Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2?

2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Der Großvater an meinem Bett Philippinische Bestattungsbräuche Autor: Hans-Volkmar Findeisen Redaktion: Rudolf L...
Author: Chantal Holtzer
0 downloads 2 Views 93KB Size
2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Der Großvater an meinem Bett Philippinische Bestattungsbräuche

Autor:

Hans-Volkmar Findeisen

Redaktion:

Rudolf Linßen

Regie:

Andrea Leclerque

Sendung:

Freitag, 19.07.13 um 10.05 Uhr in SWR2

__________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

___________________________________________________________________

1

MANUSKRIPT:

Erzähler: Gleich morgen früh werde ich mit Ramon, meinem Vermieter, reden. Manchmal sehne ich mich beim Reisen nach Gesellschaft. Aber Gefährten wie den da will ich nicht. „Geh weg, weg, weg“, murmle ich in der Nacht, wenn er über mich kommt und nicht locker lässt. Ich habe mir vorgenommen, konsequent zu sein. Mit ihm und mit Ramon. Also, so weit geht meine Völkerfreundschaft dann auch wieder nicht. „Weg, weg“. Wenn es sein muss, wird er das jede Nacht zu hören bekommen. Dahin soll er gefälligst gehen, wo er herkommt und wo er hingehört! Schlafes Bruder, habe ich darum gebeten, dass du mir beiwohnst in dieser eigenartigen Wohnstatt? Atmo Nacht: Regenwald, Zikaden, Bächlein Erzähler: Wer hat da gesagt, dass so ein philippinisches Baumhaus etwas ganz Wunderbares ist? Man schlafe wie im Paradies, mitten im Schoß der Natur! Wer sagt denn sowas? 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Alles ist klamm. Ich kämpfe mit den immerzu feuchten Zündhölzern und entzünde eine Kerze. Flackernd wirft sie ihr Gespenster-Licht auf Bett und Moskitonetz. Wegen dem da drüben wache ich auf und finde nicht mehr in den Schlaf zurück. Habe ich nicht ein Recht auf meinem gesunden Schlaf? Ein Recht, wie jeder andere auch? Schließlich habe ich doch bezahlt. Zwar ein paar lächerliche Dollar nur. Aber immerhin. Atmo Hahnengeschrei Erzähler: Am Morgen beschwichtigt mich Ramon, ein kleiner sehniger Mann mit einem breiten Gesicht und einem Leberfleck über der Oberlippe. Sein gastliches Haus hat er mit Dutzenden von Affenschädeln und Wildschweinkiefern geschmückt, die vom Jagdeifer seines Bergstammes, den Ifugao, künden. Ramon hat in seiner Kindheit noch die güldenen Zeiten erlebt, als auch so mancher Menschen-Schädel aus den Nachbarclans die üppige Trophäensammlung der Ifugao in hellstem Glanz erstrahlen ließ. Vor noch nicht allzu langer Zeit waren die Ifugao nämlich noch so genannte Kopfjäger. Wie unsere alten Kelten glaubten sie, dass wer den Kopf eines Feindes erbeute, auch dessen Lebenskraft sich einverleibe. Portugiesen, Spanier, Japaner, Amerikaner, Kolonialisten und Imperialisten haben es über Jahrhunderte vermieden, ihre Nasen allzu tief in die Angelegenheiten der Ifugao zu stecken. Die Indigenen, beheimatet in der schroffen Bergeswelt der philippinischen Cordilleren, haben niemanden interessiert. Aus einem einfachen Grund. Bei ihnen gab es nichts zu holen. Kein Gold, kein Silber, keinen Pfeffer, kein gar nichts. „Das Skelett in der Abseite neben deiner Matratze“, klärt mich Ramon auf, „das ist nur der Opa“. „Ach so“, denke ich, “nur der Opa.“ Versonnen stochere ich in der kollektiv von Ramons Familienverband dreimal täglich genutzten Reisschüssel. Was die Toten und ihre Aufbewahrung angeht, herrschen hier andere Gesetze. Aber wollten Sie so 2

