und Gesellschaft: Einstellungen, Engagement, Bewältigungsprobleme«. Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Hrsg. Shell Deutschland Holding. 15. Shell Jugendstudie. Frankfurt am Main 2006. 103–144.

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Kinder- und Jugendpartizipation im wissenschaftlichen Diskurs Reinhard Fatke

Was ist Partizipation? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat die Partizipation von Kindern und Jugendlichen? Hier geht es um das aktive und nachhaltige Mitwirken und Mitbestimmen junger Menschen an Planungen und Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, sowie an deren Verwirklichung. Erkenntnisse aus der Forschung thematisieren strukturelle, individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen von Partizipation und ihre Wirkungen.

Partizipation: mehr als nur »Teilhabe« Partizipation ist, neben Öffentlichkeit, der wichtigste Grundpfeiler jedes demokratischen Gemeinwesens. Partizipation heißt, dass die Bürgerinnen und Bürger das Gemeinwesen aktiv mitgestalten, dass sie in allen sie betreffenden Belangen mitwirken, mitentscheiden und Verantwortung übernehmen. Dies gilt nicht nur für die Erwachsenen, sondern auch und in besonderem Maße für Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte Mitglieder des Gemeinwesens. Indem sie aktiv in ihren Lebensbereichen mitwirken – in Familie, Schule, Freizeit, im Verein oder insgesamt im Gemeinwesen –, festigen sie ihr Selbstvertrauen. Dies trägt zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung und zur Bildung ihres politischen Bewusstseins bei, stärkt ihre Identifikation mit dem Gemeinwesen und seinen Institutionen, erweitert ihre Handlungsmuster und dient auf diese Weise ihrer sozialen und gesellschaftlichen Integration. In diesem Sinne ist Partizipation auch ein Mittel der Erziehung zur Demokratie. Somit bedeutet Partizipation mehr als nur »Teilhabe«, wie dieser aus dem Lateinischen stammende Begriff meistens übersetzt wird. 19

Denn Teilhabe meint umgangssprachlich im Allgemeinen nicht mehr, als bei irgendetwas dabei zu sein und mitzumachen. Viele Erwachsene verstehen – in der Politik wie in der Erziehung – unter Partizipation von Kindern und Jugendlichen nur, dass man diese zu Wort kommen lässt und ihnen Gehör schenkt. So wird denn auch oft allein schon ihre Anwesenheit bei politischen Veranstaltungen, bei Anhörungen, bei Podiumsdiskussionen als Partizipation ausgegeben. Tatsächlich aber dienen sie dabei häufig nur als Staffage, als Dekoration und somit als Alibi. Erst wenn junge Menschen an Entscheidungen, die sie betreffen, mitwirken, wenn sie in wichtigen Belangen mitbestimmen und auf diese Weise aktiv ihre Lebensbereiche mitgestalten, kann von Partizipation im eigentlichen Sinne gesprochen werden. So verstanden, bedeutet der Begriff, einen Teil der Verfügungsgewalt über die eigene Lebensgestaltung von den Erwachsenen an sich zu nehmen. Die Partizipation im öffentlichen Raum, also auf der kommunalen Ebene, spielt eine besondere Rolle, weil die Kommune der wichtigste politische Lernort ist, an dem sich auch entscheidet, ob junge Menschen tatsächlich als Akteure ernst genommen und in die Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Lebens einbezogen oder nur für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Partizipationserfahrungen können Kinder und Jugendliche auch in der Familie und Schule sammeln, aber diese sind von einem schützenden Rahmen umgeben und deshalb eher vor- und nebengelagerte Lernfelder für Partizipation in der Kommune. Das öffentliche Leben am Wohnort ist das wichtigste gesellschaftliche und politische Handlungsfeld, in dem sich auch entscheidet, welche Einstellungen junge Menschen zur Politik und ihren Vertretern sowie zur Demokratie allgemein erwerben. Die aus verschiedenen Jugendstudien bekannten Ergebnisse zur »Politikverdrossenheit« lassen darauf schließen, dass die junge Generation viel zu selten Gelegenheit hat, gute Erfahrungen mit Partizipation im öffentlichen Raum zu sammeln. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen hat die Bertelsmann Stiftung die Initiative »mitWirkung!« zur Stärkung der Kinder- und Jugendpartizipation in der Kommune gestartet. Sie hat zum Ziel, dass sich mehr junge Menschen aktiv und informiert in politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse einbringen. Aus dieser übergeordneten Zielsetzung werden mehrere Teilziele abgeleitet: • den Stand der gegenwärtigen Partizipationssituation junger Menschen klären 20

• »Good practice«-Beispiele zur strukturellen Absicherung von Partizipation in Kommunen identifizieren • Strategien für die Aktivierung junger Menschen entwickeln und Referenzmodelle für vorbildliche Kinder- und Jugendbeteiligung im Rahmen ausgewählter Modellprojekte schaffen • durch Transfer der Projektergebnisse Kinder- und Jugendpartizipation nachhaltig und flächig verankern Alle Teilziele sind darauf ausgerichtet, die Notwendigkeit der Beteiligung junger Menschen im öffentlichen Bewusstsein zu fixieren. Die Initiative soll schrittweise in drei Modulen umgesetzt werden, die aufeinander aufbauen: • Analyse der gegenwärtigen Partizipationssituation von Kindern und Jugendlichen • Praxisprojekt in drei ausgewählten Modellkommunen • Weitergabe der Projektergebnisse

Gesellschaftliche Bedeutung von Partizipation Das Thema Partizipation hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen enormen Aufstieg erfahren. Dies steht in einem merkwürdigen Kontrast zur Entsolidarisierung der Gesellschaft und der politischen Institutionen (Blandow 1999). Ist dieser Trend überhaupt mit Kinderund Jugendpartizipation vereinbar? Ja, denn die Entsolidarisierung hat vielfältige gesellschaftliche Bedeutungen, die im Folgenden dargelegt werden. Kinder- und Jugendpartizipation muss auf mehreren Ebenen betrachtet werden: • der individuellen entwicklungspsychologischen Bedeutung für die einzelnen Kinder und Jugendlichen • der sozialpsychologischen Bedeutung für die gesellschaftliche Gruppe der Kinder und Jugendlichen • der gesellschaftspolitischen Bedeutung für eine Kommune • der demokratietheoretischen Bedeutung für ein Land Die gesellschaftliche Bedeutung kann nicht nur isoliert auf einer der Ebenen betrachtet werden, da diese ineinandergreifen und sich wechselseitig beeinflussen – so ist das Individuum z.B. mit seinem entwick21

lungspsychologischen Hintergrund Teil der Gesellschaft und beeinflusst diese aufgrund der Einflüsse auf anderen Ebenen. Beteiligen sich junge Menschen mit sicht- oder erlebbaren Auswirkungen auf ihre Lebenswelt, so schafft dies einen Bezug zwischen ihnen und ihrer Umwelt und stärkt ihre Identifikation. »Identifikation ist der Ursprung des Verantwortungsgefühls« (Jaun 1999: 272), sodass erfolgreiche Beteiligungsprojekte den Wunsch der Kinder stärken, Sorge für die Umwelt zu tragen und sich für dieses Ziel zu engagieren. Genau das ist positives Verantwortungsbewusstsein. Verantwortung wird von Kindern aber häufig in Verbindung mit Schuld, Strafe und Wiedergutmachung erfahren. Dagegen brauchen sie vor allem positive Erlebnisse und Erfahrungen, die Verantwortung im Sinne gemeinsamer Anstrengung für Fairness, Gerechtigkeit und Füreinander-Einstehen verständlich und praktizierbar macht. Diese konstruktive Seite können sie bereits in frühen Lebensjahren kennenlernen, etwa in Beteiligungsprojekten, in denen sie nach eigenen Vorstellungen Bereiche gestalten, für die sie sich verantwortlich fühlen. Planungen und Entscheidungen, die von Kindern und Jugendlichen mitdiskutiert, mitverhandelt und mitentschieden werden, stoßen auf weniger Widerstand und haben nachhaltig mehr Bestand. Dies spielt beispielsweise für Kommunen eine große Rolle, die einen Spielplatz, eine Skaterbahn oder einen öffentlichen Platz zusammen mit Kindern planen. Dort profitieren alle, denn die Entscheidungen werden gemeinsam getragen, gemeinsam akzeptiert. Zudem sind Beteiligungsprojekte ein demokratisches Lernfeld. Vor allem in Jugendparlamenten oder ähnlichen Gremien lernen die jungen Bürgerinnen und Bürger, wie man demokratisch Entscheidungen trifft, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, wie ein Konsens entsteht und was das ist. Es wird darüber hinaus Wissen vermittelt, die Konflikt- und Kritikfähigkeit gestärkt, und es werden Fertigkeiten gelernt, wie Pläne entwerfen, Modelle bauen, mit Medien umgehen. Wenn Kommunen oder Schulen es schaffen, junge Menschen zu motivieren, sich an ihrem Wohnort zu beteiligen und in ihrer Lebenswelt zu engagieren, wirken sie der zunehmenden Politikverdrossenheit und dem sinkenden Vertrauen in Institutionen oder generell in die Politik entgegen. Denn das Vertrauen darauf, dass die eigene Umwelt veränderbar ist und aktive Mitwirkung konkrete Auswirkungen haben kann, erhöht die Chancen, dass die Beteiligten auch als 22