bestattet sein? So wie der da drüben? Dabei soll uns niemand nachsagen, unser Denken in punkto Bestattungsbrauchtum sei verknöchert und verschließe sich den schönen und modernen Seiten des Todes. Wie etwa dem grade populären Trend, unsere Angehörigen unter einer Eiche oder Buche in einem Friedwald zur letzten Ruhe zu legen, einem Brauch, den wir zugegebenermaßen von den alten Germanen geklaut haben. Atmo Nacht, Zikaden Erzähler: In der Nacht, jeder Nacht, beginnt das alte Spiel von vorn. „Weg, weg“, zische ich und vertreibe den Alten aus meinem Sinn. Die Weg-Weg-Technik sei bewährt, um belastende Gedanken aus dem Kopf zu treiben, hat mir einmal ein chicer Traumatherapeut bei irgendeiner Einladung erzählt. Atmo Gesang Erzähler: Batad. So heißt mein Dorf mit dem Baumhaus, in dem ich drei Wochen bleiben werde. Es regnet seit Tagen. Die Taifune haben die filigranen Streben der Brücken, Stromleitungen und Bäume geknickt wie Streichhölzer. Atmo Verkehrslärm Manila Atmo Starkregen Erzähler: Batad liegt eine nächtliche Omnibusfahrt von Manila entfernt. Schon dort, in der philippinischen Hauptstadt, setzte der Regen ein. Er begleitet mich weiter nach Norden. Umsteigen um sieben Uhr morgens in Banaue, einer der letzten größeren Ansiedlungen in den Bergen. Dort warten die Motorradtaxis und die Jeepneys, um weiter in die Täler der Cordilleren und noch tiefer in den Regenwald hineinzufahren. Gelegentlich führt die Straße über Abgründe, wo es besser ist, nicht nach unten zu sehen. Immer wieder bleibt das Motorrad im Morast stecken, und der Fahrgast muss schieben. Irgendwann hört die Straße auf und nach einem zwei- bis dreistündigen Marsch über einen kleinen Berg-Pass erreicht der Besucher das wie in einem Kessel gelegene Batad. Ohne sich auszusetzen, gibt das Leben keine Geschichten her. Viele Touristen, die Mehrzahl ist jung und trainiert, kommen nach Batad, um die Reisfelder der Ifugao zu bestaunen. Ein Labyrinth von Terrassen, Stiegen und Bewässerungskanälen haben ihre Altvorderen über viele Quadratkilometer an die steilen Berghänge geklebt. Wie ein Amphitheater. Weltkulturerbe der UNESCO. Darum kommen die Touristen. Aber sie bleiben meist nur bis zum Rückmarsch am nächsten Morgen. Ich will länger bleiben, um mich allem auszusetzen, Ramons Opa, der herzlichen Gemeinschaft seines Clans und den rotschwarzen Schnecken, die mein Herbergsvater aus den Feldern herausgefischt und als besondere Delikatesse zum Reis serviert hat. Daran muss ich mich erst gewöhnen.