Erwachsene die politischen Mittel nutzen, um ihre Lebenswelt mitzugestalten (Kinderlobby Schweiz 2000). Partizipation kann all die genannten Aspekte fördern, ist aber kein Allheilmittel. Häufig hat Partizipation sich »als ein nur mühsam zu handhabendes Instrument der Willensbildung und Entscheidungsfindung herausgestellt« (Stange und Tiemann 1999: 227). Doch »Beteiligung von Kindern und Jugendlichen gelingt dort, wo Politik und Verwaltung kooperieren, wo Jugendamt, Stadtplanung, Gartenbau, Schulverwaltung und Sozialdezernat zusammenarbeiten, um gemeinsam eine kinderfreundliche Kommune zu verwirklichen« (Frädrich 2003; vgl. auch Knauer et al. 2004). Aus diesen Gründen ist Kinder- und Jugendbeteiligung gesetzlich weltweit und auch kommunal verankert: für Deutschland in der UNKonvention über die Rechte des Kindes, im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), in Länderbestimmungen und ihren Gemeindeordnungen. Darüber hinaus kann sie aus dem Baugesetzbuch und dem Bund-Länder-Kommune-Programm »Soziale Stadt« abgeleitet werden; auch in der Agenda 21 und der Charta der Weltgesundheitsorganisation von Ottawa findet sie sich (Frädrich 2003). Die Entwicklung und Zukunftsfähigkeit der Kommunen hängt wesentlich davon ab, wie ernsthaft kinder- und familienfreundliche Strukturen geschaffen werden. Die Beteiligung junger Menschen ist heute ein wichtiger Erfolgsfaktor für kinder- und familienfreundliche Kommunen.

Vielfalt der Definitionen Wie verschiedene nationale und regionale deutsche Untersuchungen zutage fördern, weisen die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen von Kinder- und Jugendpartizipation eine erhebliche Bandbreite auf. Dies zeigt sich in der Vielfalt der Formen und Modelle, die in Schulen und den Kommunen angeboten werden. Sie reichen vom unverbindlichen Angebot, »ein offenes Ohr für Kinder- und Jugendanliegen zu haben«, über Kinder- und Jugendanwälte, Kinder- und Jugendbürgermeister bis zu Schülerräten und Jugendparlamenten sowie einer großen Vielzahl von Einzelprojekten. Auch in der Fachliteratur gibt es keine einheitliche Vorstellung darüber, was Kinderund Jugendpartizipation ist oder zu sein hat. 23

Angesichts dieser Vielfalt ist es ratsam, den Begriff zunächst rein sprachlich zu betrachten. »Partizipation« stammt aus dem Lateinischen, und das Wort ist in der deutschen Umgangssprache (anders als im Englischen, Französischen und Italienischen) nicht geläufig, sondern hat vor allem in der Sprache der Wissenschaft einen Platz und wird zuweilen in politischen Diskursen benutzt. Aber auch dort umfasst es ein relativ weites Spektrum von Bedeutungen. Der Duden übersetzt den Begriff mit »Anteil haben, teilnehmen«; andere Nachschlagewerke bieten eine größere Auswahl an: »Beteiligung, Teilhabe, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Einbeziehung« (www.wikipedia.org). Etymologisch leitet sich »Partizipation« aus dem lateinischen »partem capere« her, was wörtlich bedeutet: »einen Teil (weg-)nehmen«. Im Kontext der Kinder- und Jugendpartizipation heißt das: einen Teil der Verfügungsgewalt über die eigene Lebensgestaltung an sich nehmen. Das beinhaltet, dass dieser Teil den Erwachsenen, die ja über die Gestaltung des Kinder- und Jugendlebens verfügen, weggenommen werden muss, was auch die verbreitete Abwehrreaktion von Erwachsenen (Eltern, Lehrkräften und Kommunalpolitikern) gegenüber Kinder- und Jugendpartizipation erklärt. Die ältere Partizipationsforschung, die aus den USA der 80er Jahre stammt, befasste sich vorwiegend mit der Partizipation von Bürgern: der »Beteiligung der Bürger an den gegebenen Formen bürgerlicher [. . .] Öffentlichkeit und parlamentarischer [. . .] Demokratie« (Vilmar 1986, zitiert nach Stange und Tiemann 1999: 216). Seither hat sich die Partizipationsforschung in den USA wie auch in Europa stark weiterentwickelt und ist von der eng gefassten Definition weggekommen. Sie konzentriert sich nicht mehr ausschließlich auf die politische Beteiligung von (wahlberechtigten) Bürgern eines Staates, sondern bezieht alle gesellschaftlichen Mitglieder in die Analyse mit ein. Zudem ist der Gegenstand der Forschung von der politischen Ebene auf die Partizipation in einer Vielzahl von Lebensbereichen ausgeweitet worden. Dies zeigt sich auch in den Definitionen der aktuellen Forschung. So definieren Stange und Tiemann (1999: 215) Partizipation als »die verantwortliche Beteiligung der Betroffenen an der Verfügungsgewalt über ihre Gegenwart und Zukunft«. Ähnlich fasst Jaun (1999: 266) den Begriff, wobei er sich ausdrücklich auf die junge Zielgruppe bezieht: »Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist die verbind24

liche Einflussnahme von Kindern und Jugendlichen auf Planungsund Entscheidungsprozesse, von denen sie betroffen sind, mittels ihnen angepassten Formen und Methoden.« Beide Definitionen heben den Aspekt der unmittelbaren Betroffenheit der Subjekte hervor. Partizipation soll in denjenigen Lebensbereichen stattfinden, in denen die Individuen selbst von Entscheidungen tangiert werden. Während die erste Definition betont, dass die Beteiligung der Subjekte mit Verantwortlichkeit einhergeht, hebt die zweite hervor, dass Formen und Methoden der Altersgruppe angepasst sein sollen. Beiden Definitionen ist gemeinsam, dass Partizipation nur ernst gemeint sein kann, wenn ihr eine Wirkung auf die Lebenswelt der betroffenen Menschen garantiert ist. Roger Hart (1997) versucht mittels eines »Stufenleiter«-Modells zu illustrieren, wie Kinder und Jugendliche bei der Initiierung und Zu-

Abbildung 1: Die Partizipationsleiter

Kinderinitiative, geteilte Entscheidungen mit Erwachsenen von Kindern initiiert und durchgeführt Erwachseneninitiative, geteilte Entscheidungen mit Kindern

Grade der Beteiligung

konsultiert, informiert

zugewiesen, informiert

Alibiteilnahme NichtBeteiligung Dekoration

Manipulation Quelle: Hart 1997.