3

Atmo Reis wird gestampft Erzähler: Wie an den Starkregen oder das monotone Geräusch, das sich über das Dorf legt, wenn die Reiskörner im Stein-Mörser mit einem schweren Stempel gestampft und ihrer Schale entledigt werden. Tag und Nacht. Immerzu. Atmo Hahnengeschrei Erzähler: Wie daran, dass nächtens die unter dem Baumhaus schlafenden Hunde die Passanten verbellen, der Nachbar mit seinem Radio die Schlafenden beschallt und dass der Schrei der Hähne lange vor Sonnenaufgang unerbittlich den neuen Tag ankündigt. Arbeits-Handschuhe, Blaumann, Sicherheitsstiefel der Gefahrenklasse drei, versehen mit einem Papier der Landwirtschaftskammer St. Pölten, das mich als zertifizierten Feldmaurer ausweist, so stehe ich da, wie aus dem Prospekt vom Baumarkt entstiegen. Gearbeitet wird, offiziell zumindest, von Montag bis Samstag. Vom Berg schießendes Wasser und Erdrutsche haben tiefe Scharten in das ReisAmphitheater gerissen. Ich habe meine Hilfe angeboten, um die Schäden beseitigen zu helfen und dabei mehr über die Ifugao zu erfahren. Die nationale Presse fand diesen Umstand so bemerkenswert, dass sie sich der Mühe unterzog, einen Reporter und einen Fotografen in die ferne Bergregion zu entsenden, um den germanischen Fremdarbeiter und seine philippinische Baukolonne zu befragen. Einige Tage später erschien ein Artikel über das Jahrhundertereignis, garniert mit einem Foto, das ein perfekt gekleidetes Obi-Wesen inmitten fröhlicher Reisbauern mit kegelförmigen Strohhüten zeigte. Nur: der Bericht warf bei den Lesern mehr Fragen auf, als er Antworten gab. Die Kardinalfrage lautete: Ist es ein gutes Zeichen oder ein schlechtes, dass sich dieser Latzhosen-Mann in die hintersten Winkel der philippinischen Eilande verirrt hat? Atmo Gongs Erzähler: Minong, ein buckliges Männlein von etwa sechzig Jahren – er weiß sein Alter selbst nicht so genau – dient als Vorarbeiter des Bautrupps. Er wird mein Lehrer sein. Seine Ausrüstung war bescheidener als meine. Für Sicherheitsschuhe fehlen ihm die Mittel. Er schleppt, rückt und hebt, Stein um Stein, Felsbrocken um Felsbrocken. Barfuß. Atmo Minong - instruiert Besucher, Faustkeile Erzähler: Die Mauersteine bearbeitet er nicht mit Hammer und Meißel, sondern einem Sortiment von im Gelände zusammengesuchter Steinkeile. Und auch den Lehmboden des Reisfeldes verdichtet er nicht etwa mit einer Rüttel-Maschine, sondern mit einem keulenförmigen Ast, wie man ihn auch zum Stampfen des Reis benutzt. Außer einer Machete zum Entfernen des üppigen Wildwuchses und einer lausigen Schaufel besitzt der Bautrupp keinerlei metallenes Werkzeug. Es sind andere Dinge, die das Leben auf der Baustelle angenehm gestalten: Minongs 4

Transistorradio, sein selbstvergorener Reisschnaps und die roten Betelnüsse, die mein Meister und sein Team unablässig kauen. Wer wie meine Person erst einmal nur Hilfsdienste verrichten darf und unten steht, um Material zu den oben auf der Terasse arbeitenden Männern hinauf zu reichen, muss auf der Hut sein. Ungeniert senden die Männer Betelkotze in die Tiefe oder entleeren kurzerhand durch einen Fingerdruck ihre Nasen. Vieles ist in Batad anders als bei uns. Anders heißt auch gefährlicher. 500 Dollar verlangen die Ifugao, um einen verletzten Touristen in die nächste Stadt zu tragen. Das ist für ihre Verhältnisse astronomisch viel Geld, aber auch ein Gradmesser dafür, wie aufwendig ein solches Bergungsunternehmen sein kann. Doch auch sie, die sich in dieser uns fremden Landschaft auskennen, leben mit dem Risiko, ihr Opfer zu werden. Atmo Gesang mit Kinderstimmen Erzähler: Auf den schmalen Kronen der Reisfelder – sie dienen als Verbindungswege – etwa einen Schrank oder einen Fernseher ins nächste Dorf zu balancieren, ist kein Kinderspiel. Wer nicht aufpasst, stürzt tief. Der Tod und die Toten sind allgegenwärtig in Batad. Man lebt mit ihnen. Wenn er kommt, kommen die Leute zu Ramon, meinem Vermieter. In der Zeit, als er ein junger Mann war und die Ifugao ihre Lendenschürze ablegten, der Kopfjagd abschworen und Teil der so genannten zivilisierten Welt wurden, schickte die Regierung Missionare, Zahnärzte und Lehrer zu den Ifugao. Unten im Dorf, wo die meisten Leute wohnen, wurde eine katholische Kirche gebaut. Sie hat keine Fenster aus Glas wie unsere Kirchen. Nur ein paar Aussparungen in der Wand. Und sie hat keinen Priester. Dafür liegt Batad zu abgelegen. Atmo Gesang Kirche Erzähler: Der katholischen Kirche dient Ramon als Gemeinde-Ältester. Zu seinen Aufgaben zählt etwa, das Abendmahl auszuteilen, Unterweisungen und Gebete zu sprechen. Sonntags sammelt sich die Gemeinde auf den kargen Holzbänken, rechts die Frauen mit den Kindern, links die Männer. Vorne über dem Altar hängt kein Kreuz mit dem Abbild des zu Tode gemarterten Christus. Ein Toter, ein Verlierer als Sieger? Mit der christlichen Freude am Martyrium und dem Trost, dass die himmlische Herrschaft auf Erden noch eine Weile auf sich warten lässt, sich Lebende und Verblichene also noch eine Weile gedulden müssen, haben schon unsere keltischen Vorfahren wenig anfangen können. Jene haben sich bei der Annahme des Christentums schnell mit einem Trick beholfen und um das Kreuz einen Kreis gezogen. Fertig war das Rad der ewigen Wiederkehr, das Sonnenrad, und Christus als der Himmelskönig konnte sein Amt als Herrscher und Richter über die Welt ohne Verzug antreten. Das Kreuz mit dem Kreis kann man übrigens heute noch etwa auf Friedhöfen in Skandinavien sehen. Ähnlich halten es auch die Ifugao. An der Wand hinter dem Altar hängt eine prunkvolle Gips-Skulptur. Sie zeigt Christus in bunten Kleidern als König über die Welt. In Batads Kirchen sind Fremde von Herzen willkommen. So sich einmal einer dorthin verirren sollte. Die Versammelten bestaunen ihre feine Kleidung. Die Kleinen greifen, ungeniert wie Kinder das tun, nach den hellen Haaren des Besuchers, um 5

ihre wunderbare Beschaffenheit zu prüfen. Und ein paar engagierte Damen aus der Gemeinde bitten um eine Spende für das nächste Gemeindefest. Für mich ist sie bescheiden. Aber hier, wo ein Spezialist wie Minong, der Baumeister, fünf Dollar am Tag verdient, erscheint ein solcher Betrag wie ein kleines Vermögen. Es ist, als wäre der Besucher selbst ein Vorbote jenes Himmels, der sich Sonntag für Sonntag in Batads Kirchen öffnet. Natürlich erfordert das Gemeindeleben Ramons Einsatz auch außerhalb der gebauten Kirche. Er versieht ihn mit großem Ernst. Etwa dann, wenn unter der Woche in den Familien eine Hochzeit oder wie heute eine Totenfeier ansteht. Ein Nachbar, der vor Jahren nach Banaue zog, ist gestorben. Jetzt ruht auch die Arbeit auf der Baustelle, und man sieht, wie sich die Leute auf den Weg machen zu Ramon. Die Dorfgenossen stecken ihm Geldscheine zu, so dass er am Schluss ein ganzes Bündel in der Hand hält. Atmo Gesang, Todesschreie Schwein Erzähler: Zu den Feiern wird ein Schwein geschlachtet oder gleich mehrere. Jede Familie bekommt entsprechend zu dem eingezahlten Betrag ein Stück des geschlachteten Tieres ab. Es gibt reiche Leute im Dorf mit großen Feldern und arme Landlose. Jene leben davon, auf den Kuppen der Bergwälder oberhalb der Reisterrassen den Regenwald abzubrennen und Manjok-Wurzeln anzubauen. „Arme und Reiche, eigentlich stehen wir alle schon längst am Abgrund“, räsoniert mein Gastgeber. „Der Ertrag der Felder reicht zum Leben schon lange nicht mehr. Alt wird keiner von uns.“ Viele haben Rheuma, weil man in den Reisfeldern ständig im Wasser steht, oder Skoliose wie Minong. Gestern Abend war Ramon freudestrahlend aus Banaue vom Markt zurück gekommen. Am Bein hatte er eine klaffende blutende Wunde. Auf dem Rückweg oberhalb eines der Pfade hatte sich ein Stein gelöst und ihn umgeworfen. Das Bein müsste genäht werden. Mit meiner Reiseapotheke, Jod und einem Verband kann ich ihm so gut es geht helfen. Und bald steht der ganze Hof voller Leute, die den medizinischen Dienst des Gastes ebenfalls beanspruchen wollen. Aber ich bin kein Arzt. Ich kann nicht helfen. Der Frau mit der spastischen Tochter nicht, noch dem alten Mann mit den Magenschmerzen, und den flehenden Blicken der Nachbarin mit chronischem Durchfall weiche ich aus. Ihr muss ein anderer Hilfe leisten. Atmo Zikaden Erzähler: Ein paar Wochen vor meiner Abreise fiel mir ein Buch mit einer Fotografie in die Hände. Ein amerikanischer Anthropologe hat es in der Zeit des Ersten Weltkrieges veröffentlicht. Das Bild hat mich bis heute nicht losgelassen. Die Fotografie zeigt ein junges Mädchen, das auf einem Stein vor einem Baumhaus sitzt, einen Speer und einen Pfeil in den Händen hält und sich an einen der Pfeiler lehnt. Der Unterleib ist mit einem bunt gewebten Tuch umwickelt, die Knie sind angewinkelt, der nackte Oberkörper durchgestreckt, der Mund ist leicht geöffnet, die Augen sind geschlossen, und der Kopf neigt sich entspannt nach hinten. So als schlafe das Mädchen tief. Sieht man genauer hin, erkennt man einen Einstich neben ihrer linken Brust und 6