25

sammenarbeit mit Erwachsenen einbezogen werden können. Sein Modell umfasst acht Stufen: Manipulation – Dekoration – Alibiteilnahme – zugewiesen, informiert – konsultiert, informiert – von Erwachsenen initiiert und Entscheidungen mit Kindern geteilt – von Kindern initiiert und durchgeführt – von Kindern initiiert und Entscheidungen mit Erwachsenen geteilt. Roger Hart diente die Stufenleiter als Instrument, um aufzuzeigen, was Partizipation in der Praxis sein kann bzw. nicht ist. Die ersten drei Stufen stellen für ihn einen Missbrauch und somit keine Partizipation dar. Alle anderen Stufen bezeichnen verschiedene Formen von Partizipation, wobei er ausdrücklich vermerkt, dass die der höheren Stufen nicht automatisch »bessere« Formen sind als die der mittleren Stufen (Hart 1997: 40). In Anlehnung an diese Stufenleiter und an ein Modell von Wolfgang Gernert hat Richard Schröder (1995) in hierarchischer Reihenfolge Grade der Kinder- und Jugendpartizipation deutlich zu machen versucht. Dahinter steht die Annahme, dass sich die verschiedenen Formen in ein Kontinuum von Partizipationsgraden einordnen lassen. Er spricht von folgenden Abstufungen: Fremdbestimmung – Dekoration – Alibiteilnahme – Teilhabe – zugewiesen, informiert – Mitwirkung – Mitbestimmung – Selbstbestimmung – Selbstverwaltung (Schröder 1995: 16 f.). Es besteht kein Zweifel, dass die auf den unteren drei Stufen angesiedelten Formen keine echte Partizipation darstellen, sondern meist Instrumentalisierungen von Kindern durch Erwachsene oder reine Alibiübungen sind. Die Formen der beiden obersten Stufen sind, wie auch Stange und Tiemann kritisch vermerken, ebenfalls keine Beteiligung im engeren Sinne, da es nicht mehr um »Teilen von etwas (Ressourcen, Macht)« geht, sondern um Autonomie (Stange und Tiemann 1999: 218). Daher konzentrieren wir uns auf die vier Formen, die auf den mittleren Stufen angesiedelt sind: Teilhabe – zugewiesen, informiert – Mitwirkung – Mitbestimmung. Diese Formen entsprechen durchaus dem Begriff im ursprünglichen Sinne von »partem capere«. Dabei ist zu beachten, dass diese Formen je nach sozialem Kontext unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen. In Bezug auf Kinder- und Jugendpartizipation bedeutet beispielsweise »Mitwirkung« im Elternhaus etwas anderes als »Mitwirkung« in der Schule: im ersten Fall »Mithelfen«, im anderen Fall »Mitsprache«. 26

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bestimmen wir den Begriff folgendermaßen: Kinder- und Jugendpartizipation ist das aktive und nachhaltige Mitwirken und Mitbestimmen von jungen Menschen an Planungen und Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, sowie an deren Verwirklichungen.

Theorie und Forschungsstand Gesellschaftlicher Wandel Einhergehend mit der Globalisierung ist in den letzten Jahrzehnten ein einschneidender gesellschaftlicher Wandel zu verzeichnen. Dabei haben sich nicht nur die Strukturen der Gesellschaft verändert, sondern auch ihre Werte. Gemäß Gaiser und de Rijke (2001) lassen sich hier drei wesentliche Veränderungen feststellen: die Veränderung der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme, die Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie der Strukturwandel der Demokratie als Partizipationsgemeinschaft. Der Werte- und Strukturwandel betrifft auch die Individuen selbst. In diesem Zusammenhang wird häufig von »Individualisierung« gesprochen. Dieser Prozess hat zur Folge, dass traditionelle Bindungen an Herkunft und Rollenvorgaben abgebaut werden zugunsten von pluralistischen Lebensformen und Lebensstilen. Für das Individuum bringt dies zwar größere Freiheiten mit sich, gleichzeitig aber auch mehr Eigenverantwortlichkeit. Von diesen gesellschaftlichen Veränderungen sind insbesondere die Kinder und Jugendlichen betroffen. Junge Menschen sehen sich somit in einer anderen Lebenssituation als frühere Generationen. Beispielsweise verbringen sie mehr Lebenszeit in der Schule. Damit geht ein Trend zu höheren schulischen Qualifikationen einher, der zugleich mit höheren Leistungsanforderungen verbunden ist. Als Konsequenz der längeren Schulzeit treten die Jugendlichen später in den Arbeitsprozess ein und werden von den Eltern oft erst im dritten Lebensjahrzehnt finanziell unabhängig. Dies erklärt auch, warum viele Menschen heute erst relativ spät aus ihrem Elternhaus ausziehen und einen eigenen Haushalt gründen. Dem steht aber eine komfortable materielle und finanzielle Ausstattung im Elternhaus gegenüber (Palentien und Hurrel27

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