Stöcke, die ihre Schultern von hinten stützen. Die Füße sind mit Pflöcken zwischen den Zehen und Steinen fixiert. Die Fotografie zeigt eine Tote, ein Opfer der Blutrache. Das Mädchen bleibe in dieser Position, bis sich das Fleisch von den Knochen löse, der Bestatter komme und sie forttrage, schrieb der Anthropologe unter das Bild. Ohne weitere Erklärung. Aber wohin trug er sie? An welchem Ort fand sie ihre letzte Ruhe? Ich sehe keinen Friedhof, außer den neben meinem Bett. Atmo Gongs Erzähler: Nach wenigen Tagen streiken die Arbeiter auf der Baustelle. Man ruft nach Ramon, und der wiederum soll den Schamanen rufen. „Wenn der Schamane nicht kommt, arbeiten wir nicht weiter“, trotzen meine Kollegen vom Bau. Mir ist die ganze Situation unangenehm. Ich bitte sie weiter zu machen. Noch ahne ich nicht, dass der Vorfall mich in der Geschichte mit dem Großvater an meiner Seite ein Stück weiter bringen wird, der nach gutem christlichen Glauben in die Erde gehört. Also ruft Ramon nach dem Schamanen. Nach unserem Verständnis, in dem Religionen stets exklusiv agieren, dürfte er das eigentlich gar nicht tun. Schließlich ist Ramon einer der Ältesten in der katholischen Kirche. Aber er hat kein Problem, alles auf wundersame Weise in seinen Gedanken zusammen zu fügen und den alten Glauben der Ahnen und den neuen der Kirche miteinander zu verknüpfen. Denn viel hilft viel. Atmo Schamane Erzähler: Den Leuten von Batad dient Puja, der Schamane, als geistiger Führer und oberste Baubehörde in einem. Er ruft vom Berg, wenn das Dorfkollektiv ausrückt, um die Kanäle und Bewässerungsrinnen zu reinigen. Ein Bauwerk ohne seinen Segen und seine Rituale kann nichts werden. Nach zwei Tagen kommt Puja auf die Baustelle. Ramon und ich haben ein paar Hühner besorgt, Reis und viel Schnaps. Puja tritt in vollem Ornat an. Es fällt ein wenig spärlich aus. Mehr als einen roten Lendenschurz trägt er nicht. Unter den Falten seines spärlichen Gewandes wackeln die welken Pobäckchen eines Mittfünfzigers. Atmo Hühner, Todesschreie Erzähler: Puja beginnt zu rezitieren und schneidet den Hühnern die Kehle durch. Das Blut fängt er in einer Holzschüssel auf, bevor er den Körper öffnet und mit einem geschickten Griff nach Leber und Galle der Tiere greift. Das Gefäß mit dem frischen Blut, dem Lebenssaft, die Leber und die Gallenblase hebt Puja mit seinen knorrigen Fingern vor sein Auge. Um aus ihnen zu lesen wie auf einer Landkarte. Schon die antiken Völker rund um das Mittelmeer, Mesopotamier, Etrusker, Römer haben so das Schicksal gelesen. Über dem offenen Feuer sengen wir die Federn der Tiere ab, entlassen den Rauch, ätherische Speise für die Unsichtbaren, in den Himmel und kippen für jene ein wenig Reisschnaps auf die Erde. Das Fleisch der Tiere essen wir selbst und auch der Inhalt der Flaschen kommt vorwiegend unseren Mägen zugute. Bald sind wir alle, inklusive dem Schamanen, hacke zu. 7

Dann kommt für Puja der härteste Teil der Arbeit. Er rezitiert, murmelt, geht auf die Reise, für die er sich zwei Tage vorbereitet und gereinigt hat. Atmo Schamane Erzähler: Seine Litanei murmelt er viele Stunden, von Mittag bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er ruft die Geister des Berges, des Flusses, des Waldes und der Tiere, und er ruft die Seelen der Verstorbenen. Das Defilee der Verblichenen abzugehen und sie als Teil alles Lebendigen um ihren Rat zu fragen, ist Schwerstarbeit. Am Ende des Tages wird der Schamane erst noch ein kleines Nickerchen machen und dann erschöpft den Heimweg antreten. Aber diese Arbeit muss sein. So geht das bei allen Kulturen, die wir gewohnheitshalber als primitiv bezeichnen. Geister, Naturgewalten und die Ahnen sind Teil eines Kosmos, der alles behält und nichts hinauslässt. Alles in ihm ist beseelt. Und die Toten sind nicht tot, sondern haben nur eine andere Form angenommen. So die Welt zu denken, fällt uns neuzeitlichen Europäern schwer. Wir ziehen es vor, das Unbegreifliche aus unserer Wirklichkeit freundlich hinauszukomplimentieren. Was hatte mir der Party-Therapeut empfohlen? „Weg, weg, geh‘ weg“ sollte ich zu den bösen Geistern sagen. Die guten Geister auf der Baustelle dagegen legten sich ins Zeug. Kaum hatte Puja die Baufreigabe erteilt, ging die Arbeit wieder ihren gewohnten Gang. Das Reisfeld wurde fristgerecht fertig gestellt, mit Wasser befüllt, und, bei den Ifugao ist das Pflanzen Frauenarbeit, von Ramons Nachbarin mit jungen Setzlingen bestückt. Atmo Hahnengeschrei Erzähler: Der letzte Morgen bricht an. Vor der Abreise ein letzter Besuch auf „meinem“ Feld. Über dem Amphitheater der Reisfelder von Batad hat sich die Sonne aufgespannt. Ich klettere hinauf zu der Baustelle. Steil unter mir erwacht das Dorf. Leise streicht der Wind über das helle zarte Grün der Setzlinge. Auf dem Rückweg treffe ich Ramon. Er will mir noch etwas zeigen. „Meine Besucher wollen immer wissen, warum man in Batad keine Friedhöfe sieht und wie das mit der Bestattung unserer Toten so vor sich geht. Hier ist des Rätsels Lösung.“ Er bittet mich zu folgen, schlägt mit der Machete Gestrüpp ab und legt eine mit einer Steinplatte verschlossene Höhle frei. „In den Felsnischen hinter diesem Stein ruhen unsere Toten. Aber nur eine Zeit lang. Dann holen wir sie nach Hause.“ „Aber warum macht Ihr das? Hier sind sie doch auch ganz gut aufgehoben“, frage ich ihn. „Wir machen das wegen des Gleichgewichts“, sagt mein Gastgeber. „Wie soll das Leben unseres Clans im Gleichgewicht bleiben“, wenn wir unsere Toten nicht immer um uns haben?“ Atmo Gongs Erzähler: Batad ist anders. Ich kann von dort nichts mitnehmen. Außer der Erkenntnis, dass man mit dem Tod und den Toten auch ganz anders umgehen kann, sie in der Familie und in der Nähe behält, so, wie es unsere Vorfahren das auch getan haben.

8

Die letzte Ruhe anonym unter einer Eiche in einem Friedwald auf der Schwäbischen Alb? Lange Zeit gefiel ja auch mir diese Vorstellung. Aber Batad hat mir die Augen geöffnet. Ich bin von der Idee runter. Friedwald? Auf der Alb? Viel zu weit weg! Wer kommt einen dort schon besuchen und erzählt, was in der Familie und im Flecken so läuft? Niemand! Es soll etwas in der Nähe sein. Gleich morgen werde ich ein Testament aufsetzen. Bei uns im Wandschrank oder draußen im Rosenbeet am Gartentor, da möchte ich bestattet sein. Und wenn das nicht geht, dann soll es wenigstens der Parkplatz von unserem Einkaufsmarkt-Markt in der Epplestraße sein. Da kommen meine Liebsten sowieso fast täglich zum Einkaufen hin, und wir können uns dann im Auto oder gleich neben den Kassen, beim Steh-Kaffee vom Bäcker Treiber, über das Wichtigste austauschen. In aller ewigen Ruhe, versteht sich.

9

Suggest Documents